MORDSOPER - Anne-Kathrin Koppetsch - E-Book

MORDSOPER E-Book

Anne-Kathrin Koppetsch

0,0

  • Herausgeber: OCM
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Hendel & Häldin Sie begegnen sich am Tiefpunkt ihres Lebens. Sie kennen ihre dunkelsten Geheimnisse. Sie erfinden sich neu. Friederike Hendel verlässt die Familie und zieht in eine Künstler-WG im Ruhrgebiet. Michael Häldin lässt sich nach einem Karriereknick in einer Seniorenresidenz im Sauerland nieder und fristet sein Leben im Rollstuhl. Als ein Operntenor von der Dachterrasse stürzt und tödlich verunglückt, glauben sie nicht an einen Unfall. Immer, wenn der Code "Kommando Klapse!" aufleuchtet, laufen die Drähte heiß zwischen Stadt und Land, zwischen Hendel & Häldin Ein Fall für Hendel & Häldin – so verrückt wie das Leben selbst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 283

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© März 2022 OCM GmbH, Dortmund

Umschlagbild: „Mordsoper“ von Bettina Brökelschen, © Bettina Brökelschen

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-99-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Mordsoper

So verrückt wie das Leben selbst

Ein Fall für

Anne-Kathrin Koppetsch

Inhalt

ERSTER AKT

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ZWEITER AKT

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

DRITTER AKT

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

EPILOG

Drei Monate später

ENDE

Dank und Anmerkungen

Über die Autorin

ERSTER AKT

Altbau in einer ehemaligen Industriestadt. Malerische Stuckfassade im Jugendstil, leicht verkommen.

Enges, steiles Treppenhaus mit Steintreppen, bedeckt von Teppichläufern.

Große Frau läuft auf Stöckelschuhen die Treppen hinauf. Empfang durch andere Frau in der Wohnungstür mit Glaseinsatz.

EINS

„Willkommen in der Villa Kunterbunt!“

Die zierliche Frau mit der üppigen Grauhaarmähne gestikulierte wild. Ihre pinkfarbene Tunika wogte dazu im Takt.

Friederike mühte sich über die letzten, steilen Stufen hinauf in den vierten Stock. Auf dem Rücken trug sie einen Rucksack. Einen Rollkoffer zog sie hinter sich her. Viel mehr war nicht übrig geblieben von ihrem alten Leben: diverse Kleidungsstücke, ein Notebook und fünf ihrer Lieblingsbücher. Einen schwarzen Hosenanzug würde sie demnächst kaufen. Noch konnte sie ihre Kreditkarte belasten.

Wer weiß, wie lange noch.

„Ich bin die Aneta!“, stellte die Frau in Pink sich vor. Ihre Stimme klang tief und angenehm melodiös. Die Aneta. Hatte man sich so nicht in den Achtzigerjahren vorgestellt? Der Frank. Die Sabine.

Friederike gab ihrer Vermieterin die Hand. „Danke. Wir haben telefoniert!“

„Wir duzen uns alle hier“, fuhr Aneta fort. Wie alt mochte sie sein? Die Sechzig hatte sie sicher schon überschritten. „Du hast hoffentlich nichts dagegen.“

Die Duzerei war Friederike nicht recht, schließlich waren sie keine Studenten mehr, doch sie widersprach nicht.

Friederike wusste nicht viel über Aneta. Nur, dass ihr deutlich älterer Mann vor zwei Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Seitdem nahm die Witwe Menschen jeden Alters, jeder Herkunft und jeden Geschlechts jeweils für einige Monate bei sich auf, gegen Entgelt natürlich.

Wie lange es wohl dauern würde, bis sie eine eigene Wohnung fand? Und vor allem: Wie sollte sie diese finanzieren?

Sie brauchte Aufträge.

So schnell wie möglich.

Eine Liste der ortsansässigen Bestatter hatte sie bereits im Internet gefunden und ausgedruckt.

Gleich morgen würde sie mit der Akquise beginnen.

Sie spitzte die Lippen und probte ihren Spruch. „Guten Tag, mein Name ist Hendel. Friederike Hendel. Ich bin Trauerrednerin. Darf ich Ihnen meine Aufwartung machen?“

Nachdem Friederike ihr Zimmer bezogen hatte – wie in den Achtzigern im Studentenwohnheim fand sie Tisch, Bett und Regale des schwedischen Möbelriesen vor – trat sie wenig später durch die offene Küchentür. Am Tisch erblickte sie einen großen, gut aussehenden Mann mit dunklen Haaren und einem trendy gestutzten Bart.

Höflich erhob er sich. Sie stellte fest, dass er ein Sitzriese war mit langem Oberkörper und verhältnismäßig kurzen Beinen. „Ernst!“, stellte er sich mit voll tönender Stimme vor, „Paul Ernst!“ Ob das Anetas Partner war? Er konnte höchstens Mitte Vierzig sein. Andererseits hatte man inzwischen gerne jüngere Männer.

Sie räusperte sich „Hendel!“

„Wie Händel, der Komponist?“

„Hendel mit e“, fuhr sie fort, bemüht, ihre Stimme hell und sanft klingen zu lassen. Alles eine Frage der Übung. „Friederike Hendel!“

„Also fast wie Georg Friedrich Händel!“

Was hatte sie geritten, ausgerechnet diesen Namen zu wählen? Warum hatte sie nicht etwas Neutrales gewählt, zum Beispiel Martina oder Britta?

Paul Ernst strich sich durch das Haar. „Ich bin Sänger, müssen Sie wissen!“

Richtig. Da war doch was. Friederikes Liebe zur klassischen Musik hatte sie diesen Vornamen wählen lassen.

