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Greg Iles

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Beschreibung

Schuld und Lüge. Als im Mississippi die nackte Leiche eines Mädchens gefunden wird, ist die ganze Stadt Natchez entsetzt und in Aufruhr. Besonders betroffen ist aber der Anwalt Penn Cage. Ausgerechnet sein bester Freund, der Arzt Drew Elliott, der ihm als Junge einmal das Leben gerettet hat, gerät unter Mordverdacht – weil er ein heimliches Verhältnis mit der Schülerin hatte. Penn beschließt zu helfen, doch die einzige Chance, den Freund zu retten, besteht darin, den wahren Schuldigen zu finden. Ein packender Thriller über einen Mord und eine besondere Freundschaft. Vom Autor der Bestseller "Natchez Burning" und "Die Sünden von Natchez".

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Über das Buch

Schuld und Lüge.

Als im Mississippi die nackte Leiche eines Mädchens gefunden wird, ist die ganze Stadt Natchez entsetzt und in Aufruhr. Besonders betroffen ist aber der Anwalt Penn Cage. Ausgerechnet sein bester Freund, der Arzt Drew Elliott, der ihm als Junge einmal das Leben gerettet hat, gerät unter Mordverdacht – weil er ein heimliches Verhältnis mit der Schülerin hatte. Penn beschließt zu helfen, doch die einzige Chance, den Freund zu retten, besteht darin, den wahren Schuldigen zu finden.

Ein packender Thriller über einen Mord und eine besondere Freundschaft. Vom Autor der Bestseller »Natchez Burning« und »Die Sünden von Natchez«.

Über Greg Iles

Greg Iles wurde 1960 in Stuttgart geboren. Sein Vater leitete die medizinische Abteilung der US-Botschaft. Mit vier Jahren zog die Familie nach Natchez, Mississippi. Mit der »Frankly Scarlet Band«, bei der er Sänger und Gitarrist war, tourte er ein paar Jahre durch die USA. Mittlerweile erscheinen seine Bücher in 25 Ländern. Greg Iles lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Natchez, Mississippi. Fünf Jahre hat er kein Buch herausgebracht, da er einen schweren Unfall hatte, nun liegen im Aufbau Taschenbuch seine Thriller »Natchez Burning«, »Die Toten von Natchez vor« und »Die Sünden von Natchez« vor.

Mehr zum Autor unter www.gregiles.com

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Greg Iles

Blackmail

Penn Cage ermittelt

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Axel Merz

Die Gesellschaft ist ein künstliches Gebilde,ein Schutz gegen die Macht der Natur.

Camille Paglia

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Danksagung

Impressum

Prolog

Der Regen fiel unablässig, und der kleine Fluss schwoll an, bis seine schlammigen Fluten das halbnackte Mädchen erfassten. Er riss sie mit sich durch die Stadt, ohne dass jemand es sah, an grünen Hügeln vorbei, wo dreihundert Jahre zuvor Indianer zur Sonne gebetet hatten. Das Mädchen tanzte in der Strömung unter der Brücke des Highway 61 und wurde von den Fluten davongetragen, die sich durch die Wälder in Richtung der Papiermühle wälzten und in einem Mahlstrom brauner Wellen in den Mississippi mündeten. Doch bald schon würde das Mädchen dafür sorgen, dass die Stadt in eine völlig andere Art von Mahlstrom geriet – einen Mahlstrom, der sogar den reißenden Fluss ruhig erscheinen ließ.

Sie hatte nie Ärger machen wollen. Sie war ein liebes Ding, klug und voller Leben. Wenn sie lachte, steckte sie andere an. Wenn sie weinte, verbarg sie ihre Tränen. Sie war mit vielen Gaben gesegnet und nahm keine davon als selbstverständlich. Mit siebzehn hatte sie der Stadt bereits Ehre gemacht. Niemand hätte ihr dieses Ende vorhergesagt.

Andererseits hat niemand sie wirklich gekannt.

Außer mir.

Kapitel 1

Manche Geschichten benötigen Zeit, bis man sie erzählen kann.

Jeder Schriftsteller, der etwas taugt, weiß das. Manchmal wartet man darauf, dass Ereignisse ins Unterbewusste sickern, bis eine tiefere Wahrheit daraus entspringt; zu anderen Zeiten wartet man einfach darauf, dass die Hauptpersonen sterben. Manchmal wartet man auf beides.

Dies ist so eine Geschichte.

Ein Mann wandelt sein Leben lang auf dem Pfad der Tugend, befolgt die Regeln, bleibt innerhalb der Grenzen – und dann, eines Tages, begeht er einen Fehltritt. Er überquert eine Linie und setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, die ihm alles nehmen, was er besitzt, und die ihn in den Augen der Menschen, die ihn lieben, für immer verdammen.

Wir alle spüren diese unsichtbare Demarkationslinie, doch in unserer Natur ist etwas Wildes und Triebhaftes, das in uns den Wunsch erweckt, diese Linie zu übertreten, und das uns mit der lautlosen Beharrlichkeit des evolutionären Imperativs nötigt, alles zu riskieren für einen glitzernden Schatten. Die meisten von uns unterdrücken diesen Zwang. Die Angst hält uns häufiger auf als die Klugheit. Doch einige von uns tun diesen Schritt und betreten damit einen Pfad, von dem sie nur schwer – manchmal gar nicht mehr – zurückkehren können.

Dr. Andrew Elliott ist so ein Mann.

Ich kenne Drew, seit er drei Jahre alt war, lange bevor er Stipendiat an der Rhodes wurde und zur medizinischen Hochschule ging, ehe er in unsere Heimatstadt mit ihren zwanzigtausend Seelen zurückkehrte, um sich als Internist niederzulassen. Unsere Bindung ist enger als die der meisten Freunde aus Kindertagen. Als ich vierzehn war, rettete der elfjährige Drew Elliott mir das Leben, wobei er selbst beinahe gestorben wäre. Wir blieben enge Freunde, bis er seinen Abschluss an der medizinischen Hochschule gemacht hatte. Dann sahen wir uns lange Zeit – zwanzig Jahre, schätze ich – praktisch gar nicht. Den größten Teil dieser Zeit verbrachte ich damit, als Assistent des Bezirksstaatsanwalts in Houston, Texas, die Verurteilung von Mördern zu bewirken. Die restliche Zeit schrieb ich Romane, die sich auf außergewöhnliche Kriminalfälle stützen, die ich im Beruf erlebt hatte, was mir eine neue Perspektive verschaffte und außerdem Zeit, die ich mit meiner Familie verbringen konnte.

Drew und ich erneuerten unsere Freundschaft vor fünf Jahren, als meine Frau gestorben war und ich mit meiner kleinen Tochter nach Natchez zurückkehrte in dem Versuch, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Die ersten Wochen meiner Rückkehr gingen in einem spektakulären Mordfall unter, doch nachdem die Aufregung verklungen war, kam Drew als Erster meiner alten Freunde zu mir und versuchte, mich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Er brachte mich in den Elternbeirat unserer alten Schule und in den Country Club und überredete mich, einen Heißluftballon und eine Sängerin von der Metropolitan Opera für die jährlichen Festivals von Natchez zu finanzieren. Er bemühte sich nach Kräften, diesen Witwer zurück ins Leben zu führen, und mit viel Hilfe von Caitlin Masters, meiner Freundin während der letzten Jahre, gelang es ihm schließlich auch.

Das alles erscheint mir nun wie eine ferne Erinnerung. Gestern noch war Drew Elliott eine Säule der Gemeinschaft, von vielen verehrt und von allen als leuchtendes Beispiel hingestellt, doch heute schon wird er verachtet von denen, die ihn so geschätzt haben, und sein Leben steht auf Messers Schneide. Drew war unser Goldjunge, ein Vorbild für alles, was das kleinstädtische Amerika für ehrbar und erstrebenswert hält, doch wie nach einem ungeschriebenen Gesetz wird die Stadt ihn nun mit einem Hass verfolgen, der ihrer betrogenen Liebe in nichts nachsteht.

Wie konnte Drew sich vom Helden in ein Ungeheuer verwandeln? Er sehnte sich nach Liebe, und indem er dieser Sehnsucht nachgab, brachte er eine ganze Stadt gegen sich auf. Gestern Abend noch war seine Legende intakt. Er saß neben mir an einem Tisch im Sitzungssaal der St. Stephen’s School, noch immer unglaublich attraktiv mit seinen vierzig Jahren, dunkelhaarig, athletisch, ein wenig grau zwar an den Schläfen, doch mit der eindrucksvollen Ausstrahlung eines Arztes in der Blüte seiner Jahre. Ich sehe diesen Augenblick ganz deutlich vor mir, denn es war jene Sekunde vor der Enthüllung, jener erstarrte Moment, in dem die alte Welt in sich ruhend am Rand der Zerstörung verharrt wie eine Porzellantasse an der Tischkante, um im nächsten Moment in tausend Scherben zu zerspringen. Doch für diesen einen Augenblick noch bleibt die alte Welt intakt, und Rettung scheint möglich.

