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Der Autor schildert mit selbstkritischer Offenheit, worüber Männer oft nicht reden (können): über die innere Welt ihrer Gefühle. Dank einer Lebenskrise lernt er, sich in den «Dunkelkammern der Seele» zurechtzufinden. Die Reise nach innen entwickelt sich zu einer Odyssee - mit Klippen, Stürmen, Zweifeln und immer wieder überraschenden Wendungen. Eine Männergeschichte über Verlust und Ohnmacht, die anderen Männern Mut machen kann. Für den Autor ist Schreiben die einzige Therapie. Wörter und Sätze sind seine Werkzeuge, um die Erlebnisse zu fassen, zu sichten und zu reflektieren. Aus diesem Material hat er - 30 Jahre später - exemplarische Episoden ausgewählt und zum vorliegenden Buch gestaltet. Aus Männersicht Authentische Berichte über Lebenskrisen und ihre Bewältigung stammen meistens von Frauen. Von Männern gibt es wenig Vergleichbares. Männern fällt es schwerer als Frauen, persönliche Betroffenheit wahrzunehmen und zu äussern. Der Umgang mit Verlust und Ohnmacht gehört nicht zu den männlichen Stärken. Deswegen sind unter Männern Alkohol, «Workaholismus» und verschiedene Ausprägungen von Gewalt immer noch verbreitete Mittel, um Lebenskrisen zu begegnen. Aber es gibt auch Männer, die nach anderen Wegen suchen. Ihnen kann dieses Buch Mut machen.
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Seitenzahl: 268
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für Iris Myrta Sven Yves
Warum dieses Buch?
Aperitif
Schlüssel
Grenzen
Liebeserklärung
Nacht
Eisregen
Auflauf
Freiheitsstatue
Les Misérables
Telefon
Klänge
Begegnung
Verschnürte Pakete
Uhr
Christophorus
Mauer
Kampf
Sonntag
Lust
Unfinished Business
Geburtstag
Kälte
Warten
Brennen
Despot
Tarot
Schnee
Ausgesperrt
Einsam
Déjà-vu
Frische
Trübe Tage
Keller
Dauerwelle
Frühjahrsputz
Ägyptische Nächte
San Gimignano
Magier
Männersache
Let’s have fun
Gegenläufig
Therapeut
Entliebt
Brief
Martha
Zuflucht
Neun Jahre später
Literatur
Liebe Leserin, lieber Leser
Freust du dich, wenn dich jemand fragt: Wie geht es dir? Erzählst du dann gerne, wie du dich fühlst und was dich gerade umtreibt? Oder möchtest du lieber von etwas anderem reden?
Ich kenne beides. Heute freue ich mich über die Frage und erzähle gerne von mir. Aber in jüngeren Jahren hat mich diese harmlose Frage oft in grösste Verlegenheit gebracht. Es waren meistens Frauen, die sie mir stellten. Freundinnen, Partnerinnen, Kolleginnen. Die Frage war nicht böse gemeint, das merkte ich wohl, aber ich empfand sie als Angriff. Entsprechend war meine Reaktion: Ich wehrte ab. Ich brummelte irgendetwas vor mich hin, blickte zur Seite, vielleicht zuckte ich mit den Schultern. Dann begann ich, von etwas anderem zu reden.
Was in mir vorging, nahm ich damals nicht deutlich wahr. Es war etwas Diffuses, Undefinierbares. Nichts jedenfalls, das ich klar hätte benennen können. Und gerade das machte mich verlegen. Es war mir unangenehm, diese einfache Frage nicht wirklich beantworten zu können. Wahrscheinlich war auch Trotz dabei: Was möchte sie wieder von mir wissen? Was geht sie das an?
Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht und kaum je versucht zu verstehen, warum es mir so schwerfiel, auf diese simple Frage offen und ehrlich zu antworten. Was wäre denn die Antwort gewesen? Sie hätte gelautet: Ich weiss es nicht. Ganz einfach eigentlich. Aber natürlich völlig unakzeptabel. Wie konnte ich nicht wissen, wie es mir geht? Wer ausser mir hätte es denn wissen können? Natürlich niemand. Mir war schmerzlich bewusst, dass dieselben Frauen keine Mühe hatten, über ihre eigenen Befindlichkeiten ausführlich und unaufgefordert zu berichten; wofür ich sie zwar bewunderte, aber gleichzeitig beschämte es mich.
Ich bin nicht der Einzige, der dieses Unbehagen kennt. Der Bielefelder Psychologe Björn Süfke schreibt in seinem einfühlsamen Buch «Männerseelen – Ein psychologischer Reiseführer»: «Die Frage, wie es uns geht, wie wir uns fühlen, ist für uns Männer eine besonders schwierige, da uns von Kindheit und Jugend der Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen immer mehr erschwert worden ist.» Und John A. Sanford, ein US-amerikanischer Psychotherapeut, der schon vor vierzig Jahren die seelischen Hintergründe von Gender-Identitäten ausleuchtete, bemerkt in seinem auch heute noch lesenswerten Buch, «Unsere unsichtbaren Partner», lakonisch: «Leider haben viele Männer Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken. Sie ziehen es vor, wenn ihre Beziehungen sanft, leicht und bequem verlaufen. Nur sehr ungern gehen sie auf emotionell gefärbte Diskussionen oder schwierige Themen ein.»
