Bleiben - Thomas Quartier - E-Book

Bleiben E-Book

Thomas Quartier

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Beschreibung

Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung oder die Pflege nahestehender Menschen, Familienkonflikte, ein Beruf, dessen man sich nicht mehr sicher ist, der Verlust eines geliebten Menschen – immer wieder geraten wir in Lebenssituationen, die uns herausfordern, gerade, weil sie nicht oder zumindest auf lange Zeit nicht zu ändern sind. Dieses Buch ist kein Ratgeber im klassischen Sinn. Vielmehr erzählt es die Geschichten von Menschen, die sich auf den Weg durch schwierige Zeiten und ausweglose Situationen gemacht haben. Sie handeln auch von der Ernüchterung, wenn sie es sich dabei zu einfach gemacht haben, und von der Offenheit für neue Wege, die manchmal anders aussehen, als sie es selbst erwartet hätten. Dieses Buch kann so eine Fundgrube und ein Spiegel für all jene sein, die in ausweglosen Situationen nicht davonlaufen wollen.

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Seitenzahl: 227

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Thomas Quartier

Bleiben

Umarmen, was man sich nicht ausgesucht hat

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022

ISBN 978-3-7365-0421-9

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022

ISBN 978-3-7365-xxxx-x

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

Covermotiv: Alina Turchik / shutterstock.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt
Einleitung
Erzählen
Loslassen
Wahre Geschichten
Stabilität: Vom Bleiben
Bruder Paulus
Gedanken zum Bleiben
Einsamkeit: Vom Alleinsein
Nick
Gedanken zum Alleinsein
Regelmäßigkeit: Vom Üben
Schwester Hannah
Gedanken zum Üben
Verantwortung: Vom Führen
Mutter Benedicta
Gedanken zum Führen
Demut: Vom Selbstbewusstsein
Bruder David
Gedanken zum Selbstbewusstsein
Stille: Von innerer Ruhe
Elias
Gedanken zur inneren Ruhe
Liebe: Von der Leidenschaft
Schwester Maria
Gedanken zur Leidenschaft
Kontemplation: Vom Engagement
Schwester Martha
Gedanken zum Engagement
Endlichkeit: Vom Loslassen
Jan
Gedanken zum Loslassen

Einleitung

Wenn äußere Umstände oder Veränderungen auf einmal alles, auf dem wir scheinbar so sicher standen und bauten, ins Wanken bringen und altbewährte Lebensmuster nicht mehr tragen, finden wir uns mitten in einer Lebenssituation, die wir uns weder ausgesucht noch gewünscht haben. Doch während wir in manchen dieser Krisen zumindest nach und nach Auswege oder neue Wege finden, gibt es auch Situationen, denen wir völlig machtlos gegenüberstehen und die uns zwingen, mit ihnen auf irgendeine Weise leben zu lernen. Das haben viele von uns in den Zeiten des Lockdowns während Pandemie häufig sehr schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Aber auch andere Lebensumstände sind manchmal nicht oder nur auf sehr lange Zeit gesehen zu ändern: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung oder die Pflege nahestehender Menschen, schwierige Familienkonflikte, beengte Wohnsituationen, aber auch ein Beruf, dessen man sich nicht mehr sicher ist, und nicht zuletzt der Verlust eines geliebten Menschen.

Natürlich ist es sinnvoll, auch in solchen Situationen weiter nach einem Ausweg oder einer Lösung zu suchen. Doch häufig müssen wir uns zunächst einmal mit dem Bleiben und dem Aushalten dieser Umstände beschäftigen. Während es in beinahe jeder Buchhandlung einige Regalmeter zum Thema »Veränderung« und »neue Wege« gibt, ist guter Rat in solchen Lebensmomenten teuer und rar.

