Bleib immer ein Mensch - Katharina Stegelmann - E-Book

Bleib immer ein Mensch E-Book

Katharina Stegelmann

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Beschreibung

Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte Heinz Drossel hatte dank seines katholischen Elternhauses von Jugend an verinnerlicht, dass Menschlichkeit auch in schwierigen Zeiten über allem stehen soll. Um sie zu verteidigen, scheute er kein Risiko. Der Wehrmachtoffizier ließ einen gefangenen Rotarmisten entkommen und organisierte für mehrere Juden ein Versteck. Auch Marianne Hirschfeld, eine junge Mutter von zwei Kindern, die sich aus Verzweiflung umbringen wollte, rettete er. Die Nazis hatten fast alle ihre Angehörigen ermordet, sie überlebte im Untergrund – und traf Heinz nach dem Krieg zufällig wieder. Sie heirateten 1946. Der Neubeginn war für beide schwer. Ihre Emigrationspläne scheiterten. Drossel erlebte im Justizdienst, wie Nazis weiterhin Karriere machten. Seine Eltern wohnten seit der Liquidation ihres Geschäfts Anfang 1943 in Senzig bei Königs Wusterhausen. Der Vater, 1946 zum Bürgermeister der Gemeinde gewählt, musste wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen drei Jahre im Zuchthaus Luckau absitzen. Heinz und Marianne Drossel blieben Außenseiter, auch als sich Heinz von Westberlin nach Baden Württemberg versetzen ließ, wo er es zum Präsidenten des Sozialgerichts in Freiburg brachte. Erst mit der Ehrung als „Gerechter unter den Völkern“ im Jahr 2000 und der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 2001wurde Heinz Drossels Widerstand gegen das Unrecht im Nationalsozialismus gewürdigt. „Für Heinz Drossel war die Solidarität mit Verfolgten ‚eine Selbstverständlichkeit’. Er war ein außergewöhnlicher und mutiger Mann, ein moralisches Vorbild.“ Wolfram Wette

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Katharina Stegelmann

Bleib immer ein Mensch

Heinz Drossel. Ein stiller Held1916–2008

Impressum

Mit 37 Fotos und Faksimile

ISBN 978-3-8412-0567-4

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Januar 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2013 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg

unter Verwendung eines Fotos von Heinz und Marianne Drossel,

Berlin, Flughafen Tempelhof

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung»Macht’s besser!«I.Eine schicksalhafte Begegnung. Versuch einer RekonstruktionII.Vor dem Krieg (1916–1939)Jeder gegen jeden»Das große KZ, das Deutschland heißt«III.Offizier wider Willen (1939–1942)Mehr als eine Formalie»Mord und Brand«IV.Verfolgt, verleugnet, versteckt (1939-1945)Post aus Polen»Mit tiefem Schmerz«Vollkommen verzweifeltIm Notfall willkommenBerlin wird »judenrein«V.Zweimal Russland und zurück (1942-1945) Nach den Erinnerungen von Heinz Drossel»Wo sind Deutschlands Psychiater?«Die Frau auf der JungfernbrückeEine neue DimensionZwischen Hoffnung und Depression»Das sind alles Schweine«»Schwachsinn bis zum Exzess«»Wojna kaputt – Krieg ist Scheiße«VI. Nach dem Krieg (August 1945 – 1962)»Wir haben nicht lange geredet«Die Vergangenheit sollte ruhenDie Sache mit Koschinski»Plötzlich verarmt«»Wir müssen hier raus«»Tabula rasa«»Ich habe es nicht mehr ertragen«… und immer wieder die TorturVII. Am Ende ein TraumSehnsucht nach NormalitätZynische Laune des Schicksals»Eine gewisse innere Ruhe«NachtragDokumenteEidesstattliche Erklärung von Marianne Drossel, 24. August 1949Eidesstattliche Erklärung betreffs VerfolgungAnfrage an die Jüdische Gemeinde zu Berlin, 14. Januar 1952Anlage zum Antrag auf Entschädigung, 25. Oktober 1952Marianne Drossel, An den Senator für Sozialwesen in Berlin, 27. April 1954Kostenbescheid der Jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin, 6. Februar 1961Heinz Drossels Versetzungsgesuch an den Senator für Arbeit in Berlin, 13. Juni 1962Ruth Drossel an Katharina Stegelmann, 30. Juni 2011Zu diesem BuchLiteraturAnmerkungenBildnachweisDank