Viele Menschen (vor allem Frauen) werden dies bestätigen: Männer haben oft Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken. Aber ich glaube, das ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit haben viele Männer Schwierigkeiten, ihre Gefühle überhaupt erst wahrzunehmen. Und was man(n) nicht wahrnimmt, wird man(n) schwerlich ausdrücken können.
Woher ich das weiss? Weil ich es selbst erlebt habe. Ich hatte das Glück, mit 46 Jahren von einer Lebenskrise erfasst zu werden, die mich von Grund auf verändert hat. Es fühlte sich damals nicht wie Glück an, aber hinterher bin ich dankbar für das, was ich erlebt habe. Ich habe neue Zugänge gefunden zu mir selbst, ich habe Gegenden in mir kennengelernt, von denen ich nichts wusste. Es fühlte sich manchmal an wie eine Höllenfahrt, manchmal öffnete sich ein paradiesischer Ausblick. Insgesamt war es ein Durchbruch durch eine innere Mauer, die ich zuvor oft gefühlt, aber in ihren Umrissen nie deutlich wahrgenommen hatte.
Dank meiner Krise gelang es mir, hinter die Mauer zu blicken. Ich weiss heute, wie es dort aussieht und was sich dort verbirgt. Vieles, das schreckenerregend aussah, erwies sich als nützlich und vertraut. Wo Fallgruben zu lauern schienen, zeigten sich später erfrischende Quellen und verwunschene Gefilde.
In diesem Buch möchte ich dir davon erzählen, was mir hinter der Mauer begegnet ist. Während der intensiven Auseinandersetzung, in die ich von einem Tag zum andern hineingeschleudert wurde und die sich über Monate hinzog, war Schreiben meine einzige Therapie. Ich schrieb Hunderte von Tagebuchseiten, um die Erlebnisse zu fassen, zu sichten und zu reflektieren. Aus diesen Texten habe ich – dreissig Jahre später – wichtige Episoden ausgewählt und zu diesem Buch gestaltet.
Es erwartet dich keine systematische Übersicht über die Topografie einer Männerseele. Ich entwerfe keinen Reiseführer, wie es Björn Süfke versuchte. Ich präsentiere dir auch keinen Ratgeber, der dich bei der Selbstfindung unterstützen könnte (wenn du ein Mann bist) oder dir dabei helfen würde, das Verhalten eines männlichen Partners besser zu verstehen (wenn du kein Mann bist). Was ich dir hier anbiete, ist ein Reisebericht. Ich erzähle von den Erfahrungen und Erlebnissen, die mir auf einer ungeplanten Reise begegnet sind. Es war eine Reise nach innen. Ich teile mit dir Ereignisse und Begebenheiten aus dieser Odyssee. Sie enthalten Träume, Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen, Fantasien, Schmerzen und Sehnsüchte.
Du fragst dich vielleicht, warum ich diese persönliche Geschichte veröffentliche? Während meiner Krise war ich hungrig nach Büchern, die tiefe, persönliche Erfahrungen schilderten; die mir ermöglichten, Krisen und Durchbrüche anderer Menschen mitzuerleben und in aufwühlende, existenzielle Auseinandersetzungen einzutauchen. Solche Schilderungen waren Nahrung für meine Seele. Sie gaben mir Zuversicht und Hoffnung, und ich fühlte mich durch sie verstanden. Was mir dabei auffiel: Die Bücher, die mir damals solches zu vermitteln vermochten, stammten ausschliesslich von Frauen. Von Männern fand ich wenig Vergleichbares. Aufgeschlossene Männer – so kam es mir vor – reden zwar über Gefühle und innere Prozesse, aber sie zeigen selten, was sie dabei wirklich erleben.
Männern fällt es schwerer als Frauen, eigene Betroffenheit wahrzunehmen und zu äussern. Der Umgang mit Verlust und Ohnmacht gehört nicht zu den männlichen Stärken. Deswegen sind unter Männern Alkohol, «Workaholismus» und verschiedene Ausprägungen von Gewalt immer noch verbreitete Mittel, um Lebenskrisen zu begegnen. Aber es gibt auch Männer, die nach anderen Wegen suchen. Ihnen kann mein Buch vielleicht Mut machen.
«Das Persönlichste ist das Allgemeinste.» Wie oft habe ich von Anne-Marie Tausch diesen Satz vernommen! Die Hamburger Psychologin war mir Lehrerin und Vorbild, sie hat mir zum Durchbruch verholfen und mir Mut gemacht, mich mitzuteilen. Ähnlich wie Elisabeth Kübler-Ross, die mir bei einem Interview sagte: «Share your personal experience» (teile deine persönliche Erfahrung).
Die meisten Personen, die in diesem Buch vorkommen, tragen in Wirklichkeit andere Namen. Für viele Leute, die mich kennen, sind sie dennoch erkennbar. Ich habe denjenigen, die noch am Leben sind und die ich erreichen konnte, meinen Text zum Lesen gegeben. Sie haben der Publikation zugestimmt, und dafür danke ich ihnen. Allen voran der Frau, die ich hier Sibylla nenne und mit der mich bis heute eine facettenreiche Freundschaft verbindet. Dass sie sich in meinen Schilderungen oftmals nicht wiederfindet, möchte ich hier ausdrücklich erwähnen.