Die Fenster des Sitzungssaals sind dunkel, und der silberne Regen, der bereits den ganzen Tag herabgerieselt ist, prasselt nun eisig gegen die Fenster. Wir drängen uns mit elf Leuten um den Tisch aus brasilianischem Rosenholz – sechs Männer und fünf Frauen –, und die Luft im Raum ist stickig. Drews klarer Blick ist auf Holden Smith gerichtet, den Vorsitzenden des Elternbeirats der St. Stephen’s, während wir über die Anschaffung neuer Computer für die Junior High School diskutieren. Wie Holden und mehrere andere Mitglieder des Beirats haben auch Drew und ich unsere Abschlüsse vor ungefähr zwei Jahrzehnten an der St. Stephen’s gemacht, und heute besuchen unsere Kinder die Schule. Wir sind Teil einer ganzen Reihe von Alumnen, die während des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt eingesprungen sind, um jene Schule wieder aufzubauen, der wir unsere bemerkenswerte Ausbildung verdanken. Im Unterschied zu den meisten anderen Privatschulen in Mississippi, die im Zuge der erzwungenen Integration von 1968 entstanden, wurde die St. Stephen’s 1946 als Gemeindeschule gegründet. Der erste afroamerikanische Schüler wurde erst 1982 zugelassen, doch die Bereitwilligkeit dazu gab es bereits Jahre zuvor. Hohe Schulgebühren und die Angst, das einzige farbige Kind in einer ansonsten rein weißen Schule zu sein, verzögerten diesen Wendepunkt in der Geschichte der Schule für einige Jahre. Heute besuchen einundzwanzig schwarze Kinder die St. Stephen’s, und es wären sicher mehr, gäbe es nicht den Kostenfaktor. Nicht viele schwarze Familien in Natchez können sich fünftausend Dollar im Jahr pro Kind für Erziehung und Ausbildung leisten, wenn es kostenlose öffentliche Schulen gibt. Genau genommen gibt es auch nicht viele weiße Familien, die so viel Geld übrig haben, und sie werden im Lauf der Jahre immer weniger. Das ist die ewige Herausforderung des Elternbeirats: Finanzierung.

Derzeit ist Holden Smith dabei, Computer von Apple zu evangelisieren, obwohl der Rest des schulischen Netzwerks problemlos auf billigeren Windows-Rechnern läuft. Wenn er irgendwann innehält, um Luft zu holen, werde ich ihm sagen, dass ich zwar selbst ein Apple Powerbook benutze, aber dass wir um der Kosten willen praktisch denken müssen. Doch bevor ich dazu komme, öffnet die Schulsekretärin die Tür und hebt die Hand zu einem kraftlosen Winken. Ihr Gesicht ist so blass, dass ich fürchte, sie könnte jeden Moment einen Herzanfall erleiden.

Holden wirft ihr einen verärgerten Blick zu. »Was gibt es denn, Theresa? Wir brauchen noch eine halbe Stunde.«

Wie die meisten Angestellten der St. Stephen’s ist auch Theresa Cook die Mutter eines Schülers. »Ich habe schreckliche Neuigkeiten«, sagt sie mit bebender Stimme. »Kate Townsend ist in der Notaufnahme des St. Catherine’s Hospital. Sie ist … angeblich ist sie tot. Ertrunken. Kate Townsend. Das kann doch nicht sein?«

Holden Smith verzieht die dünnen Lippen zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein soll, während er überlegt, ob das vielleicht ein abartiger Witz ist. Kate Townsend ist der Star der St. Stephen’s School. Sie ist die designierte Abschiedsrednerin, ist Staatsmeisterin im Tennis und im Schwimmen und hat ein Vollstipendium für Harvard im nächsten Herbst. Sie ist buchstäblich ein Aushängeschild für die St. Stephen’s. Einmal hat sie sogar in einem Fernsehwerbespot für die Schule mitgewirkt.

»Nein«, sagt Holden schließlich. »Unmöglich! Ich habe Kate erst um zwei Uhr heute Nachmittag auf dem Tennisplatz gesehen.«

Ich schaue auf die Armbanduhr. Inzwischen ist es kurz vor acht.

Holden öffnet erneut den Mund, bringt jedoch keinen Laut mehr hervor. Ich betrachte die Gesichter ringsum am Tisch, und mir wird bewusst, dass eine eigenartige Taubheit uns alle erfasst hat, wie sie entsteht, wenn man erfährt, dass das Kind des Nachbarn bei einem Jagdunfall im Morgengrauen niedergeschossen wurde oder am Abend auf der Nachhausefahrt bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Ich denke daran, dass wir Anfang April haben, und obwohl der erste Hauch von Frühling in der Luft liegt, ist es noch zu kalt zum Schwimmen, selbst hier in Mississippi. Wenn eine Schülerin der letzten Klasse an einem Tag wie diesem ertrunken ist, dürfte ein Unfall die wahrscheinlichste Erklärung sein.

»Was genau haben Sie gehört, Theresa, und wann?«, erkundigt sich Holden. Als würden Details unser Entsetzen mildern.

»Ann Geter hat aus dem Krankenhaus bei mir zu Hause angerufen.« Ann Geter ist eine Schwester in der Notfallambulanz des St. Catherine’s Hospital und hat ebenfalls eine Tochter an der St. Stephen’s. Weil die Schule lediglich fünfhundert Kinder aufnimmt, kennt jeder jeden. »Mein Mann hat Ann gesagt, ich wäre wegen der Sitzung noch hier. Also hat sie im Sekretariat angerufen und erzählt, dass Angler Kate gefunden hätten, eingeklemmt in einer Baumgabel, in der Nähe der Stelle, wo der St. Catherine’s Creek in den Mississippi mündet. Sie dachten zuerst, Kate wäre noch am Leben, also haben sie das Mädchen in ihr Boot gelegt und ins Krankenhaus gebracht. Sie war nackig vom Bauchnabel abwärts, hat Ann gesagt.«

Theresa sagt »nackig«, doch ihr Wort hat die beabsichtigte Wirkung. Schock lässt die Gesichter ringsum am Tisch leer werden. War es gar kein Unfall? »Kate war übel zugerichtet, hat Ann erzählt. Als wäre sie mit irgendeinem Gegenstand geschlagen worden.«

»Mein Gott«, flüstert Clara Jenkins. »Es kann nicht Kate sein! Es muss jemand anders sein!«

Theresas Unterlippe beginnt zu zittern. Die Sekretärin hat immer schon ein gutes Verhältnis zu den älteren Schülern gehabt, besonders zu den Mädchen. »Ann hat erzählt, Kate hätte eine Tätowierung auf dem Oberschenkel. Ich wusste nichts davon, aber ihre Mutter wird es wohl wissen. Jenny Townsend hat Kates Leichnam vor wenigen Minuten identifiziert.«

Eine Frau am Tisch fängt an zu schluchzen, während ich plötzlich das Gefühl habe, als würde flüssiger Stickstoff durch meine Adern strömen. Meine Tochter ist zwar erst neun, doch ich habe sie bereits zweimal beinahe verloren. Ich habe eine vage Vorstellung von dem Alptraum, den Jenny Townsend jetzt durchlebt.

Holden Smith erhebt sich von seinem Platz. Er sieht aus, als wollte er in den Krieg ziehen. »Am besten, ich fahre zum Krankenhaus. Ist Jenny noch dort?«

»Ich glaub schon«, murmelt Theresa. »Ich kann es nicht fassen. Jeder andere, aber doch nicht Kate!«

»Verdammt noch mal!«, stößt Bill Sims hervor, ein einheimischer Geologe. »Das ist nicht fair!«

»Stimmt, es ist nicht fair«, pflichtet Theresa ihm bei, als hätte Fairness irgendetwas damit zu tun, wer in jungen Jahren stirbt und wer mit fünfundneunzig. Dann aber wird mir bewusst, dass sie nicht ganz unrecht hat. Die Townsends haben vor ein paar Jahren ein Kind durch Lungenentzündung verloren, und ihre Ehe ist daran zerbrochen.

Holden nimmt ein Handy aus seiner Manteltasche und wählt eine Nummer. Wahrscheinlich ruft er seine Frau an. Die anderen Mitglieder des Beirats sitzen schweigend da und denken sicherlich an ihre eigenen Kinder. Wie viele von ihnen wohl Gott danken für das Glück, heute Abend nicht Jenny Townsend zu sein?

Ein Handy summt unter dem Tisch. Es gehört Drew Elliott. Er meldete sich mit: »Dr. Elliott?« Dann lauscht er eine Zeit lang, während alle Blicke auf ihn gerichtet sind. Plötzlich erstarrt er wie jemand, der die Nachricht von einer Familientragödie entgegennimmt. »Das ist richtig«, sagt er. »Ich bin der Hausarzt, aber der Fall gehört jetzt in die Zuständigkeit eines Leichenbeschauers. Ich komme vorbei und spreche mit der Familie. Zu Hause? In Ordnung. Danke.«

Drew beendet das Gespräch und blickt in den Kreis erwartungsvoller Gesichter. Drew ist kreidebleich. »Es ist kein Irrtum«, sagt er. »Kate war bereits tot, als sie in der Notfallambulanz eingeliefert wurde. Jenny Townsend ist auf dem Weg nach Hause.« Drews Blick fällt auf mich. »Dein Vater fährt sie, Penn. Tom hatte gerade einen Patienten besucht, als Kate hereingebracht wurde. Ein paar Familienangehörige und Freunde fahren hin. Der Vater wurde bereits unterrichtet.«

Kates Vater, ein britischer Staatsangehöriger, lebt seit fünf Jahren in England.