„Wie schön. Welches Genre?“

In diesem Moment trat Aneta durch die Balkontür, umweht von einer Rauchwolke. Laut sprach sie in ihr Handy: „Dein Neid geht mir am Arsch vorbei.“ Sie lachte, unbekümmert und laut, und entsorgte die Zigarettenkippe im Müll. „Komm oder komm nicht! Ist mir scheißegal!“

Energisch drückte sie die Verbindung weg.

Jedenfalls nahm ihre Vermieterin kein Blatt vor den Mund.

„So!“ Aneta schenkte sich großzügig Sekt nach. „Prost, ihr Lieben!“

Der Sänger hielt für einen Moment inne.

Dann wandte er sich wieder Friederike zu: „Ich habe ein Engagement im Opernhaus. Es wäre mir eine Ehre, Sie als Konzertbesucherin begrüßen zu dürfen!“

„Ich liebe Opernmusik, Herr Ernst!“

„In der kommenden Saison geben wir die ‚Arabella‘ von Richard Strauss!“ Theatralisch legte er die rechte Hand auf das Herz. „Ich singe den Matteo!“

Die Situation begann, Friederike Vergnügen zu bereiten.

„Matteo, der Jägeroffizier, der um die schöne Arabella wirbt!“, outete Friederike sich als Opernkennerin. „Leider vergeblich. Doch die Uniform wird Sie hervorragend kleiden!“

Anetas Blick glitt zwischen den beiden hin und her. „Kinder, seid nicht so förmlich! Duzt euch endlich! Wir leben schließlich in einer Wohngemeinschaft!“

Der Opernsänger verbeugte sich wieder in ihre Richtung. „Wenn Sie gestatten, gnädige Frau!“ Friederike bemerkte, dass er keinen Ring am Finger trug.

Er war jünger als sie. Aber nicht zu jung, fand sie.

„Nur, wenn Sie uns eine Kostprobe Ihres Könnens geben!“

„Do re mi fa sol la si do!“, trällerte der Tenor aus voller Brust.

Aneta hatte eine weitere Sektflasche aus dem Kühlschrank geholt und verteilte Gläser auf dem rustikalen Holztisch. Perlend floss die helle Flüssigkeit in die Gefäße.

„Darauf stoßen wir an!“

Für mich nicht, wollte Friederike sagen. Sie wusste, wie sich solche Abende entwickelten: Zuerst weinselig, dann rührselig, und schließlich würde sie noch aus dem Nähkästchen plaudern. Nein, das brauchte sie wirklich nicht.

Sie hatte ein Geheimnis zu wahren.

Doch dann wollte sie keine Spielverderberin sein. Außerdem genoss sie den kleinen Flirt mit Paul.

„Ich habe Hunger. Habt ihr schon gegessen? Sonst bestelle ich Pizza. Geht auf mich, quasi als Einstand!“

Der Sänger nickte. „Gute Idee.“

Sie stießen an. „Prost, Friederike!“

„Auf ein harmonisches Zusammenleben, Paul!“

Unbemerkt hatte Aneta sich entfernt.

Vom Balkon wehte Rauch herüber.

Ein Schauer rauschte herab und brachte schwere, feuchte Luft mit sich.

„Wo bleibt der Klimawandel, wenn man ihn braucht?“, scherzte Paul.

„Regen, immer wieder Regen. Haben wir nicht mehr oft im Sommer“, bestätigte Friederike.

„Ich würde gerne eine rauchen“, gestand Paul, „mal schauen, ob ich bei Aneta eine schnorren kann!“

Er stand auf und reckte sich.

„Ist das nicht schädlich für die Stimme?“

„Ach. Nur ein oder zwei am Tag.“

Friederike begleitete Paul nach draußen.

Der Balkon entpuppte sich als großzügige Terrasse. Kräuter und Tomatenpflanzen in Tontöpfen standen auf einer Seite. Eine Sonnenblume reckte ihr Köpfchen über das Geländer. Auf der anderen Seite nahm ein Tisch Raum ein, an dem mindestens acht Personen Platz fanden.

„Morgen kommen ein paar Freunde zum Essen!“, informierte Aneta. „Bei schönem Wetter sitzen wir draußen. Ihr seid natürlich auch eingeladen, gerne mit Anhang!“

Paul ließ sich Feuer geben und trat an die Brüstung.

Kunstvoll blies er den Rauch in die regnerische Nacht.

„Komm her, Friederike! Von hier aus sieht man das Opernhaus!“ Er fasste sie am Arm und wies auf die entsprechende Stelle.

Friederike lehnte sich kurz an ihn und erschnupperte seinen Duft: Davidoff, der Klassiker.

Plötzlich trat Paul einen Schritt zurück.

Sie zuckte zusammen. Mochte er ihre Berührung nicht? Sie machte einen Schritt zur Seite.

„Ups. Sorry.“

„Entschuldigung, es war nicht deinetwegen, sondern wegen der Balustrade. Sie ist nicht sehr hoch!“

Besorgt schaute er in die Tiefe. „Das ist gefährlich!“

„Stimmt“, sagte Friederike und fasste an die Steinmauer, von der der Putz abbröckelte. „Sie reicht mir nur bis zum Oberschenkel!“

Ihre Köpfe befanden sich auf gleicher Höhe, doch Friederikes Beine waren länger, wie sie mit Wohlgefallen bemerkte.

Paul legte kurz den Arm um ihre Schultern. „Du bist groß. Für eine Frau!“

„Stimmt“, sagte Friederike. „Immer schon gewesen.“

Häldin schaute missmutig aus dem Fenster. Es regnete. Heute war kein Draußen-Wetter. Das bedeutete, dass sie in der Mehrzweckhalle spielen würden. Schwache Deckenlampen streuten dort gelbliches Licht über blank gescheuerte Kunststofftische. Dazu der Geruch, Desinfektionsmittel mit einer leichten Note von Urin, damit man auf keinen Fall vergaß, dass man sich in einem Pflegeheim aufhielt.

