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Eine Kleinstadt, ein fremdgehender Pfarrer, sein konservativer Erzrivale, eine amerikanische Sekte und drei zerstrittene Brüder. Auf der Gegenseite: eine renitente Pfarrfrau, eine Saxophon spielende Alte, zwei Sozialarbeiterinnen und eine Journalistin. Eine gute Ausgangslage für einen turbulenten Krimi über Männerseilschaften und Frauenpower. Nach ›Blei für den Oberkirchenrat‹ ist ›Blues im Pfarrhaus‹ der zweite Krimi mit der Theologen-Journalistin Kirsten »Kiki« Kerner. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 285
Anne-Kathrin Koppetsch
Blues im Pfarrhaus
FISCHER E-Books
Die Frau in der Gesellschaft
Herausgegeben von Ingeborg Mues
Kirsten »Kiki« Kerner ist gelernte Theologin und praktizierende Fernsehjournalistin in Berlin. Ihr zweiter Fall führt sie »back to the roots« in ihre Heimatstadt Moersen.
Maja Klingenberg, Kikis Freundin, hat sich mit einem Kater aus Berlin in die Provinzstadt Moersen verabschiedet.
Emmchen, Moersener Urgestein, siebzig plus x Jahre alt, spielt Saxophon, gelegentlich auch Detektivin und gehört zur legendären Moersener Spieß-Dynastie.
Pfarrer Martin Schiffer verliebt sich nach mehr als zwanzig Ehejahren in seine Politik-Kollegin und Konkurrentin Regina Kempe. Alle Beteiligten tun ihm Leid und er sich selbst am meisten.
Karen Tiebel-Schiffer macht nach zwanzig Jahren Pfarrfrauendasein Karriere als Konzertsängerin und überflügelt ihren Mann, was diesem nicht passt.
Tobias Schiffer, Sohn von Martin und Karen, stirbt bei einem Autounfall.
Ruth war seine Freundin.
Susanne Schiffer, Tochter von Martin und Karen, lebt in Bremen mit ihrer WG und ihrem Softie-Freund Jürgen zusammen.
Regina Kempe will als allein erziehende Mutter in die Politik und verliert ihr Herz an einen verheirateten Mann.
Bürgermeister Friedrich Spieß sorgt sich um die Stadt Moersen, mehr jedoch noch um deren Image.
Jürgen Spieß, sein Sohn, deckt als Reporter die Skandale auf, die sein Vater vertuschen will.
Gudrun Spieß, Jürgens Frau, mischt im Rathaus die Honoratioren auf.
Gotthard Spieß, Friedrichs Bruder, betreibt ein Baugeschäft.
Heinz Spieß, dessen Sohn, ist als Junior im Familienunternehmen tätig.
Porksen duldet den Zeitgeist in seinem mittelständischen Unternehmen, aber nicht in der Kirche und wünscht sich Pfarrer Schiffer weit weg aus Moersen.
Detektiv Schneider schnüffelt Ehegeschichten aus und hat selbst einiges zu verbergen.
Pastor Andy Brown ist Leiter der Kirche der Brüder der Liebe, einer umstrittenen amerikanischen Freikirche.
Markus Meier ist sein Schützling und seine rechte Hand.
Jojo ist Meiers Mitbewohner und Freund.
Moersen ist eine fiktive 30000-Einwohner-Stadt irgendwo im ländlichen Westfalen.
Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dank an meine Ex-WG, die mir geholfen hat, den »Sie-gen-Blues« zu überstehen, an Maike und Kai, an Ingeborg Mues und Tanja Seelbach vom Lektorat des Fischer Taschenbuch Verlages – und last but not least an meine evangelische Kirche, die eine Pfarrerin wie mich (er)trägt.
»Moersen«, tönte die Stimme des Schaffners aus dem Lautsprecher. »Hier Moersen!«
Ich schreckte aus dem Halbschlaf hoch. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Durch die Fensterscheiben sah ich das Schild, auf dem mutmaßlich der Name meiner Heimatstadt stand. Lesen konnte ich es nicht. Der tanzende Schneeregen hatte sich zu einem wehenden Vorhang verdichtet. Die kümmerliche Bahnhofsbeleuchtung erhellte die Schriftzüge nicht.
Ich schnappte mir meine Reisetasche und eilte in Richtung Tür. Natürlich klemmte sie, wie meist bei den alten Bummelzügen, sprich Regionalbahnen. Als sie sich endlich quietschend öffnete, hatte der Schaffner, pardon, der Zugbegleiter, bereits seine Trillerpfeife im Mund und wollte das Abfahrtssignal geben.
Ich winkte ihm heftig zu. Beim hastigen Abstieg blieb ich mit meinem Pfennigabsatz im Trittbrett-Gitter hängen. Es gelang mir, den Schuh zu befreien. Der Absatz blieb hängen.
Der Zugbegleiter winkte fröhlich zurück. Die Bahn mit den entscheidenden sieben Komma fünf Zentimetern, die nun an meinem Schuh fehlten, verschwand hinter der nächsten Kurve. Seufz. Meine schönen neuen, teuer erworbenen Pumps. Ich hinkte frustriert auf das Bahnhofsgebäude zu.
So hatte ich mir meine Ankunft nach zwei Jahren Abwesenheit nicht vorgestellt.
Die Bahnhofsuhr zeigte drei Minuten vor acht an. Ein offenes Geschäft würde ich nicht mehr finden. Sollte ich wirklich zur Versammlung der Moersener Honoratioren in der Stadthalle gehen? Oder sollte ich mich lieber in einer Gaststätte aufhalten, bis die Veranstaltung zu Ende war und ich meine Freundin Maja treffen konnte? Ich warf einen Blick in die verräucherte Bahnhofskneipe. Sieben verlebte Gestalten stierten dort in ihr Bierglas. Die Alternative hieß McDonald’s.
