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Kirsten Kerner, ausgebildete Theologin und Moderatorin bei »Radio Balsam«, erfährt über den Ticker vom Mord an Oberkirchenrat Rauhbach. Mit seelsorgerlichem Einfühlungsvermögen recherchiert sie im Berliner Kirchenklüngel und macht eine skandalträchtige Entdeckung, die sie in Konflikt mit dem Bischof bringt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 238
Anne-Kathrin Koppetsch
Blei für den Oberkirchenrat
FISCHER E-Books
Die Frau in der Gesellschaft
Herausgegeben von Ingeborg Mues
Kirsten Kerner
genannt Kiki, wollte eigentlich Bischöfin werden. Stattdessen verdingt sie sich als freie Journalistin bei Radio Balsam, dem ersten christlichen Privatsender in Berlin.
Kornelius Wiesenfels
Kikis charmanter Softie-Kollege mit den wunderschönen dunkelgrauen Augen, arbeitet als Redakteur ebenfalls bei Radio Balsam.
Jürgen Hummel
Pfarrer und Moderator, bringt Kiki mit seinen Macho-Sprüchen regelmäßig auf die Palme.
Geschäftsführer Ahl
will aus Radio Balsam ein profitables Unternehmen machen.
Torsten
Kikis Bruder, spielt öfter Feuerwehr für seine chaotische kleine Schwester.
Otto Rauhbach
Oberkirchenrat und Ausbildungsreferent, wird erschossen im Tiergarten aufgefunden. Mehr als einer hätte ein Motiv gehabt, ihn umzubringen.
Anna Rauhbach
seine Witwe, ist über seinen Tod nicht sonderlich betrübt.
Sabine
Rauhbachs Tochter, hat sich nicht nur von ihrer Familie emanzipiert.
Die Kommissarin
kaut Kaugummi und trägt Reeboks.
Der Bischof
versucht, sein Kirchenschiff sicher durch die Finanzkrise zu steuern.
Frank Schmeichel
sein Pressesprecher und Adlatus, unterstützt ihn nach Kräften.
Fischbach
Chef der protestantischen Nachrichtenagentur, fährt als Ossi BMW.
Michael Schirn
sein Stellvertreter, nimmt ihn in Schutz.
Matthias Henneke
arbeitsloser Theologe, verwahrlost zusehends.
Karin
Vertreterin der Vikarinnen, sucht nach neuen Berufsperspektiven.
Hanna Schwarz
Pfarrerin in Ostberlin, hat seit ihrer Scheidung keine Stelle mehr.
Sarah
ihre pubertierende Tochter, wird verhaltensauffällig.
Bettina und Uwe
Dinkie-Paar im edelsanierten Kreuzberg, wissen immer einen Rat.
Axel
der nette Jurastudent, lässt sich von Kiki abschleppen.
Kurt
fast promovierter Soziologe, hält an seinen achtundsechziger Idealen fest und frisst sich durch.
Das schwarze Wochenende begann an einem Freitagnachmittag ganz harmlos.
»Und welchen Tipp würden Sie Frauen geben, um sich besser zu verkaufen?«, fragte ich mein unsichtbares Gegenüber.
»Erstens: Sagen Sie klar, was Sie wollen!«
Das ist leicht gesagt, dachte ich. Wenn Frauen damit keine Probleme hätten, gäbe es den ganzen Markt der Selbstbehauptungs-, Psycho- und Ich-weiß-nicht-was-Kurse nicht.
»Zweitens«, fuhr die dunkle Frauenstimme fort, »formulieren Sie Forderungen! Last but not least: Sie sind toll, spitze, einmalig! Vergessen Sie das nie!«
Das war mein Stichwort: »Vielen Dank, Simone Mertens vom internationalen Frauenzentrum, Leiterin des Kurses ›Frauen im Berufsleben‹ – und damit verabschiedet sich wie jeden Freitagnachmittag Kirsten Kerner. Sie hörten die Sendung ›FrauenFunken‹, das Magazin für Frauen auf …« Ich hob die Stimme und machte eine künstliche Pause. So ist es Vorschrift.
Dann wird das Jingle eingeblendet: »Radio Balsam – for body and soul.«
Ein blödes Jingle: Zuerst Mozarts »Ave verum« und im zweiten Teil die Bassstimme à la Barry White mit Rhythmusunterlegung. Passt überhaupt nicht zusammen. Die Kolleginnen in der Redaktion finden die ultratiefe Männerstimme sexy. Die Kollegen finden sie affektiert. Und ich stehe auf Mozart original statt verhunzt.
»The winner takes it all«, dudelten ABBA zum Ausklang. Unbeschwerte Jugendzeit! Die Siebziger mit Sweet, Smokie und ABBA! Ich packte mein Manuskript zusammen und sah auf die große Uhr über der Studiotür. Fünf vor fünf. Für heute Feierabend. Dachte ich.
Im Redaktionsraum standen Jürgen und Kornelius zusammen. Jürgen moderiert unter anderem die Vorabendsendung, und Kornelius ist Redakteur.