»Ich vertage die Sitzung«, sagt Holden und sammelt die Werbeprospekte von Apple Computer ein. »Das kann bis zum nächsten Monat warten.«

Als er zur Tür geht, ruft Jan Chancellor, die Schulleiterin: »Einen Augenblick noch, Holden. Es gibt da etwas, das nicht bis nächsten Monat warten kann!«

Holden bemüht sich gar nicht erst, seine Verärgerung zu verbergen, als er sich umdreht. »Und das wäre?«

»Der Zwischenfall mit Marko Bakic.«

»Verdammt«, sagt Bill Sims. »Was hat der Junge denn jetzt schon wieder angestellt?«

Marko Bakic ist ein kroatischer Austauschschüler, der seit seiner Ankunft im letzten September nichts als Scherereien gemacht hat. Wie er es ins Austauschprogramm geschafft hat, ist uns allen ein Rätsel. Markos Unterlagen zeigen, dass er bei IQ-Tests phänomenal abgeschnitten hat, doch er scheint all seine Intelligenz lediglich für seine anarchistischen Umtriebe einzusetzen. Die Nachsichtigen unter uns vertreten die Meinung, dass dieses unglückliche Kind der Balkankriege Aufruhr an die St. Stephen’s gebracht hat und ein Austauschprogramm besudelt, das uns in der Vergangenheit Lob und Ehre eingebracht hat. Die Strengen sind der Ansicht, dass Marko Bakic die Maske des Witzbolds nur benutzt, um sein unheilvolles Treiben zu verschleiern, beispielsweise den Verkauf von Ecstasy an die Schülerschaft und von steroiden Anabolika ans Footballteam. Der Lehrkörper hat sich bereits Hilfe suchend an mich gewandt, den früheren Staatsanwalt, wie man das Drogenproblem angehen soll. Ich habe ihnen gesagt, dass wir nichts tun können, solange wir Marko nicht auf frischer Tat ertappen oder uns jemand bereitwillig Informationen über illegale Aktivitäten zukommen lässt. Bill Sims schlug vor, stichprobenartige Drogentests vorzunehmen, doch seine Idee wurde verworfen, nachdem der Lehrkörper erkannte, dass positive Tests wahrscheinlich publik werden und auf diese Weise nicht nur unsere Öffentlichkeitsarbeit sabotieren, sondern auch den Lehrkörper der Katholischen Schule vom Unbefleckten Herzen auf der anderen Seite der Stadt in helles Entzücken versetzen würden. Die einheimischen Gesetzesbehörden haben bereits ein Auge auf Marko geworfen, doch auch sie haben bisher nichts in den Händen. Falls Marko mit Drogen handelt, redet niemand darüber. Nicht vor Dritten jedenfalls.

»Marko hat sich gestern in der Halle mit Ben Ritchie geprügelt«, sagt Jan vorsichtig. »Er hat Bens Freundin eine Nutte genannt.«

»Das war nicht besonders klug«, murmelt Bill Sims.

Marko Bakic ist einen Meter neunundachtzig groß und dünn wie eine Bohnenstange; Ben Ritchie ist eins siebzig und gebaut wie ein schmiedeeiserner Ofen, genau wie sein Vater, der vor mehr als zwanzig Jahren zusammen mit Drew und mir Football gespielt hat.

»Ben hat Marko gegen die Wand gestoßen und von ihm verlangt, dass er sich entschuldigen soll«, berichtet Jan. »Marko hat geantwortet, dass Ben ihn am Arsch lecken soll.«

»Und was ist dann passiert?«, fragt Sims mit leuchtenden Augen. Diese Geschichte ist ein ganzes Stück interessanter als die üblichen Angelegenheiten, mit denen der Elternbeirat zu tun hat.

Unübersehbar angewidert von der jugendlichen Begeisterung in Bills Gesicht berichtet Jan weiter: »Ben hat Marko in einen Würgegriff genommen und seinen Kopf so lange auf den Boden geschlagen, bis er sich entschuldigt hat. Er hat Marko vor einer Menge Leute gedemütigt.«

»Hört sich ganz so an, als hätte unser kroatischer Hippie endlich mal bekommen, was er verdient.«

»Das mag sein«, entgegnet Jan eisig, »aber nachdem Ben Marko endlich losgelassen hat, sagte Marko, er würde Ben umbringen. Zwei andere Schüler haben es gehört.«

»Macho-Gehabe«, sagt Sims. »Bakic hat versucht, das Gesicht zu wahren.«

»Meinen Sie?«, entgegnet Jan. »Als Ben gefragt hat, wie Marko das anstellen will, sagte Marko, er hätte eine Pistole im Wagen.«

Sims lächelt breit. »Hat er? Eine Pistole?«

»Das weiß keiner. Ich habe von diesem Zwischenfall erst nach der Schule erfahren. Offen gestanden – ich glaube, die anderen Schüler hatten zu viel Angst, mich darüber zu informieren.«

»Zu viel Angst vor dem, was Sie unternehmen würden?«

»Nein. Zu viel Angst vor Marko. Mehrere Schüler haben gesagt, dass er hin und wieder eine Pistole bei sich trägt. Aber auf dem Schulgelände will ihn bisher niemand damit gesehen haben.«

»Haben Sie mit den Wilsons gesprochen?«, fragt Holden Smith von der Tür her.

Bill Sims schnaubt verächtlich. »Wozu denn?«

Die Wilsons sind die Familie, die sich einverstanden erklärt hat, Marko für zwei Semester bei sich aufzunehmen. Jack Wilson ist ein Akademiker im Ruhestand, und Marko scheint ihn um den Finger gewickelt zu haben.

Jan Chancellor mustert Holden erwartungsvoll. Sie ist eine gute Schulleiterin, auch wenn sie direkte Konfrontationen nicht mag, was sich in ihrem Beruf aber nicht vermeiden lässt. Ihr Gesicht sieht blass aus unter dem schwarzen Pagenschnitt, und ihre Nerven scheinen bis zum Zerreißen gespannt.

»Ich schlage vor, wir gehen in eine geschlossene Beratung«, sagt sie, was bedeutet, dass von diesem Moment an kein Protokoll mehr geführt wird.

»Einverstanden«, stimme ich zu.

Jan sieht mich dankbar an. »Wie Sie alle wissen, ist dieser Vorfall lediglich der jüngste in einer langen Reihe störender Zwischenfälle. Es ist ein eindeutiges Muster zu erkennen, und ich mache mir Sorgen, dass irgendwann etwas passiert, das nicht wiedergutzumachen ist. Falls es so weit kommt, werden die St. Stephen’s und jedes Mitglied des Lehr- und Verwaltungskörpers mit einer Flut von Klagen überschüttet.«

Holden seufzt müde von der Tür. »Jan, das war zweifellos ein schwerer Zwischenfall, und die Sache zu klären wird ein mühseliges Unterfangen werden. Doch der Tod von Kate Townsend ist ein schlimmer Schock für jeden Schüler und alle Familien dieser Schule. Ich kann später in der Woche eine Konferenz einberufen, die sich mit Marko befasst, doch im Augenblick hat Kate Priorität.«

»Werden Sie diese Konferenz auch wirklich anberaumen?«, drängt Jan. »Weil dieses Problem sich nicht von alleine lösen wird.«

»Die Konferenz wird stattfinden. Und jetzt fahre ich erst mal zu Jenny Townsend. Theresa, schließen Sie bitte ab, sobald alle gegangen sind?«

Die Sekretärin nickt, froh, dass man ihr etwas zu tun gegeben hat. Während die restlichen Mitglieder der Versammlung weiterhin ihrem Unglauben Ausdruck verleihen, summt mein Handy. Die angezeigte Nummer ist die von zu Hause, was mich zögern lässt, ob ich den Anruf entgegennehmen soll. Meine Tochter Annie ist durchaus imstande, mir am Telefon den letzten Nerv zu rauben, wenn ihr danach ist. Doch angesichts der noch frischen Nachricht von Kates Tod gehe ich ins Büro der Sekretärin und nehme den Anruf entgegen.

»Annie?«

»Nein«, antwortet eine ältere Frauenstimme. »Ich bin es, Mia.«

Mia Burke ist die Babysitterin meiner Tochter und eine Klassenkameradin von Kate Townsend.