Nicht selten vertrauen Menschen auch und gerade heute auf die Weisheit der Klöster. Denn ein Kloster ist in vieler Hinsicht ein Ort des Bleibens und der Beschränkung, an dem genau diese im Alltag oft schwierigen Haltungen wie selbstverständlich geübt und gelebt werden. Das ganze Leben von Mönchen und Nonnen scheint darin zu bestehen, Dingen freiwillig zu entsagen. Aber warum sollte man es sich eigentlich antun, kein persönliches Eigentum zu haben, nur einen kleinen Bewegungsradius, weil man das Kloster kaum verlassen kann, und keine Beziehung und Familie im klassischen Sinn? Die Antwort, die Mönche und Nonnen darauf geben, ist, dass sie darin eine Freiheit gewinnen, die man ansonsten nie hätte. Es gibt jedoch auch die unfreiwilligen Einschränkungen im Kloster. Gerade in einer Lebensform, die einem viel abverlangt und Verzicht mit sich bringt, sind Reibereien innerhalb der Gruppe vorprogrammiert. Dann beginnt die spirituelle Herausforderung.

Insbesondere die benediktinische Spiritualität erfreut sich großer Beliebtheit. Die Zahl der Ratgeber in Buchform und als Kurs oder Coaching ist groß. Ein Kerngedanke dieser Art von Spiritualität ist, dass weniger mehr ist, dass Beschränkung eben auch etwas Gutes haben kann. Das ist sicher nicht falsch. Aber es gilt vor allem für Menschen, die aus der Fülle kommen und freiwillig darauf verzichten, nicht für solche, die keine andere Wahl haben. Wenn man in einer wirklichen Krise nach Patentrezepten für jede Situation sucht oder meint, sie gefunden zu haben, ist das weder klösterlich noch wird es dem jeweiligen Krisenmoment gerecht.

»Wenn du deine Welt klein machst, wird sie unendlich groß«, sagte mir ein alter Mönch vor zehn Jahren, als ich selbst noch kein Mönch war, aber mich mit dem Gedanken trug, einer zu werden. So einfach war und ist es nicht, wie ich inzwischen weiß. Auch weiß ich, dass es schwer ist, in solchen Situationen gute Ratschläge zu erteilen. Zumal das Klosterleben etwas ist, das man freiwillig wählt. In die Situationen, von denen oben die Rede war, gerät man jedoch alles andere als freiwillig. Der alte Bruder erteilte mir aber eigentlich auch keinen Rat. Er erzählte einfach von all dem, was er erlebt hatte. Es war nicht die Idylle, die ich vom Klosterleben erwartet hatte. Denn das Klosterleben demaskiert Menschen mit ihren Unsicherheiten und Zweifeln, ihren falschen Ansprüchen und existenziellen Sorgen, ihren unbewussten und bewussten Strategien. Es führt aber auch durch alle Lebenskrisen hindurch zu einer Offenheit, die für jeden Menschen heilsam sein kann.

Mich selbst macht es als Benediktinermönch oft verlegen, wenn Leute von mir erwarten, dass ich ihre Krisen lösen kann. In vielen Problemen, von denen mir bei Lesungen oder in Workshops erzählt wird, erkenne ich mich wieder: meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Lebens oder meines Tuns, meine Fragen, wer ich eigentlich bin und was meine Identität ist, und meine Ohnmacht, die ich in schwierigen Situationen mit Menschen, die mir am Herzen liegen, erfahre. Ich kann und will dann niemandem die Benediktsregel als Leitfaden an die Hand geben, als ob man daraus einfache Handlungsmodelle ableiten könnte, die unserer heutigen Lebenssituation entsprechen. Wie man es auch dreht oder wendet: Wir leben in einer anderen Zeit als Benedikt, und wenn er heute leben würde, würde seine Lebensregel wohl auch ganz anders aussehen.

Was zu Lebzeiten Benedikts im sechsten Jahrhundert ein Ideal war, muss das heute keineswegs sein. Hinzu kommt, dass ich von mir selbst weiß, wie trügerisch eine noch so gut gemeinte Handlungsrichtlinie sein kann. Jeder, der schon einmal eine Diät gemacht hat, weiß, dass das Risiko, dann nicht mehr das Essen, sondern das Abnehmen als Kick zu erfahren, riesengroß ist. Die Folge ist dann oft ein böses Erwachen: der bekannte Jo-Jo-Effekt oder ernsthafte Essstörungen. Wenn weniger Essen mehr ist, um gesund zu leben, kann irgendwann weniger Fasten mehr sein, um eben nicht in die nächste Fallgrube zu stolpern. Auch ich möchte daher wie der alte Mönch keine weisen Ratschläge geben – nicht als Mönch und auch nicht als Mitmensch, der oft im selben Boot sitzt wie jene, die sich mir anvertrauen. Lösungswege kann in solchen Situationen jeder nur für sich selbst finden.