Ihn, Häldin, störte das nicht.

Seine ungebetenen Besucher leider auch nicht oder jedenfalls nicht genug.

Sonst würden sie ja wegbleiben.

Häldin seufzte.

Ach, wäre er doch. Wäre er doch aus der Kirche ausgetreten, schon vor vielen Jahren. Dann hätte der Pfarrer ihn nicht besucht und ihm, Häldin, nicht die Information entlockt, dass er gerne Skat spielte.

Gespielt hatte.

In seinem früheren Leben, viel früher, als er noch in einer noblen Altbauwohnung gelebt und seine hybridblonde Lebensgefährtin Wie-hieß-sie-noch-gleich bedeutende Gäste bewirtet hatte. Ab und zu war er ausgeschert für einen zünftigen Skatabend mit den Kumpels bei Fassbier statt bei Bio-Winzersekt.

Hätte er diese Skatabende nur vergessen oder ganz tief in seinem Unterbewusstsein versenkt.

Dann wäre der Pfarrer, Jürgen, wie er ihn nennen musste, nicht auf die Idee gekommen, Häldin könne den verstorbenen Apotheker beim Kartenspiel ersetzen.

Jetzt rückte er einmal oder sogar zweimal monatlich mit dem Dorfpolizisten an, dem Dritten im Bunde.

Nachdem die Skatbrüder realisiert hatten, dass mit Bewirtung nicht zu rechnen war, schließlich war das ein Pflegeheim und Häldin nicht die Wohlfahrt und schon gar kein Gastwirt, brachten sie ihre Getränke selbst mit.

Der Pfarrer, sein selbst ernannter Freund Jürgen, packte jedes Mal drei Flaschen Bier aus, alkoholfrei natürlich. Zwei trank er selbst aus und die dritte öffnete er für Häldin, seinen lieben Michael, wie er sich von ihm anreden lassen musste. Der liebe Michael hielt sich stets einen ganzen Abend daran fest.

Der Dorfpolizist brachte Bier aus einer hiesigen Brauerei mit und trank es direkt aus der Flasche. Bier mit Alkohol, meist drei Flaschen an einem Abend. Das wurde vom Pflegepersonal geduldet, wenn auch nicht gerne gesehen.

Man beäugte die Herrenrunde skeptisch und mahnte zum Aufbruch, meist schon um kurz nach halb zehn.

Jetzt war es fünf Minuten vor acht.

Häldin wendete den Rollstuhl, fasste an die runden Griffe oberhalb der Räder und machte sich auf den Weg zu seiner Zimmertür. Unterwegs überrollte er Zeitungen von gestern, von dieser Woche, von der letzten und der vorvorletzten.

An der Wand war ein Allerweltsgestell befestigt, als Ablage für einen großen Flachbildschirm. Die bunte Fernsehzeitschrift lag daneben.

Keine Bücher in den Regalen.

Niemals mehr wollte er sich wieder mit Büchern umgeben, mit nichts, was ihn an sein vergangenes Leben erinnerte.

Was vorbei war, war vorbei.

Hier, in Atterbecke, am Allerwertesten der Welt, versuchte er zu vergessen, wer er einmal gewesen war und was er gemacht hatte.

Was er noch hätte erreichen können.

An guten Tagen verdrängte er es.

An den anderen grübelte er und grübelte.

Heute war ein ‚anderer Tag‘.

Seufzend stoppte er den Rollstuhl. Sein Blick fiel auf den Spiegel an der Tür. Was er sah, gefiel ihm. Halblange, ungekämmte Haare umrahmten sein Gesicht, das sein grauer Bart fast vollständig zuwucherte. „Catweazle“, nannte ihn das Pflegepersonal nach dem Magier einer britischen Fernsehserie aus dem vorigen Jahrhundert, und vermutlich meinten sie es liebevoll. Den ‚Professor‘ ließen sie wohlweislich weg, nachdem er nach einer solchen Anrede ausgerastet war und mit Geschirr um sich geworfen hatte.

Den Bart hatten sie ihm stutzen wollen, doch Häldin hatte sich so vehement dagegen gewehrt, dass sie schließlich resigniert hatten.

Nichts mehr sollte an den gepflegten Mann von früher erinnern, mit graumeliertem Undercut, sorgfältig rasiert und wohlriechend, an seiner Seite die standesgemäß schlanke Blondine.

Er bediente den Türöffner.

Es war Punkt acht Uhr. Er musste sich beeilen.

Wenn er nicht zeitig am Spieltisch saß, würden sie ihn abholen, an seine Zimmertür klopfen, in seine Privatsphäre eindringen.

Das ging gar nicht.

Einmal war das passiert, einmal und nie wieder, wie er nachdrücklich klargestellt hatte.

Häldin nahm Kurs auf den Speisesaal.

Der Dorfpolizist und der Pfarrer, Jürgen, wie er ihn nennen musste, warteten bereits an der Tür des gesichtslosen Mehrzweckraums.

„Dann wollen wir mal, lieber Michael“, sagte der Pfarrer, ein schmaler Mann mit langgezogenem, asketischem Gesicht, und lächelte.

Häldin fand ihn gar nicht einmal unsympathisch, nicht speziell jedenfalls.

Er hätte nur lieber seine Ruhe gehabt.

Auf seinem Zimmer Zeitung gelesen oder einen Fernsehkrimi angeschaut.

Stattdessen saß er jetzt als Dritter im Bunde an einem der blank gescheuerten Tische und reizte einen Grand mit Eins.

