Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Buch enthält eine Auswahl von Zeitungsartikeln und unveröffentlichten Texten zu einer Vielfalt von gesellschaftlichen, philosophischen, pädagogischen und sozialen Themen, die der Autor im Lauf der Jahre geschrieben hat. Auch wenn die unmittelbaren Anlässe vergangen oder vergessen sind, haben viele Fragestellungen und Erwägungen ihre Aktualität bewahrt und mitunter neue Brisanz gewonnen. Aus dem Buch: - Vier Tage mit Elisabeth Kübler-Ross. Ein Workshop über «Leben, Tod und Übergänge» - Gespräch mit Elisabeth Kübler-Ross: «Wirkliche Hilfe ist immer gegenseitig» - War denn alles umsonst? Kritische Fragen zum Erbe der sechziger Jahre - Gespräch mit dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire: «Ich bin von Grund auf optimistisch» - Gespräch mit Thomas Gordon, dem Autor des Bestsellers «Familienkonferenz»: «Wir vertrauen Kindern viel zu wenig» - Bürokratie als gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit. Gesichtspunkte zu einer Ethik der Selbstbestimmung - Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Wirklichkeit. Adolf Portmanns Umschau «An den Grenzen des Wissens» - Sollen wir die Schule abschaffen? Ivan Illichs radikale Ansätze sind mehr als eine Provokation - Der Mitmensch ist die wichtigste Umweltbedingung für den Menschen. Zur Erziehungs-Psychologie von Anne-Marie und Reinhard Tausch - Fremderfahrung und Selbsterfahrung - eine pädagogische Alternative. Zu Paulo Freires «Pädagogik der Unterdrückten» - Die verkannten Pioniere. Rudolf-Steiner-Schulen in der Schweiz - Selbsthilfe als ein Schritt zur Mündigkeit. Über Chancen und Schwierigkeiten von Selbsthilfegruppen - Die Seele zählt nicht. Über die Schwierigkeit, für sozialpsychiatrische Arbeit Anerkennung und Bezahlung zu bekommen - Elektroden statt Gefängnisse. Die sanfte Technologie der «sauberen Folter» - Theater ist gerafftes Leben. Zu Jean-Louis Barraults «Erinnerungen für morgen» - Hommage à Beuys oder: Grenzenlose Mystifikation. Kritische Anmerkungen zur Basler «Kunstdiskussion» - Der weggeschobene Tod. Warum Sterben in unserer Zeit so schwierig ist - Timothy Leary: Erleuchtung oder Mystifikation?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 567
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorbemerkung
Gesellschaft & Politik
Ohnmacht oder Hoffnung?
Fragen auf dem Weg in die Zukunft
Ansätze eines radikalen Umdenkens
Zu Marilyn Fergusons Buch «Die sanfte Verschwörung»
Der Mensch: Ein Wert an sich
Zu Jan Prochazkas Aufsätzen und Reden
Politik ist Systemveränderung
Bemerkungen nach der Mitbestimmungsdebatte im Nationalrat
Inflation und Mitbestimmung
Was steckt hinter den Aufblähungen von Preisen und Verwaltungen?
Objektiv und neutral
Schlagworte sind noch keine Medienpolitik
Kritische Toleranz: Ja zur Aufhebung des Ausnahmerechts
Zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 20. Mai 1973
War denn alles umsonst?
Kritische Fragen zum Erbe der sechziger Jahre
Nur Empörung?
Nachdenken über die Zürcher Strassenschlachten
Bedeutende Zonen
Eine Glosse
Ethik & Weltbilder
«Ich bin von Grund auf optimistisch»
Gespräch mit dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire
Bürokratie als gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit
Gesichtspunkte zu einer Ethik der Selbstbestimmung
«Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Wirklichkeit»
Zu Adolf Portmanns Umschau «An den Grenzen des Wissens»
Die Kirche kann sich keinen Pfürtner leisten
Zur prinzipiellen Bedeutung eines innerkirchlichen Konflikts
Der Mensch – Geschöpf oder Schöpfer?
Philosophische Gesichtspunkte zu Gegenwartsfragen
Brillant, aber irreführend
«Magische Namen: Rudolf Steiner» – ein Fernsehfilm von Roland Brodmann
Ethisches Defizit
Zu Stephan H. Pfürtners Schrift «Politik und Gewissen – Gewissen und Politik»
Schule & Bildung
«Wir vertrauen Kindern viel zu wenig»
Gespräch mit Thomas Gordon, dem Autor des Bestsellers «Familienkonferenz»
Sollen wir die Schule abschaffen?