Erzählen

Ich bin im Lauf der letzten Jahre als Mönch, Buchautor, Redner, Performer und Theologieprofessor zahlreichen Menschen begegnet, die mir von ihrem Weg durch solche Situationen erzählt haben. Stets ging es darum, dass sie loslassen wollten, wovon sie meinten, dass es ihnen im Weg stand und die Ursache war, weshalb sie in dieser Situation ausharrten. Sie wollten sozusagen das Kloster in ihrem Leben finden, einen Raum schaffen, in dem sie sich von all den Gefühlen, Vorstellungen oder Abhängigkeiten befreien konnten. Doch jedes Mal trog der Schein. Ein solches »Kloster« bedeutet nur dann Befreiung, wenn man permanent alles loslassen kann, einschließlich des »Klosters« selbst. Tut man das nicht, ist man vom Loslassen abhängig und die unfreiwillige Notsituation verschärft sich. Das Kleine wird dann im eigenen Denken und Verlangen so groß, dass das eigentliche Große erneut keinen Raum mehr bekommt. Loslassen ist wahrlich kein Patentrezept, sondern ein lebenslanger Prozess. Wer davon erzählt, von seinem Idealismus, Scheitern und Wiederaufstehen, gibt wirklich Weisheit weiter. Doch in der Erzählung des alten Mönches wurde mir schnell klar, dass auch bei ihm der Weg des mönchischen Lebens keine gerade Piste zur Freiheit war.

Er wusste, wovon er sprach, und genau das erzählte er mir: Wegen seines fortgeschrittenen Alters hatte er in den letzten Jahren immer mehr Verantwortung abgeben müssen. Am schwersten war es ihm gefallen, seine Aufgabe als Gastbruder nicht mehr ausüben zu können, das heißt, das Gästehaus zu koordinieren und sich um die Organisation dort zu kümmern. Je älter er wurde, umso mehr überforderte es ihn, den Überblick zu behalten. So war es einige Male vorgekommen, dass Gästezimmer doppelt gebucht wurden – eine schwierige Situation für die angereisten Gäste, aber auch für ihn als Verantwortlichen. Nun erzählte er mir von diesem Loslassen seiner Aufgaben mit einer Leichtigkeit, als passe diese neue Phase in seinem Leben wunderbar zu seiner Klosterberufung, obwohl sie eigentlich mit einer persönlichen Niederlage verbunden zu sein schien: »Jetzt kann ich viel besser mit den Menschen reden, die zu uns ins Kloster kommen, denn ich brauche mir um die praktischen Dinge keine Sorgen mehr zu machen.« Einen Rückschlag zu umarmen und als Chance zu sehen, schien mir ein Ideal, das in manch schwerer Lebensphase die Rettung sein kann.

Am meisten hat mich der alte Mönch jedoch überrascht, als er davon erzählte, dass es ihm dann doch nicht so leichtgefallen war, seine neue Rolle als Gesprächspartner für Gäste zu übernehmen: »Ich merke, dass ich so viel Gefallen an den Gesprächen mit Gästen finde, dass es mir manchmal zu viel wird. Trotzdem kann ich kaum Nein sagen.« Die Versuchung war groß, gleich wieder in die alten Muster zurückzufallen und die Chance wiederum in eine unfreiwillige Misere zu wandeln. Sie konfrontierte den Mönch damit, dass unsere Neigung, alles selbst in der Hand haben und auch umsetzen zu wollen, stark blieb, auch im Kleinen, das wir von Herzen umarmen wollten. »Die Katze beißt sich immer wieder in den Schwanz«, sagte er.

Loslassen

Der alte Mönch konfrontierte mich in seinen Erzählungen mit der Notwendigkeit, loszulassen. Er inspirierte mich dazu, Beschränkungen als Chance zu sehen. Und das gilt auch für unfreiwillige Beschränkungen, die das Leben oder andere Menschen einem auferlegen. Nicht alles, was wir wollen, ist immer möglich. Doch es kann durchaus heilsam sein, wenn wir nicht jeder Neigung folgen können. Denn wer immer alles erreicht, kann vieles nicht mehr wertschätzen, was ihm geschenkt wird. Auch freiwillige Einschränkungen können uns helfen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und dadurch einen Sinn im Kleinen zu erfahren, den wir niemals erkannt hätten, wenn wir immer wieder etwas Neues oder Besseres anstreben würden. Die Kunst des Loslassens gehört zum Leben.