Also auf zur Stadthalle.
Eine halbe Stunde später schlüpfte ich durch das Portal in den Bürgersaal. Ich wollte mich verschämt in die hinterste Reihe setzen. Leider waren nur noch in den vordersten Reihen Plätze frei.
Tack-knirsch, tack-knirsch arbeitete ich mich über die Holzdielen nach vorne vor, die linke Körperhälfte 172,5 Zentimeter groß, die rechte 165 Zentimeter klein.
Bürgermeister Friedrich Spieß am Rednerpult starrte mich an und kam aus dem Konzept. »Und so freuen wir uns, dass nun, dass nun …«
Tack-knirsch, tack-knirsch.
Vereinzelte Gäste in den vorderen Rängen drehten sich zu mir um.
»Und so freuen wir uns, dass wir die Angelegenheit nun in einem Gespräch mit den beiden … äh … Geistlichen klären können und dass Sie alle so zahlreich erschienen sind und dass wir auch eine … frühere Moersener Bürgerin unter uns begrüßen dürfen«, fuhr er fort.
Jetzt wandten sich mir schätzungsweise 150 Gesichter zu.
Ich wurde puterrot unter meinem blondierten Fransenschnitt.
Hallo, hier kommt Kirsten Kerner, genannt Kiki, Fernsehjournalistin in Berlin. Erleben Sie sie bei ihrem großen Auftritt als Dame von Welt in der Provinzstadt Moersen. Sie präsentiert Ihnen heute den neuen, asymmetrischen Schuh-Look, frisch importiert aus der Hauptstadt.
Meine Freundin Maja hatte mich nun auch bemerkt und gab mir ein Zeichen. Sie wies auf einen freien Platz an ihrer Seite.
»Hi«, begrüßte sie mich.
Mit dem letzten Rest von Würde ließ ich mich auf den Stuhl fallen und stützte den Kopf in den Händen ab.
Neben Maja saß eine ältere Dame mit schlohweißem, kurz geschnittenem Haar und einer dicken Brille. »Das ist Emmchen«, stellte Maja vor, »meine Mitbewohnerin und Vermieterin.«
»Hallo«, begrüßte ich sie leise. »Schön, dass wir uns mal kennen lernen. Maja hat schon viel von Ihnen erzählt.«
Emmchen schmunzelte: »Das Gleiche gilt auch umgekehrt. Aber ich schlage vor, dass wir uns duzen. Du wirst ja auch bei uns wohnen dieses Wochenende.« Wir drückten uns kräftig die Hände. Es war Sympathie auf den ersten Blick.
Maja hatte es vor einem halben Jahr beruflich bedingt von der Hauptstadt in die Provinz verschlagen. Ausgerechnet in meine Heimatstadt, ein verschlafenes 30000-Einwohner-Nest in Nordrhein-Westfalen. Mit ihrem Sozialpädagogikstudium hatte sie in Berlin keine Stelle gefunden. Überall in den Einrichtungen wurde gespart. Nach einem halben Jahr Arbeitssuche hatte sie schließlich auf eine Stellenanzeige geantwortet, auf die meine Mutter mich aufmerksam gemacht hatte. Also packte Maja schweren Herzens ihre Koffer und begann bei der Suchtberatung der Caritas in Moersen-City.
Unserem gesamten Freundeskreis hatte sie damals furchtbar Leid getan. Wir verabschiedeten sie mit einer riesigen Cocktailparty und einem winzigen Kater, damit sie sich nicht so alleine fühlte. Den Kater nannte sie Romeo.
Maja und Romeo fanden Asyl in der großzügigen Eigentumswohnung des Moersener Urgesteins Emmchen, »siebzig plus x« Jahre alt, leidenschaftliche Saxophonspielerin und maßvolle Whiskytrinkerin.
Dorthin hatte sie mich für dieses Wochenende eingeladen, »Einstand feiern«.
»Wenn du kannst, dann komm doch schon am Freitagabend«, hatte Maja am Telefon vorgeschlagen. »Da ist in der Stadthalle eine Veranstaltung mit dem evangelischen Pfarrer und dem Pastor von einer amerikanischen Kirche, die auch hier in Moersen eine Gemeinde hat. Es hat Zoff gegeben zwischen den beiden. Wahrscheinlich fetzen sie sich auch bei der Veranstaltung. Der Bürgermeister wird moderieren, er ist sehr um den Ruf der Stadt besorgt. Das wird bestimmt lustig.«
»Zoff? Warum haben sie sich gezofft?«, hatte ich verwundert gefragt.
Maja hatte daraufhin behauptet, das sei eine lange Geschichte und sie habe gerade Besuch und könne nicht so lange reden. »Wir haben am Wochenende ja dann Zeit genug.« Neugierig, wie ich war, wollte ich mir den Zoff gerne live ansehen.
Und so saß ich in der Stadthalle und wartete darauf, was passieren würde.
Bisher wirkte die Szene ganz friedlich.
Auf der Bühne saßen drei Männer. Bürgermeister Spieß, weißhaarig und bärtig in der Mitte, hatte den Mann an seiner rechten Seite vorgestellt: »Ich begrüße Andy Brown, Pastor von der Kirche der Brüder der Liebe.« Der etwa vierzigjährige gepflegte Mann mit dem blonden Haar sagte höflich »Guten Abend!« zum Publikum und grinste jungenhaft. Er trug einen taubenblauen Anzug und ein helles Hemd und wirkte mindestens so harmlos wie Fernsehliebling Johannes Kerner, mein Nachnamensvetter. Die Pausbacken störten ein wenig.