Ich danke auch Andrea, Bettina, Karin und Nicolas für ihr ermutigendes Feedback und ihre wertvollen Hinweise, die sie mir aus freundschaftlicher Distanz gegeben haben. Ein herzliches Dankeschön geht an die Designerin Laura Newman, die dem Buch mit Professionalität und Einfühlungsvermögen seine visuelle Gestalt gegeben hat.
Ich wünsche dir eine anregende Lektüre und freue mich, wenn das eine oder andere in dir widerhallt.
Christoph A. Müller Basel, im Sommer 2023
«Auch euch, mein junger Mann, verbleiben noch immer die Kontinente der eigenen Seele, das Abenteuer der Wahrhaftigkeit. Nie sah ich andere Räume der Hoffnung.»
Columbus zu Don Juan, in Max Frischs Farce «Die Chinesische Mauer»
«Kommst du noch mit zu einem Drink?», fragte ich Helen, die ihren Schreibtisch aufräumte. «Wir haben es verdient. Ich lade dich ein.»
Helen warf mir einen lachenden Blick zu, während sie ihre Schreibmaschine mit einer Stoffhülle zudeckte, die sie selber genäht hatte. «Gute Idee», sagte sie. «Ich muss zwar bald nach Hause, aber für eine halbe Stunde komm ich gern mit.»
Wir hatten den ganzen Tag hier verbracht. Das Gruppenzentrum, wo wir arbeiteten, befand sich in einem Hinterhaus, das durch eine Häuserreihe von der stark befahrenen Strasse abgeschirmt wurde. Es war eine kleine Oase mitten in diesem lärmigen und dicht bewohnten Stadtteil, der von der chemischen Industrie umzingelt war.
Der Weg hinaus führte durch den dunklen Gang des Vorderhauses. «Es sieht hier etwas verwahrlost aus», sagte ich zu Helen. «Seit wir das Hinterhaus renoviert haben, fällt es mir besonders auf.»
«Ich finde es sympathisch», erwiderte Helen. «Muss denn jeder Hausgang wie eine Kunstgalerie aussehen?»
«Natürlich nicht. Früher fand ich die abgerissenen Tapeten und die Spinnweben auch ganz poetisch. Aber jetzt kann ich es nicht mehr sehen.»
Ich öffnete die Tür zur Strasse und zögerte einen Moment, bevor ich mich dem Lärm des Feierabendverkehrs aussetzte.
«Wohin wollen wir gehen?», fragte ich Helen. «Gleich hier um die Ecke ins Restaurant Schwarzwald? Es gibt nichts Besseres in der Nähe.»
«Spielt doch keine Rolle für ein Momentchen. Komm, lass uns gehn.»
Es waren zwanzig Schritte bis zum «Schwarzwald», einer jener verrauchten Bierkneipen, die es in diesem Stadtviertel an fast jeder Strassenecke gab. Ich hatte meine Jacke nicht zugeknöpft. Es war nicht kalt für diese Jahreszeit. In drei Tagen war Weihnachten, und es hatte noch keinen Schnee in den Bergen. Pech für die Skifahrer, dachte ich. Aber das war nicht meine Sorge.
Die Wirtschaft war fast leer. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch gleich beim Eingang. Ich bestellte mir einen Pernod. «Das mach ich zwei- oder dreimal im Jahr», sagte ich lachend zu Helen. «Ich trinke fast nie Aperitifs. Nur manchmal in den Ferien oder wenn ich etwas feiern möchte.»
«Was feierst du denn heute?», fragte Helen, die für sich einen Pfefferminztee bestellt hatte. «Oder fühlst du dich bereits in den Ferien?»
«Ich freue mich über unsere Zusammenarbeit. Es ist viel passiert in diesem halben Jahr, seit du bei uns bist. Du hast Ordnung gebracht in unsere Papierwirtschaft, Ordner angelegt und angeschrieben, die Buchhaltung neu eingerichtet. Ich bin zufrieden mit dem, was wir erreicht haben. Und ich arbeite gern mit dir zusammen.»
«Oh, das freut mich», sagte Helen. «Auch ich arbeite gern mit dir. Ich fühle mich von dir ernst genommen als Kollegin, auch wenn ich nur Sekretärin bin.»
«Warum sagst du nur Sekretärin?»
«Weil es so ist. Ich habe keine soziale Ausbildung wie ihr alle.»
«Ich habe auch keine soziale Ausbildung», widersprach ich. «Jedenfalls keine mit einem Diplom. Ich bin ursprünglich Journalist, aber auch dafür hab ich kein Diplom. Alles, was ich kann, hab ich in der Praxis gelernt. Learning by doing. Ich bin fast zu hundert Prozent Autodidakt.»
«Ich weiss schon, dass du nicht so denkst, und von dir fühle ich mich auch nicht herabgesetzt. Aber Gertrud und Martha geben mir oft zu spüren, dass sie sich überlegen fühlen. Sie sind Psychologinnen, sie machen die wichtige Arbeit im Zentrum – Gruppen leiten, Beratung, Krisengespräche. Ich bin die Telefonistin und die Tippmamsell.»