Viele Menschen, die in einer neuen Lebensphase angekommen sind, erkennen sich vielleicht im Verhalten des Mönchs wieder. Wer in den Ruhestand geht, hat es zunächst schwer, sich damit abzufinden, seiner Tätigkeit, die er sich in Jahrzehnten angeeignet hat, nicht mehr nachgehen zu können. Sich auf seine Hobbys zu konzentrieren und mit ehrenamtlichem Engagement zu begnügen, verschafft einem eine enorme Freiheit. Und doch ist das Leben dann zuweilen mindestens genauso voll wie zuvor. Wer Vater oder Mutter wird, will sich auf die Familie konzentrieren. Wenn man seine Arbeitszeit reduziert, bietet das Raum für zweckfreies Tun ohne Zeitdruck. Im Vergleich mit anderen Eltern und Kindern kommt man aber immer wieder in einen Wettbewerb. Und plötzlich unterliegen die Erziehung und die Elternzeit denselben Mechanismen, die man im Beruf losgelassen hat. Man sieht sich mit demselben Druck konfrontiert wie zuvor.

Manche neue Lebensphase und damit einhergehende Beschränkung ist aber eben nicht freiwillig gewählt. Wer zum Beispiel einen geliebten Menschen verliert, muss radikal loslassen und lebt auf einmal in einer Welt, die deutlich kleiner geworden ist, in der man Aufgaben übernehmen muss, die einem überhaupt nicht liegen, und andere Dinge, die man gerne getan hat, nun gar nicht mehr möglich sind. Man bleibt allein zurück und muss sich mit dieser Situation nicht nur auseinandersetzen, sondern auch irgendwie damit klarkommen, ob man will oder nicht. Wer eine falsche Lebensentscheidung trifft, muss mit ansehen, wie das, woran er fest geglaubt hat, sich als Sackgasse erweist. Es ist nicht selbstverständlich, dass man entdeckt: Auch in diesem Scheitern kann ein Weg in eine neue Zukunft liegen. Vielleicht beginnt gerade dann die eigentliche Aufgabe des Bleibens: sich vom eigenen Denken zu befreien und sein Leben kreativ zu gestalten, so schwer oder gar unmöglich das auch scheinen mag. »Wenn du deine Welt klein machst, wird sie unendlich groß« – vielleicht müsste der Satz heißen: »Wenn du gezwungen bist, deine Welt klein zu machen, kann darin eine unendlich große Chance liegen.« Man umarmt, was man sich nicht ausgesucht hat, und bleibt.

In der Regel des heiligen Benedikt von Nursia (480–547) heißt es dazu gleich zu Anfang: »Wir wollen also eine Schule für den Dienst des Herrn einrichten. Bei dieser Gründung hoffen wir, nichts Hartes und nichts Schweres festzulegen. Sollte es jedoch aus wohlüberlegtem Grund etwas strenger zugehen, um Fehler zu bessern und die Liebe zu bewahren, dann lass dich nicht sofort von Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am Anfang nicht anders sein als eng. Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes« (Regel Benedikts [RB] Prolog 45–49).

So einfach soll das also sein? Durchhalten, koste es, was es wolle? Nein, das wäre eine allzu naive Art und Weise, Klosterleben bis zum bitteren Ende zu verstehen. Dann würde man der Versuchung erliegen, im Aushalten gerade nicht diese »Weite des Herzens« zu erreichen, von der Benedikt in der Regel spricht. Der »Glaube« würde dann ersticken und einer Kadaverdisziplin weichen, die das Gegenteil erreicht und nicht der Weg des Glaubens sein kann. Eher geht es um eine Haltung, die die Einzigartigkeit jeder einzelnen Lebenssituation für sich sprechen lässt. Einfache Lösungen gibt es nicht. Der alte Mönch, von dem ich erzählte, konnte auch für sich selbst keine eindeutigen Antworten geben, er konnte den vielen Gästen, mit denen er sprach, keine guten Ratschläge erteilen. Er hätte sonst immer das ungute Gefühl gehabt, dem Großen, das im Kleinen liegt, nicht gerecht zu werden. Nur allzu schnell hätte er den Weg für das Große verstellt. Man kann also niemandem vorschreiben, dass er in seiner augenblicklichen Situation, sei sie nun frei gewählt oder erzwungen, eine Chance entdeckt. Aber in diesem Buch erzählen einige Menschen, wie sie genau das versucht haben – und es geschafft haben, zu bleiben, ohne daran zu zerbrechen. Ganz im Gegenteil: Sie haben tatsächlich in die »Weite des Herzens« gefunden, auch wenn der Weg dahin alles andere als einfach war. Und auch weiterhin nicht einfach bleibt.