Links neben dem Bürgermeister erkannte ich Martin Schiffer, Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Moersen. Bei ihm war ich mit vierzehn in den Konfirmandenunterricht gegangen. Er war seitdem älter geworden. Wie wir alle. Sein Schädel war blank über dem edlen Gesicht mit hoher Stirn. Finger, die nervös an einer weinroten Krawatte zupften. Dezentes Jackett zu legeren Jeans. Er war auf hinreißende Art gealtert, das musste ihm der Neid lassen. Ein Mann von Welt. Martin Schiffer wäre mir sogar in Berlin aufgefallen.
Schiffer begann: »Wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um einiges zu klären. Ich muss dabei leider auf einige Vorkommnisse zu sprechen kommen, die mich und meine Familie sehr belastet haben. Die meisten von Ihnen wissen, dass ich vor einiger Zeit, als … nun ja, jedenfalls dass ich vor einiger Zeit anonyme Briefe bekommen habe.«
Er machte eine Pause und blickte über das Publikum. Einige Besucher nickten.
»In diesen Briefen stand, dass ich nicht mehr als Pfarrer arbeiten soll. In einem war sogar zu lesen, dass ich zur Hölle fahren soll. Ja, es standen noch schlimmere Verwünschungen und Beschimpfungen darin, die ich an dieser Stelle nicht vorlesen möchte.« Er raschelte mit den Blättern in seinen Händen.
Gemurmel im Publikum.
»Meine Frau hat das alles sehr mitgenommen. Sie hat mich darum gebeten, meine Versetzung zu beantragen«, fuhr er fort und richtete den Blick auf eine blonde, zierliche Mittvierzigerin in der ersten Reihe. Aha. Karen Tiebel-Schiffer. Auch an ihr waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Sie wirkte allerdings schicker als früher. Keine Spur mehr von langen Haaren und indischen Hängekleidern. Stattdessen trug sie einen modischen Pagenschnitt und ein Kostüm mit kurzem Rock.
Schiffer erhob seine Stimme leicht: »Ich möchte an dieser Stelle darum bitten: Wer auch immer für die Briefe verantwortlich ist, möge damit aufhören! Meine Damen und Herren, das ist kein Spaß mehr und auch kein harmloser Streich! Ich habe bisher darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten. Aber …« Er lehnte sich zurück und schaute in die Menge. »Wenn diese Belästigungen nicht aufhören, kann ich für nichts mehr garantieren!«
»Herr Kollege«, meldete sich nun der blonde Pastor zu Wort, »Sie sollten vielleicht erwähnen, worauf sich diese anonymen Briefe bezogen haben.« Er sprach das R wie ein L aus.
»Ein Amerikaner?«, fragte ich Maja. Er hatte einen leichten Akzent, obwohl er fließend und fast fehlerfrei deutsch sprach.
Maja nickte: »Er lebt seit zwölf Jahren in Moersen und leitet hier die Gemeinde der Brüder der Liebe. Die Gemeinde hat in letzter Zeit viel Zulauf, vor allem von den Jugendlichen. Da kommt die evangelische Kirche nicht mit.«
Vor dreizehn Jahren hatte ich Moersen verlassen, um zu studieren. Wir hatten uns also knapp verpasst.
Der amerikanische Pastor ergriff wieder das Wort: »Tatsächlich haben Sie sich etwas zuschulden kommen lassen, Herr Kollege. Sie haben die Ehe gebrochen! Sie haben Ihre Frau betrogen! Sie haben sich nicht an die Gebote Gottes gehalten! Du sollst nicht Ehe brechen, steht in seine Gebote. Sie sind Pfarrer, Herr Kollege, und sollten es eigentlich wissen!«
Einige Jugendliche im Publikum klatschten.
»Genau«, kommentierte eine tiefe, sonore Stimme einige Reihen vor uns.
»Wenn Ihre Frau nicht mehr hier leben will, dann ist das Ihnen zuzuschreiben! Sie haben Ihre Frau – wie sagt man – zum Narren gehalten, so wie der Bill Clinton seine Hillary. Sie haben sie betrogen. Sie haben sie bloßgestellt vor die ganze Stadt hier. Jetzt geben Sie die Schuld für Ihre Sünde nicht den anderen!«
Applaus im Publikum. »Ganz richtig.« Wieder die sonore Stimme schräg vor uns.
Martin Schiffer antwortete gelassen: »Aber Sie wissen auch, dass Jesus gesagt hat: ›Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein!‹«
Dieses Mal nickte Emmchen und sagte mit ihrer leicht knarzenden Altfrauenstimme: »Sehr richtig!«
Schwache Zustimmung im Publikum.
Martin Schiffer war noch nicht fertig. »Und Sie wissen auch, dass man einige der Jugendlichen aus Ihrer Gemeinde mit der Sprühdose in meinem Garten gesehen hat! Die Wände sind mehrmals besprüht und beschmiert worden – mit Wörtern, die ich nicht öffentlich nennen möchte. Der Küster und ich hatten stundenlang damit zu tun, die Wände zu säubern. Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich, dass das aufhört! Ich erwarte eine Entschuldigung von Ihnen für diese Schmierereien!« Seine Stimme war lauter geworden.
Der Bürgermeister schaltete sich ein: »Meine Herren, bitte beruhigen Sie sich doch!«
Pastor Andy Brown ließ sich nicht beirren. »Herr Kollege, ich habe nicht mit der Sprühdose in Ihrem Garten gestanden. Ich habe nicht Ihre Wände besprüht. Ich habe keine Briefe an Sie geschrieben. Ich kann mich nicht entschuldigen für etwas, das ich nicht getan habe.«
»Ach, und Sie haben etwa auch nicht meinen Sohn aufgehetzt? Ihm nicht gesagt, sein Vater sei unwürdig und er könne nicht mehr das Wort Gottes predigen, aus einem unberufenen Mund könne kein berufenes Wort kommen …«
»Herr Kollege, jetzt lassen Sie – wie sagt man – jetzt lassen Sie die Kirche am Dorf. Sie haben Tobias aus dem Haus getrieben, Sie haben ihn aus Ihrer Gemeinde getrieben mit Ihrem Fehltritt. Einen jungen Menschen, der Halt braucht …«
»… den Sie ihm natürlich geben konnten mit Ihren simplen Wahrheiten!«, ätzte Martin Schiffer.