Ivan Illichs radikale Ansätze sind mehr als eine Provokation
«Der Mitmensch ist die wichtigste Umweltbedingung für den Menschen»
Welche Erziehung fördert Autonomie und humanes Zusammenleben?
Fremderfahrung und Selbsterfahrung – eine pädagogische Alternative
Zu Paolo Freires «Pädagogik der Unterdrückten»
Humane Schule – eine Illusion?
Die verkannten Pioniere
50 Jahre Steiner-Schulen in der Schweiz
Angst zwischen Eltern und Lehrpersonen
Ein Anstoss zum Nachdenken
Lernen ohne Druck und ohne Noten
Individualisierender Unterricht als Versuch innerer Schulreform
Noten sind nicht nötig
Schulbeispiel Dänemark – eine Lektion in praktizierter Demokratie
Schule macht Spass
Was in anderen Ländern möglich ist
Wozu überhaupt Bildungsforschung?
Erwägungen auf dem Weg zu einer aargauischen Hochschule für Bildungswissenschaften
Zwischen Schulbank und Arbeitswelt
«Schule und Beruf» – eine aussergewöhnliche Schule für junge Erwachsene
Zauberwort «Koordination»
Plädoyer für eine pluralistische Schule
Selbsthilfe & Psychosoziales
Selbsthilfe als ein Schritt zur Mündigkeit
Über Chancen und Schwierigkeiten von Selbsthilfegruppen
Ein Ort, wo man Mut schöpfen kann
Das «Selbsthilfezentrum Hinterhuus» in Basel
Sommerfest im «Hinterhuus»
Der erste Schritt
Das Gute, das verletzt
Selbsthilfe als Herausforderung für die Fachleute
Hilfe zur Selbsthilfe: Geh zu den Leuten
Ist Psychotherapie ein Thema für Massenmedien?
Notsignale
Barbara – ein Fall für die Psychiatrie?
Wege zueinander und zu sich selber
«Psycho-Treff» – ein Fernsehexperiment mit überwältigendem Erfolg
Irrfahrt zur Wirklichkeit
Mehr als ein Hör-Spiel
Mehr Freundlichkeit im sozialen Alltag
Eindrücke von einer Studienreise in den Niederlanden
Sich selber neu erfinden
Kunsttherapie unterstützt den Heilungsvorgang
Die Menschen sollen sich wohlfühlen
Physiotherapie ist keine Nebensache
Die Seele zählt nicht
Über die Schwierigkeit, für sozialpsychiatrische Arbeit Anerkennung und Bezahlung zu erhalten
Elektroden statt Gefängnisse?
Die sanfte Technologie der «sauberen Folter»
Kunst & Kultur
Gibt es eine Nacht, die ewig dauert?
Zum 150. Todestag von Heinrich von Kleist (1777–1811)
Theater ist gerafftes Leben
Zu Jean-Louis Barraults «Erinnerungen für morgen»
Hommage à Beuys oder: Grenzenlose Mystifikation
Kritische Anmerkungen zur Basler «Kunstdiskussion»
Wer entscheidet, was gespielt wird?
Ein Anstoss zum Umdenken
So einfach ist die Liebe
Alltag
Der Papierberg von Madeleine
Eine Geschichte aus dem «Selbsthilfezentrum Hinterhuus»
Abschied vom Familiennamen?
Hausfrau im Stundenlohn
Papi und Mami
Spuk ohne Grenzen
Tod & Sterben
Sterben lernen, leben lernen
Vier Tage mit Elisabeth Kübler-Ross
Elisabeth Kübler-Ross
Berühmte Schweizerinnen im Ausland
«Wirkliche Hilfe ist immer gegenseitig»
Ein Gespräch mit Elisabeth Kübler-Ross
Hospiz – mit Liebe betreuen
Die Hospiz-Pionierin Cicely Saunders
Der weggeschobene Tod
Warum Sterben in unserer Zeit so schwierig ist
Spiritualität
Wiedergeburt – eine alte Frage neu gestellt
Rückblick auf die Basler Psi-Tage 1988
Erleuchtung oder Mystifikation?