Wahre Geschichten

Genau genommen erzählen in diesem Buch nicht die Menschen selbst, sondern ich als Erzähler deren Geschichte. Und noch genauer genommen ist es nicht die Geschichte eines Menschen, sondern so etwas wie eine Weisheitsgeschichte, die aus den Erfahrungen entstanden ist, die ich im Lauf der Jahre im Kloster in der Konfrontation mit mir selbst und Menschen in meiner Umgebung gemacht habe. Sie entspringen konkreten Lebenssituationen, doch sie wuchsen in meiner Fantasie. Nur so kann ich die Inspiration, die in diesen Geschichten enthalten ist, artikulieren. Ich erzähle sozusagen Klosterstorys. Sie handeln von Verzweiflung und Hoffnung, Zweifel und Glauben, Fallen und Aufstehen. Was dabei »die Moral von der Geschicht’« ist, kann ich oft nur schwer sagen. Ich weiß, dass mir jede einzelne bei meiner eigenen Suche geholfen hat. Sind die Geschichten erfunden? Habe ich sie mir ausgedacht? Vielleicht, doch viel angemessener ist es, sie als solche anzuhören. Denn was sie zu sagen haben, hängt nicht davon ab, ob die Menschen, von denen ich erzähle, und die Vorbilder aus der Klostertradition und der Bibel, die mit ihnen verbunden sind, tatsächlich real sind. Es verhält sich dabei wie mit der Wahrheit von Legenden: Es sind Legenden, also sind sie wahr.

In dieser Wahrheit erkennen sich viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wieder. Die Geschichten handeln von Klostermenschen, von Mönchen und Nonnen, aber auch von anderen Sinnsuchern, die in eine ausweglose Situation geraten sind und ihre Zuflucht oder ihre Reibungsfläche in der Klosterspiritualität suchten. Mir geht es nicht darum, dass die, die Rat suchen, einfach den Menschen in den Geschichten folgen. Sie sollen nicht dieselben Entscheidungen treffen und nicht dieselben Fehler machen. Die Geschichten sind eher so etwas wie ein Spiegel, in dem sie sich selbst betrachten können. Klösterliche Weisheit besteht für mich nicht darin, zu wissen, was man tun muss, um ein ruhiges und beschauliches Leben zu führen. Es geht vielmehr darum, dass die Menschen in den Geschichten als Spiegel dafür sorgen, dass der Mönch in ihrem eigenen Innern ihnen direkt in die Augen schaut.

Die Geschichten erzählen von konkreten Menschen im Licht der Bibel, der Regel Benedikts und vor allem ihrer eigenen Erfahrungen, ihrer Zweifel und sinnstiftenden Momente. Alle Wege sind offen, wenn man in einer Krise ist. Der Begriff bedeutet nämlich wörtlich »Unterscheidung«. Sie endet weder im Erfolg noch im Misserfolg, sondern im Bewusstsein, einen weiteren Schritt machen zu müssen und zu können. Manche Protagonisten in den Geschichten stellen sich weiterhin ihrer manchmal sehr schwierigen Lebenssituation, andere suchen ein anderes Lebensmodell. Was ihnen allen gemeinsam ist: Am Ende haben sie die Notwendigkeit erkannt, dass man bereit sein muss, jede Vorstellung von einem gelungenen Leben loszulassen und die Spannung auszuhalten. »Bleiben« wird zur Lebenshaltung.