»Halt, halt, halt!« Der Bürgermeister klatschte in die Hände. »Bitte, werden Sie nicht persönlich, meine Herren!«
Pfiffe und Applaus im Publikum. Aber die beiden Kampfhähne waren nicht aufzuhalten.
»Das war natürlich ein Freudenfest für Sie, Herr Kollege!« Martin Schiffer sagte es ironisch: »Der Sohn des Pfarrers geht in eine Sekte! Eine bessere Werbung hätte es für Sie nicht geben können! Geben Sie es doch zu!«
Pfiffe und Buhrufe von den Jugendlichen.
»Herr Kollege, jetzt sind Sie zu weit gegangen! Die Kirche der Brüder der Liebe ist keine Sekte!«
Der Bürgermeister hob ratlos die Hände: »Meine Herren, meine Herren …!«
Eine ältere Frau trat auf die Bühne und gab dem Bürgermeister ein Zeichen. Spieß erhob sich und folgte ihr. »Sie entschuldigen mich für einen Augenblick, bitte!«
Die beiden Geistlichen hatten sich zurückgelehnt und musterten sich feindselig mit zusammengezogenen Augenbrauen. Sie sagten jedoch nichts mehr.
Alle warteten gespannt darauf, was nun auf der Bühne passieren würde.
Bürgermeister Spieß trat wieder ein. Er winkte nun seinerseits Pfarrer Schiffer hinaus und gab Karen Tiebel-Schiffer ein Zeichen, ihm zu folgen.
Zurück blieb der amerikanische Pastor mit ratlosem Gesicht. Jetzt sah er wieder aus wie Mamas liebster Schwiegersohn.
Wenige Minuten später betrat der Bürgermeister den Raum und stellte sich vor das Mikrophon: »Meine Damen und Herren, ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir die Veranstaltung leider sofort abbrechen. Herr Pfarrer Schiffer hat eine Nachricht erhalten, die ihn so betroffen hat, dass er die Diskussion nicht weiterführen kann.«
Ein Raunen ging durch die Menge.
»Was ist passiert?«
»Was ist los?«
»Warum?«, hörte man aus den Reihen.
Bürgermeister Spieß ergriff wieder das Mikrophon. »Tobias Schiffer, der Sohn von Pfarrer Schiffer, ist mit dem Auto verunglückt. Er ist schwer verletzt. Er wurde in das Städtische Krankenhaus eingeliefert.«
Es war plötzlich so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Der amerikanische Pastor ging zu seinem Kontrahenten Martin Schiffer, der mit seiner Frau in den Saal zurückgekehrt war, und drückte ihm stumm die Hand. Schiffer nickte ihm kurz zu.
Dann standen die Leute auf und gingen zur Ausgangstür. Einige kamen nach vorne zu dem Pfarrerehepaar. Emmchen beugte sich zu Maja: »Ich muss nach Karen schauen. Wartet nicht auf mich! Ich nehme mir später ein Taxi nach Hause.«
Maja und ich sahen uns an. »Scheiße, das mit Tobias«, sagte ich.
»Das kannst du wohl laut sagen.«
»Lass uns gehen«, meinte ich dann. »Wir können hier sowieso nichts machen.«
»Ist gut«, sagte Maja. »Fahren wir. Mein Auto steht auf dem Parkplatz«
Wir strebten dem Ausgang zu. Doch wir konnten die Tür nicht passieren. Denn dort stand sie. Als hätte sie auf mich gewartet.
Morgen hätte ich sie sowieso angerufen. Morgen, nicht heute. Warum konnte mir diese Begegnung an einem so verkorksten Abend nicht erspart bleiben?
Meine Mutter kam freudestrahlend auf mich zu. »Hallo, Kiki«, sagte sie, »schön, dass ich dich auch einmal wiedersehe. Aber kannst du dir immer noch keine anständigen Schuhe leisten? Ich dachte, du hättest jetzt eine Stelle beim Fernsehen.«
Warum brachte ich es wieder nicht fertig, ihr zu sagen, dass dieser Kommentar angesichts der Ereignisse völlig unpassend war?
»Ich rufe dich an«, murmelte ich stattdessen. Dann hinkte ich hinter Maja her zum Parkplatz.
»Kaffee?«, rief Maja aus der Küche.
»Ausnahmsweise lieber Tee, wenn’s geht«, rief ich zurück.
Ich saß auf einem fast antiken Stuhl mit geschnitzter Lehne und ließ mich bedienen. Wenn es Maja auch in die finsterste Provinz verschlagen hatte, so war sie wenigstens in einer noblen Unterkunft gelandet. Emmchen bewohnte eine Maisonettewohnung über zwei Stockwerke mit mindestens fünf Räumen. Eigentlich zu groß für eine Person und fast auch für zwei. Ein Balkon vor dem Esszimmer ließ an laue Sommerabende mit kühlem Frascati denken. Der Parkettboden war mit verblichenen Seidenteppichen belegt. Gediegenes Bürgertum, aber so geschmackvoll, dass es nicht spießig wirkte.
In Anbetracht der Umstände war unser Wiedersehen etwas weniger fröhlich ausgefallen als geplant. Wir hatten uns über Tobias unterhalten, den verunglückten Pfarrerssohn. Ich hatte ihn früher oft im Pfarrgarten spielen sehen, immer etwas scheu und verlegen. Lange nicht so kontaktfreudig wie seine Zwillingsschwester Susanne.