»Na, wie war ich?« An diesem Freitag war meine sechste Sendung »FrauenFunken« gelaufen. Live. Und ich hole mir die Kritikerstimmen lieber direkt ab als hinter meinem Rücken.
»Okay«, sagte Kornelius. Er war sichtlich nicht bei der Sache. Er reichte mir ein Fax. »Hier, lies. Das ist gerade von der ppa reingekommen.«
Aha, von der protestantischen Presseagentur. Da hatte ich auch einmal ein Praktikum gemacht. Ich ließ mich auf den nächsten Stuhl fallen und zündete mir eine Gauloise blonde légère an. Dann las ich: »Berlin. ppa. Oberkirchenrat Otto Rauhbach ist am frühen Freitagnachmittag tot in Berlin aufgefunden worden. Passanten entdeckten den Achtundfünfzigjährigen mit einer Schusswunde in der Brust neben einer Parkbank im Tiergarten. Sie alarmierten sofort die Polizei. Es handele sich höchstwahrscheinlich um ein Verbrechen, erklärte ein Sprecher der Polizei. ›Betroffen‹ und mit ›tiefer Trauer‹ reagierten Mitglieder der Kirchenleitung auf die ›unfassbare Tat‹. Otto Rauhbach war seit 1996 Ausbildungsreferent der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg. Täter und Motiv sind zur Zeit noch nicht ermittelt.«
Kornelius tastete nach seinem Päckchen Pfeifentabak. »Du kanntest den Rauhbach doch, oder?«
»Na klar kannte ich den. Schließlich bin ich mal Azubi bei der Kirche gewesen.«
Nach acht Jahren Theologiestudium absolvierte ich zwei Jahre praktische Ausbildung – das Vikariat – für einen Hungerlohn, immerhin mit der Aussicht auf eine anständig bezahlte Pfarrstelle. Das Ergebnis: arbeitslos. Oder wie soll ich mein kümmerliches Dasein als freie Journalistin sonst bezeichnen? »Underemployment« wäre wohl der neudeutsche Fachausdruck für meine Situation. Auf klar Deutsch: Zehn Jahre Ausbildung waren umsonst. Oder sollte ich besser sagen vergeblich? Umsonst waren sie nämlich nicht. Weder für meine Eltern, die meinen Lebensunterhalt finanziert hatten, noch für den Staat. Und für mich auch nicht, wenn ich an die Plackerei in den Semesterferien und die Büffelei fürs Examen denke.
»Und? Was war Rauhbach für ein Typ?«, wollte Kornelius wissen.
»Ziemlich unnahbar. Nicht so wahnsinnig beliebt«, sagte ich.
»Vor allem, seit nicht mehr alle Theologen in das Pfarramt übernommen wurden. Die Kirche hat keine Kohle, wissen wir. Die Kirche stellt niemanden mehr ein. Toll für alle, die drin sind, und dumm für die, die draußen sind und nicht reinkommen. Besonders für die, die das Vikariat noch absolviert haben. Dann sind sie meist Anfang dreißig: zu spät, um was Neues anzufangen.«
»Hat Rauhbach mit dem Auswahlverfahren der Vikare zu tun gehabt?«
»Natürlich. Er hat die entscheidenden Gespräche geführt.«
Jürgen schaltete sich ein. »Na also. Erstklassiges Motiv. Abgewiesener Theologe begeht Meuchelmord an Oberkirchenrat. Der Herr Vikar wurde brotlos, weil er den Herren in der Kirchenleitung zu schwul war. Huch!«, sagte Jürgen tuntig und lachte sich fast kaputt. »Oder der Herr Pfarrer in spe war zu politisch: Die linke Einstellung des Nachwuchstheologen verhinderte seine Einstellung! Deshalb schoss er den Oberkirchenrat über den Haufen! Als revolutionäre Tat!« Jürgen lachte wieder ausgiebig. Dann schaute er mich mit gespieltem Entsetzen an. »Aber Kiki, dann bist du ja auch unter Mordverdacht!«
Jürgen hat eine Vorne-kurz-hinten-lang-Frisur. Außerdem ist sein rechtes Ohr gepierct. Und dann ist er auch noch blond und sonnenbankgebräunt!
Eigentlich wäre mir das egal. Es muss auch Leute geben, die dem Mantafahrer-Klischee entsprechen. Aber warum muss ausgerechnet so einer eine Stelle als Moderator beim christlichen Radio bekommen und ich nicht? Die einzige Erklärung, die mir einfällt, ist, dass Jürgen außerdem noch eine halbe Pfarrstelle hat. Und wer hat, dem wird gegeben werden. Steht sogar schon in der Bibel, im Matthäusevangelium Kapitel 13. Weil Radio Balsam ein Sender mit kirchlicher Beteiligung ist, hält man sich dort an solche Bibelverse. Da kriegt ein dümmlich grinsender Pfarrer noch einen Moderatorenjob auf sein geistliches Amt gepackt. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf! Und ich muss mich für 250 Mark wöchentlich als freie Moderatorin bei der Frauen-Alibisendung verdingen. Mist.