Man nennt diese Art des Erzählens auch Storytelling – eine Methode, die in vielen Bereichen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Im professionellen, akademischen und therapeutischen Kontext setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass man manches nicht in Erörterungen und mit Argumenten kommunizieren kann, sondern durch Storys, die aktivieren, begeistern, zum Nachdenken und Handeln anregen. Dabei können Symbole und Metaphern eine genauso wichtige Rolle spielen wie Charaktere und Leitfiguren. Es geht bei dieser Art des Erzählens um mehr als nur die Umsetzung eines bestehenden Inhalts in die Form einer Geschichte. Gerade in Krisensituationen ist der Inhalt, der uns helfen kann, oft für alle Beteiligten ungreifbar und nicht artikuliert. In der kreativen Welt, die in einer Geschichte entsteht, ist Raum für Ungereimtes und Widersprüchliches, aber auch für Perspektiven, die sich nur auf diese fantasievolle Weise eröffnen. Zudem kann der Zugang zu alten Weisheitstraditionen und -texten wie dem Klosterleben, der Benediktsregel oder der Bibel häufig nur dann gelingen, wenn man sich traut, unerwartete Bezüge entstehen zu lassen, auf die man außerhalb der Geschichte nie gekommen wäre.

Die Geschichten in diesem Buch handeln von Menschen, die sich auf den Weg durch ihre schwierigen Zeiten und ausweglosen Situationen gemacht haben. Sie handeln auch von der Ernüchterung, wenn sie es sich dabei zu einfach gemacht haben, und von der Offenheit für neue Wege, die manchmal anders aussehen, als man es selbst vorher erwartet hätte. Jedes Mal erweist sich der Weg, den die Protagonisten gehen, als kurvenreich. Den geraden Weg durch die »Schule für den Dienst des Herrn«, wie Benedikt sagt, gibt es für sie nicht. Auch gibt es keine klar abgesteckten oder erreichten Ziele. Die Menschen kommen dort an, wo sie hingehen.

Die Hauptpersonen sind tatsächlich frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit realen Personen sind rein zufällig. Doch sie sind auch wirklich, da sie meiner Erfahrung und Wahrnehmung entspringen. Im Sinne von Metaphern habe ich anhand ihrer Namen Bezüge zu biblischen Quellen hergestellt. Zudem habe ich anhand von konkreten Situationen Texte aus der Benediktsregel oder aus der Literatur aufgestöbert. Der Leser kann in diese Fantasiewelt eintauchen und darin seine eigene Lebenswelt entdecken. Daher wird bewusst nicht der Versuch unternommen, die Storys vollständig zu deuten oder praktische Regeln abzuleiten. Wohl wird bei jeder Geschichte kurz der thematische Zusammenhang skizziert, in dem sie entstanden ist, und es werden einige Gedanken beschrieben und Fragen formuliert, die bei der eigenen Reflexion helfen können.

Die Storys beschreiben verschiedene Arten von ausweglosen Situationen, in die man – freiwillig oder unfreiwillig – geraten kann: Phasen, in denen man keinen Sinn mehr sieht, in denen man nicht mehr weiß, wer man selbst ist, in denen die Beziehung zu anderen Menschen in die Krise gerät. Wenn man zum Beispiel eine Entscheidung getroffen hat und dabei eine Vision hatte, kommt es zu einer Sinnkrise, wenn diese sich als Illusion erweist. Wenn man sich aus vielen Lebensbereichen zurückgezogen hat, weil man glaubte, sich auf das Wesentliche konzentrieren zu wollen, dann jedoch die große weite Welt vermisst, ebenfalls. Wenn man mit seinen Talenten eigentlich nichts mehr beweisen wollte, dann jedoch dem eigenen kreativen Anspruch nicht mehr gerecht werden kann, geht Sinn verloren. Wenn wir nicht mehr wissen, wer wir selbst sind, stürzt uns das in eine Identitätskrise. Wir haben uns so mit einer bestimmten Lebenshaltung identifiziert, dass wir uns selbst darin verloren haben. Letztlich bleibt bei allen Storys nur eine radikale Offenheit, ohne Anspruch und ohne Ambition, aber mit dem ultimativen Gebot der Liebe, zu bleiben und zu meistern, was man sich nicht ausgesucht hat.