36. 40. 48.

Zwei Luschen im Skat.

Das sah nicht gut aus, wie so vieles andere in seinem Leben.

Und während Häldin seinen Grand mit Pauken und Trompeten verlor, fragte er sich zum wiederholten Mal, warum er vergessen hatte, aus der Kirche auszutreten, damals, verlassen von Gott und der Welt, verraten und verkauft.

Damals hätte er die Kirche gebraucht, einen Seelsorger, dem er vertrauen konnte.

Damals hatte sich niemand um ihn gekümmert, und jetzt brauchte er sie nicht mehr.

Die Welt nicht, die Kirche nicht und Gott noch viel weniger.

Und schon gar nicht einen Pfarrer, der ihm ein alkoholfreies Bier offerierte und dabei so unbeirrbar stinkefreundlich war, dass er einfach nicht dagegen ankam.

„Prost, mein lieber Michael!“

ZWEI

Niemand beachtet mich.

Gut so.

Bleibe im Hintergrund. Kein Plan. Fühle mich sicher, mitten unter Leuten. Ach wie gut, dass keiner weiß!

Vor mir läuft er her. Sein Ziel kenne ich, deshalb kann ich Abstand halten. Ich weiß, wo er hin will, ich weiß, wo er wohnt. Ich kenne seine Handynummer.

Ich kenne ihn.

Und er kennt mich.

Ich verfolge ihn auf Distanz.

Halte mich in Deckung, er soll mich nicht erkennen.

Er kotzt mich an. Macht wütend, so, so wütend.

Nicht Fisch nicht Fleisch. Nicht Mann nicht Weib.

So war er und er wird sich nicht ändern.

Immer mit dem Wind segeln und immer so, dass es für ihn passt.

Mann ist Mann und hat Mann zu bleiben.

Frau gehört zu Mann.

Mann gehört zu Frau.

Hat alles seine Ordnung.

Ordnung muss man einhalten.

Jeder muss wissen, wo er hingehört.

Sonst stürzt alles in Chaos.

Jeder bekommt seinen Platz zugewiesen.

Wo käme man sonst hin?

Die Party in der Villa Kunterbunt war in vollem Gange. Der Lärm schallte ungebremst durch die schlecht abgedichtete Zimmertür. Friederike ärgerte sich, dass sie keine Ohrstöpsel besorgt hatte, bekanntlich eines der wichtigsten Utensilien in WGs, wie sie sich aus ihrer kurzen Studentenzeit erinnerte, und sei es, um die Stöhngeräusche aus dem Nachbarzimmer auszublenden.

Doch an diesem Tag hatte sie anderes zu erledigen gehabt. Nach längerer Suche fand sie schließlich einen passenden schwarzen Anzug in dem einzigen noch vorhandenen Kaufhaus in der City. Gar nicht so einfach bei ihrer Größe von 1,84 m. Breitschultrig war sie außerdem noch, und gute Qualität war wichtig, mindestens ein Wollmischstoff musste es sein, solide, leicht und mit tailliertem Blazer.

Damit hatte sie das wichtigste Accessoire für ihre neue Berufslaufbahn erworben.

Abends wusch sie ihre langen blonden Haare, die bereits ausdünnten, und föhnte sie, so dass sie das kantige Gesicht umschmeichelten. Wimperntusche und ein dunkelroter Lippenstift, der den vollen Mund betonte, vervollständigten ihr Erscheinungsbild.

Oh ja, sie war eine ansehnliche Frau, attraktiver als in jungen Jahren. Selbst Tim und Sofie hatten das zugegeben, ihre fast erwachsenen Kinder.

Eine türkisfarbene Bluse ließ einen guten Teil des Dekolletés frei. Auf diese Weise zurechtgemacht, verließ Friederike ihr kleines, billig angemietetes Zimmer, voller Vorfreude auf einen amüsanten Abend.

Paul kam ihr entgegen und strahlte sie an: „Welcher Glanz in dieser Hütte!“ Während sie zu dritt das Buffet mit mediterranen Köstlichkeiten bestückten, entkorkte Aneta die erste Flasche Sekt.

„Gibt es eigentlich einen Grund zu feiern?“

Aneta hob das Glas. „Auf das Leben, ihr Lieben! Auf die Gäste!“

Wie bestellt klingelte die Türglocke.

Bald füllten sich die Räume mit einem bunten Gemisch aus gut erhaltenen Ü-50ern und Menschen um die dreißig. Manja, Anetas Tochter, gehörte zu den Jüngeren. Ihre Clique stand in der Küche und begnügte sich mit Mineralwasser und Weinschorle; offensichtlich lief man sich warm für das Nachtleben in der City. Manja führte Wort. Sie sah ihrer Mutter Aneta nicht besonders ähnlich, war viel größer als sie und hatte dunkle Haare. Vor allem unterschied sie sich durch ihre klare, schneidende Stimme. Sopran, was sonst. Zwei junge Männer hörten ihrem engagierten Vortrag zu, einer davon schien sehr vertraut mit ihr zu sein.

Am Fenster knutschte ein Pärchen.

Aneta und ihre Freunde unterhielten sich im geräumigen Wohnzimmer über ein Theaterstück, dessen Titel Friederike nichts sagte. Aneta war einmal Regisseurin gewesen, so war ihr zugetragen worden. Engagiert am Theater und recht erfolgreich. Doch die Freunde am Esstisch sahen eher aus wie Lehrer oder Steuerberater. Der bunte Vogel war eindeutig Aneta. Gelangweilt hörte Friederike eine Weile zu und starrte auf die von vielen Händen signierte Papierdeckenlampe, die offensichtlich eine Art Gästebuch darstellte. Dann stand sie auf und schlenderte aus dem Raum.