Ein herb-würziger Geruch machte sich in der Redaktion breit. Kornelius hatte seine Pfeife angezündet. Irgendwie passt das Pfeiferauchen zu ihm. Er ist ein sensibler Typ mit dunkelbraunen Haaren und verträumtem Blick. Ich mag nicht nur seine Duftmarke.
»Im Ernst«, Kornelius’ graue Augen strahlten mich unter den dichten Wimpern an. »Du kennst doch jede Menge Leute in der Kirchenszene. Hast du nicht Lust, ein paar O-Töne einzufangen? Wir haben am Sonntagabend noch Platz für einen Beitrag bei den Kirchen-News.«
Aha. Dachte ich’s mir doch: Ade, freies Wochenende! »Was kriege ich dafür?« (Wie sagte Frau Mertens vom Frauenzentrum? Sagen Sie klar, was Sie wollen!)
»80 Mark, wie üblich.«
So billig kriegt ihr mich diesmal nicht! »Ich hab am Wochenende schon was vor. Ich will 150 Flocken!« (Formulieren Sie Forderungen!)
»Kiki.« Kornelius dunkelgraue Augen wurden ganz rund und seine Stimme klang weich. So könnte er mich zu einem Mord verführen!
«Du könntest die Geschichte rauf und runter verkaufen. An die Tagespresse, vielleicht sogar an Magazine. Radio Balsam ist nur der Anfang.«
Ich überlegte. Die Mieterhöhung für meine 41,5-Quadratmeter-Wohnung mit Kachelofen im hinteren Kreuzberg saß mir im Nacken. Die Telefonrechnung für die aufwändigen, aber unlukrativen Recherchen. Außerdem gehe ich gerne mal ein Bier trinken. Und ins Kino, aber das kann ich mir nur noch am Kinotag leisten. Einen Auftrag abzulehnen kann ich mir dagegen eigentlich gar nicht leisten.
»Okay, ich mach’s.« (Sie sind toll, spitze, einmalig … geradezu unentbehrlich!)
»Fein. Der Bischof hält am Sonntagmorgen in Potsdam einen Gottesdienst. Von dem hätten wir gerne einen O-Ton …«
»Hey, so haben wir nicht gewettet! Sonntag wollte ich mit Freunden die Fahrradsaison einläuten!«
»… und du hast doch Kontakte zur ppa. Vielleicht können die dir noch Tipps geben. Und deine Exkollegen aus dem Vikariat kannst du mal nach der allgemeinen Stimmung fragen.«
Hausaufgaben für das Wochenende.
»Die Kollegen treffen sich heute Abend im ›Hasenreiter‹. Stammtisch der Vikare und Vikarinnen«, sagte ich automatisch.
»Ist doch bestens!« Kornelius’ Augen strahlten wenn möglich noch intensiver als zuvor. Bei mir fliegt dann immer ein ganzer Schwarm Schmetterlinge im Magen los. Ich ließ sie in den Vorfrühling flattern. Aber dann dachte ich daran, dass Kornelius und ich für den Abend verabredet waren.
»Wollten wir nicht heute essen gehen im Frühlingslüftchen?«
»Ja, das wollte ich dir auch noch sagen: Ich kann heute nicht. Lass uns das Date auf nächste Woche verschieben.«
Die Schmetterlinge stürzten ab. Mach dich rar bei den Männern, hat meine Mutter immer gesagt. Aber wie soll ich mich rar machen bei jemand, der sich nur einmal im Monat mit mir verabredet? Und der dann noch dauernd die Dates verschiebt? Ich seufzte unhörbar.
Kornelius setzte sich wieder an den Computer. »Sorry, aber ich muss jetzt noch die Nachrichten des Tages zusammenschreiben. Bin in zwanzig Minuten auf Sendung.«
Jürgen tönte bereits über den Lautsprecher aus dem Studio: »Und hier ist wieder Jürgen Hummel am Mikro, euer Pfarrer für alle Fälle. ›Simply the best‹ – der beste Einstieg in drei Stunden Abendtalk mit Jürgen Hummel! Dank Tina Turner!« Alberner Typ.
Ich setzte mich an den Arbeitsplatz für freie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Jeder der Redakteure hat einen und die Moderatoren teilen sich einen zu zweit. Nur die so genannten Freien – also die Tagelöhner – müssen sich mit einem Platz zusammen begnügen. Immerhin hat mir der Chef von Radio Balsam eigene Visitenkarten mit dem Logo von Radio Balsam in Aussicht gestellt. Private Visitenkarten hat heute schließlich jeder. Damit macht frau keinen Eindruck mehr.
Als Radio Balsam vor gut vier Monaten als erstes privates christliches Radio auf Sendung ging, überschlugen sich die Journalistenkollegen mit ihren Meldungen.
»Kirchliches Radio: Courage zur Blamage?«, titelte eine Berliner Tageszeitung.