Vorbemerkung

Kennengelernt habe ich Heinz Drossel an einem heißen Augusttag 2003. Er hatte sich zu einem Gespräch bereit erklärt, das mir als Grundlage für ein Porträt über ihn als »stillen Helden« im SPIEGEL-Buch »Die Gegenwart der Vergangenheit« dienen sollte. Schon kurze Zeit später dachte ich, dass ich die Geschichte dieses Mannes, die Geschichte seiner Familie erzählen möchte – und zwar ausführlicher, als es damals möglich war. Heinz Drossel war gleich einverstanden, als ich ihn fragte, ob ich seine Familienbiographie schreiben dürfe. Wir haben uns viele Male getroffen, regelmäßig telefoniert und unzählige E-Mails ausgetauscht. Wir sind zusammen gereist, er hat mich mit seinen Töchtern, Enkeln und Weggefährten bekannt gemacht. Wir wurden Freunde.

Die Geschichte über Heinz Drossel und seine Frau Marianne habe ich nach vielen Gesprächen mit Heinz Drossel, Lektüre seiner Biographie »Die Füchse«, Studium der Akten aus den Wiedergutmachungsverfahren von Marianne Drossel, Gesprächen mit den heute lebenden Familienangehörigen und Freunden sowie Recherchen bei diversen Institutionen und in Archiven aufgeschrieben. Ich habe die Fakten zusammengetragen, um ein wahrheitsgemäßes Bild der Geschehnisse wiederzugeben. »Die Wahrheit« allerdings ist in diesem Buch nicht zu finden. Schon gar nicht »die volle Wahrheit«.

Die Erinnerungen der noch lebenden Beteiligten, die Aussagen von Familienangehörigen über die heute verstorbenen Protagonisten ergeben nicht immer ein einheitliches Bild. Es gab widersprüchliche, unlogische Angaben. Es blieben Lücken, einiges konnte durch Recherchen geklärt werden. Manches musste ich verschweigen, weil die Betroffenen es so wünschten. Ich habe auch eigene Schlussfolgerungen gezogen, mich für die wahrscheinlichere Variante entschieden und hier und da Ergänzungen gewagt, um zu einem Bild zu kommen, wie es hätte sein können.

»Macht’s besser!«

Osterholz-Scharnbeck bei Bremen, 24. Mai 2004

Es ist ziemlich eng im Musikraum des Gymnasiums. Fast 150 Jugendliche, Schülerinnen und Schüler aller fünf 10. Klassen, sind anwesend. Der Gast sitzt hinter einem Schultisch, ein Glas Wasser zu seiner Rechten, ein Mikro zu seiner Linken, vor sich ein paar Blatt Papier. Er ist zierlich und grauhaarig, er trägt keine Brille, und er ist alt. Als er sich von seinem Stuhl erhebt, wirken seine Bewegungen kurz unsicher, als hätte er Gleichgewichtsprobleme, dann strafft er sich und erscheint sogleich um einiges jünger. Er tritt an den Rand der kleinen Bühne. Die allgemeine Unruhe wird durch einzelne Pscht!- und Ruhe!-Rufe durchbrochen. Der kleine, alte Herr schaut schweigend in die Zuschauerreihen, er nimmt ganz leicht die Schultern zurück und sagt: »Guten Morgen«. Es wird still.

»Ich bin im alten deutschen Kaiserreich geboren«, sagt Heinz Drossel, und das ist für die Schüler offenbar eine kleine Sensation. Es ist, als halten alle 150 Jugendlichen kurz die Luft an. Im Kaiserreich! Der Mann dort auf dem Podium ist wirklich steinalt.

»Ich bin im alten deutschen Kaiserreich geboren, ich habe den Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg miterlebt, und die Weimarer Zeit habe ich sehr bewusst erlebt. Ich habe mit Mühe das ›Tausendjährige Reich‹ Adolf Hitlers und seinen schrecklichen Krieg überlebt. Und seit es sie gibt, lebe ich in der Bundesrepublik Deutschland.«

Um die 16 Jahre alt sind die Jugendlichen, die an diesem sonnigen Maitag keinen regulären Unterricht haben, sondern einem »Zeitzeugen« lauschen sollen. Auf dem Lehrplan in Geschichte steht »Nationalsozialismus«. Drossel dürfte der erste Mensch sein, der die dunkle Zeit Deutschlands als Erwachsener miterlebt hat und den jungen Menschen davon live erzählt. Gewiss hat der eine oder andere Großeltern, die im sogenannten Dritten Reich aufgewachsen sind, vielleicht gibt es einen Großvater, der als Kindersoldat sein Leben ließ. Aber diese jungen Leute hören wohl zum ersten Mal aus erster Hand, was es hieß, unter der Hitlerdiktatur zu leben, was es bedeutet, mitzuerleben, wenn Bekannte der Eltern plötzlich verschwinden, oder wie man sich als 16-Jähriger fühlt, wenn der Freund keinen Zutritt zu Cafés hat, weil er Jude ist.