«Es tut mir leid, wenn Martha und Gertrud dich von oben herab behandeln. Aber warum machst du dich selber so klein? Eigentlich sagst du dasselbe wie sie: Der Bürokram ist nicht wichtig.»
«Ist er ja auch nicht.»
«Quatsch», fuhr ich Helen an. «Wir brauchen viel Kreativität für unsere Büroarbeit, weil wir wenig Geld haben und unkonventionell arbeiten.»
«Kreativität?» Helen schaute mich verwundert an.
«Ja, Kreativität. Es ist eine Kunst, Geld aufzutreiben für ein Zentrum, das keine Therapie und keine Ausbildung anbietet, sondern nur ein Ort sein will, wo ganz unterschiedliche Leute sich wohl fühlen – Kranke, Behinderte, Obdachlose, Arbeitslose, Spinner und Stadtoriginale. Du kennst ja unsere Stammkundschaft.»
«Ja, zum Teil. Ich wundere mich immer wieder, wie offen und herzlich die Leute sind, auch mit mir, obwohl sie mich ja kaum kennen.»
«Sie fühlen sich hier zu Hause, manchmal mehr als in ihrer eigenen Wohnung. Genau das soll das Zentrum ja sein – ein geschützter Ort, wo sie Kontakte und Anregungen finden, wo sie lachen und streiten können, ohne ausgelacht zu werden, wo sie ihre Traurigkeit nicht verstecken müssen.»
«Und was hat das mit mir zu tun?»
«Wir müssen unser Programm verständlich machen. Es ist nicht egal, was in unseren Briefen steht und was du am Telefon erzählst. Wir müssen im Büro genauso erfinderisch sein wie bei der Arbeit mit den Leuten. Sonst ruinieren wir unser Programm.»
«Schon möglich, dass ich das unterschätze.»
«Warts ab. Ich arbeite seit vier Jahren hier. Am Anfang bestand unser Büro aus einem Schreibmaschinentisch mit einer Schublade und drei oder vier Ordnern. Das war die Pionierzeit: idyllisch und chaotisch. Es war phantastisch, solange es ging, aber natürlich ging es nicht sehr lange. Ich glaube, Martha und Gertrud trauern dieser Anfangszeit manchmal nach. Aber für mich war es schwierig. Ich kann gut improvisieren, aber ich brauche auch Ordnung und Klarheit. Und damit habe ich mich oft allein gefühlt. Deshalb bin ich froh, dass du da bist. Zusammen werden wir es schaffen.»
Helen zündete sich eine Zigarette an und musterte mich mit einem schelmischen Lächeln. «Dir geht es gut», sagte sie schliesslich, «nicht wahr?»
«Wie kommst du darauf?»
«Einfach so. Man sieht es dir an. Seit einiger Zeit machst du auf mich den Eindruck, dass du richtig zufrieden bist.»
Helen hat recht, dachte ich, nachdem ich in den Bus gestiegen war. Es geht mir gut. Ich habe alles, was ich mir immer gewünscht habe – eine tolle Arbeit, Menschen, mit denen ich gern zusammen bin, eine glückliche Liebe, die schon sechs Jahre dauert.
Ich bin 46 Jahre alt. Aber was heisst das schon? Ich kam mir alt vor, als ich 25 war. Ich fühlte mich jung mit 35. Und jetzt, mit 46? Ich bin mittendrin. Mitten in einem spannenden Leben, das zu mir gehört. Ja, ich bin zufrieden und ich fühle mich reich beschenkt. Nicht wunschlos, aber glücklich.
Das neue Jahr hatte unauffällig begonnen. Die Festtage waren vorbei, der Kalender war auf null gestellt, aber sonst ging alles weiter wie im letzten Jahr. Warum hätte sich ausgerechnet mit dem Jahreswechsel in meinem Leben etwas ändern sollen?
«Ich geh noch ein Stündchen ins Büro», sagte ich zu Sibylla und stand vom Tisch auf.
«Geh nur», sagte sie, «du kannst alles stehen lassen, ich mach den Abwasch. Es macht mir nichts aus. Ich muss in mir ein paar Dinge klären und dazu mach ich gern etwas Haushalt.»
Sibylla und ich hatten zwei Wohnungen im gleichen Haus, ein Stockwerk auseinander. Ich nannte es unsere Treppengemeinschaft. Abends assen wir oft zusammen und wechselten uns im Kochen ab. Manchmal bei Sibylla, manchmal bei mir.
Am Nachmittag hatte ich zwei Tragtaschen mit Büchern gefüllt, um sie ins Büro zu bringen, wo ich die Sachbücher untergebracht hatte. Zuoberst lag ein weisses Taschenbuch mit dem Titel: «Ich bin ich». Soll ich das Buch nicht hier behalten, um es endlich mal zu lesen?, fragte ich mich. Ich hatte es vor zwei Jahren gekauft, weil ein Freund davon geschwärmt hatte. «Das musst du unbedingt lesen», sagte er, «dieses Buch sollte jeder lesen.»