»Nicht einmal das Jingle ist auf Deutsch«, meckerte die Kirchenzeitung, als ob die Ansagen und nicht die Songs auf Englisch wären. Der Hauptstadtsender Berlin machte als Anstalt des öffentlichen Rechts natürlich auch Jagd auf den kommerziellen Konkurrenten.
»Wird jetzt nicht mehr in der Kirche gebeichtet, sondern im Radio?«, säuselte ein Redakteur des Kirchenfunks und setzte noch eins drauf: »Demnächst erteilen die Pfarrer per Talk-Radio öffentliche Absolution.«
»Kann die Kirche sich das überhaupt leisten?«, fragten mehrere Kommentatoren besorgt.
»1000 Leute entlassen, aber einen Privatsender gründen!«, schrieb eine Berliner Boulevardzeitung. Dabei hatte die Berlin-Brandenburgische Kirche nur einen symbolischen Betrag zum Startkapital beigetragen.
Radio Balsam soll sich ab dem nächsten Jahr selbst tragen.
»Wir müssen Anzeigenkunden finden. Und Sponsoren, Sponsoren, Sponsoren«, hämmert Balsam-Geschäftsführer Ahl täglich und stündlich. Und doziert weiter: »Das Unternehmen Kirche muss sich auf dem freien Markt behaupten. Daran ist gar nichts unchristlich oder unbiblisch. Schon der Apostel Paulus predigte auf dem Marktplatz.«
Ich frage mich, was die Marktwirtschaft im 20. Jahrhundert mit dem harmlosen Marktplatz in Athen zu tun hat. Der Marktplatz, auf dem Paulus predigte, war schätzungsweise eine werbespotfreie Zone.
»Die Kirche ist allen Menschen die frohe Botschaft schuldig. Auch denen, die nicht mehr zu ihr kommen«, fährt Ahl dann für gewöhnlich fort. Und die frohe Botschaft zu vermitteln kostet Geld, so sein Argument. Das muss durch Werbeeinnahmen eingefahren werden. Sobald ein potenzieller Anzeigenkunde anruft – ein solventer natürlich –, überschlägt Ahl sich vor Eifer. Als er mich neulich in sein Büro zitierte, habe ich ein solches Gespräch unfreiwillig belauscht.
»Aber natürlich können Sie die Sendezeit selbst bestimmen. Und natürlich werden wir im Umfeld keine schädigende Berichterstattung bringen«, säuselte Ahl beflissen, »nein, nichts, was der Autoindustrie schaden könnte. Wir haben die Berichterstattung über die Aktionen gegen den Autobahnausbau bereits seit einigen Tagen eingeschränkt, wie Sie sicherlich bemerkt haben.« Ich wurde schamrot, als ich das hörte. Ahl legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Chefsessel zurück. Er rieb sich die Hände und feixte: »Da habe ich einen fetten Fisch an der Angel. Eine Autodirektversicherung aus Ami-Land! Die wollen vielleicht Werbezeit bei uns einkaufen!«
Zu den Vertreibern der Soft-Hit-CDs, für die jede Stunde dreimal geworben wird, ist Ahl übrigens weniger freundlich. Sie bringen sowieso kaum etwas ein: nur zehn Mark pro verkauftem CD-Album, vorausgesetzt, die Kunden geben Radio Balsam als Werbeträger an.
»Besser als nichts«, pflegt Ahl zu sagen, »aber wenn wir mal richtig im Geschäft sind, dann lassen wir den Vertrag auslaufen!«
An der Wand hängt ein Barometer mit den Hörerreichweiten. 0,4 Prozent; 0,5; 0,9; 1,1 … Nachdem die Zahl in den ersten Monaten stetig anstieg, stagniert sie jetzt. Das Zahlenbarometer an der Wand zeigt gleichzeitig Ahls Stimmung an. Steigt es, dann gibt es Schaumküsse – früher wurden sie Negerküsse genannt, aber dieser Ausdruck ist nicht mehr politisch korrekt – oder Pralinen. Am Rosenmontag brachte Ahl sogar Sekt mit. Alkoholfreien natürlich, »damit auch die Herren Moderatoren mit uns anstoßen können«.
Zwei Tage später stürmte er in die Redaktion wie ein angestochener Stier. Als erstes nahm er sich Kornelius vor: »Völlig daneben, mein Lieber, völlig daneben. Das waren erzlangweilige – um nicht zu sagen, pisslangweilige – Kirchen-News! Und die Andachten können Sie sich in die Haare schmieren. Da reiben sich vielleicht noch die alten Omis ein paar Rührtränen aus den Augen, aber wir wollen junge Hörer haben. Ich betone: junge!«
Er donnerte mit der Faust auf die Tischplatte. Aua. Mir täte das weh. Als nächstes kam Jürgen an die Reihe. Der hatte die Kritik schon eher verdient. Das hätte ich mir zu gerne mit angehört. Aber wahrscheinlich wäre ich danach drangewesen. Und für 250 Mark pro Sendung lasse ich mich nicht als Blitzableiter missbrauchen!