»Man denkt ja immer nicht daran, dass so etwas im eigenen Bekanntenkreis passiert«, hatte Maja sinniert. Über die Krise im Pfarrhaus hatten wir geredet, den Pfarrer, der sein Ehegelübde nicht gehalten hatte, die Reaktionen darauf in der Kleinstadt. Maja hatte von der Affäre etwas mitbekommen, weil Emmchen mit Karen Tiebel-Schiffer befreundet war. Manches Mal war sie bei Emmchen zu Besuch gewesen und hatte sich trösten lassen. Maja hatte sich dann immer diskret verzogen.
Wir hatten am gestrigen Abend eine oder auch zwei Flaschen Wein geleert. Emmchen war spät zurückgekehrt. Weit nach Mitternacht hatte ich die Tür klappen gehört. Nun hielt Emmchen sich noch in ihren Räumen auf.
Zwei Scheiben Weißbrot hüpften aus dem Toaster. Ich angelte sie heraus und legte sie auf den dafür vorgesehenen Teller. Kater Romeo hatte sich auf einem Kissen auf der Eckbank eingerollt und schlief. Es hätte so richtig gemütlich sein können, wenn da nicht die Ungewissheit über Tobias’ Schicksal gewesen wäre.
Ich griff nach der Zeitung und schlug den Lokalteil des Moersener Tagblattes auf.
Über das Rededuell und seinen unerwarteten Ausgang stand noch nichts darin. Die Abendveranstaltung hatte erst nach Redaktionsschluss geendet.
Ich ging die Schlagzeilen durch: »Tierquälerei in Mietswohnung«, »Männergesangverein feierte Jubiläum«, »Betrüger ergaunern sich doppelte Stütze«, so lauteten einige der Überschriften. Ich war froh, dass ich mich als Fernsehjournalistin in Berlin mit wesentlichen, die Menschheit bewegenden Themen beschäftigen durfte. Etwa mit dem Liebesleben des Regierenden Bürgermeisters (schwul), dem Theaterstück eines berühmten Regisseurs (schräg und unverständlich) oder den Neurosen in der gebildeten Mittelschicht (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und immer noch Kaufsucht – ein Dauerbrenner).
Maja kam herein und stellte die Teekanne auf den Tisch. Ich schenkte mir ein.
Sie beäugte das Frühstücksangebot. »Fehlt noch etwas?«
»Höchstens Ketchup. Für den Käse.«
»Igitt«, machte Maja, ging aber folgsam in die Küche, um das Gewünschte zu holen.
Mir fiel die Schlagzeile auf Seite fünf des Lokalteils ins Auge: »Frauenverein gegen Ruf des Muezzin«.
Ich war gerade dabei, mich in den Artikel zu vertiefen, als das Telefon läutete. Einmal, zweimal, dreimal. Es hörte auf zu läuten.
»Wahrscheinlich hat Emmchen abgehoben. Sie hat in ihrem Zimmer einen Zweitanschluss.«
Maja setzte sich und bestrich einen Toast mit Butter.
Ich las weiter in dem Artikel und erfuhr, dass der Moersener Frauenverein gegen die Phonzahl des Muezzin-Rufes protestierte. Fünfmal am Tag würde von der Moschee aus zum Gebet eingeladen. Jedes Mal mit 57 Dezibel in einem Radius von 250 Metern. Das macht insgesamt 285 Dezibel am Tag.
Eine Kirchenglocke dagegen läute mit 63 Dezibel. Allerdings nur dreimal am Tag. Macht insgesamt 189 Dezibel. Es stand also 285 zu 189 für die Muslime. Das ging natürlich nicht, und so hatte der Frauenverein allen Grund zur Klage. »Und das im christlichen Abendland«, empörte sich die Sprecherin der Rechtschaffenen.
Schwerfällige Schritte waren auf dem Parkett zu hören. Emmchen stand in der Tür. Die weißen Haare noch zerzaust von der Nachtruhe. Sie hatte einen samtenen roten Morgenmantel über die Schultern geworfen.
»Schlechte Nachrichten«, sagte sie, und es klang, als hätte ihr jemand ein Reibeisen in die Kehle implantiert. »Gerade hat Karen Tiebel-Schiffer angerufen. Tobias ist heute Morgen verstorben. Sie konnten nur noch den Hirntod feststellen. Sie haben die Geräte abgestellt.«
Das Pfarrhaus war voll. Ganz Moersen wollte anscheinend dem Pfarrerehepaar sein Beileid ausdrücken. Maja und ich hatten kondoliert und uns dann in die hinterste Ecke des Wohnzimmers verzogen, nicht weit weg von der Tür. Wir hatten einen guten Überblick und konnten beobachten, wer kam und wer ging.
Es wimmelte von schwarzen Anzügen. Gerade eben ging Bürgermeister Spieß auf das trauernde Paar zu und drückte den beiden warm die Hände, bedauernde Worte murmelnd.
Ihm schloss sich ein Mann in den zweitbesten Jahren an. Ich erkannte den Zwischenrufer vom Vorabend. Er war klein von Wuchs und trug eine Hornbrille und hatte Augenbrauen wie Theo Waigel. Das Bemerkenswerteste an ihm war allerdings seine Stimme. »Herr Pfarrer Schiffer, mein ganz herzliches Beileid zum Tod Ihres Sohnes«, sagte er mit seinem dunklen Timbre. Wir konnten jedes Wort verstehen, obwohl dazwischen mindestens zehn Menschen durcheinander redeten.
»Wer ist das?«, wollte ich von Maja wissen.