Sie entdeckte Paul mit einer Zigarette in der Hand auf dem Balkon. Sie wollte sich ihm nähern, als sie bemerkte, dass er in ein intensives Gespräch verwickelt war. Eine Blondine, deutlich jünger als er, redete nachdrücklich auf Paul ein. Friederike fing Wortfetzen auf wie „für uns sehr wichtig“, „das ist jetzt wirklich nicht dein Problem“, „lass es einfach sein!“ Wütend kickte die junge Frau einen Zigarettenstummel in die Abwasserrinne und drehte sich um. Nach einem Flirt sah das nicht aus.

Friederike beobachtete die Szene. Die junge Frau bemerkte ihre Blicke und wandte sich ab.

Paul zündete eine neue Zigarette an, erblickte Friederike, trat auf sie zu und legte die Hand auf ihren Oberarm. „Frau Hendel! Unsere Komponistin!“, scherzte er, doch seine Stimme klang gekünstelt. „Was steht an?“

„Nichts weiter.“

Er schob sie sanft in die Wohnung zurück. „Noch etwas Wein, my dear?“

Sie nickte, merkte aber, dass sie keine Lust mehr auf diese Party hatte, und auch nicht auf Paul. Ein Blender, dachte sie. Kurz darauf zog sie sich zurück.

Sie musste eingenickt sein. Als sie aufwachte, war es dunkel. Auf dem Flur verabschiedeten sich lautstark einige Gäste. Neue Gäste kamen, irgendwann hörte sie aufdringliche Stimmen. Ein Mann, mutmaßlich angetrunken, schimpfte laut.

Sie stand auf und betrat erneut die Gemeinschaftsräume.

Durch eine offene Zimmertür erblickte sie zwei ineinander verschlungene Personen. Wahrscheinlich vergnügte sich gerade ein Pärchen im Schlafzimmer, ebenso wie sie es früher auf den Partys getan hätte, wenn sie denn solche Partys gefeiert hätte, wie auch immer. Solange es Aneta nicht störte, ging es sie nichts an.

Der Balkon war jetzt voll. Paul und ein deutlich kleinerer Mann lieferten sich ein hitziges Duell.

„Du Stinker, was willst du hier! Hier gibt’s genug erstklassige Sänger, nicht solche Provinzpfeifer wie dich. Wieso bist du nicht in Leipzig geblieben oder wo der Pfeffer wächst!“, pöbelte der Kleinere.

Paul nahm es gelassen. „He, vielleicht bin ich einfach besser als du?!“

„Sagt wer?“

„Ich. Und der Intendant!“

„Wer wohl am besten sänge, wer wohl am besten sänge“, trällerte Aneta mit einem Glas in der Hand. Sie schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein.

„Bravo! Singt doch beide. Wir stimmen ab!“ Sie johlte vor Vergnügen.

„Wir sind die Jury!“

„Los! Worauf wartet ihr noch!“, feuerten die Partygäste die beiden Männer an.

Die ‚Rampensäue‘ platzierten sich an der Balustrade, mit dem Rücken zum Abgrund. Die Gäste hielten Abstand, so gut es ging. Mehr als ein halber Meter war nicht drin, schätzte Friederike, denn auf der Terrasse drängten sich vielleicht zwanzig Menschen. Sie erkannte Aneta und einige Jüngere auf der linken Seite zur Küchentür hin.

Kurz verständigten sich die Sänger, dann verkündete Paul das Ergebnis: „Lehár! ‚Land des Lächelns‘!“

Der Kleine ergänzte: „Dein ist mein ganzes Herz!“

Ausnahmsweise waren die beiden Kontrahenten sich einig.

Brust raus, Bauch rein.„Daaaaaaaaain ist mein ganzes Herz! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein. Soooooooooo wie die Blume welkt, wenn sie nicht küsst der Sonnenschein! Dein ist mein schönstes Lied, weil es allein aus der Liebe erblüht“, schmetterte Paul laut und mit angemessenem Pathos.

Der kleinere Sänger fiel mit ein, und sie intonierten im Duett: „Saaaaaag mir noch einmal, mein einzig Lieb, oh sag noch einmal mir: Iiiiiiiich haaaab dich liiiiiiiieb!“

„Bravo!“ Die Umstehenden klatschten.

Auf den Balkonen im unteren Stockwerk applaudierten ebenfalls Zuhörer. Die fortgeschrittene Stunde – es war fast Mitternacht – schien keinen zu stören.

Die beiden ließen sich nicht noch einmal bitten.

„Wohin ich immer gehe …!“, hob der Kleinere an. Beim Refrain gesellte Paul sich wieder dazu.

Eben noch im Streit, sangen sie nun inbrünstig im Duett.

Die Sänger stimmten weitere Lieder an, Friederike erkannte Schubert. Schließlich ging man über zur Abteilung Schlager.

‚Dein ist mein ganzes Herz‘ von Heinz-Rudolf Kunze. Reim auf Schmerz.

Die Tenöre sahen sich Beifall heischend um.

Wieder ertönte Applaus.

„Und wer ist nun der Bessere?“

Die Kollegen pufften sich gegenseitig. „Ich natürlich! Kollegenschwein!“ Es klang angetrunken. „Darauf stoßen wir an!“

Aneta schwenkte die Weinflasche und sagte diplomatisch: „Jeder ist gut! Auf seine Art!“ Sie hob das Glas. „Prosit! Auf das Leben!“

Nun begann ein munteres Wunschkonzert. Es regnete ‚Rote Rosen‘, und ‚Azurro‘ wechselte sich ab mit den ‚Drei Italienern‘.