1 Heinz Drossel, 2005 in Jerusalem

Heinz Drossel hebt einige zerschlissene Notizbücher hoch. Das, so erklärt er, seien seine Kriegstagebücher, die über 60 Jahre alt sind, sie waren mit in Frankreich und in Russland, am Ende könnten die Zuhörer, die er »liebe Freunde« nennt und siezt, gern kommen und die Büchlein anschauen.

Drossel erzählt, er läuft auf der kleinen Bühne hin und her und macht den Gestapo-Offizier nach, bei dem er sich als 18-Jähriger nach einem vermissten Geschäftspartner seines Vaters erkundigte. Er berichtet, wie er mit seinem Freund Salomon einen Abschiedskaffee trinken wollte, und dass ein Nazi lautstark forderte: »Der Jude muss weg!« Drossels Stimme wird leise, er blickt traurig in die Zuschauerreihen: »Da habe ich mich geschämt, Deutscher zu sein.«

Drossel erzählt von seinen Vorbildern, seinem Vater und seinem Großvater, und wie beide ihn dazu anhielten, die Welt zu entdecken und zu hinterfragen. Er erzählt von den Wirren der Weimarer Zeit, wie er als Schüler mit Millionenbeträgen hantierte, wenn er morgens das Brot für die Familie kaufen ging, und von den orthodoxen Ostjuden, die das Scheunenviertel in Berlin bevölkerten.

Seine Erlebnisse als Soldat und Offizier an der Front erwähnt Drossel nur kurz, »Landsergeschichten« kommen nicht vor. Auch in dieser Phase seines Lebens hat er sich seine eigenen Gedanken gemacht und versucht, seinen Überzeugungen treu zu bleiben. Es wird deutlich, dass Menschlichkeit für ihn ein Wert ist, der über allem steht. Und dass er keine Unbequemlichkeit, kein Risiko scheute, wenn er meinte, dieser Wert sei in Gefahr. Wie sonst hätte er sich im Januar 1945 von einer Sekunde auf die nächste entschließen können, für vier Juden ein Versteck zu organisieren und ihre Flucht vor der Gestapo zu ermöglichen? Einer dieser Geretteten, Ernest Fontheim, wurde Drossels bester Freund. Die Begegnung mit dessen inzwischen erwachsener Tochter, sagt Drossel, habe ihm die wahre Tragweite seiner damaligen Tat offenbart: »Als ich sie im Arm hielt, da wurde mir bewusst, dass es diese Frau wahrscheinlich nicht geben würde, wenn ich anders gehandelt hätte.«

Es gibt viele bewegende Augenblicke während dieses gut zweistündigen Vortrags, der eine Erzählung und keine Belehrung ist. Drossel bleibt immer sachlich in der Wortwahl, auch bei der Schilderung dramatischer Situationen. Kurz und knapp berichtet er, wie es kam, dass er 1942 eine junge Jüdin davor bewahrte, sich das Leben zu nehmen, und dass diese Frau später seine Ehefrau wurde. Es ist ganz still im Raum.

Es kommt aber auch zu Unruhe, nach eineinhalb Stunden muss eine Pause eingelegt werden. Die Schüler sind da durchaus geteilter Meinung, aber die anwesenden Lehrer bestimmen es so. Reinhard Egge, ehemaliger Bundeswehroffizier, Mitglied des Vereins »Für Demokratie – Gegen das Vergessen« und Initiator dieser Veranstaltung, empört sich über einen Schüler, der etwas gegessen hat, während Drossel sprach. Der bleibt ruhig. »Ich weiß«, sagt er, »dass ich nicht alle erreiche, aber das kann ich nicht ändern.« Nach der kurzen Unterbrechung soll Drossel das Mikrofon nehmen, seine Stimme ist im Laufe des Vortrags etwas rau und leiser geworden. Dafür muss der 87-Jährige sich setzen. Das gefällt ihm nicht, aber er fügt sich.