»Das ist Porksen. Fabrikant Porksen, Besitzer eines mittelständischen Industrieunternehmens in der Stahlindustrie. Schiffers Intimfeind seit Jahren. Aus der Kirche ausgetreten. Seitdem hasst er den Pfarrer. Schau dir mal an, wie er ihm die Hand schüttelt!« Tatsächlich. Porksen hielt Schiffers Hand, als sei sie ein nasser Schwamm. Oder eine Nordseequalle.
»Aus der Kirche ausgetreten, und das in Moersen? Warum? Ist er Atheist?«
Majas Augenbrauen wanderten in Richtung Pony. »Kiki, du kriegst demnächst einen Grundkurs ›Moersen – meine Heimat‹ verpasst. Nein, er ist natürlich kein Atheist. Sondern Pfarrer Schiffers Einstellungen passen ihm nicht. Zu links oder so. Es gab da mal einen Skandal, vor einigen Jahren …«
»Ach so.« Ich nahm mir noch ein Käsebrötchen. Seit dem Frühstück hatte ich nichts gegessen. Inzwischen war es fünf Uhr nachmittags. Auf dem Käse lag ein Paprikaschnitz, den ich mit den Zähnen herunterholte. »Und dann kommt Porksen trotzdem kondolieren?«
Maja zuckte mit den Achseln. »Gehört sich so. Club der Honoratioren. Arzt, Apotheker, Lehrer und Fabrikant. Persönliche Sympathien spielen dabei keine Rolle.«
Porksen trat nun auf Karen Tiebel-Schiffer zu. »Gnädige Frau, darf ich auch Ihnen mein zutiefst empfundenes Beileid ausdrücken. Wirklich sehr, sehr tragisch. Die Wege Gottes sind manchmal schwer zu verstehen.« Bildete ich es mir nur ein, oder klang seine Stimme jetzt wärmer?
»Gegen die Frau des Pfarrers hat er nichts?«
Maja schüttelte den Kopf. »Nein. Im Gegenteil. Sie tut ihm Leid.«
»Warum, wegen der Affäre des Pfarrers?«
Maja nickte: »Porksen hat seine Silberhochzeit hinter sich, und er hat seine spezielle Meinung zu allen, die dieses Ziel nicht erreichen.«
Ich besah mir den smarten Pfarrer nun kritischer als am Abend zuvor. Er hatte Tränensäcke unter den Augen. Seine Mundpartie wirkte ein wenig schlaff. Jetzt bemerkte ich auch, dass er und seine Frau sich nicht ansahen. Es schien, als ob sich ihre Blicke auswichen. An der Hand des Pfarrers fehlte der Ehering.
»Aber Schiffer und seine Frau wohnen noch zusammen?«, fragte ich.
»Soweit ich weiß, schon. Ich glaube, er hat sich von seiner Freundin wieder getrennt. Nicht ganz ohne Druck von oben.«
»Ist die Geliebte auch hier?«
»Weiß ich nicht. Kenne ich auch nicht. Ich weiß nur, dass er sie über die Partei kennen gelernt hat. Beide sind Genossen, und beide kandidieren für den Landtag.«
»Gegeneinander?«
Maja zuckte mit den Schultern. »Du, das weiß ich nicht. Am besten, du fragst Emmchen. Sie ist schließlich mit Karen Tiebel-Schiffer befreundet.«
Porksen hatte seine Kondolenz beendet und wandte sich dem Bürgermeister zu. Sie unterhielten sich kurz. Dann verabschiedeten sich beide und gingen in Richtung Garderobe. Ich blickte ihnen nach.
»Ein ganz schöner Filz hier.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
In diesem Moment strömte ein Schwall kalter Luft herein. Ein Mann, etwa in meinem Alter, betrat das Wohnzimmer und zog seinen Norwegerpullover über dem Bierbauch glatt. Über dem gepflegten Vollbart blitzten wache graue Augen.
Der Sohn des Bürgermeisters.
»Hallo, Jürgen«, begrüßte ich meinen ehemaligen Klassenkameraden. »Bist du auch mal wieder in Moersen?«
Er grinste. »Was heißt auch mal wieder. Ich lebe hier. Ich arbeite als Journalist beim Moersener Tagblatt.«
»Bei diesem Karnickelverein- und Kirchenglocken-Blatt?«, rutschte es mir heraus.
Er hieb mir auf die Schulter: »Immer noch die alte, vorlaute Kiki. Ich hab schon gehört, dass du jetzt was Besseres bist. Fernsehjournalistin in Berlin.«
Ich wurde rot, aber ich fing mich schnell wieder. »Und wie geht es dir sonst? Lass mich raten: Du bist verheiratet, hast auf dem Grundstück deiner Eltern gebaut und zwei Kinder gezeugt.« Wir hatten uns schon in der Schulzeit immer gerne gefetzt.
»Drei Kinder«, korrigierte Jürgen Spieß. »Ich will jetzt Karen und Martin mein Beileid ausdrücken. Wenn du willst, dann warte hier auf mich. Lass uns noch einen trinken gehen. Wir haben uns schließlich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Schwupp, war er weg.
Maja blickte ihm nach. »Du kennst ja tatsächlich noch eine ganze Menge Leute von früher.«
Bildete ich mir das ein, oder klang sie eifersüchtig?
Ich zuckte mit den Schultern. »Lange warte ich allerdings nicht. Ich habe Hunger. Ich glaube, ich muss noch irgendwo einkehren, wo es etwas zu essen gibt.«
Wir zogen unsere Mäntel von der überfüllten Garderobe und kleideten uns an. Mantel, Schal, Hut. Obwohl es bereits März war. Von Frühling keine Spur.
Im Garderobenspiegel sah ich, dass Jürgen Spieß sich von hinten näherte.