Ach was, dachte ich, das Buch hat lange genug hier herumgelegen und ich habe nie reingeschaut. Weg damit. Wenn ich es wirklich lesen will, hab ich es im Büro schnell wieder zur Hand.
Ich packte die beiden Taschen und machte mich auf den Weg. Das Büro war in einer kleinen Strasse gleich um die Ecke, in den Räumen einer früheren Glasbläserei. Sibylla und ich hatten hier zwei Stockwerke gemietet und eine journalistische Arbeitsgemeinschaft aufgebaut. Neben der Teilzeitstelle im Gruppenzentrum hatte ich hier meinen zweiten Arbeitsplatz.
Um zu unseren Büros zu gelangen, musste man eine Durchgangstür passieren, die von den Hausbewohnern jeden Abend mit doppelter Drehung verschlossen wurde. Ich hatte mich schon oft darüber geärgert. Aber die alten Leute, die hier wohnten, hatten Angst, dass eingebrochen würde.
Ich stand vor der schweren Eichentür, stellte die zwei Einkaufstaschen mit den Büchern auf den Boden, zog den Schlüsselbund aus meiner Tasche und steckte den grossen, altertümlichen Schlüssel ins Schlüsselloch. Ich drehte, aber der Schlüssel blieb nach einer Vierteldrehung stecken. Dieses verdammte Schloss, dachte ich, es müsste endlich ausgewechselt werden. Seit wir hier sind, spukt es alle paar Monate. Aber ich weiss zum Glück, wie man es aufkriegt. Es braucht nur ein bisschen Geduld und Feingefühl.
Ich schob und drehte den Schlüssel hin und her, zog ihn heraus und steckte ihn wieder hinein. Fünfmal. Zehnmal. Das Schloss bewegte sich nicht. Das kann doch nicht sein, dachte ich. Seit zwei Jahren benutze ich diesen Schlüssel fast jeden Tag, und noch jedes Mal habe ich die Tür aufgekriegt. Ich versuchte es nochmals auf die sanfte Tour – ganz langsam und sachte. Dann mit etwas Gewalt. Ich rüttelte am Schloss und an der Türe, versuchte, ob sie nicht mit kräftigem Druck aufspränge. Es war nichts zu machen. Die Tür blieb verschlossen, und das Schloss machte keinen Wank.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als umzukehren und den Stapel Bücher wieder nach Hause zu tragen. Ich hätte Sibyllas Schlüssel holen können, um es nochmals zu versuchen. Aber ich liess es bleiben. Ich war müde und verärgert. Missmutig kehrte ich in meine Wohnung zurück.
Was sollte ich mit dem angebrochenen Abend anfangen? Ich konnte mich sonst nicht über lange Stunden beklagen. Aber in den letzten Monaten hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, von früh bis spät meinen Beschäftigungen nachzugehen, dass ich mich – ausser zum Schlafen – kaum in meiner Wohnung aufhielt. Seit mein Sohn Loïc in einer anderen Stadt eine Ausbildung machte und nur noch selten hier auftauchte, fragte ich mich manchmal, wozu ich diese Wohnung überhaupt noch hatte.
Da stand ich also in meiner Wohnung und kam mir dumm und nutzlos vor. Zum Schlafen war es noch zu früh. Jetzt kannst du endlich etwas tun, wofür du sonst nie Zeit findest – fuhr es mir durch den Kopf. Seit Jahren lebte ich mit dem Gefühl, keine Zeit zu haben für tausend Dinge, die mich interessierten. Ich müsste mich doch freuen, drei geschenkte Stunden vor mir zu haben. Aber ich fühlte mich leer und unwillig. Ich spürte keine Lust auf irgendwas.
Ich könnte ein Buch lesen. Ein Buch, das ich sonst nicht lesen würde, weil ich keine Zeit dafür habe. Dieses «Ich bin ich» von Judith Jannberg zum Beispiel, nachdem ich es nicht ins Regal «Mann/Frau/ Familie» habe einordnen können.
Ich legte mich aufs Bett und begann zu lesen. Ich las bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen, kaum war ich aufgewacht, griff ich wieder nach dem Buch und las es in einem Zug zu Ende.
Ich fühlte mich aufgewühlt und glücklich. Ich war berührt von der Lebensgeschichte dieser Frau, von der Aufrichtigkeit, mit der sie erzählte, wie sie sich nach fast zwanzig Ehejahren aus der selbstgewählten Gefangenschaft befreite. Ich verstand ihr Leiden, ihren Kampf, ihren Freiheitsdrang. Ich fand mich selber in den Qualen, die sie durchgestanden hatte, obwohl die Geschichte ihrer Ehe mit der meinen wenig gemein hatte. Ich war keine Frau, ich hatte meinen Beruf nie aufgegeben, war nie in eine vergleichbare Abhängigkeit geraten und hatte mich nie bis zum Selbstverlust in ein aufgezwungenes Familienglück eingekapselt. Und trotzdem: Ich kannte diese Schmerzen. Ich kannte die Ausweglosigkeit und die Verzweiflung, ich kannte das Gefangensein in einer Bindung, die zu eng geworden war, aus der ich mich aber nicht befreien konnte, ohne Unheil anzurichten und andere unglücklich zu machen.