Zu Timothy Learys psychedelischen Verheissungen
Von Saulus zu Paulus
Ein Neurochirurg erfährt nichtsinnliche Wirklichkeit
Dies & das
Ein Traum
China ist näher, als wir denken
Notizen aus der Touristenperspektive
Wohin steuert China?
Wenn mann frau in den Mantel hilft
Stufen der Emanzipation
Ein Ort zum Leben, zum Lernen und zum Heilen
Eine persönliche Utopie
Meinen Eltern, die mich auch dann unterstützten, wenn sie mich nicht verstanden.
«Nichts ist älter als eine Zeitung von gestern», sagt eine beliebte Redewendung. Ich komme nicht an ihr vorbei, wenn ich mich anschicke, eine Auswahl von Artikeln zu publizieren, die ich vor 20, 40 oder fast 60 Jahren geschrieben habe. Wen sollen diese alten Geschichten heute noch interessieren?
Als ich kürzlich in den Ordnern blätterte, die meine aufgeklebten Zeitungsausschnitte enthalten, und den Archivgeruch der vergilbten Papiere einatmete, stellten sich viele bunte Erinnerungen ein, aber natürlich auch die Frage: Wäre es nicht an der Zeit, diesen alten Kram zu entsorgen?
Aber ich hatte schon zu lesen begonnen und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich von dem einen oder anderen Text mitnehmen zu lassen, den Gestalten und Ereignissen, die mich damals beschäftigten, wieder zu begegnen und sie aus heutigem Blickwinkel neu zu betrachten. Vieles war definitiv vorbei, keine Frage; Geschehnisse ohne weitere Bedeutung oder Texte, die für den Tag, die Woche oder bestenfalls den Monat geschrieben waren. Aber es gab andere Artikel, deren Anlass zwar ebenfalls zeitbedingt war, die aber Gesichtspunkte und Aussagen enthielten, die mir auch heute noch lesenswert erscheinen.
Mein Problem im Journalismus war es nämlich, dass mich die Tagesaktualität nie wirklich interessierte. Ich sage dies, obwohl ich einige Jahre im Tagesjournalismus gearbeitet habe, und es auch nicht bereue. Nirgends ist deutlicher erlebbar, was Journalismus ausmacht – die ebenso stressige wie stimulierende Herausforderung, innerhalb von Stunden und manchmal Minuten etwas zu produzieren, das dem Urteil Tausender von Menschen standhalten muss. Aber die Eintagsfliegen waren nicht mein Ding. Ich versuchte, wenn immer möglich, Hintergründe einzufangen, Zugrundeliegendes auszumachen und Exemplarisches aufzuzeigen. Was mich interessierte, waren «les choses derrière les choses», wie es der französische Filmregisseur Marcel Carné einmal sagte, «die Dinge hinter den Dingen». Und diese Untergründe haben meist eine längere Lebensdauer als das Geflimmer an der Oberfläche.
Hinzu kommt eine Merkwürdigkeit, die mit zwei Themen zu tun hat, mit denen ich mich öfter auseinandersetzte: Schule und Psychiatrie. In beiden Bereichen fällt mir auf, dass die jeweiligen Institutionen über eine systemimmanente Trägheit verfügen, die sie gegen Reformen stark immunisiert. Das hat zur Folge, dass sich grundlegende Veränderungen nur langsam durchsetzen und die vorgebrachten Reformforderungen eine lange Lebensdauer haben. Deshalb sind einige der Artikel, die ich vor 40 Jahren geschrieben habe, leider noch immer aktuell.
Ein letzter Grund, der mich schliesslich dazu bewog, diese Texte in Buchform zu veröffentlichen, ist die Möglichkeit des «Print on demand», des «Drucks nach Bedarf» und des eBooks. Dank dieser Technologie ist die Publikation eines Buches nicht mehr an eine Mindestauflage gebunden, sondern kann in wenigen oder nur einzelnen Exemplaren erfolgen, und das zu einem erstaunlich günstigen Preis. Beim eBook fällt auch der Druck weg – es hat sich völlig entmaterialisiert. Wenn also auch nur eine kleine Zahl von Leserinnen und Lesern an meinen Texten Gefallen findet, hat sich das Unterfangen gelohnt.