Das ist wirklich nicht im Billighonorar für freie Moderatorinnen mit inbegriffen.
Die Pessimisten gaben Radio Balsam drei Monate, höchstens ein halbes Jahr. Aber der Sender wird besser angenommen, als die Unkenrufer befürchtet haben. Ob ich auf das richtige Pferd gesetzt habe, weiß ich trotzdem nicht. Als ich die wöchentliche Moderation der Frauensendung angeboten bekam, war ich heilfroh über die regelmäßigen Einnahmen. Eine feste Stelle wäre mir natürlich lieber gewesen. Leider gab es wegen des Engagements bei Balsam auch Verluste. Der Hauptstadtsender Berlin nimmt seitdem keine Beiträge mehr von mir. Der Redakteur findet immer eine Ausrede: Das Thema sei angeblich schon gelaufen, es gebe keine Sendezeit mehr oder er habe jemand anders mit der Recherche beauftragt. Ich kenne die Sprüche inzwischen auswendig. Freie Journalistinnen essen ein hartes Brot!
Ich seufzte hörbar.
Kornelius schaute vom Computer auf. »Was ist los?«
»Ach, nichts …«
Kornelius betätigte den Drucker. »Ich muss ins Studio, bin eh schon spät. Wir sehen uns dann am Sonntag um sechs.«
Sonntag um sechs? Mein Herz begann heftig zu klopfen. Sollte er mich dann ausführen wollen? Eigentlich hatte ich schon was vor, aber in diesem speziellen Fall …
»Mit deinem fertigen Beitrag für die Kirchen-News. Über den Rauhbach-Mord«, fuhr Kornelius fort. Ach ja. Das hätte ich fast vergessen. »Frohes Schaffen!« Er nahm die Skriptblätter aus dem Drucker und ging zur Studiotür. Dann drehte er sich noch einmal um und grinste von einem Segelohr zum anderen. »Ciao!«
Die Tür klappte zu. Das Unangenehmste stand mir jetzt bevor. Ich zündete mir noch eine Zigarette an. Dann wählte ich die Nummer der protestantischen Presseagentur. Nach dem dritten Läuten hob Michael ab. »Schirn, ppa, guten Abend«, klang es geschäftsmäßig. Wenigstens nicht der Chef. Mit dem bin ich heftig verkracht.
»Ich bin’s, Kiki, wegen der Geschichte mit dem Oberkirchenrat Rauhbach«, sagte ich betont lässig.
»ja, ich weiß, hier laufen den ganzen Tag die Drähte heiß.«
Ich nahm all meinen Mut zusammen: »Ich hab gute Connections, wie du weißt, und ich mache was für Radio Balsam. Könnten wir vielleicht zusammenarbeiten?«
Zögern. »Ich persönlich habe nichts dagegen, aber du weißt ja …«
»Ja, ich weiß, ich bin mit euerm Chef über Kreuz. Aber der muss es ja vorläufig nicht wissen. Und schließlich hast du eigene Entscheidungsbefugnis.«
»Auch wieder wahr. Allerdings, ob wir mit Radio Balsam« (er sprach das Wort aus, als handele es sich um eine Psychosekte und nicht um einen Radiosender) »zusammenarbeiten können, weiß ich nicht.«
Ich unternahm einen letzten Versuch: »Also treffen wir uns dann morgen zwecks Besprechung weiterer Einzelheiten?«
»Okay, meinetwegen. Nachmittags um vier in der Redaktion, dann ist nicht mehr so viel los.«
»Bis dann. Ciao.« Fast gleichzeitig legten wir den Hörer auf.
Schon Viertel vor sechs. Ich schnappte meinen Kurzmantel im Leo-Look vom Garderobenständer und zog ihn über den Ledermini. Dabei bemerkte ich eine Laufmasche in der schwarzen Strumpfhose knapp unter dem Knie. Wahrscheinlich hatte die Fahrradpedale das Loch gerissen. Und die Strumpfhosen kosten zwölf Mark das Stück. Die Absätze der Schuhe waren außerdem schief, bemerkte ich bei näherem Hinschauen. Aber welcher Schuster repariert schon Billigschuhe von Tack? Ich hatte keine Lust, auf den Aufzug zu warten. Also lief ich die zwei Stockwerke hinunter. Das ist gut für die Figur. Seit meinem dreißigsten Geburtstag vor vierzehn Monaten habe ich zwei Kilo zugenommen, ohne meine Essgewohnheiten geändert zu haben. Jetzt wiege ich achtundfünfzig Kilo bei einer Größe von ein Meter fünfundsechzig. Plus ein Pfund Modeschmuck im Ohr, am Hals und an den Händen. Übrigens trage ich eine Kurzhaarfrisur mit wasserstoffblondierten Haaren.