Das Publikum stieß an, aß, trank und rückte zusammen.

Die Stimmung war ausgelassen.

Dann passierte etwas Schreckliches.

Paul holte mit beiden Armen Schwung für einen besonders hohen Ton.

Gleichzeitig nahm Friederike im Augenwinkel eine Bewegung wahr.

War es ein Fuß?

Paul verlor plötzlich das Gleichgewicht. Er ruderte mit den Armen, versuchte, sich nach vorne zu beugen, weg vom Abgrund.

Doch er konnte sich nicht mehr fangen.

Wie in Zeitlupe ging der große Mann über die Balustrade. Niemand besaß die Geistesgegenwart, ihn festzuhalten.

Er stürzte rücklings in die Tiefe.

Alle standen wie erstarrt.

Auf einen Schlag wurde es totenstill.

Kurz darauf schrien alle gleichzeitig auf, riefen nach Hilfe, nach der Polizei und tippten hektisch in ihre Smartphones. Manche bedeckten ihr Gesicht oder weinten. Zwei liefen durch das Treppenhaus nach unten, um zu sehen, ob noch etwas zu retten war.

Starr vor Entsetzen ging Friederike in die Küche.

Stunden später – oder waren es doch nur Minuten? – hörte sie das Martinshorn und sah das flackernde Blaulicht.

Unter der Terrasse wurde es schlagartig hell. Sanitäter beugten sich über den Gestürzten. Friederike stand am Geländer und schaffte es nicht, wegzusehen.

Schließlich schüttelten die Männer unten den Kopf und zogen ein weißes Tuch über den Leichnam des Sängers.

Die Szene war unwirklich, fast wie in einem Fernsehkrimi.

Wie erstarrt standen Friederike, Aneta und einige weitere Gäste auf der Terrasse, als die Polizisten die Wohnung betraten.

Sofort wurde es noch voller.

Die Beamten ordneten an, dass niemand die Wohnung verlassen dürfe. Eines der Zimmer, ausgerechnet ihres, wurde provisorisch zum Befragungsraum umfunktioniert.

Als Friederike interviewt wurde, beschrieb sie den Sturz, so wie sie ihn in Erinnerung hatte. Stockend berichtete sie, wie der große Mann das Gleichgewicht verloren hatte und über das Geländer gefallen war.

„Stand er unter Alkoholeinfluss?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Fast alle hatten getrunken, wie das so ist bei Partys. Wie viel es bei Paul war, kann ich nicht sagen. Ich hatte mich kurz vorher zurückgezogen.“

Friederike spürte, wie ihr übel wurde. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Entschuldigung“, sagte sie und flüchtete in Richtung Bad. Sie schaffte es gerade noch bis zur Toilette, wo sie sich übergab.

Alles nahm sie wie durch einen Schleier wahr.

Paul war tot und die Polizei belegte ihren Raum. Sie suchte sich eine ruhige Ecke.

Erst, als sich im Morgengrauen die Wohnung leerte, fiel ihr ein, dass sie kurz vor dem Sturz eine Bewegung von der linken Seite wahrgenommen hatte.

Eine verdächtige Bewegung?

Paul war längst abgeholt worden.

Paul war tot, unwiderruflich.

Friederike betrat ihr Zimmer, das die Polizei inzwischen geräumt hatte, und öffnete die Fenster. Wie in Trance blickte sie hinaus, unfähig, sich zu rühren oder auch nur, ins Bett zu gehen.

Eines blieb noch zu tun.

Es ging darum, Paul einen würdigen Abschied zu bereiten.

Wer wäre dafür besser geeignet als sie?

DREI

Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte, dass es bereits Mittag war.

Aneta saß mit zwei Männern am Tisch.

Friederike erkannte den kleinen, drahtigen Sänger. Neben ihm saß Manjas Freund, der am Abend zuvor in der Küche gestanden hatte.

„Ein Hochstapler. Von wegen Wiener Schmäh, küss die Hand gnä’ Frau und so weiter. Kam aus der Provinz. Monatelang ohne Engagement“, lästerte der kleine Tenor.

„Klar, Dieter. Und so einer schnappt dir den Job vor der Nase weg!“, stichelte Aneta. „Vielleicht war es ja gar nicht allein seine göttliche Stimme. Er sah einfach besser aus als du!“

Beleidigt sah Dieter zu Boden. Seine Halbglatze wurde sichtbar.

Aneta wandte sich an Friederike: „Kaffee? Ich erklär dir die Maschine.“

Während die Wirtin sie in die Bedienung des Kaffeeautomaten einwies, ließ der verschmähte Tenor sich weiter über seinen toten Konkurrenten aus: „Hieß natürlich auch nicht Paul. Hieß eigentlich Ernst Vossmark. Den Paul hat er erfunden, weil Ernst ja so unsexy klingt! Er wurde nach seinem Großvater benannt. Ernst Vossmark. Fabrikant im Sauerland. Hat ihm aber nichts genützt. Offensichtlich war das Tischtuch zerschnitten!“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Fragt sich, wie er den Job an der Oper bekommen hat. Vielleicht auf der Besetzungscouch?!“

Nun meldete sich der jüngere Mann zu Wort. „Pass auf, was du sagst, Dieter. Die Polizei untersucht den Fall noch. Du stehst oben auf der Liste der möglichen Verdächtigen. Nur für den Fall, dass jemand nachgeholfen haben könnte.“

„Klar, klar. Alter Neider, der ich bin. So denkt ihr doch.“ Seine Stimme klang unangenehm hoch. „Dieser aalglatte Strahlemann. Was habe ich mit dem zu schaffen? Ich habe mir alles selbst erarbeitet. Alles! Kein silberner Löffel im Mund!“

Aneta wandte sich um: „Hast du nicht gehört, was Max gesagt hat?“ Energisch drückte sie auf den Knopf der Maschine. In dem einsetzenden Lärm konnte das Gespräch nicht fortgesetzt werden.