Spannend ist, dass jede der Geschichten ein zentrales Motiv der Klosterspiritualität thematisiert. Die Grundthemen der Klosterspiritualität lassen sich im Begriff des Bleibens wiederfinden. Was an Klostertugenden und -haltungen zu finden ist, kann ein Leitmotiv für alle Lebenssituationen werden. Für mich zeigt sich darin, wie alltagstauglich und lebensnah die Weisheit der Mönche war und noch immer ist. Das vorliegende Buch kann so vielleicht eine Fundgrube für all jene sein, die in ausweglosen Situationen nicht davonlaufen wollen. Denn Bleiben ist nicht nur für die Menschen in den Geschichten oder jene, die direkt mit dem Klosterleben in Berührung kommen, ein wichtiges Thema. Sie können all jenen eine Perspektive eröffnen, die sich in (scheinbar) ausweglosen Situationen befinden, indem sie dabei helfen, diese Momente als das wahrzunehmen, was sie sind: Wege zur Unendlichkeit, die Frieden und Liebe möglich machen, trotz aller Enttäuschungen.

Stabilität: Vom Bleiben

Wenn wir den Sinn unseres Lebenswegs infrage stellen oder aus den Augen verlieren, verlieren wir leicht den Boden unter den Füßen. Die Stabilität verschwindet aus unserem Leben, weil uns eine Perspektive abhandengekommen ist oder häufig sogar das Fundament unseres Seins. Praktische Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, wachsen dann zu überlebensgroßen Schwierigkeiten heran, die uns an allem zweifeln lassen, was zuvor selbstverständlich war. Durch diesen Zweifel verschwindet zuweilen die Hoffnung, die uns auch große Herausforderung meistern lässt. Der ständige Wettlauf, der unser Leben bestimmt und zuvor vielleicht etwas war, das uns angespornt hat, erweist sich als ziellos. Hoffnung wäre, dass all unser Tun und Lassen ein Ziel hat. Ansonsten sehen wir keinen Ausweg mehr aus dem Ausweglosen. Wir wollen nur noch weglaufen. Jeder Mensch kennt wohl solche Situationen, in denen einem alles zu viel wird und Irritationen im Alltag auf einmal zu realen Bedrohungen werden. Details, die uns zuvor bedeutungslos schienen, vermiesen plötzlich nicht nur den Tag, sondern werfen einen dunklen Schatten auf alles. Die Begeisterung ist uns verlorengegangen, alles gerät ins Wanken, und nichts scheint mehr eine verlässliche Grundlage zu haben.

Der alte monastische Wert der Stabilität (stabilitas) bedeutet nicht einfach, dass man auch in schweren Zeiten durchhalten muss, koste es, was es wolle. Vielmehr ist die Stabilität, was das Kloster und die Gemeinschaft als Lebensraum angeht, ein Stehen auf festem Grund. Das meint zum einen, dass man mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt, nicht ins Wanken gerät, auch wenn der Gegenwind aus unterschiedlichen Richtungen heftig bläst, auch wenn die Lebensumstände und meine Zweifel mich aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen. Zum anderen meint Stabilitas das Bleiben, das Aushalten von allem, was kommt, auch wenn das alles andere als einfach und häufig auch mit Schmerzen und Leid verbunden ist. In der Regel Benedikts lesen wir als Grund für dieses Bleiben: »Wir wollen uns Gottes Unterweisung niemals entziehen und in seiner Lehre im Kloster ausharren bis zum Tod. Wenn wir so in Geduld an den Leiden Christi Anteil haben, dann werden wir gewürdigt, auch mit ihm sein Reich zu erben« (RB Prolog 50). Die streng anmutende Sprache ist in Wahrheit ein Plädoyer dafür, trotz aller Schwierigkeiten einen Weg zu suchen, den man gehen kann, auch wenn er nicht einfach ist. Das Leben an sich ist auch in schwierigen Zeiten in vielen Kleinigkeiten so schön und so gut, dass es sich lohnt zu leben, dass man auch in den schwierigsten Situationen Schönheit finden kann und Freude, dass es immer »ein Stück Himmel« gibt, das man sehen kann.