Draußen war es kühl. März in Berlin. Dieser blöde Schneeregen. Da fragt man sich, ob es jemals wieder Frühling wird. Ich kuschelte mich in meinen Synthetikpelz. »Ein feste Burg ist unser Gott« fällt mir immer ein, wenn ich die Kirche »Zum Heiligen Berg« anschaue: ein wuchtiges wilhelminisches Gebäude mit acht kleinen Türmchen. Für heutige Gemeinden ist es viel zu groß. Deshalb wird die Kirche seit ihrer Renovierung mehrfach genutzt. Ein Architekturbüro hat Räume gemietet, die Kreiskirchenverwaltung und Radio Balsam. Außerdem stellen im Kirchenraum Kiezkünstler ihre Werke aus. Im »Meeting-Room« trifft sich regelmäßig die Aktionsgruppe »Mit Obdachlosen leben«. Die kirchliche Asylberatung ist im ersten Stock untergebracht.
»Das richtige Ambiente für unser Projekt«, freute sich Geschäftsführer Ahl auf der Eröffnungs-Pressekonferenz von Radio Balsam. »Soziale Einrichtungen und wirtschaftlich unabhängige Unternehmen befinden sich unter einem Dach!« Gemeindepfarrer Peter Holm hätte auf die kommerziellen Unternehmen, zu denen er auch Radio Balsam zählt, gerne verzichtet. »Aber wir brauchen die regelmäßigen Mieteinnahmen«, vertraute er mir an.
Sechs Uhr war es inzwischen. Der Vikarinnen-Stammtisch – so die offizielle Bezeichnung – im »Hasenreiter« beginnt erst um neun Uhr. Ich musste sowieso noch zu Hause mein Aufnahmegerät holen. In meiner Wohnung war es nur wenige Grad wärmer als draußen. Kachelöfen verbreiten eine tolle Atmosphäre. Leider bin ich meistens zu faul, um abends noch zu heizen. Lieber gehe ich noch einmal aus. Oder ich lümmele mich auf mein Hochbett und ziehe mir die Decke über die Beine.
Auf dem Anrufbeantworter war nur eine Nachricht. »Hier ist Kurt. Sehen wir uns heute Abend in der ›Prinzessin‹?« Leider nicht, Kurt, leider nicht. Kiki muss noch arbeiten.
Vor halb zehn lohnt es sich nicht, am Stammtisch im »Hasenreiter« einzutreffen. Sieben Vikare und Vikarinnen saßen diesmal am langen runden Tisch, der für uns gewöhnlich reserviert ist. Oben saß die Fastenzeit-ohne-Alkohol-Fraktion. Sie hatten Tonic, Cola und Orangensaft vor sich stehen. Bis zum Ostersonntag Anfang April würden sie abstinent bleiben. Von denen erfährt man sicher nichts außer salbungsvollen Phrasen, dachte ich. Alkohol lockert ja bekanntlich die Zunge. Außerdem wollte ich selbst ein Glas Wein trinken.
Andererseits reden Leute mitunter ganz schönen Schwachsinn, wenn sie angetrunken sind. Das ergibt dann auch nicht gerade die super sendetauglichen O-Töne.
Also nahm ich in der Mitte zwischen Alkis und Abstinenzlern Platz und stellte meine Lauscher in beide Richtungen auf. Ich bestellte einen italienischen Weißwein. Prost! Auf die Vernünftigen und auf die losen Zungen. Wie es euch gefällt.
Der Mord war auf beiden Seiten des Tisches Gesprächsthema Nummer eins.
Die Abstinenzler oben fanden »unglaublich« und »erschreckend«, was sie in den Nachrichten gehört hatten.
»Sicher war er manchmal streng. Aber er war immer gerecht! Wie kann man so einen nur umbringen? Ist das nicht schrecklich?«, empörte sich einer der Rechtschaffenen mit besonders quäkiger, penetranter Stimme.
»Und selbst wenn er mal einen Vikar rausgetan hat, dann hatte er seinen Grund«, näselte ein anderer.
»Schließlich kann man in den heutigen Zeiten auch nicht mehr jeden einstellen«, sagte der Quäker, »die Kirche, gerade die evangelische Kirche, muss den Mut haben, auch mal nein zu sagen.«
»Vor allem sollte die Kirche keine Doppelverdiener mehr einstellen«, stimmte eine Fiepsstimme zu. »Ein Pfarrgehalt reicht für eine ganze Familie. Da muss die Frau nicht auch noch mitverdienen!«
»Wo kommen wir auch hin mit dem Pluralismus in der Kirche. Kein Wunder, dass so viele austreten!« Das war wieder der Quäker. »Vor allem sollten erst mal alle Schwuchteln rausfliegen. Eine Schwuchtel kann ja Künstler oder Musiker werden. Ich hab einen Freund, der ist auch schwul. Aber der muss nicht gerade Pfarrer werden!«
»Und das Multi-Kulti-Wischi-Waschi ist erst recht zum Kotzen«, näselte sein Gesprächspartner. »Da ist doch neulich mal ein Pfarrer mit Luxusasylanten sogar in den Urlaub gefahren. Das stand in der Bild-Zeitung! Hahaha! Haben die sich kaputtgelacht über die bekloppten Kirchenleute.«
Der Quäker schlug sich auf die Schenkel.