»Es tut mir leid, wenn ich deine Sitzung störe, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen.«

»Schon in Ordnung, Mia. Was ist denn los?«

»Ich weiß es nicht genau. Drei Leute haben angerufen und erzählt, dass irgendwas mit Kate Townsend ist. Sie sagen, Kate wäre ertrunken.«

Ich zögere, das Gerücht zu bestätigen. Andererseits, falls die Wahrheit sich nicht bereits wie ein Lauffeuer durch die gesamte Stadt ausgebreitet hat, kann es sich nur noch um Minuten handeln. »Du hast richtig gehört, Mia. Kate wurde tot im St. Catherine’s Creek gefunden.«

»O Gott!«

»Ich weiß, es ist eine schreckliche Nachricht, und du würdest im Moment lieber mit deinen Freundinnen zusammen sein, aber ich brauche dich jetzt, um auf Annie aufzupassen, bis ich zu Hause bin. Ich bin in zehn Minuten da.«

»Ich würde Annie niemals alleine lassen. Ich wüsste ja nicht mal, was ich tun soll. Wenn Kate tot ist, kann ich ihr ja eh nicht mehr helfen. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich bleibe lieber hier bei Annie, als dass ich jetzt fahre.«

Ich danke Jan Chancellor im Stillen dafür, dass sie mir eines der wenigen vernünftigen Mädchen der Schule als Babysitterin empfohlen hat. »Danke, Mia. Wie geht es Annie?«

»Sie ist vor dem Fernseher eingeschlafen, bei einer Dokumentation über Zugvögel im Discovery Channel.«

»Das ist gut.«

»Hey«, sagt Mia mit verlegener Stimme. »Danke, dass du mir die Wahrheit über Kate gesagt hast.«

»Danke, dass du nicht ausgeflippt bist und das Haus verlassen hast. Wir sehen uns in ein paar Minuten, okay?«

»Okay. Bye.«

Ich beende die Verbindung und blicke durch die Tür auf den Konferenztisch. Drew Elliott sitzt dort und spricht in sein Handy, doch die anderen Mitglieder des Komitees gehen bereits durch die Haupttür nach draußen. Während ich ihnen hinterhersehe, kommt mir ein Bild aus unserem Fernsehwerbespot mit Kate in den Sinn. Sie betritt in klassisch weißem Dress den Tennisplatz, und ihre kühlen blauen Augen sehen geradewegs durch die Kamera hindurch. Sie ist groß, gut eins achtzig, mit nordisch blonden Haaren, die bis halb zu ihrer Taille reichen. Kate war eher beeindruckend als schön und sah mehr nach einer Collegestudentin als nach einer Schülerin an der Highschool aus; das war auch der Grund, weshalb wir sie für den Fernsehspot ausgewählt hatten. Sie war das perfekte Werbesymbol für unsere private College-Vorbereitungsschule.

Als ich nach dem Türknopf des Büros greifen will, erstarre ich. Drew Elliott starrt vor sich auf die Tischplatte; Tränen rinnen ihm über die Wangen. Ich zögere, lasse ihm Zeit, sich zu sammeln. Was braucht es, damit ein Arzt weint? Mein eigener Vater hat seine Patienten vierzig Jahre lang sterben sehen, und heute fallen sie wie Getreideähren vor einer Sense. Ich weiß, dass er trauert, doch ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal weinen gesehen zu haben. Die einzige Ausnahme war meine Frau, doch das ist eine andere Geschichte. Vielleicht denkt Drew, dass er allein im Zimmer ist, dass ich zusammen mit allen anderen nach draußen geschlüpft bin. Da die Tränen immer weiter strömen, gehe ich nach draußen in den Konferenzraum und lege ihm die Hand auf seine muskelbepackte Schulter.

»Alles klar, Mann?«

Er antwortet nicht, doch ich spüre, wie er erschauert.

»Drew? Hey!«

Er wischt sich mit dem Hemdsärmel die Tränen weg und erhebt sich. »Ich glaube, wir lassen Theresa besser abschließen.«

»Ja. Ich komme mit dir nach draußen.«

Seite an Seite durchqueren wir das vordere Atrium der St. Stephen’s, wie wir es Tausende Male getan haben, als wir selbst diese Schule in den Sechzigern und Siebzigern besucht haben. Ein großer Trophäenschrank steht an der Wand zu meiner Linken. Darin, hinter einem Baseballschläger – Louisville Slugger mit dreizehn Autogrammen in buntem Filzstift –, hängt ein großes Foto von Drew Elliott während des einen entscheidenden Moments dieser Institution. Gerade vierzehn Jahre alt steht Drew unter den Flutlichtern des Smith-Wills-Stadions in Jackson am Schlagmal und schlägt, was sich als der siegreiche Home-Run der Baseballmeisterschaft des Jahres 1977 herausstellen sollte. Ganz gleich, wie bemerkenswert unsere akademischen Errungenschaften sind – und davon gibt es viele –, es ist diese Meisterschaft, die unsere winzige Schule auf die Landkarte gebracht hat. In Mississippi steht der Sport über allem anderen, genau wie im restlichen Süden.

»Lange her«, sagt er. »Eine Ewigkeit.«

Wir gehen durch den Eingang und bleiben unter dem Vordach stehen, während wir uns auf einen Sprint zu unseren Wagen vorbereiten.

»Kate war Babysitterin für deine Jungs, nicht wahr?«

»Ja«, sagt er. »Die letzten beiden Sommer. Allerdings jetzt nicht mehr. Sie macht in sechs Wochen … sie hätte in sechs Wochen ihren Abschluss gemacht. Sie hatte zu viel zu tun, um nebenbei als Babysitter zu jobben.«

»Sie schien ein großartiges Mädchen zu sein.«

Drew nickt. »War sie. Selbst heutzutage, wo viele Schüler Überflieger sind, war sie etwas Besonderes.«

Ich könnte jetzt sagen, dass es häufig die Besten und Hellsten sind, die zu früh gehen, während wir anderen weitermachen, doch das weiß Drew selbst. Er hat mehr Menschen sterben sehen, als mir je über den Weg laufen werden.

Sein Volvo parkt vielleicht dreißig Meter entfernt, hinter meinem Saab. Ich klopfe ihm auf den Rücken wie in Highschool-Tagen, dann nehme ich eine Sprinterhaltung ein. »Willst du es wagen?«

Statt mitzuspielen, sieht er mir voll ins Gesicht und sagt mit einer Stimme, die ich seit vielen Jahren nicht mehr bei ihm gehört habe. »Kann ich einen Augenblick mit dir reden?«

»Selbstverständlich.«

»Steigen wir ein.«

Er drückt auf einen Knopf an seiner Schlüsselkette, und die Blinker seines Volvos leuchten auf. Wie vom Knall einer Startpistole hochgejagt sprinten wir durch den kalten Regen und klettern in die Ledersitze des S80. Drew wirft die Tür zu und lässt den Motor an; dann schüttelt er heftig den Kopf.

»Ich kann es einfach nicht glauben! Es ist wirklich unfassbar! Hast du sie gekannt, Penn? Hast du Kate überhaupt gekannt?«

»Wir haben uns ein paarmal unterhalten. Sie hat mich nach meinen Büchern gefragt. Aber es ging nie tiefer unter die Oberfläche. Mia hat viel über sie geredet.«

Seine Augen suchen in dem Schatten nach meinen. »Du und ich, wir sind in den vergangenen fünf Jahren auch nicht unter die Oberfläche gekommen. Es ist mehr mein Fehler als deiner, ich weiß. Ich behalte viel für mich.«

»Das tun wir alle«, sage ich verlegen, während ich mich frage, wohin das führen soll.

»Wer kennt den anderen schon genau. Zwölf Jahre gemeinsam auf der Schule, als Jungs die besten Freunde … Du weißt eine Menge über mich, und auch wieder gar nichts. Du kennst nur die Oberfläche, wie alle anderen.«

»Ich hoffe, dass ich daruntersehe, Drew.«

»Wenn jemand unter die Oberfläche sieht, dann du. Das ist auch der Grund, weshalb ich jetzt mit dir rede.«

»Okay, hier bin ich. Reden wir.«

Er nickt, als hätte seine private Einschätzung sich bestätigt. »Ich möchte dich engagieren.«

»Mich engagieren?«

»Als Anwalt.«

Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. »Du weißt, dass ich nicht mehr praktiziere.«

»Du hast den Payton-Fall übernommen, diese alte Bürgerrechtsgeschichte.«

»Das war etwas anderes. Und es ist schon fünf Jahre her.«

Drew starrt mich im Dämmerlicht der Armaturenbeleuchtung an. »Das hier ist auch was anderes.«

Für den Mandanten ist es immer etwas anderes. »Sicher, Drew. Aber ich bin eigentlich kein Anwalt mehr. Ich bin Schriftsteller. Wenn du einen Anwalt brauchst, kann ich dir mehrere gute Leute empfehlen. Ist es ein Kunstfehler?«

Drew blinzelt erstaunt. »Ein Kunstfehler? Glaubst du, ich würde deine Zeit mit derartigem Mist verschwenden?«

»Drew … ich weiß nicht, worum es geht. Warum erzählst du mir nicht, was das Problem ist?«

»Ich möchte ja, aber … Penn, was ist, wenn du krank wärst? Sagen wir, du hättest Aids. Und du würdest zu mir kommen und sagen: Drew, bitte hilf mir. Als Freund. Ich möchte, dass du mich behandelst und mit niemandem darüber redest. Was, wenn ich antworten würde: Ich möchte ja gerne, Penn, aber das ist nicht mein Fachgebiet. Du musst zu einem Spezialisten.«

»Drew, komm schon …«

»Lass mich ausreden. Wenn du sagen würdest: Drew, als Freund, bitte tu mir den Gefallen. Bitte hilf mir. Weißt du was? Ich würde nicht eine Sekunde überlegen. Ich würde tun, was du möchtest. Dich ohne Aufzeichnungen behandeln, egal was.«

Das würde er, ich kann es nicht abstreiten. Doch hinter seinen Worten steckt mehr. Drew hat viele Dinge unerwähnt gelassen. Die Wahrheit ist, dass ich ohne Drew Elliott heute nicht mehr am Leben wäre. Als ich vierzehn Jahre alt war, wanderten Drew und ich in Arkansas vom Buffalo River weg und verirrten uns in den Ozark Mountains. Als die Dunkelheit hereinbrach, stürzte ich in eine Schlucht und brach mir den Oberschenkel. Drew war erst elf, doch er kletterte hinunter in die Schlucht, schiente mein Bein mit einem Ast, baute eine improvisierte Trage und schleppte mich durch die Nacht. Er zog mich vier Meilen weit durch die Berge, wobei er sich die Hand und zweimal fast den Hals brach. Kurz nach Sonnenaufgang kamen wir zu einer Gruppe von Zelten, wo jemand ein CB-Funkgerät hatte. Doch hat Drew ein Wort darüber erwähnt? Nein. Es ist mein Job, mich zu erinnern.