Ich habe die Artikel nach Themen gruppiert. Die meisten entstanden in den siebziger und den achtziger Jahren, aber insgesamt erstrecken sie sich über den Zeitraum von 1961 bis 2014. Das sind 53 Jahre – mehr als ein halbes Jahrhundert. Wo es mir nötig schien, habe ich kurze Anmerkungen aus heutiger Sicht vorangestellt, um etwas in Erinnerung zu rufen oder einen Kontext herzustellen, der das Verständnis erleichtert. An den Texten selbst habe ich kaum etwas verändert – ausser an der Rechtschreibung, die ich aktualisiert habe, und Anpassungen an eine gendergerechte Sprache. Ich verwende entweder beide Genderformen oder abwechslungsweise weibliche und männliche, um diesem Anliegen gerecht zu werden, ohne den Lesefluss mit Behelfszeichen wie Sternchen, Schrägstrich oder anderem zu behindern.
Obwohl die Texte aus verschiedensten Anlässen entstanden sind, die sich an Vorfälle, Zufälle oder die Launen des Zeitgeistes anlehnen, stelle ich beim Lesen aus heutiger Distanz so etwas wie einen roten Faden fest. Das erstaunt mich zwar, weil es sicher nicht beabsichtigt war, aber es freut mich auch als Zeichen einer inneren Stimme, die sich über viele Jahre hinweg immer wieder aufs Neue auszudrücken suchte. Ich überlasse es meinen Leserinnen und Lesern, ihre Melodie zu erkennen, und wünsche ihnen dabei viel Vergnügen.
Christoph A. Müller
Basel, im Winter 2020/21
Ein Querschnitt von gesellschaftspolitischen Fragen und Themen, mit denen ich mich journalistisch beschäftigt habe. Zufällig, ungeordnet, ohne Gewichtung – sind sie hier dem Reiz des Zufalls überlassen.
Anmerkung 2021
In diesem Text, der vor bald 40 Jahren entstand, fehlt das Thema, das heute – vor allen anderen – unseren Blick in die Zukunft beherrscht: die Klimaerwärmung. Der wissenschaftliche Konsens über die globale Erwärmung kam erst um die Jahrtausendwende zustande. Und der weltweite Aufbruch einer Klimabewegung, die sich zu einer mächtigen, gesellschaftsverändernden Kraft entwickelt hat, ist erst wenige Jahre alt. Doch diese jüngsten Entwicklungen fügen sich überraschend deutlich an jene Tendenzen an, die ich damals beschrieb. Ein Grund mehr zur Hoffnung!
Angst vor der Zukunft ist kein Hirngespinst: Dem Patienten Menschheit stellen Zukunftsforscher alarmierende Prognosen. Sie fordern eine radikale Umkehr in unserem Denken und Handeln, wenn eine globale Katastrophe noch verhindert werden soll. Was bedeutet dies für den einzelnen Menschen? Ist er dem Weltgeschehen ohnmächtig ausgeliefert? Oder ist er imstande, aus eigenen Kräften Neues zu bewirken?
Es ist nicht schwierig, die Aussichten aufs Jahr 2000, auf unsere nächste Zukunft also, schwarzzumalen. Global gesehen drängen sich apokalyptische Visionen geradezu auf, viel eher jedenfalls als Hoffnungsträume. Während Krieg, Hunger, Folter, Unterdrückung und Ausbeutung auf weiten Flächen unseres Planeten das Leben von Millionen Menschen bedrohen und zerstören, leistet sich die Minderheit der Industrieländer durch Rohstoffverschleiss, Naturzerstörung und Rüstungswettlauf den beispiellosen Wahnsinn einer Selbstmordstrategie, die das Weiterleben der gesamten Menschheit in Frage stellt.
KASSANDRARUFE ALLENTHALBEN
Wenn dieser Raubbau wenigstens den Satten dieser Welt Lebensfreude, Lust und Erfüllung bescherte. Aber das Gegenteil ist der Fall. In lärmigen, stinkenden Grossstädten reiben sich Millionen von unglücklichen Privilegierten (sie haben Nahrung, Wohnung, Arbeit) unter krankmachenden Lebensbedingungen auf. Viele sind von Angst befallen: Angst vor der Zukunft, Angst vor Einsamkeit, Angst vor Krankheit, Angst vor dem Altwerden, Angst, den Job zu verlieren, Angst vor Krieg oder anderen Katastrophen. Selten trifft man Menschen, junge oder alte, die mit ihrer Arbeit und ihrer Umwelt wirklich zufrieden sind, die sich in tragfähigen, bereichernden Beziehungen (es muss nicht ein harmonisches Familienleben sein) geborgen fühlen, die mit Zuversicht in die Zukunft blicken, kurz: die von sich sagen können, dass sie ein erfülltes Leben führen. Es hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unzählige Mahner und Warner gegeben, die ein von Grund auf neues Denken forderten: Physiker und Dichter, Philosophen, Soziologen, Theologen und Politiker – unter ihnen ebenso Aussenseiter wie anerkannte Kapazitäten. Sie erhoben ihre Stimme gegen die rücksichtslose Plünderung der Erde, gegen einen materialistischen Grössenwahn, auf dessen Altar Menschlichkeit und Lebensqualität geopfert werden. Sie verlangten eine Neuorientierung unserer Werte und eine radikale Umkehr im menschlichen und gesellschaftlichen Handeln.