»Du, das finde ich aber gar nicht witzig!«, sagte der Fiepser ehrlich betroffen. »In meiner Gemeinde wollte deshalb jemand aus der Kirche austreten!«
Ich konnte mich nur wundern. Solche Töne hätte ich im »Goldenen Löwen« von Niederspuckelsau vermutet, aber niemals am Vikarinnen-Stammtisch mitten in Berlin-Kreuzberg! In den achtziger Jahren hätten Theologen solche Ansichten höchstens hinter vorgehaltener Hand geäußert, aber auf keinen Fall in der Öffentlichkeit! Anscheinend hatte der Wind sich gedreht.
Am unteren Tischende erklangen andere Töne.
Matthias, ein Kollege aus meinem Vikarskurs, war sichtlich angeheitert. Er intonierte ein bekanntes Kinderlied mit leicht abgewandeltem Text: »Der Hahn ist t-tot, der Hahn Rauhbach ist tot«, sang Matthias nicht ganz sauber. »Wir müssen SSSekt trinken, der Schschampus muss fließen, mein ärgster Feind ist dahin, dahin!«
Matthias hatte einiges intus, ganz klar.
»Psst! Nicht so laut!«, mahnte Susanne.
»Ich ssinge, was ich will. – Lass den Feind erzittern«, schmetterte Matthias nun eine Strophe des Kirchenliedes »Jesu, meine Freude«, um das zusammengewürfelte Medley mit einem Sprechgesang zu beenden: »Der Rauhbach ist tot, der Saubach ist tot, die Sau ist tot!« Dazu schlug er im Rhythmus mein Feuerzeug auf den Tisch. Ich hielt mir die Ohren zu. Es war herz- und ohrenzerreißend.
Matthias hat mit mir zusammen die Vikarsausbildung absolviert. Neun Monate ist das jetzt her. Im Unterschied zu mir wurde er von der Kirchenleitung endgültig abserviert. Mir haben die Verantwortlichen nach Ausbildungsende noch Hoffnungen gemacht. »Frau Kerner, wir schätzen Ihre Arbeit sehr und werden unter allen Umständen versuchen, Sie einzustellen«, hatte Rauhbach mit ernstem Gesicht verkündet. »Sie wissen aber auch, wie die finanzielle Lage in unserer Landeskirche aussieht. Versprechen können wir Ihnen nichts. Versuchen Sie, eine andere Berufsperspektive ausfindig zu machen. Sie hören dann von uns.«
Don’t call us, we call you. Beim Theater und beim Fernsehen bedeutet diese Vertröstung das Aus. Ist es bei der Kirche wirklich anders?
Matthias hatte dagegen nicht einmal diesen Trostpreis bekommen. Er hatte eine glatte Niete gezogen.
»Herr Henneke, wir können Sie leider nicht beschäftigen«, teilte die Kirchenleitung ihm unverblümt mit, »sicher finden Sie eine andere Arbeitsstelle, die Ihnen mehr liegt.« Matthias hatte immer nur Pfarrer werden wollen. »Sie sind doch so praktisch veranlagt. Vielleicht finden Sie etwas im handwerklichen Bereich oder als Hausmeister?«, hatte Rauhbach gestichelt. Das war ein glatter Schlag unter die Gürtellinie gewesen. Matthias hatte während seines Studiums als Hausmeister in einem Gemeindehaus gearbeitet und war gekündigt worden, weil er angeblich zu schlampig war. Unvorsichtigerweise hatte er die Geschichte erzählt, als Rauhbach dabei war.
»Was machst du jetzt eigentlich?«, wollte ich wissen.
»Ich werde T-Taxifahrer«, lallte er und blies mir eine säuerliche Fahne entgegen. Ich konnte es nicht glauben.
»Du? Taxifahrer? Im Ernst?«
»Ja, meine Eltern. Wollen das. Bezahlen.«
»Wer hat dir eigentlich damals mitgeteilt, dass du bei der Kirche nicht arbeiten kannst?«
»N-na, wer schon. Der natürlich. Der-der ist schschuld. « Matthias begann wieder mit dem Kinderlied.
»Wer? Rauhbach etwa?«
»Ja, ja, jjja!« Er wollte zu einer weiteren Hasstirade ansetzen. Eigentlich reichte es mir. Wozu sollte ich mich mit diesem angetrunkenen Typen noch weiter unterhalten? Überhaupt, als Mörder kam er wohl kaum in Frage. Der wäre ja nicht einmal imstande, ein Gewehr ruhig in der Hand zu halten, geschweige denn einem Oberkirchenrat damit das Licht auszupusten.
So ganz ging mir Jürgens Verdacht allerdings noch nicht aus dem Kopf. Ob vielleicht doch einer der Vikare etwas mit dem Mord zu tun hatte? Keine Pfarrstelle zu bekommen ist bei der momentanen Arbeitsmarktlage bitter. Was bleibt dann noch, außer Einrichtungsberaterin bei Ikea oder Versicherungsvertreter zu werden? Oder aus Frust einen Oberkirchenrat umzubringen?