»Warum möchtest du mich engagieren, Drew?«

»Damit du mich berätst. Unter dem Schutz der Vertraulichkeit.«

»Dazu musst du mich nicht engagieren.«

Er zieht seine Geldbörse aus der Hosentasche, nimmt eine Zwanzigdollarnote heraus und schiebt sie mir zu. »Das weiß ich auch. Aber wenn du später im Zeugenstand befragt wirst – als Freund –, müsstest du lügen, um mich zu schützen. Wenn du mein Anwalt bist, wird unsere Unterhaltung durch das Vertraulichkeitsverhältnis zwischen Anwalt und Mandant geschützt.« Er hält mir die Banknote immer noch hin. »Nimm schon, Penn.«

»Das ist verrückt.«

»Bitte, Mann!«

Ich falte die Note zusammen und stecke sie ein. »Okay. Was hat das zu bedeuten?«

Er sinkt in seinen Sitz zurück und reibt sich die Schläfen wie jemand, der eine Migräne bekommt. »Ich kannte Kate viel besser, als irgendjemand ahnt.«

Schon wieder Kate Townsend? Das Gefühl der Erschütterung, das ich im Konferenzzimmer gespürt habe, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt empfinde. Erneut sehe ich Drew vor mir, wie er weinend am Tisch sitzt, als wäre ein Familienangehöriger gestorben. Noch während ich meine nächste Frage stelle, bete ich, dass ich mich irre.

»Willst du mir sagen, du bist mit dem Mädchen intim gewesen?«

Drew blinzelt nicht einmal, als er antwortet. »Wir haben uns geliebt.«

Kapitel 2

Mein Herz hämmert wie bei den allzu seltenen Gelegenheiten, wenn ich einen Trainingslauf mache. Ich sitze vor der St. Stephen’s, zusammen mit einem der bedeutendsten Alumnen, der diese Schule je besucht hat, und er erzählt mir, dass er eine Schülerin gevögelt hat. Eine Schülerin, die jetzt tot ist. Dieser Mann ist mein Freund, solange ich denken kann, und doch sind die ersten Worte, die über meine Lippen kommen, nicht die eines Freundes sondern eines Anwalts. »Sag mir, dass sie achtzehn war, Drew.«

»Sie hätte in zwei Wochen Geburtstag gehabt.«

»Es hätte genauso gut in zwei Jahren sein können. Das ist in Mississippi Unzucht mit Minderjährigen. Erst recht bei dem Altersunterschied zwischen euch. Wie groß ist er, zwanzig Jahre?«

»Fast dreiundzwanzig.«

Ich schüttele ungläubig den Kopf.

Er nimmt meinen Arm und zieht ihn zu sich, zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich bin nicht verrückt, Penn. Ich weiß, du denkst jetzt, ich hätte den Verstand verloren, aber ich habe dieses Mädchen geliebt wie noch nie eine Frau in meinem Leben.«

Ich schaue zur Seite, konzentriere mich auf den Schulhof, wo das Wasser sich in Pfützen beim Karussell versammelt hat. Was soll ich sagen? Hier geht es nicht um einen geilen Assistenztrainer, der sich einer Cheerleaderin im Umkleideraum zu weit genähert hat. Hier geht es um einen gebildeten und erfolgreichen Mann in den Klauen einer ausgewachsenen Wahnvorstellung.

»Ich habe in Houston eine Menge Kerle wegen Kindesmissbrauchs verurteilt, Drew. Ich erinnere mich an einen Burschen, der regelmäßig ein elfjähriges Mädchen missbraucht hat. Kannst du dir denken, was er zu seiner Verteidigung vorgebracht hat?«

»Was?«

»Sie hätten sich geliebt.«

Er schnaubt verächtlich. »Du weißt, dass es nicht so etwas ist.«

»Weiß ich das? Herrgott im Himmel, Drew!«

»Penn … solange du nicht selbst in einer solchen Situation bist, kannst du es nicht begreifen. Ich war damals der Erste, der diesen Trainer verdammt hat, weil er sich drüben in der öffentlichen Schule über diese Schülerin hergemacht hat. Ich konnte es damals nicht verstehen. Aber jetzt … jetzt habe ich es selbst erlebt.«

»Du hast dein Leben weggeworfen, Drew! Ist dir das eigentlich klar? Du könntest für zwanzig Jahre ins Gefängnis geschickt werden. Ich kann nicht einmal …« Meine Stimme versagt, weil mir plötzlich dämmert, dass ich das Schlimmste von dem, was er mir an diesem Abend in seinem Wagen enthüllen wird, vielleicht noch gar nicht gehört habe. »Du hast sie nicht umgebracht, oder?«

Alles Blut weicht aus seinem Gesicht. »Hast du den Verstand verloren?«

»Was hast du denn für eine Frage von mir erwartet?«

»Nicht diese. Und in deinem Tonfall ist etwas verdammt Kaltes.«

»Wenn dir mein Tonfall nicht passt, dann warte, bis du den Bezirksstaatsanwalt hörst. Du und Kate Townsend? Heilige Scheiße!«

»Ich habe sie nicht umgebracht, Penn.«

Ich atme ein weiteres Mal tief ein und stoße die Luft langsam aus. »Nein. Natürlich nicht. Glaubst du, sie könnte Selbstmord begangen haben?«

»Unmöglich!«

»Wieso?«

»Weil wir von hier weggehen wollten. Kate war ganz aufgeregt deswegen. Sie war kein bisschen niedergeschlagen.«

»Ihr wolltet zusammen davonlaufen?«

»Nicht davonlaufen. Zusammen sein.«

»Sie war ein Kind, Drew!«

»In gewisser Hinsicht, ja. Aber Kate ist anders aufgewachsen als die meisten. Sie hat viel durchgemacht und viel daraus gelernt. Sie war sehr erwachsen für ihr Alter, körperlich und seelisch. Und das heißt eine Menge heutzutage. Diese Kids sind nicht so, wie wir es waren, Penn. Du hast keine Ahnung. Mit fünfzehn haben die bereits Dinge getan, die du oder ich frühestens mit zwanzig erlebt haben. Manche von denen sind mit achtzehn bereits völlig abgestumpft.«

»Das bedeutet noch lange nicht, dass sie begreifen, was sie tun. Aber ich werde daran denken, der Jury dieses Argument vorzutragen.«

Drews Augen flackern. »Willst du damit sagen, du wirst mich vertreten?«

»Das war ein Scherz. Wer weiß sonst noch von eurer Beziehung?«

»Niemand.«

»Sei nicht albern. Irgendjemand weiß immer was.«

Er schiebt den Unterkiefer vor und schüttelt den Kopf. »Du hast Kate nicht gekannt. Niemand weiß etwas von uns.«

Die Naivität menschlicher Wesen ist wirklich atemberaubend. »Ach ja?«

Drew legt die großen Hände aufs Lenkrad und drückt es wie ein Mann, der isometrische Übungen macht. In dem kleinen Innenraum des Wagens wirkt seine Größe einschüchternd. Ich bin einen Meter fünfundachtzig und wiege neunzig Kilo. Drew hat fünf Zentimeter und zehn Kilo Muskeln mehr als ich, und er hat sich nicht viel gehen lassen seit den Tagen, als er für Vanderbilt als Stürmer gespielt hat. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass Kate Townsend sich von ihm angezogen gefühlt hat.

»Es läuft alles darauf hinaus …«, sagt Drew mit gefasster Stimme. »Die Polizei wird Kates Leben durchleuchten. Und wenn sie tief genug schürft, findet sie vielleicht etwas, das sie mit mir in Verbindung bringt.«

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß nicht. Ein Tagebuch? Fotos?«

»Ihr habt Fotos gemacht?« Warum frage ich das? Natürlich haben sie Fotos gemacht. Jeder macht heutzutage Fotos. »Habt ihr euch auch gefilmt?«

»Kate hat uns gefilmt. Aber sie hat das Band vernichtet.«

Ich bin nicht sicher, ob ich das glaube, aber das ist im Moment nicht der entscheidende Punkt. »Was ist mit Ellen?«, frage ich. Ellen ist seine Frau.

Seine Augen bleiben trocken. »Unsere Ehe ist seit zehn Jahren tot.«

»Davon habe ich nichts gemerkt.«

»Wie auch. Du und alle anderen in der Stadt – keiner von euch hat etwas gemerkt. Ellen und ich haben Tag für Tag großes Theater gespielt, alles nur um Tims willen.«

Tim ist Drews neunjähriger Sohn, selbst bereits so etwas wie ein Goldjunge in der Grundschule. Annie ist schwer in ihn verknallt, auch wenn sie das niemals zugeben würde. »Was ist mit Tim? Wolltest du ihn zurücklassen?«

»Natürlich nicht! Aber ich musste mich zuerst von Ellen lösen. Diese Ehe macht mich kaputt.«

Das sagen sie immer, bevor es zur Scheidung kommt. Jede Erklärung ist ihnen recht, wenn sie nur aus dieser Ehe rauskommen.