Das Verdienst dieser Kassandrarufe ist es, dem Patienten Menschheit eine alarmierende Diagnose zu stellen. Doch ihre Appelle und Therapievorschläge zielen fast allesamt an der Wirklichkeit vorbei. Denn sie unterschlagen die einfache Tatsache, dass es den «Patienten Menschheit» als handlungsfähiges Subjekt nicht gibt, dass weder ein allmächtiger Kommandoposten noch eine Vielzahl zuständiger Instanzen vorhanden sind, welche die dringend notwendigen Veränderungen in die Tat umsetzen könnten. So verhallen auch die alarmierendsten Signale praktisch wirkungslos. Das gilt auch für jene drei Bestandesaufnahmen, die dank prominenter Autoren und wissenschaftlicher Untermauerung in jüngster Zeit weltweites Echo auslösten: «Die Grenzen des Wachstums» vom «Club of Rome», den «Brandt-Bericht» der «Nord-Süd-Kommission» und die von Präsident Carter in Auftrag gegebene Regierungsstudie «Global 2000».
Es war eine Pionierleistung, als 1972 der «Club of Rome» seinen Appell zur Wachstumsbeschränkung veröffentlichte. Zum ersten Mal bestätigte eine grossangelegte wissenschaftliche Hochrechnung, dass unser industrielles Weltsystem – bei gleichbleibenden Entwicklungstendenzen – auf einen globalen Zusammenbruch hinsteuert.
KEINE WENDE IN SICHT
Seither sind beinahe zehn Jahre verstrichen. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Ausser einer unfreiwilligen, durch Ölkrise und Rezession aufgezwungenen und allseits beklagten Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die mit Arbeitslosigkeit und Inflation zusätzliche Probleme schafft, hat sich an den grundlegenden Trends des Raubbaus, der Übervölkerung und der Umweltzerstörung so gut wie nichts geändert.
Von einem «wirtschaftlichen Gleichgewicht», wie es der «Club of Rome» forderte, sind wir weiter entfernt als je zuvor: Das Gefälle zwischen den reichen und den armen Ländern hat sich nicht verringert, sondern vergrössert. Das bestätigte vor knapp zwei Jahren die von Willy Brandt präsidierte «Nord-Süd-Kommission» und warnte ihrerseits, «dass die beiden vor uns liegenden Jahrzehnte für die Menschheit von schicksalhafter Bedeutung sein werden». Aber trotz aller Empörung über den Skandal des Hungers: Anzeichen für eine Wende im Nord-Süd-Konflikt sind nicht auszumachen.
Schlagzeilen macht heute nicht etwa der mutige Entschluss einer Grossmachtregierung, die so dringend nötige Umkehr einzuleiten, sondern ein neuer Bericht über die düsteren Aussichten der nächsten Zukunft: Die Studie der US-Regierung «Global 2000». Sie ist die umfassendste Untersuchung über die «voraussichtlichen Veränderungen der Bevölkerung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der Erde bis zum Ende dieses Jahrhunderts». An Umfang übertrifft «Global 2000» seinen Vorgänger «Grenzen des Wachstums» um das Zehnfache, kommt aber zu Schlussfolgerungen von beängstigender Ähnlichkeit: «Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungstrends fortsetzen, wird die Welt im Jahre 2000 noch übervölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein als die Welt, in der wir heute leben.»