»Kommst du mit? Ich gehe jetzt in die Kneipe gegenüber.«
»Wenn es da etwas zu essen gibt, meinetwegen. Ich hätte auch noch ein paar Fragen an dich. Manches hier kommt mir ziemlich merkwürdig vor.«
Ich sah Maja an. Die zuckte mit den Achseln. »Das ist schon okay. Ich habe zu Hause noch ein Buch liegen, das ich zu Ende lesen will. Geh ruhig.« Sie wirkte allerdings nicht begeistert.
»Komm du doch auch mit«, schlug ich vor.
»Nein, nein, lass mal, ich gehe nach Hause.« Es klang leicht verschnupft.
Wir kehrten im Alten Markt ein. In Moersen stand die Kirche noch im Dorf, sogar im Zentrum am Marktplatz. Daneben das Pfarrhaus und in unmittelbarer Nähe das Rathaus. Da durfte auch eine Gaststätte nicht fehlen. Wie lange war ich nicht mehr hier gewesen? Zwölf Jahre oder sogar noch länger? Als Jugendliche hatten wir uns in der Clique meistens in der einzigen Szenekneipe am Rand der Neubausiedlung getroffen.
Der Alte Markt hingegen war gutbürgerlich eingerichtet: Holzboden, rustikale Tische und Stühle, Bleiglasfenster und ein Hirschgeweih an der Wand. Aber nicht ungemütlich.
»Ein Pils«, bestellte Jürgen bei der Bedienung mit der weißen Schürze.
»Gleichfalls«, echote ich und sah herab auf meine Schuhe. Rotbraune Mokassins, praktisch, aber nicht besonders flott. Ein Notkauf heute Morgen. Von den Pumps mit dem fehlenden Absatz hatte ich mich schweren Herzens getrennt.
Die Bedienung brachte die Pilshumpen.
»Prost. Auf unser Wiedersehen.«
»Auf unser Wiedersehen.«
Wir tranken den Schaum ab.
»Wie lange bist du jetzt schon wieder hier in Moersen?«, wollte ich wissen.
»Seit sieben Jahren. Nach dem Studium habe ich beim Moersener Tagblatt volontiert und dann eine Anstellung als Redakteur bekommen.«
»Ist das nicht langweilig, immer nur über Männergesangvereine und Tierschutz zu berichten?«
Jürgen grinste. »Und über Skandale.«
»Skandale? In Moersen etwa?«, fragte ich provozierend.
»Mhm-mhm.« Jürgen leerte sein Bier. Er winkte der Bedienung zu. »Noch eines, Monika!«
Aha. Er wollte sich die Geschichten herauskitzeln lassen.
Ich lehnte mich zurück. »Na, dann erzähl mal etwas über die Skandale. Über Porksen und den Pfarrer zum Beispiel«, schlug ich vor.
Monika stellte ein frisches Pils auf den Holztisch. »Und einmal Kartoffelsalat, Moersener Land«, bestellte Jürgen.
»Mir auch noch ein Pils. Und etwas zu essen. Ohne Fleisch.«
Das stellte Monika vor eine schwierige Aufgabe. »Hühnchenbrust vielleicht?«
»Nein, ohne Fleisch.«
»Vielleicht Brühwurst mit Salat und Kroketten?«
Ich seufzte. »Auch keine Wurst, bitte.«
Sie zog die Stirn in Falten. Dann leuchtete ihr Gesicht auf. »Ja, dann bringe ich Ihnen die Kroketten und den Salat ohne Wurst.«
Lecker. »Meinetwegen.«
Jürgen zündete sich eine Zigarette an. »Also. Vor fünf Jahren hat eine kurdische Familie angefragt, ob sie im Gemeindehaus Kirchenasyl bekommen könnte. Ein Ehepaar mit zwei Kindern. Der Asylantrag war abgelehnt, und sie sollten in die Türkei abgeschoben werden. Um noch einmal Zeit für eine weitere Verhandlung herauszuschinden, sollten sie ins Gemeindehaus umziehen. Du weißt, die Polizei respektiert das meistens und dringt nicht in die Kirchenräume ein. Die Flüchtlinge sind so lange geschützt, wie sie sich unter dem Dach der Kirche aufhalten. Pfarrer Schiffer hat sich sehr für die Familie eingesetzt. So weit, so gut. Porksen war damals ziemlich aktiv in der Kirchengemeinde. Er hat zum Kirchenvorstand gehört, zum Presbyterium. Alle anderen Presbyter waren übrigens dafür, die Familie aufzunehmen. Alle außer Porksen.«
Ich zündete mir auch eine an. »Schon erstaunlich, dass die anderen alle dafür waren. In diesem konservativen Nest.«
Er lächelte ironisch. »So rückständig sind wir nun auch wieder nicht.«
Dann fuhr er fort: »Die Familie zog also in das Gemeindehaus ein. Porksen grollte, aber es war ja ein Mehrheitsbeschluss. Also hat er zähneknirschend akzeptiert. Nur, dann hat der Pfarrer noch einen draufgesetzt.«
Monika brachte trockene Kroketten mit welkem Salat. »Essig und Öl stehen auf dem Tisch«, sagte sie und wies auf ein Tablett mit Salz- und Pfefferstreuer und zwei Fläschchen, die nur ein kleines bisschen schmierig aussahen. Jürgen erhielt eine Portion Kartoffelsalat mit zwei Spiegeleiern obendrauf.
Ich schaute nicht hin. Die Gastronomie hatte nicht wirklich Großstadtniveau.
»Ja? Was war mit dem Pfarrer?«, brachte ich das Gespräch wieder in Gang.