Dieter gab nicht klein bei. „Ja und? Wer im Glashaus sitzt, du weißt schon, Aneta. Bestimmt interessiert sich die Polizei auch für gefährliche Baumängel auf dem Balkon. Und für illegale Vermietungen am Fiskus vorbei. Oder hast du deine Untermieter immer schön brav angemeldet und Steuern gezahlt?“

Aneta zog die Tasse unter dem Hebel hinweg und knallte sie vor Friederike auf den Tisch. „Bitte schön. Demnächst machste dir den Kaffee dann selbst.“

Ein ‚Pling‘ wies auf eine Nachricht hin. Max schaute auf sein Handy. „Manja holt mich gleich ab, wir sind bei Freunden eingeladen.“

Aneta zog die Luft ein. „Wäre schön, wenn das Fräulein Tochter dann auch mal Zeit für mich hätte!“

Max wedelte mit der Hand durch die Luft. „Ein anderes Mal, Aneta!“

Häldin starrte auf den Flachbildschirm und versuchte, sich für den Tatort aus Dortmund zu begeistern. Heute war mal wieder alles grau in grau. Die Bilder zeigten Müll, dunkle Fassaden und eingefallene Gesichter vor Industriekulisse, das reine Ruhrpottklischee von anno dazumal. Das moderne Dortmund lobte sich hingegen gern als grüne Stadt.

Dortmund überrascht. Dich.

Zum Glück war im Film nichts davon zu bemerken.

Das Grau passte besser zu Häldins Stimmung.

Immer wieder hatte er seine Freude an dem bekloppten Kommissar, sofern er, Häldin, überhaupt so etwas wie Freude empfinden konnte. Erkannte er doch in dem aus der Bahn geratenen Einzelkämpfer einen Seelenverwandten. Falls man ihm so etwas wie eine Seele zugestehen wollte, ihm, dem Kommissar. Oder ihm, Häldin. Die Handlung war wirr und hielt keinem seriösen Faktencheck stand, wie immer. Auch das gefiel ihm. Untermalt wurde die düstere Milieustudie von unheilschwangerer Musik.

Auch wie immer, angenehm trashig.

Gut so, dachte er.

Der Tatort brachte willkommene Abwechslung in sein gewollt ereignisloses Leben.

Wohlig seufzte Häldin.

Als er sich so richtig schön in den Film vertieft hatte, blinkte das Smartphone auf der breiten Armlehne seines Rollstuhls. Selbstredend hatte er wie immer auf ‚lautlos‘ gestellt. Er ignorierte das Blinken und schaute wieder dem Kommissar zu, der sich mit seiner Kollegin, eigentlich viel zu hübsch und blond für diese kaputte Sendung, wieder einmal in einem ausgedachten Szenario auslebte. Als ob man so Mörder fing.

Die beiden Kommissare hatten ihre Schau noch nicht vollendet, da blinkte es wieder auf der Armlehne.

Häldin sah, von wem der Anruf kam, und wusste, er würde keine Ruhe bekommen.

Jedenfalls nicht heute Abend.

Friederike Hendel zog die Vorhänge zu. Rollos gab es nicht in der Villa Kunterbunt. Sie streifte die elegante Bluse ab, öffnete den Büstenhalter und berührte ihre Brüste. Angenehm fühlten sie sich an, schön zart mit der weichen Haut. Immer noch und immer wieder genoss sie das Streichen über die sanften Hügel, wenn die Warzen sich leicht aufstellten. Sie blickte in den Spiegel an der Wand und staunte über die anmutigen Wölbungen.

Nebenan lief der Fernseher auf höchster Lautstärke. Sie erkannte den Tatort an seinem unverwechselbaren Sound. Ihre Vermieterin schaute sich offensichtlich den Krimi an, der angeblich hier ‚umme Ecke‘ spielte, auch wenn alle wussten, dass das meiste in Köln gedreht wurde.

Friederike widmete sich wieder ihrem Busen und tastete ihn systematisch ab. Sie begann unter der rechten Achselhöhle, arbeitete sich Stück für Stück vor. Die Ärzte hatten ihr ein erhöhtes Brustkrebsrisiko prognostiziert, wegen der starken Hormongaben. Sie solle sich regelmäßig selbst untersuchen und die Vorsorgetermine gewissenhaft wahrnehmen.

Friederike strich noch einmal über die warmen Rundungen.

Dann warf sie sich die Bluse wieder über und griff zum Handy.

Nächster Versuch.

Wieder vergeblich.

Wahrscheinlich schaute Häldin den Tatort wie fast alle am Sonntagabend, und ließ sich wider besseres Wissen mit Klischees über das graue Dortmund berieseln.

Doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.

Es war dringend.

Sie musste schwerere Geschütze auffahren. Kurz entschlossen schickte sie eine Nachricht über WhatsApp und verwendete das Zauberwort.

Nun würde er sich melden.

Auf manche Dinge war Verlass.

‚Kommando Klapse!‘.

Häldin seufzte.

Es gab kein Entrinnen mehr.

Der Kommissar auf dem Bildschirm ließ sich erneut zu verbalen Entgleisungen hinreißen, denen Häldin genüsslich folgte, doch er wusste, ‚Kommando Klapse!‘ bedeutete Alarmstufe rot.

Besser, er reagierte umgehend.

„Hendel, du störst!“, begann er das Gespräch.

„Es gibt Neuigkeiten!“

„Interessiert mich nicht!“, knurrte Häldin.