Matthias galt in unserem Kurs als Sonderling. Er wohnte noch während seines Studiums bei seinen Eltern und ließ sich von seiner Mutter bedienen. Im Vikariat erwartete er, dass seine weiblichen Kolleginnen diesen Service fortsetzten und ihm Kaffee einschenkten oder Essen holten. Natürlich taten wir das nicht.
Außerdem brachte er uns mit seinen Chauvi-Bemerkungen regelmäßig auf die Palme. »Die hat keinen mehr abgekriegt« oder »die müsste mal wieder hergenommen werden« waren seine Standardsprüche, wenn im Seelsorgekurs über Frauen mit Problemen gesprochen wurde. Wir Kolleginnen hatten im Lauf von zwei Jahren gelernt, diese Provokationen zu ignorieren. Nur unser Studienleiter, ein ehemaliger Achtundsechziger, war bis zum Schluss »unheimlich betroffen« über Matthias’ chauvinistische Bemerkungen.
Matthias sah immer ein bisschen verwahrlost aus. Oft roch er nach Schweiß. Das war schon damals so. Aber wann fingen seine offensichtlichen Alkoholprobleme an? Im Vikariat war mir nichts aufgefallen. Ob der Rausschmiss bei der Kirche ihm den Rest gegeben hatte? Andere mussten das auch verkraften. Klar, die Menschen sind verschieden. Matthias ist einer von der labilen Sorte. Jemand wie ihn hätte ich auch nicht gern als Pfarrer.
»Matthias ist kommunikationsgestört«, diagnostizierte eine Kollegin. Er ist allerdings ein brillanter Analytiker. Besonders seine Referate über die Geschichte der evangelischen Kirche in der Nazizeit und die Aufarbeitung der DDR-Geschichte waren vorzüglich gewesen.
Die Frage aller Fragen konnte ich auch mit Hilfe dieser Erinnerungen nicht beantworten. War Matthias fähig, einen Mord zu begehen? Sein Hass auf Rauhbach war gewaltig. Der hatte ihm die Zukunft vermasselt und ihn noch zusätzlich gedemütigt. Ich fand es zwar unwahrscheinlich, dass Matthias den Oberkirchenrat erschossen haben sollte. Ich beschloss, ihn gerade deshalb im Auge zu behalten.
Ich wandte mich Susanne zu. »Was machst du jetzt eigentlich? Du bist doch auch schon fertig mit dem Vikariat.«
»Dieselbe Situation wie bei dir. Von zwanzig Vikaren können sie insgesamt nur fünf übernehmen, und ich bekäme noch Bescheid, sagten sie.«
»Und was machst du jetzt?«, brüllte ich gegen die so genannte Hintergrundmusik an. Der Idiot an der Theke hatte gerade die Anlage lauter gestellt. Man musste sich förmlich anschreien.
»Ich hab mich als Religionslehrerin in Brandenburg beworben. Da suchen sie noch welche«, brüllte Susanne zurück.
Ich erinnerte mich daran, dass ich Interviews führen sollte. Ich packte das Sony-Aufnahmegerät aus – ein Geschenk zum Zweiten Examen von meiner Mutter und meinen Geschwistern – und schloss das Mikrophon an. Eigentlich war es hier zu laut. Stimmengewirr erscholl vom Nebentisch. Phil Collins dröhnte aus dem Lautsprecher.
»Darf ich dich mal was fragen?«, fragte ich. »Für Radio Balsam.«
Susanne zögerte. Die Pause nach dieser Frage ist mir immer sehr unangenehm. Einerseits bin ich die Exkollegin, mit der man über alles quatscht. Andererseits bin ich die Reporterin, vor der man sich in Acht nehmen muss.
»Sagste der was, steht’s am nächsten Wochenende in der Kirchenzeitung«, hatte ein Kollege mal gelästert. Ein klassischer Rollenkonflikt.
»Also, kannst du dir vorstellen, dass jemand den Oberkirchenrat Rauhbach ermordet hat, weil er keinen Arbeitsplatz bei der … Kirche bekommen hat?«, bellte ich in das Mikrophon.
Susanne überlegte einen Moment. Ich hielt ihr das Mikro direkt unter die Nase und drehte den Regler bis zum Anschlag auf.
»Eigentlich nicht.« Verflixt. Sie sprach so leise. Der Pegel schlug kaum aus und wenn, dann wahrscheinlich von den Bässen aus dem Lautsprecher.
»Was hast du denn von Rauhbach gehalten?«
Susanne rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Na ja, von den Toten nichts Schlechtes … und er kann ja auch nichts für die Finanzmisere der Kirche … war halt ein schwieriger Job, den er machte.« Susanne war eine wenig ergiebige Interviewpartnerin. Mir fielen keine Fragen mehr ein.