Das Buch brachte in mir etwas zum Klingen, das ich manchmal vermisste. War es Heiterkeit, Lebenslust, Freiheitsdrang? Es war ein warmes, freundliches Gefühl. Ich freute mich, wenn es da war, ich fühlte mich dann wohl auf der Welt, offen für mich und für andere.
Es zog mich aufs Land hinaus. Ich wollte frische Luft atmen, den Himmel sehen, die Stille spüren. Ich fuhr mit der Strassenbahn bis zum Stadtrand und stieg auf einen der umliegenden Hügel hinauf.
Als ich oben ankam, war mir, als beträte ich eine andere Zeit. Ich befand mich in einem schmucken Bauerndörfchen. Die Kirche, gediegen renoviert, thronte auf dem Rand des Hügels und war auf drei Seiten von einer Panoramaterrasse umgeben, auf der Kastanien ihre weiten Äste ausbreiteten. Auch jetzt, in ihrer winterlichen Kahlheit, standen die Bäume königlich da, wie wenn sie schon immer hier gewesen wären, um den Himmel mit der Erde zu verbinden.
Und dann diese Stille. Kein Laut erinnerte daran, dass hier oben Menschen wohnten. Der Kies knirschte unter meinen Füssen, während ich zur Mauer vorging, die die Terrasse umsäumte.
Ich liess meinen Blick am Horizont entlangstreifen. Links die hügeligen Ausläufer des Schwarzwalds, da und dort von einer Schnellstrasse überspannt und mit kleinen Betonsiedlungen bestreut. Geradeaus die im Nebel verschwimmenden Höhenzüge des schweizerischen Juras. Dann, weiter rechts, die endlos anmutende elsässische Ebene mit ihren Wiesen und Wäldern, und dahinter, vom Grau des Himmels kaum abgehoben, die Umrisse der Vogesen. In der Talsohle, von der Bergkulisse im Halbrund eingefasst, breitete sich wie eine flachgelegte, gigantische Geröllhalde die Stadt aus. In Wirklichkeit waren es mehrere Städte, die zu dieser Steinwüste zusammengewachsen waren. Aber nichts deutete darauf hin, dass hier drei Länder zusammenstiessen und dass sich die Grenzen zwischen Deutschland, der Schweiz und Frankreich mitten durch das Häusergewirr hindurchwanden.
In dieser Stadt bin ich aufgewachsen, sagte ich mir, während ich die Terrasse verliess, um den Höhenweg über den Hügel einzuschlagen. Ich habe fast immer hier gelebt. Und immer wieder wollte ich von hier weg. Wie oft hatte ich davon geträumt, anderswo zu leben, an Orten, die mich auf Reisen lockten – Paris, Prag, San Diego.
Statt auszuwandern, bewegte ich mich an Ort und wechselte alle zwei oder drei Jahre die Wohnung. So bin ich seit meinem 20. Lebensjahr wenigstens zehnmal umgezogen und habe in fast allen Quartieren dieser Stadt einmal gewohnt. Erst in den letzten Jahren bin ich sesshaft geworden, seitdem ich mit Sibylla in unserer «Treppengemeinschaft» lebe. Viele unserer Freunde beneiden uns um die getrennten Wohnungen im gleichen Haus und finden es die ideale Wohnform für eine Partnerschaft. Vielleicht haben sie recht. Aber Sibylla und ich hatten das gar nicht gesucht. Es war uns einfach zugefallen.
Ich blieb einen Moment stehen und sah vor mir den Waldrand, wo der Weg sich gabelte. Hier habe ich mich schon einmal verlaufen. Aber bald erkannte ich den bequemen Weg, der schnurgerade durch den Wald führte. Der Waldboden roch nach feuchter Erde, und ich sog die kalte Luft in mich hinein. Ich kehrte zu meinen Erinnerungen zurück, die sich vordrängten, als hätten sie auf diese Hügelwanderung gewartet, um mir das Panorama meines Lebens vorzuführen.
Vor fünf Jahren begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Ich arbeitete bei einer Wochenzeitung und hatte mich entschlossen, den Beruf zu wechseln. Der Journalismus war mir verleidet. Es widerstrebte mir immer mehr, ins Leere hinauszuschreiben und nicht zu wissen, was meine Artikel den Unbekannten, die sie lasen, bedeuten mochten. Oft beschlich mich auch das Gefühl, ich hätte alles geschrieben, was ich zu sagen hatte. Und dann dachte ich wieder: Es ist ohnehin längst alles gesagt und geschrieben. Man muss es nur noch tun.
Ich wünschte mir eine Arbeit, die mich näher zu den Menschen brächte, auch näher zu mir selber. Ich dachte an Erwachsenenbildung, an einen Lehrerjob in einer Alternativschule, an Selbsterfahrungsworkshops, wie ich sie mit einer Gruppe von Freunden durchgeführt hatte. Ich wusste nicht genau, wo meine Wünsche mich hinführen würden. Aber ich wusste, dass ich mich zuerst vom alten Beruf lösen musste, bevor ich Neues finden könnte.