„Sollte es aber. Sagt dir der Name Vossmark etwas?“

„Tatort läuft.“

„Eben drum. Also?“

„Erste Adresse hier am Ort. Firma im Familienbesitz. Denen gehört halb Atterbecke.“

„Kennst du die Familie?“

„Wer will das wissen?“

„Der Sohn ist tot. Paul Ernst. Eigentlich Ernst Vossmark. Ein Opernsänger.“

Im Hintergrund war wieder bedrohliche Musik zu hören. Auch von nebenan schallte es herüber.

„Ja und?“

„Du spielst doch Skat mit dem Dorfpfarrer.“

„Leider.“

„Verschaff mir ein Date mit ihm.“

„Niemals. Ich will meine Ruhe.“

„Denk dran: Kommando Klapse. Ich weiß alles über dich! Alles!“

„Ich auch über dich.“

„Das ist nicht dasselbe. Und das weißt du auch.“

„Na schön“, knurrte Häldin und drückte die Verbindung weg.

Um kurz vor zehn, das Tatort-Gedudel wurde abgelöst durch lautes Gestöhn im Nachbarzimmer, kam die Nachricht per WhatsApp: „Morgen 16 Uhr bei mir.“

Friederike grinste. „Geht doch!“ Sie wusste, wie sie Häldin aus seinem Elfenbeinturm locken konnte.

Sie legte sich auf das Bett und ließ die Gedanken schweifen. Nebenan ging es in die zweite Runde. Friederike versuchte, sich nicht vorzustellen, was ihre Vermieterin dort trieb, und vor allen Dingen mit wem. Sie hatte den dürftigen Tenor in Verdacht.

Sie schloss die Augen und sah Paul vor sich: groß, smart, mit Dreitagebart.

Paul sang aus voller Brust.

Paul stürzte.

Sie richtete sich auf und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben.

Stattdessen erschienen andere Bilder, von Susanne, von den Kindern, Tim und Sofie, als sie klein gewesen waren. Ein Planschbecken im Garten neben einer Schaukel. Sie waren so niedlich und so unterschiedlich, Tim mit seinem dunklen, ernsten Gesicht und die lebhafte Sofie mit ihrem flachsblonden Haar und den drolligen Bewegungen. Sie lachten und stritten in einem unauffälligen Reihenhaus in einem Vorort.

Eigentlich war es eine schöne Zeit gewesen. Doch Friederike hatte sich damals unfrei gefühlt, das Haus als eine Erweiterung ihres persönlichen Gefängnisses wahrgenommen. Unglücklich war sie gewesen, depressiv, weil nichts in ihrem Leben zu stimmen schien trotz Karriere und Familie. Irgendwie war es trotzdem die beste Zeit ihres Lebens gewesen. Jedenfalls kam es ihr im Moment so vor, nur dass es sich für sie damals nicht richtig angefühlt hatte.

Friederikes Augen sonderten Feuchtes ab.

Tränen.

Früher hatte sie nicht so nah am Wasser gebaut.

Sie vermisste ihre Familie, sehr sogar.

Es war absurd. Sie hatte alles getan, um dieser Situation zu entkommen, und jetzt sehnte sie sich sogar nach dem gesichtslosen Reihenhauswürfel.

Vor ihrem geistigen Auge erschien Susanne, die vor einigen Jahren jemand Neuen kennengelernt hatte und nun glücklich mit ihm war.

Eine weitere Träne bahnte sich den Weg durch ihr Make-up.

Für sie gab es einen Neuanfang in einer schrägen WG.

Ihr neues Leben war zwiespältig. Manches schmeckte, manches nicht.

Medikamente musste sie nehmen, jeden Tag, damit alles im Gleichgewicht blieb.

Der Preis für ihr neues Leben war hoch.

Und dennoch: Hatte sie wirklich eine Wahl gehabt?

Sie war bereit gewesen zu der Veränderung und war es immer noch, weil alles andere in das Nichts geführt hatte, in die alles verschlingende Leere, die sie taub und gefühllos gemacht hatte.

Du musst das Beste daraus machen, hatte ihre Mutter immer gesagt. Ach ja, die alte Dame musste sie auch einmal wieder anrufen.

Morgen.

Oder übermorgen.

Häldin warf das Smartphone auf den Teppich.

Hendel war manchmal wirklich lästig.

Sie wusste zu viel über ihn.

Niemals würde er jemandem freiwillig Einblick in seine Vergangenheit gewähren.

Nicht seinen Skatbrüdern und auch sonst niemandem. Seinen Namen hatte er geändert, natürlich nicht offiziell, Häldin war gewissermaßen ein Künstlername. Der Wikipedia-Eintrag mit seinem bürgerlichen Namen endete mit dem Beinah-Skandal vor vier Jahren. Danach verlor sich seine Spur. Er hatte den Scherbenhaufen, der einmal sein Leben war, lautlos verlassen und war untergetaucht.

Häldin war ein Anagramm seines amtlichen Namens. Allerdings nur fast. Allzu leicht wollte er es neugierigen Schnüffelnasen nicht machen. Er hatte nicht widerstehen können, einen Anklang an den Namen jenes berühmten Dichters zu schaffen, den er sehr verehrte: Hölderlin. Ihm gleich, der sich 200 Jahre zuvor zurückgezogen hatte, wählte Häldin die Einsamkeit und zeigte der Welt den Stinkefinger. Er war zwar nicht in einem Turm im Neckartal untergekommen, sondern in einem Pflegeheim in Atterbecke, am Allerwertesten der Welt, doch das kam fast auf das Gleiche heraus.

Was auch immer ihn hierher gebracht hatte, was ihn umtrieb, ging niemanden etwas an.

Nur Hendel kannte seine wahre Geschichte.