Zum Schluss wendet sich Drossel noch einmal direkt an seine Zuhörer. »Liebe Freunde«, sagt er, »das war mein Leben unter der wohl brutalsten Diktatur und im mörderischsten Krieg des 20. Jahrhunderts. Man konnte auch in der Zeit überleben, musste aber einen hohen Preis zahlen. Eine nationalsozialistische Diktatur fordert, dass man sich mit Haut und Haar verkauft. Sein Gewissen und vielleicht das Wichtigste: persönliche Freiheit. Und was persönliche Freiheit bedeutet, kann eigentlich nur der ermessen, der eine Zeit seines Lebens in Unfreiheit gelebt hat. Sie wissen, viele Menschen haben sich verkauft damals. Ich verurteile diese Menschen nicht. In solch einer Situation ist es eine Gewissensentscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss. Aber eine Entscheidung, die die deutsche Zukunft bestimmt hat. – Macht’s besser!«

Kurze Stille, dann lautstarker Beifall. Langsam löst sich die Versammlung auf. Nur vorn, an Drossels Tisch, bildet sich eine Traube von Mädchen. Sie betrachten seine Tagebücher, sie bedanken sich. Eines kommt, tritt auf die kleine Bühne, umarmt den verdutzten Herrn und drückt ihm einen zarten Kuss auf die Wange. Dann läuft sie schnell davon.

I. Eine schicksalhafte Begegnung.Versuch einer Rekonstruktion

Jungfernbrücke, Berlin, November 1942

Die Frau steht mit knurrendem Magen auf der Brücke, unter ihr plätschert leise die Spree. Schwarz und kalt. So kalt, dass es eigentlich nicht lange dauern dürfte. Wenn sie den Sprung wagt. Marianne Hirschfeld hat Angst. Nicht vor dem Tod, aber vielleicht ist sie doch kräftiger, als sie glaubt, und wird kämpfen. Vielleicht wird sie halb tot aus dem Wasser gezogen, in ein Krankenhaus gebracht, dort identifiziert – und in ein KZ gesteckt. Im Lager gibt es dann vielleicht keine Möglichkeit mehr, dem Elend selbst ein Ende zu machen.

Vor wenigen Stunden hat sie erfahren, dass ihre Vermieter, das jüdische Ehepaar Fleischer, früher als geplant aus Berlin flüchten wollen. Eigentlich wollten sie zu dritt die Stadt verlassen. Das war die letzte Hoffnung, an die Marianne sich noch geklammert hat. Es war schier unmöglich geworden, in Berlin zu existieren. Jeden Tag drohte der Abtransport in den sicheren Tod, jeden Tag fielen die Bomben, und die Versorgung mit Lebensmitteln war schon lange eine Katastrophe. Jetzt muss sie zurückbleiben, denn sie hat noch nicht genug Geld zusammen.

Sie hatte auch schon eine Bleibe für ihren 6-jährigen Sohn gefunden, der durch seinen »arischen« Vater und einen evangelischen Taufschein so gut geschützt war, wie es eben ging. Er war ein cleverer, zäher Bursche, er würde es schaffen, bestimmt. Und das Baby, hatte das eine Chance? Der Gedanke an das winzige Mädchen war kaum auszuhalten. Marianne war keine Wahl geblieben, als sie ihre Tochter Judis im August 1942 im Jüdischen Krankenhaus zur Welt brachte. Bei der Geburt hatte es schwere Komplikationen gegeben, die Marianne fast das Leben kosteten. Um sich und den Mann, den sie liebte, zu schützen, musste sie lügen. Sie behauptete, der Vater sei ebenfalls Jude; sie gab einen falschen Namen an.

Nun lag das kleine Mädchen immer noch dort. Als Frühchen hatte es besonderer Pflege bedurft, und im Alltag einer Verfolgten war kein Platz für ein Baby. Marianne traute sich nicht, ihre Tochter zu besuchen; aus Angst, von den Gestapobeamten verhaftet zu werden, die das Hospital inzwischen lückenlos kontrollierten und als Sammelstelle zum Abtransport jüdischer Menschen missbrauchten.

Marianne hatte sich vorgenommen, nicht an ihre Kinder zu denken. Aber das gelingt ihr nicht. Sie weiß nicht, was sie schrecklicher findet: sie im Stich zu lassen – sei es durch Flucht oder Freitod – oder die Überzeugung, sie sowieso nicht schützen zu können. Sie wünscht sich einmal mehr, bei Judis’ Geburt gestorben oder überhaupt nie geboren worden zu sein, und läuft ruhelos auf und ab. Tu es! Jetzt!, versucht sie sich anzuspornen und beugt sich weit über das Geländer.

Sie hört die Schritte nicht, die sich in der Dunkelheit nähern. Stiefelschritte. Sie wird von hinten am Arm gefasst. Sie blickt über die Schulter und sieht eine Wehrmachtsuniform. Sie sieht nichts anderes, nur die Uniform, und versucht sich loszureißen und doch noch übers Geländer zu kommen. Aber der Mann hält sie fest. Marianne wird beinahe ohnmächtig, das Blut rauscht ihr in den Ohren, sie ist jetzt ganz erstarrt und hört nur undeutlich, was er sagt.