DIE HERKÖMMLICHEN STRATEGIEN SIND WIRKUNGSLOS
Wir befinden uns in einem Zustand des Wissens und der Ohnmacht: Wir wissen genau, was uns und unseren Kindern bevorsteht, wenn sich nicht Grundlegendes ändert. Gleichzeitig fühlen wir uns unfähig, das dringend Notwendige anzupacken. Was kann ich schon als Einzelner ausrichten? fragen sich viele. Die Überfütterung mit Katastrophenmeldungen macht mutlos und resigniert.
Die herkömmlichen politischen Strategien haben versagt. Auch wer sich das nicht bewusst eingesteht, ahnt zumindest, dass Regierungen und internationale Organisationen nicht in der Lage sind, den verheerenden Lauf der «Sachzwänge» zu bremsen, geschweige denn eine neue Richtung einzuschlagen. Was auf globaler Ebene gilt, spiegelt sich ebenso in der Innenpolitik der meisten Länder: Die Durchsetzung kurzfristiger Interessen verbaut die Sicht aufs Ganze, lähmt jede aufkeimende Bewegung und zementiert den Status quo. Kein Wunder, kehren viele Bürger einer Politik den Rücken, die ihre brennendsten Fragen kaum mehr berührt.
Gibt es denn Alternativen zur herkömmlichen Politik? Gibt es Auswege aus der Erstarrung in Sachzwängen und Sackgassen? Der kürzlich verstorbene Kulturphilosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm hat sich diese Fragen gestellt, und sein letztes Buch «Haben oder Sein» ist der Versuch einer Antwort. Er führt Politik auf ihren Ursprung zurück: auf den einzelnen Menschen, seine Werte und Beweggründe, sein Handeln und Verhalten. Fromm fordert nichts weniger als einen «fundamentalen Wandel der menschlichen Charakterstruktur». Er meint damit die Abkehr von der im Industriezeitalter vorherrschenden Habgier des «Habens» (Beherrschen, Konsumieren, Gewalt) und die Zuwendung zu einer Haltung des «Seins» (Erleben, Produktivität, Liebe).
Ein in diesem Sinn gewandelter «neuer Mensch» ist für Fromm die Voraussetzung für eine «neue Gesellschaft», die allein fähig sein wird, ein befriedigendes und friedliches, globales Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. «Es ist meine Überzeugung» – schreibt Fromm -, «dass unsere Zukunft davon abhängt, ob das Bewusstsein der gegenwärtigen Krise die fähigsten Menschen motivieren wird, sich in den Dienst der neuen humanistischen Wissenschaft vom Menschen zu stellen. Denn» – so argumentiert Fromm weiter – «solange die Probleme der gesellschaftlichen Rekonstruktion nicht wenigstens zu einem grossen Teil den Platz einnehmen, der gegenwärtig bei unseren besten Köpfen von der leidenschaftlichen Beschäftigung mit Naturwissenschaft und Technik besetzt wird, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen.»
ANSÄTZE EINES BEWUSSTSEINSWANDELS
Fromms humanistische Vision ist heute, sechs Jahre nach Erscheinen seines Buches, keine blosse Utopie mehr. In vielen westlichen Gesellschaften zeichnen sich Ansätze eines tiefgreifenden Bewusstseinswandels ab. Dieser setzt allerdings nicht dort an, wo Fromm ihn herbeiwünschte: im Bereich der Wissenschaft. Ebenso wenig wird man im Scheinwerferlicht der politischen Aktualität auf seine Spuren treffen. «Wenn heute Rettendes wächst», erklärt der deutsche SPD-Politiker und Ex-Minister Erhard Eppler in seinem Buch «Wege aus der Gefahr», «dann nicht an der Spitze der Institutionen, sondern da, wo Menschen versuchen, menschlicher miteinander zu leben, an der sogenannten Basis.»
Wenn Neues entsteht, kann es sich zunächst nur im Leben von Minderheiten manifestieren und oft an Orten, wo man es nicht vermutet. In einem Aufsatz über die «Frau in Europa» schrieb C. G. Jung den bemerkenswerten Satz: «Es sind immer nur die Wenigen, die den Geist einer Gegenwart deutlich ausdrücken.» Dies gilt erst recht für zukunftsgerichtete Ansätze.
Erhard Eppler beteuert denn auch: «Nichts ist schwerer zu beschreiben als das Aufkommen eines neuen sittlichen Bewusstseins.» Die Minderheit, die an der Basis der Gesellschaft eine radikale Wertveränderung, eine «neue Ethik» (Eppler) signalisiert, ist keine homogene, definierbare Gruppe. Zu ihren Merkmalen gehört, dass sie kaum organisiert und nur wenig strukturiert ist. Sie ist weder von einer übergeordneten Ideologie herzuleiten noch in herkömmlichen gesellschaftlichen Kanälen zu orten.