»Ich möchte nichts Negatives über Ellen sagen«, fährt Drew leise fort. »Aber die Situation ist schon seit langer Zeit schwierig. Ellen ist hydrocodonsüchtig. Seit sechs Jahren schon.«

Ellen Elliott ist Anwältin, die sich mit Mitte dreißig dem Immobiliengeschäft zugewandt hat, ein richtiger Dynamo, spezialisiert auf die gehobenen Vor-Bürgerkriegs-Herrenhäuser in der Stadt. Sie stammt aus Savannah und scheint das seltene Kunststück geschafft zu haben, sich Einlass in die feine Gesellschaft von Natchez zu verschaffen, was Außenseitern so gut wie nie gelingt. Ich kenne Ellen nicht besonders gut, doch die Vorstellung, dass sie drogensüchtig ist, kann ich nur schwer schlucken. Mein mentaler Schnappschuss von ihr ist der einer schlanken, sehr gepflegten Blondine, die zum Vergnügen Marathons läuft.

»Das ist schwer zu glauben, Drew.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, dass Ellen sich Lorcet Plus einwirft wie andere M&Ms? So ist es aber, Mann. Ich habe jahrelang versucht, ihr zu helfen. Habe sie zu Suchtspezialisten geschleppt und viermal in den vergangenen drei Jahren Entziehungskuren bezahlt. Nichts hat geholfen.«

»Ist sie klinisch depressiv?«

»Ich glaube nicht. Du hast sie gesehen. Sie ist sehr extrovertiert. Aber unter dieser Energie lauert etwas Dunkles. Alles, was sie unternimmt, geschieht aus Streben nach Geld oder sozialem Status. Vor zwei Jahren hat sie während eines Tennisturniers mit einem Typen aus Jackson geschlafen. Ich kann nicht glauben, dass sie die Frau ist, die ich geheiratet habe.«

»War sie anders, als ihr geheiratet habt? Was Geld und sozialen Status angeht, meine ich?«

»Ich nehme an, die Veranlagung war damals schon vorhanden. Nur sah es damals aus wie gesunder Ehrgeiz. Trotzdem, ich hätte es erkennen müssen. Ihre Mutter ist genauso.«

Ich kann nicht anders, ich muss Ellen verteidigen. »Wir alle werden irgendwann wie unsere Eltern, Drew. Ich bin sicher, auch du hast dich verändert.«

Er nickt. »Schuldig im Sinne der Anklage. Aber ich versuche der beste Mensch zu sein, der ich sein kann.«

Und das hat dich in die Arme eines siebzehnjährigen Mädchens geführt? Ich habe noch mehr Fragen, aber die Wahrheit ist, ich will die schmutzigen Details von Drews Liebesleben überhaupt nicht wissen. Ich habe zu viele betrunkene Freunde gehört, die darüber gejammert haben, wie ihre Träume sich nicht verwirklicht haben, und es war immer ein weinerlicher Monolog. Das Eigenartige daran ist nur, dass Drew Elliott, gemessen an den Maßstäben anderer, ein traumhaftes Leben geführt hat. Doch wie meine Mutter immer sagte: Du weißt nie, was im Topf von jemand anderem kocht. Und eines ist sicher: Was immer als Ergebnis von Kates Tod geschehen mag – Drews sagenhaft erfolgreicher Lauf durch das Leben ist unvermittelt zu Ende gegangen.

»Ich muss nach Hause zu Annie, Drew«, sage ich. »Mia muss weg.«

Er nickt verständnisvoll. »Was ist jetzt, Penn? Wirst du mir helfen?«

»Ich tue, was ich kann, aber ich bin nicht sicher, ob das viel ist. Warten wir ab, was der morgige Tag bringt.«

Er nickt und blickt in den Schoß, unübersehbar enttäuscht. »Ich schätze, mehr kann ich nicht erwarten.«

Ich will aus dem Wagen steigen, als Drews Handy summt. Er blickt auf das Display und zuckt zusammen. »Jenny Townsend«, sagt er.

Meine Brust verengt sich.

»Wahrscheinlich will sie, dass ich vorbeikomme.«

»Wirst du hinfahren?«

»Natürlich. Ich muss.«

Ich schüttele erstaunt den Kopf. »Wie kannst du das nur? Wie kannst du Jenny heute Abend in die Augen sehen?«

Drew beobachtet das Display, bis das Telefon zu summen aufhört; dann begegnet er meinem Blick mit der Ernsthaftigkeit eines Mönchs. »Ich habe ein reines Gewissen, Penn. Ich habe Kate mehr geliebt als irgendjemand sonst auf der Welt, außer vielleicht ihre Mutter. Und jeder, der Kate geliebt hat, ist heute Abend in ihrem Haus willkommen.«

Drew hat recht und unrecht zugleich. Er ist heute Abend willkommen im Haus der Townsends, ja, er wird von allen Besuchern wahrscheinlich der größte Trost für Jenny Townsend sein. Doch was wäre, wenn Jenny wüsste, dass ihr Hausarzt Sex mit ihrer minderjährigen Tochter gehabt hat? Dass er im Begriff stand, seine Familie aufzugeben und Kates perfekt geplante Zukunft in tausend Stücke zu zerschlagen?

»Ich rufe dich morgen an«, sage ich leise.

Drew packt mich am Unterarm, als ich aus dem Auto steige, und einmal mehr bin ich gezwungen, in seine tiefblauen Augen zu blicken. »Ich habe nicht den Verstand verloren, Penn. Es war keine Midlife-Crisis, die mich zu Kate geführt hat. Ich habe mich seit langer Zeit nach Liebe gesehnt, und trotzdem habe ich mehr Frauen in dieser Stadt einen Korb gegeben, als du dir vorstellen kannst, verheirateten und alleinstehenden. Als ich mir letzten Sommer bei dem Autounfall das Knie verletzt habe, war ich sechs Wochen lang zu Hause. Kate war jeden Tag da, um auf Tim aufzupassen. Wir fingen an, uns miteinander zu unterhalten. Ich konnte nicht glauben, über welche Themen sie redete, welche Bücher sie las. Wir schickten uns nachts E-Mails und Instant Messages, und es war, als würde ich mich mit einer fünfunddreißigjährigen Frau unterhalten. Als ich wieder gehen konnte, organisierte ich eine medizinische Hilfsmission nach Honduras. Kate wollte mit und meldete sich freiwillig. Es war Ellen, die den Vorschlag machte, auf ihren Wunsch einzugehen. Damals ist es dann passiert. Bevor wir in die Staaten zurückkehrten, wusste ich, dass ich mit ihr zusammenleben wollte.«

»Sie war erst siebzehn, Mann. Was für ein Leben hättest du mit ihr führen können?«

»Ein wahrhaftiges Leben. Sie wäre in zwei Wochen achtzehn geworden, Penn, und sie wäre im Herbst nach Harvard gegangen. Ich habe bereits die medizinischen Staatsexamen von Massachusetts absolviert. Ich war unter den besten fünf Prozent. Und ich habe bereits eine Anzahlung auf ein Haus in Cambridge geleistet.«

Ich bin sprachlos.

»Und jetzt wird nichts von alledem jemals geschehen«, sagt Drew, und sein Gesicht ist starr vor Wut und Verwirrung. »Weil jemand Kate ermordet hat.«

»Du weißt nicht, ob es Mord war.«

Seine Augen verengen sich. »Und ob ich das weiß! Es war Mord!«

Behutsam löse ich meinen Arm aus seinem Griff. »Es tut mir leid, Mann. Ehrlich. Aber wenn herauskommt, dass du ein Verhältnis mit Kate gehabt hast, werden sie dich kreuzigen. Du fängst besser schon mal an …«

»Es ist mir egal, was aus mir wird! Ich mache mir Gedanken um Tim. Was kann ich für ihn tun? Was ist das Beste für ihn?«

Ich schüttele den Kopf und öffne die Tür in den Regen. »Um ein Wunder beten.«

Mia Burke sitzt auf der Veranda meines Hauses an der Washington Street, neben sich einen prallvollen grünen Rucksack. Ich parke am Straßenrand, während ich nach Annies kleinerer Gestalt suche. Dann sehe ich, dass die Vordertür leicht geöffnet ist; also schläft Annie noch, und Mia lauscht auf sie. Mia erhebt sich, als ich den Wagen abschließe, und im Licht der Straßenlaterne erkenne ich, dass sie genau wie Drew geweint hat.

»Alles in Ordnung mit dir?«, frage ich, während ich den Bürgersteig überquere.

Sie nickt und wischt sich über die Wangen. »Ich weiß überhaupt nicht, warum ich so viel weine. Kate und ich waren keine wirklich guten Freundinnen.«

Mia Burke ist das äußerliche Gegenteil von Kate Townsend. Dunkelhaarig und braunhäutig, knapp eins sechzig groß mit der Muskulatur und Gestalt einer Sprinterin. Sie hat große dunkle Augen, eine Stupsnase und volle Lippen, die wahrscheinlich die Phantasie von hundert heranwachsenden Jugendlichen befeuert haben. Sie trägt Jeans und ein Lifehouse-T-Shirt, und in den Händen hält sie ein Buch von Paul Bowles, The Sheltering Sky. Mia hat einen überraschend eklektischen Geschmack, und das verwirrt wahrscheinlich die gleichen Jungs, die von ihren sonstigen Attributen träumen.