2 Marianne Hirschfeld mit ihrem Sohn William (Billy) Albinus, Berlin 1941/42

Der Unteroffizier Heinz Drossel, auf Heimaturlaub in seiner Geburtsstadt, traut seinen Augen nicht, denn er erkennt sie innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder: Das ist die junge hübsche Frau vom Vorkriegssommer 1938. Sie waren einander in Tempelhof über den Weg gelaufen, ihr kleiner Sohn war dabei; durch ihn waren sie kurz ins Gespräch gekommen und hatten ein paar freundliche Sätze gewechselt. Nun steht sie hier vor ihm, völlig bewegungsunfähig, er hält sie am Arm. Noch in der gleichen Sekunde, in der er fragt, weiß er, was für eine dumme Frage das ist: »Geht es Ihnen nicht gut?« Der Mensch vor ihm ist vor Entsetzen wie gelähmt. Und dann fragt er: »Sind Sie Jüdin?«

Marianne bricht zusammen, ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie nickt, er nimmt sie in den Arm, hält sie und sagt leise: »Haben Sie keine Angst, ich bringe Sie in Sicherheit.« Sicherheit – die Bedeutung dieses Wortes war Marianne Hirschfeld in den letzten Jahren abhandengekommen. Nichts war mehr sicher. Alles war schwankend, ungewiss und bedrohlich. Konnte sie diesem Wehrmachtsoffizier vertrauen? Ihr blieb nichts anderes übrig. Sie folgte ihm.

Zusammenhanglose Gedanken, aber vor allem Bilder gingen durch Heinz Drossels Kopf, als er Seite an Seite mit dieser zierlichen, über die Maßen erschöpften Gestalt zur nächsten S-Bahnstation ging. Er sah ihr Kind vor sich. Und dann sah er den Jungen von Dagda, der für immer namenlos bleiben würde. Er war eines der zahlreichen Opfer einer Massenerschießung von Juden, deren heimlicher Augenzeuge Drossel 1941 geworden war. Der Junge von Dagda war etwa sechs Jahre alt gewesen. Er stand nackt und zitternd mit seinen Eltern und anderen Verwandten und Bekannten am Rand einer Grube, in der schon Tote lagen. Er streckte seine Hand zu einem Erwachsenen an seiner Seite aus. In dem Augenblick schoss ihm ein SS-Mann in den Kopf. Sein kleiner Körper fiel zu den Leichen in die Grube und wurde von weiteren Ermordeten bedeckt.

Auf der Jungfernbrücke dachte Heinz Drossel nicht nach, er schob die Frau sanft vom Geländer weg. Alles würde sich finden, musste sich finden. Das Naheliegendste war, die Frau erst einmal mit nach Hause zu nehmen.

Die Straßen waren zum Schutz gegen die Bomber kaum erleuchtet, auch in der S-Bahn glommen nur ein paar Notlichter. Die beiden blieben auf dem Ponton stehen, eng aneinandergeschmiegt. Der Schaffner ignorierte den Offizier und die Frau diskret. Sie wirkten wie ein Liebespaar. Sie ahnten nicht, dass diese Pose, die sie zum Schutz vor neugierigen Blicken einnahmen, in die Zukunft wies. Denn sie sollten tatsächlich ein Paar werden, eine Familie gründen und ihr Leben miteinander verbringen. Bis dahin wird aber noch viel Zeit vergehen, Zeit, in der beide ums Überleben kämpfen und sie keine Nachricht voneinander bekommen. Fast genau drei Jahre wird es bis zu ihrem unverhofften Wiedersehen dauern.

II. Vor dem Krieg (1916–1939)

Jeder gegen jeden

Berliner Straße 79, Berlin-Tempelhof, 1. April 1933

Noch nie zuvor hat Heinz seinen Vater so außer sich gesehen. Paul Drossel schreit vor Wut. In den frühen Morgenstunden dieses 1. April 1933 haben SA-Leute auf die Schaufensterscheibe seines Wäschegeschäfts mit weißer Farbe »Jude« und einen Judenstern geschmiert. Der 16-jährige Heinz drückt sich im Flur herum und beobachtet, wie sein Vater zum Telefon rast. Er bebt förmlich, als er nach dem Hörer greift. Drossel fordert bei der Parteidienststelle der NSDAP, »diese Schweinerei« müsse entfernt werden. Und zwar nicht nur bei ihm selbst, sondern auch beim Geschäft Levy gegenüber und das alles »zack, zack!« und von den Verursachern.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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