WANDLUNGEN IM VERBORGENEN
Es handelt sich um einen ungesteuerten Bewusstseinswandel, den Tausende von Individuen und Gruppierungen mit unterschiedlicher Intensität vollziehen, und zwar unabhängig voneinander und oft ohne zu wissen, dass sie Teil einer umwälzenden, international verflochtenen, aber spontanen und autonomen Bewegung sind. Die amerikanische Journalistin Marilyn Ferguson hat seit Jahren ihr Augenmerk auf Phänomene und Prozesse gerichtet, die auf persönliche und gesellschaftliche Wandlungen hindeuten. In ihrem 1980 erschienenen und bereits in über zehn Sprachen übersetzten Buch «The Aquarian Conspiracy» (in diesen Tagen erscheint die deutsche Ausgabe unter dem Titel «Die sanfte Verschwörung») verfolgt Marilyn Ferguson, wie die «Bewegung, die keinen Namen hat», entstanden ist.
Ausgehend von den sechziger Jahren, zeigt Marilyn Ferguson, dass die Impulse der damaligen grossen Protestbewegungen keineswegs im Sand verlaufen sind, wie das viele Beobachter glauben. Aber die Strömung der Erneuerung hat ihren Lauf geändert und ist unter die Oberfläche gesickert. Statt die «böse Gesellschaft» mit einem Feuerwerk von Theoriegeschossen zu bombardieren, haben Unzählige damit begonnen, die Veränderungen, die sie von aussen forderten, zunächst einmal bei sich selbst und in ihrem persönlichen Umfeld herbeizuführen – jedenfalls soweit es dafür Spielraum gab. Und viele fanden, dass der Spielraum grösser ist, als sie erwartet hatten. Aber sie machten auch die Erfahrung, dass es viel mehr Mühe kostet, im Alltag einer Partnerschaft befriedigendere und selbstbestimmte Lebensformen zu finden, als die Fremdbestimmung einer kapitalistischen Gesellschaft anzuklagen.
«Als die Revolution sich nach innen richtete», bemerkt Marilyn Ferguson, «verschwand sie aus dem Blickfeld von Fernsehkameras und Zeitungsreportern. Sie war in mancher Hinsicht unsichtbar geworden.» Eine Studentendemonstration macht Schlagzeilen. Parolen und Resolutionen – sie mögen noch so leer sein – werden von den Medien als «Nachrichten» verbreitet. Die Lernvorgänge einer Selbsterfahrungsgruppe dagegen, die im Leben der Teilnehmenden vielleicht tiefe Veränderungen bewirken, haben keinen Nachrichtenwert. Da ist kein «Ereignis», über das zu berichten, kein «Ergebnis», über das ein Communiqué zu verbreiten wäre.
INDIVIDUELLE LERNPROZESSE
Das entscheidende Merkmal der «sanften Kulturrevolution», wie sie Marilyn Ferguson beschreibt, besteht darin, dass die Veränderungen beim Individuum, bei jedem einzelnen Menschen ansetzen. Ihr Ursprung ist Betroffenheit, die Bereitschaft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Frage: Wer bin ich? steht am Anfang eines langen und meist schmerzvollen Lernprozesses. Kein Buch, keine Theorie und kein anderer Mensch kann mir darauf eine Antwort geben. Ich muss sie in mir selbst finden, aus mir heraus gebären.
Wichtige Geburtshilfe leisten dabei die verschiedensten Formen psychischer und körperlicher Erfahrungs- und Ausdrucksmethoden. Im Schonraum einer Selbsterfahrungsgruppe beispielsweise können Ängste ausgesprochen und Masken abgelegt werden. Die Erfahrung, dass ich, so wie ich bin, von anderen akzeptiert und verstanden werde, wirkt befreiend und macht Mut, mich selbst und andere besser zu akzeptieren. Daraus wachsen soziale Kräfte: die Fähigkeit, sich zu öffnen, auf andere zuzugehen, besser zu kommunizieren, Gemeinschaft zu stiften und zu leben.