»Hat sie Selbstmord begangen, Penn?«

Ich muss daran denken, dass manche Leute es wohl für unangemessen halten, dass Mia mich mit meinem Vornamen anspricht. Zwischen uns herrschte von Anfang an eine natürliche Zwanglosigkeit, doch angesichts dessen, was ich über Drew und Kate erfahren musste, erscheint mir nichts mehr unschuldig und natürlich. »Ich weiß es nicht. War Kate der Typ, der sich umgebracht hätte?«

Mia schlägt die Arme vor die Brust und lässt sich Zeit, bevor sie antwortet. »Nein. Sie hat sich oft abgesondert, besonders im letzten Jahr, aber ich glaube nicht, dass sie unter Depressionen litt. Ihr Freund hat ihr allerdings eine Menge Ärger gemacht.«

»Kate hatte einen Freund?«

»Na ja, eigentlich einen Ex. Steve Sayers.«

Steve Sayers, der Quarterback des Footballteams. Wie nicht anders zu erwarten.

»Ich weiß wirklich nicht, was mit den beiden war. Sie waren fast zwei Jahre zusammen. Ende letzten Sommers schien Kate dann plötzlich vergessen zu haben, dass Steve existiert.«

Dank Drew Elliott, M.D.…

»Das Merkwürdige daran ist, sie hat nicht Schluss gemacht mit Steve. Sie hat sich weiter mit ihm getroffen, ist mit ihm zusammen ausgegangen, obwohl sie ihn offensichtlich nicht mehr geliebt hat. Aber sie hatte keinen Sex mehr mit ihm. Und das hat ihn verrückt gemacht.«

Mias Offenheit über Sex kommt nicht von ungefähr. Wir haben zahlreiche ungezwungene Unterhaltungen über die Dinge geführt, die an der St. Stephen’s unter der Oberfläche vor sich gehen. Wäre nicht Mias Offenheit, ich hätte genauso wenig eine Vorstellung von der Wirklichkeit einer modernen Highschool wie alle anderen Eltern und wäre im Beirat kaum von Nutzen.

»Hat Kate selbst dir erzählt, dass sie keinen Sex mehr mit Steve hatte?«, frage ich.

»Nein. Aber Steve hat es ein paar von seinen Freunden erzählt, und es hat sich herumgesprochen. Er meinte, dass sie vielleicht einen anderen hat, mit dem sie’s treibt. Jemand von einer anderen Schule möglicherweise.«

»Was glaubst du?«

Mia beißt sich auf die Unterlippe. »Wie ich bereits sagte, Kate war ziemlich verschlossen. Sie hatte eine charmante Maske, die sie nach Belieben aufsetzen konnte, und die meisten Leute fielen darauf herein. Aber das war nur die Maske, mit der sie durchs Leben gegangen ist. Tief im Innern war sie jemand ganz anderes.«

»Wer war sie?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass sie viel zu anspruchsvoll war für Steve.«

Ich blicke Mia forschend in die Augen, sehe aber keine versteckte Andeutung darin. »Was hat sie so anspruchsvoll gemacht?«

»Ihre Zeit in England vielleicht. Nachdem ihre Eltern geschieden waren, ging sie nach London und lebte eine Zeit lang bei ihrem Dad. Sie hat dort mehr als drei Jahre lang eine exklusive Schule besucht, konnte am Ende aber nicht bleiben. Trotzdem, als sie hierher zurückkam, war sie uns anderen weit voraus. Sie war ziemlich einschüchternd mit ihrem englischen Akzent.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich einschüchtern lässt.«

»Oh doch. Aber letztes Jahr hab ich dann aufgeholt. Und dieses Jahr habe ich sie in jedem Fach überflügelt. Es ist nicht schön, das jetzt zu sagen, aber das hat mir ein verdammt gutes Gefühl gegeben.«

Einige von Drews Worten kommen mir in den Sinn. »Du spielst Tennis, nicht wahr?«

»Ich bin im Team, ja. Ich bin nicht so gut wie Kate, noch nicht. Sie hat letztes Jahr die Staatsmeisterschaften gewonnen und war auf dem besten Weg, auch dieses Jahr den Titel zu holen.«

»Hat Kate nicht mit Ellen Elliott zusammen Leistungstennis gespielt?«

»Ja. Die beiden haben die Landesmeisterschaft gewonnen.«

»Was hältst du von Ellen?«

Mias Augen flackern interessiert. »Fragst du mich nach meiner offiziellen Meinung oder willst du wissen, was ich wirklich denke?«

»Was du wirklich denkst.«

»Sie ist ein knallhartes Miststück.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich. Eiskalt und berechnend. Wie sie einen behandelt, hängt ganz davon ab, welche Eltern man hat.«

»Wie hat sie Kate behandelt?«

»Machst du Witze? Kate war ihr persönlicher Protegé. Ellen war die Nummer eins in Georgia, als sie noch Tennis gespielt hat. Ich denke, sie durchlebt mit Kates Hilfe ihre Jugend noch einmal.«

»Wie hat Kate Ellen behandelt?«

Mia zuckt die Schultern. »Ganz gut. Sie war freundlich zu ihr, aber …«

»Was?«

»Ich glaube nicht, dass Kate sie respektiert hat. Ich habe gehört, wie sie hinter Ellens Rücken Dinge über sie gesagt hat. Aber das tut ja jeder.«

»Was willst du damit sagen?«

»Die Frauen, mit denen Ellen für ihre Marathons trainiert, reden allen möglichen Scheiß über sie, wenn sie nicht dabei ist. Sie erzählen, Ellen würde einem ohne zu überlegen einen Dolch in den Rücken stoßen.«

»Und warum geben sie sich dann mit Ellen ab?«

»Angst. Neid. Ellen Elliott ist heiß, reich und mit Dr. Perfekt verheiratet. Sie ist der Arbiter Elegantiarum dieser Stadt, zumindest bei den unter Vierzigjährigen. Sie führt ein Leben, wie alle es führen wollen.«

»Das glauben sie.«

Mia sieht mich an, doch ich führe meine Worte nicht weiter aus.

»Ich kann mir vorstellen, was du meinst«, sagt sie schließlich. »Ich hab keine Ahnung, wieso Dr. Elliott mit ihr verheiratet ist. Niemand weiß es. Er ist ein netter Typ und verdammt heiß, und sie ist so … ich weiß nicht. Vielleicht hat sie ihm auch etwas vorgemacht.«

»Vielleicht.« Mia ist zu klug, als dass ich dieses Fragespiel noch lange fortführen könnte; nicht mehr lange, und sie kann eins und eins zusammenzählen. »Du musst wahrscheinlich los, oder?«

Sie nickt wenig begeistert. »Ja. Ich fühle mich irgendwie eigenartig.«

»Wegen Kate?«

»Ja. Aber nicht so, wie du vielleicht denkst. Ihr Tod ändert an der Schule sehr viel für mich. Zum Beispiel halte ich jetzt die Abschlussrede, und das wollte ich immer schon. Es gibt da ein paar Dinge, die ich unserer Klasse und den Eltern sagen möchte. Jetzt hab ich die Gelegenheit. Trotzdem, ich wollte nicht, dass es so kommt.«

»Du hast es dir bestimmt verdient. Um wie viele Punkte hatte Kate dich geschlagen?«

»Nur um einen sechzehntel Punkt im Gesamtergebnis.« Mia grinst ironisch. »Sie war längst nicht so klug, wie die meisten Leute glauben. Sie hat so getan, als würde sie nie lernen, aber sie hat gebüffelt wie eine Irre. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles sage. Ich hab wohl irgendwie Wut auf sie. Aber ich weiß nicht warum.«

»Wirklich nicht?«

Mia seufzt und blickt zum Bürgersteig. »Kate wusste ganz genau, was sie tun musste, damit man sich wie ein Stück Scheiße fühlt. Sie konnte einem mit ein paar Worten das Herz aus der Brust reißen und dann so tun, als wäre alles nur eine unschuldige Bemerkung. Sie wurde Star Student, weil sie mich beim College Test um einen einzigen Punkt geschlagen hat, und sie hat dafür gesorgt, dass es jeder wusste. Ich hab sie beim Hochschuleignungstest um vierzig Punkte geschlagen, aber glaubst du, sie hätte auch nur ein einziges Wort darüber verloren?«

»Welches Ergebnis hast du erzielt?«

»Tausendfünfhundertvierzig.«

»Donnerwetter! Also wart ihr im Grunde genommen Rivalinnen, keine Freundinnen.«

Mia nickt nachdenklich. »Ich bin ehrgeiziger, als ich vielleicht sein sollte, aber für Kate war das Siegen eine Besessenheit. Wir waren immer die beiden ersten Kandidatinnen, bei allem.« Ein merkwürdiger Ausdruck huscht über Mias Gesicht. »Ich schätze, einige Leute werden sagen, dass ich ein Motiv hatte, sie zu ermorden.«

»Ich glaube nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen musst. Ich habe noch nie jemanden ein schlechtes Wort über dich reden hören.«

Ein ironisches Lachen huscht über ihre Lippen. »Oh, die Leute reden eine Menge über mich. Aber das ist eine andere Geschichte. Und versteh mich nicht falsch wegen Kate. Sie hatte eine schwere Kindheit. Ihr Vater war ein richtiges Arschloch. Wenn sie einem ihre verwundbare Seite gezeigt hat, fiel es einem schwer, kein Mitgefühl für sie zu empfinden. Mir ganz besonders. Aber ich musste mich mit dem gleichen Mist rumschlagen, und ich gebrauche meine Intelligenz nicht dazu, anderen Leuten weh zu tun.«

Mia starrt die Washington Street hinunter, eine der schönsten Straßen in der Stadt, und schüttelt den Kopf, als wollte sie einen unsinnigen Gedanken vertreiben. Mias Vater hatte die Familie verlassen, als Mia gerade zwei Jahre alt gewesen war, und er hat seine Tochter seither kaum jemals gesehen. Finanzielle Unterstützung war das Minimum, das ihm von den Gerichten auferlegt worden war, und selbst die war nur sporadisch gekommen.