Das hört sich schön an, doch was, wenn wir nicht in der Lage sind, den Himmel in den Blick zu nehmen, für den das »Reich Christi« im Regeltext steht? »Sein Reich erben« – auch in der Bibel ist immer wieder die Rede vom »Reich Gottes«, dem »Himmel auf Erden«, den es zu gewinnen gilt. Das klingt sperrig, aber wenn wir es ins Heute übersetzen, meint es vielleicht nichts anderes, als nicht aus den Augen zu verlieren, dass es immer ein »Mehr« gibt in unserem Leben. Also nicht nur die Schwierigkeiten und ausweglosen Situationen, sondern auch die Schönheit und die Freude, die Verbundenheit mit anderen Menschen, die Nähe und ihre Liebe. »Himmel«, das steht für Unendlichkeit und die Gegenwart Gottes. Zugleich ist er jedoch auch sichtbar und zum Greifen nah. Er versinnbildlicht die endgültige Zukunft am Ende der Zeit, aber auch alles, was uns schon jetzt und hier geschenkt wird. Der Himmel spricht viele Menschen an, auch jene, die keinen festen Glauben haben. In den Himmel zu blicken bedeutet, Kraft zu schöpfen, um weitergehen zu können und manches zu relativieren. Er ist die endgültige Bestimmung, die jeden Tag schon anbricht, mit jeder kleinen Entscheidung, die wir treffen.

Manchmal fällt es uns jedoch schwer, diesen »Himmel auf Erden« zu sehen, weil es so dunkel um uns scheint oder weil er verstellt ist durch alles, was an uns zerrt und zehrt. Wir fühlen uns wie in einem Gefängnis, einem tiefen Loch, schauen nur auf die nächste Wand, vor unsere Füße. Doch um den Himmel wieder in den Blick zu bekommen, brauchen wir oft nur den Kopf zu heben und damit die Perspektive zu ändern.

Wenn wir zu schnell unterwegs sind, verdunkelt er sich und unsere Stabilität gerät ins Wanken. In ausweglosen Situationen geht es darum, unsere Entscheidungen nicht nur nüchtern abzuwägen, sondern Inspiration zuzulassen, die sich nur ergibt, wenn wir zu Ruhe kommen: das »Reich Gottes« auf der Erde. Sollte ein Kloster ein Aussichtspunkt auf den Himmel sein? Gerade die Stabilität der dortigen Lebensform kann zu einem spirituellen Lebensweg beitragen. Das erfährt Bruder Paulus in der folgenden Geschichte, in der sich der Himmel zwar auch in seinem Klosterleben verdunkelt, er aber durch Unwegsamkeit und Hoffnungslosigkeit hindurch neuen Mut schöpft.

Bruder Paulus

»Wenn der Himmel sich zu schließen droht, kann ein kleiner Ort auf Erden genug sein, um die Welt zu retten.« So lautete die verrückte Hoffnung und der aberwitzige Glaube von Bruder Paulus. Nach einem Jahr, in dem er in Abgründe geblickt hatte, von denen er sich bis dahin kaum hatte vorstellen können, dass es sie überhaupt gibt, war er wieder zu Hause im Kloster seines Lebens. Vieles war passiert. In der Mitte seines Lebens, knapp vierzig Jahre alt, hatte er sich magisch vom Klosterleben angezogen gefühlt. Manche in seiner Umgebung nannten das »Midlifecrisis«. »Das geht vorbei«, unkten alte Freunde. Für ihn war es der Versuch, ein zügelloses Leben, dessen Sinn er immer weniger erkennen konnte, in geordnete Bahnen zu lenken. Warum eigentlich, so fragte er sich heute. Sein Leben war nicht schlecht gewesen. Sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Bereich befand er sich immer auf der Überholspur. Müdigkeit war ihm fremd. Wohl hatte er das unbestimmte Verlangen gespürt, eben nicht sein Leben lang das Feld stets von hinten aufrollen zu müssen. Wenn man immer nur vorwärts rennt, ist irgendwann das scheinbare Ziel weder in Sicht noch erreichbar. Er sehnte sich nach einem stabilen Ort, der Bedeutung und Sinn hat und den Ausstieg aus dem auf die Dauer langweiligen Galopp seines bisherigen Lebens ermöglicht. Er hatte sich Stillstand gewünscht, Ankommen, Bleiben. Und genau dieses Verlangen hatte sich nicht stillen lassen, indem er immer weiter Richtung Horizont rannte und sich im Kleinklein verlor. Das Kloster hatte Tiefe und zugleich unendliche Höhe versprochen, aber vor allem: Beständigkeit.