Ich kündigte meine Stelle, und gleichzeitig kündigte ich auch meine Wohnung. Sie war teuer, und ohne ein sicheres Einkommen würde ich sie mir nicht mehr leisten können.
Drei Wochen bevor ich ausziehen musste, hatte ich noch keine neue Wohnung gefunden. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, für eine Weile bei Freunden Obdach zu suchen, als Sibylla von ihrer Nachbarin erfuhr, dass im Stockwerk über ihr eine Wohnung frei würde.
Die Wohnung entsprach genau meinen Wünschen und kostete nur halb so viel wie mein bisheriger Betoncontainer. Aber wollte ich in Sibyllas Haus ziehen? Das würde unsere Beziehung verändern. Und wollte Sibylla mich so nahe bei sich haben? Wir hatten uns gewünscht, näher beieinander zu wohnen. Aber wir waren ebenso entschlossen, nicht zusammenzuziehen. Wie ich hatte auch Sibylla eine Ehe hinter sich. Wir wollten die wiedergewonnene Unabhängigkeit nicht erneut aufs Spiel setzen. An die Möglichkeit, dass wir im gleichen Haus zwei Wohnungen finden könnten, hatten wir nie gedacht.
Ich hatte den Wald durchquert, der den Hügel überzog, und kam mit einbrechender Dämmerung im Winzerdörfchen an, das an der anderen Hügelseite hing. Ich blickte in die Weite der Rheinebene hinab, wo tausend Lichter aus Fenstern und von Strassenlampen mich an die Geschäftigkeit der Stadtmenschen erinnerten.
Der Rhein war nicht sichtbar, es war schon zu dunkel. Aber ich wusste, dass er dort unten floss und dass er die Grenze bildete zwischen Frankreich und Deutschland. Überall hier diese Grenzen: unsichtbar, und doch so einschneidend. Sie trennen Länder, Welten. Und sie bringen sie zueinander. Ich glaube, das ist es, was mich an diesem Grenzland so fasziniert.
Ich nahm den schmalen, steilen Weg, der zwischen den Reben hinunterführte. Es war inzwischen fast Nacht geworden, und ich konnte kaum noch sehen, wo ich meine Füsse hinsetzte. In einer Stunde würde ich zu Hause sein.
Ich dachte an das Buch über Sterbebegleitung, an dem ich seit zwei Jahren arbeitete. Gibt es eine endgültigere Grenze als den Tod? Alles, was ich erlebt hatte, sagte mir, dass Grenzen nur so lange Grenzen sind, als ich sie nicht überschreite. Sie sind eine Täuschung aus der Ferne. Wenn ich auf sie zugehe, verschwinden sie. Dieser Berg da am Horizont: Für wen ist er Grenze ausser für mich – gerade jetzt, an diesem Standort? Schon taucht dahinter ein neuer Kamm auf, der für einige Minuten den Horizont, die Grenze bildet.
In Wirklichkeit gibt es keine Grenzen und kein Überschreiten. Es gibt nur immer wieder überraschendes Entdecken, unerwartetes Neuland, das sich vor mir öffnet. Ich fing an zu begreifen, dass alle Grenzen nur in mir selber sind.
Eine Woche war vergangen, seit ich «Ich bin ich» gelesen hatte, und die gute Wirkung hielt immer noch an. Ich arbeitete nur das Nötigste und unternahm fast jeden Tag einen Ausflug in die Umgebung.
In Gedanken war ich oft bei Sibylla. Seit einiger Zeit lag ein Schatten über unserem Glück. Zuerst beachtete ich es kaum. Ich brauchte Monate, um zu bemerken, dass sich zwischen uns etwas verändert hatte. Erst jetzt wurde es mir richtig bewusst. Aber ich war mir nicht im Klaren, was mit uns geschehen war. Ich wusste nicht einmal, wann genau die Veränderung begonnen hatte.
Im letzten Sommer war ich oft enttäuscht gewesen, wenn wir uns liebten. Wir taten es ohne Leidenschaft, ohne Hingabe. Unsere Körper vereinigten sich, ohne sich zu finden, ohne ineinander zu verschmelzen. Wir liebten uns unter der Decke, flüchtig und fast nebenher, als hätten wir es eilig einzuschlafen.
Wir sprachen nie darüber, was mit uns vorging. Sibylla wollte oft allein sein und meistens auch allein schlafen. Sie war von ihren Berufsproblemen absorbiert. Sie sagte, sie sei in einer Berufskrise und brauche ihre ganze Kraft für sich allein. Das zog sich über Monate hin. Wir schliefen immer seltener zusammen. Wie lange war es her, seit wir im gleichen Bett gelegen hatten?
Es war Samstagabend, wir assen bei Sibylla und ich hatte ihr gesagt, dass ich mit ihr reden möchte.
«Weisst du», fing ich an, «es fällt mir schwer, darüber zu reden, aber auf meinen Spaziergängen habe ich mich entschlossen, dir zu sagen, was mich bedrückt.»
Sibylla schaute mich aufmerksam an und sagte: «Ich höre zu.»
«Ich glaube, ich habe mir lange Zeit etwas vorgemacht. Aber ich merke jetzt, dass ich die Zärtlichkeit mit dir vermisse. Wir berühren uns kaum noch. Wir haben schon lange nicht mehr miteinander geschlafen – auch nicht im gleichen Bett nebeneinander gelegen. Es fehlt mir, und es macht mir mehr aus, als ich glaubte.»