»Was Kates Tod angeht«, sagt Mia, »kann ich es immer noch nicht glauben. Es ist so … so willkürlich.«

»Schüler sterben bei Unfällen genauso wie jeder andere.«

»Ich weiß. Aber das hier ist etwas anderes.«

»Wieso?«

»Nachdem ich dich angerufen hatte, bekam ich noch eine Reihe weiterer Anrufe. Die Leute erzählen sich, dass es kein Unfall gewesen sei. Sie sagen, jemand hätte Kate umgebracht. Wusstest du das?«

Könnte Drew recht gehabt haben?

»Einige der Krankenschwestern haben erzählt, dass es ausgesehen hätte, als wäre Kate gewürgt und auf den Kopf geschlagen worden.«

Trotz meiner Freundschaft mit Drew erfüllt ein Bild meine Gedanken: Ich sehe vor dem geistigen Auge, wie er Kate würgt, und erschauere. »Du kennst Natchez und weißt, wie die Leute sich die Mäuler zerreißen, Mia. Mit Kates Leichnam könnte alles Mögliche passiert sein, als sie diesen Wildbach hinuntergetrieben ist.«

»Aber warum war sie dann halbnackt? Und warum von der Taille abwärts? Vermutlich könnte sie nackt gebadet haben, aber mit wem? Sie war nicht mit Steve zusammen – zumindest behauptet er das. Ich frage mich, ob Steve nicht vielleicht doch recht hat.«

In der Hinsicht wissen Kates Klassenkameradinnen wahrscheinlich doppelt so viel über ihren Tod wie die Polizei. »Wie meinst du das? Inwiefern könnte Steve recht haben?«

»Dass Kate einen anderen Freund hatte. Jemanden, von dem keiner von uns wusste. Jemanden, der verrückt genug oder wütend genug war, sie zu töten.«

»Kannst du dir vorstellen, dass Kate jemanden so wütend macht?«

»Oh ja. Wenn Kate sich auf ihr hohes Ross geschwungen hat, konnte sie einen fix und fertig machen. Und was das Verrücktmachen von Jungen angeht – sie war sehr sinnlich. Wir haben ein paarmal darüber gesprochen. Sie hat ernsthaft geglaubt, dass sie vielleicht Nymphomanin wäre.«

»Dieser Begriff wird heutzutage nicht mehr benutzt, Mia. Viele Mädchen, die zum ersten Mal mit Sex experimentieren, fühlen sich wahrscheinlich so.«

Sie sieht mich wissend an. »Ich rede nicht von Experimentieren. Ich bin keine Heilige. Aber Kate wusste Dinge, von denen ich noch nie gehört habe. Sie war der leidenschaftlichste Mensch, dem ich je begegnet bin, und sie liebte es, sich selbst Vergnügen zu verschaffen. Sie … äh, das ist jetzt peinlich, aber sie hat mir mal ein paar von ihren Spielsachen gezeigt, und ich war schockiert. Ich weiß, dass sie Steve erschreckt hat mit einigen der Dinge, die er für sie tun sollte, und das ist über ein Jahr her.«

Sexspielzeuge? Drews Worte kommen mir mit neuer Vehemenz ins Gedächtnis zurück. Diese Kinder sind nicht so, wie wir es waren, Penn. Du hast keine Ahnung…

»Ich weiß, dass du rein willst und nach Annie sehen möchtest«, sagt Mia, nimmt ihren Rucksack hoch und schlingt ihn sich über die Schulter. »Ich mache, dass ich dir aus dem Weg komme. ’tschuldigung, wenn ich über diese Dinge zu offen geredet habe.«

Ich mache einen Schritt nach links und lasse ihr Platz, an mir vorbeizugehen. »Keine Bange. Ich hab zu meiner Zeit fast alles kennen gelernt.«

Sie betrachtet mich mit einem durchtriebenen Blick, der über ihr Alter hinwegtäuscht. »Tatsächlich? Ich dachte eigentlich immer, du wärst ein solider Typ. Ich hab meine Mom nach dir gefragt, weißt du, aber sie will mir nichts erzählen. Sie mag dich offensichtlich, aber sie wird immer ganz … eigenartig, wenn ich über dich reden will.«

Ich spüre, wie ich erröte. »Fahr vorsichtig, Mia. Du bist mit den Gedanken nicht bei der Straße.«

Mia nimmt ihr Handy aus der Tasche und hält es ans Ohr. Es muss auf Vibrationsalarm geschaltet sein. »Ehrlich? … Niemals! … Das ist wirklich unheimlich … Mach ich. Bis später.« Sie schiebt das Telefon in die Tasche zurück und starrt erneut mit leerem Blick die Straße entlang.

»Was ist?«, frage ich.

Mias Augen verraten eine Verwirrung, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. »Das war Laura Andrews. Ihre Mom gehört zu den Krankenschwestern, die sich bei der Einlieferung um Kate gekümmert haben. Sie hat Laura soeben erzählt, dass Kate vor ihrem Tod vergewaltigt worden ist.«

»Was?«

»Sie sagt, Kate hätte eine Menge Verletzungen … da unten, weißt du?«

Meine Gedanken kehren zu Drew zurück. Wenn Kate vergewaltigt wurde, dann hoffe ich, dass er es niemals erfahren muss. Doch er wird es natürlich erfahren, genau wie jeder andere in Natchez. Plötzlich dämmert mir, dass ich in meiner Hoffnung, Drew vor dieser Information zu schützen, von seiner Unschuld ausgehe. Das ist eine gefährlich voreilige Schlussfolgerung für einen Anwalt, doch ich bin bereits an diesem Punkt angelangt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Drew Elliott eine Frau vergewaltigt, ganz zu schweigen von einer Schülerin.

»Hoffen wir, dass es nicht stimmt«, sage ich leise und rufe mir die psychisch zerstörten Vergewaltigungsopfer ins Gedächtnis zurück, die ich als Ankläger während meiner Zeit in Houston zu rächen versucht habe.

»Ja, hoffen wir«, echot Mia. »Der Gedanke ist zu grauenhaft.«

»Dann denk nicht daran. Konzentrier dich aufs Fahren.«

Mia zwingt sich zu einem Lächeln. »Keine Sorge. Brauchst du mich morgen?«

»Könnte sein, ja. Falls du Zeit hast.« Ich denke an Drew und seine Bitte, ihm zu helfen.

»Ruf mich einfach auf dem Handy an.«

Sie geht zu ihrem Wagen, einem blauen Honda Accord, und steigt ein. Ich warte, bis sie weg ist; dann steige ich die Treppe zu meinem Haus hinauf. Als ich die Tür hinter mir schließe, läutet das Telefon in meinem Büro. Ich gehe zu meinem Schreibtisch und werfe einen Blick auf das Display. Andrew Elliott, M.D. steht da zu lesen.

»Drew?«, frage ich in den Hörer.

»Kannst du reden?« Seine Stimme bebt vor Angst.

»Klar. Was gibt’s denn?«

»Ich bin bei Kate zu Hause. Ich hab gerade einen Anruf auf dem Handy erhalten.«

»Von wem?«

»Ich weiß es nicht. Aber er hat gesagt, ich soll eine Sporttasche mit zwanzigtausend Dollar an der Fünfzig-Yard-Linie des Footballfelds der St. Stephen’s abstellen. Er hat gesagt, wenn ich es nicht tue, geht er zur Polizei und erzählt, dass ich ein Verhältnis mit Kate hatte.«

Scheiße! »Du hast gesagt, niemand hätte von eurer Affäre gewusst.«

»So ist es auch. Ich hab keine Ahnung, wer der Anrufer sein könnte.«

Mein Verstand ist voller Erinnerungen an ähnliche Situationen aus meiner Zeit beim Bezirksstaatsanwalt in Houston. »Wann will er das Geld haben?«

»In einer Stunde.«

Kapitel 3

»Penn?«, fragt Drew und atmet flach. »Bist du noch da?«

Die Worte meines alten Freundes haben mich im Arbeitszimmer meines Hauses erstarren lassen. »Zwanzigtausend Dollar in bar in einer Stunde? Um neun Uhr abends? Das ist verrückt! Das ist völlig unmöglich!«

»Nein, ist es nicht. Ich hab das Geld. Wir haben einen Safe hier im Haus, sogar drei. Einen für Dokumente, einen für Waffen und einen für Bargeld und Schmuck.«

Ich hätte es mir denken können. Drew Elliott wohnt in einem atemberaubenden viktorianischen Palast, einem Herrenhaus mit jeder nur denkbaren technologischen Spielerei auf einem zwanzigtausend Quadratmeter großen Grundstück in einem der noblen Stadtteile in der Nähe der St. Stephen’s. »Meinst du, der Erpresser wusste das?«

»Er sagte, er wüsste, dass ich das Geld habe.«