»Er hielt eine flammende Predigt. Im Hinblick auf das Kirchenasyl würden sich die Gläubigen von den Ungläubigen scheiden. Die wahren Christen sollten sich nach dem Gebot Jesu für die Armen und Unterdrückten einsetzen. Wer das nicht tue, habe auch kein Recht, im Gottesdienst fromme Lieder zu singen. Er zitierte Bonhoeffer, den Widerstandstheologen im Dritten Reich, der im Konzentrationslager ermordet wurde. ›Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.‹«
»Kleine Spitze gegen Porksen?«
»Deutliche Spitze gegen Porksen. Und das kam an. Porksen schaltete den Superintendenten ein, Schiffers Dienstvorgesetzten. Er verlangte ein Disziplinarverfahren, eine Versetzung Schiffers oder Ähnliches. Mindestens sollte der Pfarrer sich öffentlich entschuldigen. Was er natürlich nicht tat. Der Superintendent hielt sich heraus. Er sagte, das müsse die Gemeinde unter sich ausmachen.«
»Ah ja.« Ich spülte eine besonders sperrige Krokette mit einem großen Schluck Pils herunter und gab Monika ein Zeichen. »Noch eines, bitte!«
»Porksen stellte den Pfarrer vor dem Presbyterium zur Rede. Es gab eine hitzige Debatte. Das Presbyterium fasste den Beschluss, dass Schiffer sich vielleicht im Ton vergriffen hätte. Aber in der Sache stimmten sie ihm zu.«
»Niederlage für Porksen auf der ganzen Linie also.«
»Richtig.« Jürgen wischte sich mit einer Papierserviette das Eigelb aus dem Bart.
»Und weiter?«
»Porksen war tödlich beleidigt. Er kündigte an, unter diesen Umständen seinen Vorsitz im Presbyterium niederzulegen. Die anderen Presbyter fanden das zwar bedauerlich, rückten aber nicht von ihrer Position ab.«
»Aha. Lass mich raten. Porksen trat zurück und legte alle Ämter nieder. Und war zu Tode gekränkt.«
»Genau. Und er sorgte dafür, dass im Moersener Tagblatt ein Rieseninterview mit ihm erschien. Da legte er dar, dass seine Familie schon seit der Reformation in der Moersener Gemeinde sei. Und dass sein Vater gegen die Nazis war, als Schiffer noch in den Windeln lag. Im Übrigen stünde nirgendwo geschrieben, dass die Kirche sich in Politik einmischen soll. Schon gar nicht sollte sie irgendeinem rot-grünen Zeitgeist hinterherhecheln. Wenn Schiffers Rede unwidersprochen bliebe, dann müsse er leider die Konsequenzen ziehen.«
Monika brachte die nächste Runde.
»Und die Konsequenz war: Er trat aus der Kirche aus«, stellte ich fest.
Wir prosteten uns zu.
»Warum hat denn in der Gemeinde niemand versucht zu schlichten? Dein Vater zum Beispiel?«
»Mein Vater fühlte sich nicht zuständig. Er ist Bürgermeister. Er gehört zwar zur Gemeinde, aber außer im Chor mischt er dort nicht aktiv mit.«
»Was ist dann weiter daraus geworden?«
Jürgen zuckte mit den Schultern. »Porksen hat diese Geschichte wohl nie so ganz verwunden. Man hörte, dass er sich hier und dort in einer der Freikirchen umgeschaut hat. Anscheinend hat er sich aber nirgendwo auf Dauer engagiert.«
»Glaubst du, er will dem Pfarrer eins auswischen?«
»Wenn er die Möglichkeit dazu hat, klar.«
Ich nahm noch einen kräftigen Schluck. »Dann hat der Pfarrer also zwei Feinde in Moersen. Porksen und diesen Pastor von der Kirche der warmen Brüder, oder wie hieß sie noch gleich?« Ich kicherte.
Jürgen verzog keine Miene. Er rückte die Plastikblumen beiseite und zog den Aschenbecher näher zu sich heran.
»Das ist nichts Persönliches zwischen den beiden, eher ein Wettstreit. Zu wem kommen die Leute lieber, zu mir oder zu dir?« Er schnippte die Asche in den dafür vorgesehenen Glasbehälter. »Bist du morgen Nachmittag noch hier?«
»Ich muss zurück nach Berlin.« Warum jetzt eine Gegenfrage auf meine Frage? So schnell gab ich mich nicht zufrieden. »Wieso nichts Persönliches? Die haben sich doch angebrüllt gestern Abend.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Gaststätte. Hereinspaziert kamen die Honoratioren: Bürgermeister Spieß, Fabrikant Porksen und noch ein Mann, den ich nicht kannte.
»Wer ist der Dritte?«, raunte ich Jürgen zu.
»Einer der Ratsherren, CDU, glaube ich.«
»Wie heißt er?«
»Uh …« Er legte die Stirn in Falten. »Im Zweifelsfall Schneider. So heißt im Moersener Land ungefähr jeder Dritte«, scherzte er.
Ich bestellte noch eine Runde Pils.
»Aber der da heißt wirklich Schneider«, freute sich Jürgen plötzlich, »jetzt ist es mir wieder eingefallen. Das ist Schneider, der Privatdetektiv.«
»Was war denn nun mit dem Pfarrer und dem amerikanischen Pastor?«
Jürgen war abgelenkt. Er blickte zu den Honoratioren hinüber. Der Alte Markt war anscheinend nicht ihre erste Anlaufstelle, angeheitert, wie sie wirkten. Ihr Stimmengewirr vermischte sich mit der Musik aus dem Lautsprecher. Lediglich Porksens durchdringende Stimme war zu verstehen. »Es tut mir wirklich Leid für den Jungen, das war ein feiner Kerl. Aber der Vater …«
Noch ein Pils auf dem Holztisch. Hatte ich das eigentlich bestellt? Ich nahm die Szene am Nebentisch durch einen Nebel von Rauch und Alkoholdunst wahr. Letzterer waberte vor allem in meinem Kopf.
»Sach mal, Jürgen?« Ich merkte, dass meine Stimme leicht außer Kontrolle geriet. »Sach mal, was machen die eigntlich hier?«