Sibylla schaute mich an und schwieg. Keine Regung in ihrem Gesicht verriet mir, was in ihr vorging. Nach einer Pause sagte sie: «Ich bin froh, dass du darüber sprichst. Ich möchte dir auch seit einigen Tagen etwas sagen, das mich beschäftigt. Es wird dich vielleicht verletzen, aber ich möchte trotzdem, dass du es weisst. Also» – Sibylla atmete tief ein und hielt die Luft an –, «ich habe mich verliebt.»
Für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich ein Schwindel. Ich fühlte mich benommen, aller Gefühle und Empfindungen beraubt.
Sibylla fuhr fort: «Es ist ein Mann, den ich kürzlich an einer Tagung kennengelernt habe. Ein Journalist aus S. Er heisst Klaus. Er weiss noch nichts von seinem Glück. Und ich weiss auch nicht, was ich mit dieser Verliebtheit anfangen soll. Sie ist einfach über mich gekommen. Ich habe mich zuerst dagegen gewehrt, hab gedacht, das verfliegt nach ein paar Tagen. Aber das Gefühl ist geblieben, und jetzt will ich herausfinden, was es ist. Ich kann und ich will dir nicht viel mehr darüber sagen, ich habe in mir selber noch keine Klarheit gefunden.»
Ich sass da, sprachlos, fassungslos. Damit hatte ich nicht gerechnet. Überhaupt nicht. Oder doch? Sibylla hatte mir schon einmal von diesem Klaus erzählt, vor ein paar Wochen, als sie in S. war, sich mit einer Kollegin traf und deren Freund kam auch dazu. Hiess der nicht Klaus? Hatte mir nicht Sibylla damals erzählt, wie gut sie sich mit ihm verstanden hatte? Ich erinnerte mich an das dumpfe Gefühl, dass mich ihre Schilderung seltsam berührte. Aber ich hatte es nicht weiter beachtet.
Ich verharrte in Schweigen, und Sibylla fuhr fort: «Alles, was ich weiss, ist, dass ich ihn wieder treffen will. Ich will herausfinden, was es mit dieser Verliebtheit auf sich hat. Ich habe beschlossen, diesen Weg zu gehen, auch wenn es dir weh tut. Ich will jetzt meinen Weg gehen. Ich habe mich in den letzten Jahren so oft zurückgestellt. Ich habe gegeben und gegeben. Jetzt bin ich an der Reihe. Jetzt komme ich zuerst. Ich hoffe, dass du das verstehen kannst. Aber ich werde diesen Weg weitergehen, auch wenn du es nicht verstehst, auch wenn es dich verletzt.»
«Doch, ich kann es verstehen», sagte ich, «ich kann es sogar sehr gut verstehen. Ich habe mehrmals in meinem Leben so gehandelt. Ich habe mich verliebt, und ich habe dieser Verliebtheit Raum gegeben, auch wenn es andere verletzte. Und es hat andere oft verletzt. Jetzt verletzt es mich, es tut mir wahnsinnig weh. Und gleichzeitig weiss ich: Ich würde an deiner Stelle wahrscheinlich dasselbe tun.»
«Ich dachte schon, du würdest mich verstehen», sagte Sibylla mit einem Ausdruck der Erleichterung. «Ich weiss wirklich selber nicht, wie mir geschieht. Aber es ist etwas Wichtiges, das in mir durchbricht. Ich weiss nicht, wie ich es dir sagen kann, und ich möchte auch nicht viel darüber reden. Ich habe seit einiger Zeit keine Lust gehabt, mit dir zu schlafen, aber ich hätte auch nicht mit einem anderen Mann schlafen wollen. Dieser Zustand dauert noch immer an. Ich habe keine Lust auf Sex, obwohl ich verliebt bin. Es ist komisch, aber es ist halt so. Ich bin in einem Umbruch, das weiss ich.»
Sibyllas Worte dröhnten von weit her zu mir herüber. Sie verkündeten mir Unheil und Schmerz. Ich sagte: «Ich verstehe nicht genau, was du meinst. Du machst so viele Andeutungen, ich finde mich darin nicht zurecht.»
«Ich kann es dir nicht deutlicher sagen», sagte sie. «Meine Gefühle haben sich von dir entfernt. Sie haben sich abgekühlt, schon seit einiger Zeit. Ich kann es mir auch nicht erklären, und es macht mir auch Angst. Ich glaube nicht, dass ich dich verlassen will, aber ich weiss es nicht mit Sicherheit. Es ist auch für mich schwer, diese Ungewissheit zu ertragen. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Und jetzt habe ich genug geredet, vielleicht schon zu viel. Ich möchte, dass wir hier abbrechen. Und ich möchte jetzt noch gerne etwas allein sein.»
Wir sassen noch eine Weile schweigend da und schauten uns an. «Ich möchte jetzt auch nicht weiterreden», sagte ich zu Sibylla. «Aber ich möchte gern noch eine Viertelstunde mit dir aufs Bett liegen und dich festhalten.»