Es ist hier nicht der Ort, das vielfältige und zum Teil auch fragwürdige Angebot der «Psychoszene» kritisch zu durchleuchten. Selbsterfahrungsgruppen, Gestalttherapie, Meditation, Psychodrama und eine Reihe weiterer seelischer und körperlicher Bewusstseinsaktivitäten haben – pauschal gesprochen – eines gemeinsam: Sie sind Experimentier- und Übungsfelder für die Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie erbringen keine Lebenshilfe im Sinne karitativer oder sozialer Institutionen, sondern schaffen Raum zur Selbstbetätigung und bieten ein mehr oder weniger strukturiertes Umfeld, das zur Selbsthilfe anregt.
PERSÖNLICHES ERLEBEN VERÄNDERT DIE
SELBSTWAHRNEHMUNG
Die sprunghafte Zunahme von «Psychotechniken» und anderen Aktivitäten der Selbstentfaltung – in einem weiteren Sinn gehört beispielsweise auch der Boom von Tanz- und Ballettkursen in diesen Zusammenhang – deutet auf ein wachsendes Bedürfnis vieler Menschen, Verschüttetes freizulegen und ungenutzte Kräfte zu betätigen. Auffällig ist, dass sich alle diese Aktivitäten nicht einseitig an den Intellekt richten. Im Gegenteil: Gefühle, innere Bilder, Körpersprache, also der ganze Reichtum persönlichen Erlebens und Vermittelns, wird als Prozess der Selbsterfahrung bewusst gemacht.
Solches inneres Wachsen, das den ganzen Menschen erfasst, steht in krassem Gegensatz zu den Lernpraktiken der meisten gängigen Bildungsinstitutionen, wo es vor allen Dingen darauf ankommt, kopflastiges Wissen zu speichern. «Den grössten Teil dessen, was wir wissen, haben wir ausserhalb der Schule gelernt», sagte einmal Ivan Illich. Er meinte damit, dass wirkliches Wissen nicht über den Intellekt allein zu vermitteln ist. Es entsteht vielmehr aus der Erfahrung konkreter Lebenssituationen, durch die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt.
Dafür Bewusstsein zu schaffen, bleibt nicht folgenlos. Denn wer gelernt hat, seinen Selbstwert und den Massstab seines Handelns in sich selbst zu finden, wird künftig die Welt mit anderen Augen betrachten. Fremde Autoritäten (Professorin, Arzt, Expertin) verlieren die ihnen verliehene Macht. Das Urteil der anderen (der Nachbarn, der Partnerin, der Vorgesetzten oder der Kolleginnen) wird relativiert und verliert seinen bestimmenden Einfluss.
Menschen, die solche befreiende Bewusstseinsprozesse – nicht nur in ihrem Kopf, sondern mit allen Fasern ihrer Person – vollziehen, werden beginnen, ihren Alltag zu verändern. Sie werden ihre Prioritäten überdenken und sich vielleicht entschliessen, eine Karriere abzubrechen, die zwar viel Geld, aber wenig innere Zufriedenheit bringt. Oder sie werden sich von einem Partner trennen, mit dem sie zwar ein Gefühl der Sicherheit, aber keine menschliche Vertrautheit verbindet. Oder sie werden den Mut finden, gegen den Willen ihrer Ärztinnen eine Therapie abzubrechen, die ihr Leben zwar statistisch verlängern, aber drastisch beeinträchtigen würde.
SOZIALE EXPERIMENTE UND NEUE LEBENSFORMEN
Veränderungen des Lebensstils sind heute an vielen Orten der Gesellschaft im Gang. Es gibt kaum eine Familie, in der es nicht auf irgendeine Weise «gärt». Hohe Scheidungsquoten und der Rückgang von Eheschliessungen zeigen an, dass im Bereich des Zusammenlebens vieles in Bewegung geraten ist. Neue Lebensformen (Wohngemeinschaften, offene Ehe) werden ausprobiert. Das sind soziale Experimente von grösster Tragweite, denen sich Tausende von Menschen freiwillig unterziehen.
Zu einem wichtigen Umbruch führt auch die Wandlung des Rollenverhaltens zwischen Mann und Frau. Die entscheidenden Anstösse dazu kamen aus der Frauenbewegung, die sich seit den sechziger Jahren zu einer der wichtigsten Antriebskräfte gesellschaftlicher Veränderung entwickelt hat. Gemeint ist Frauenbewegung im weitesten Sinn: von kleinsten Schritten im Privatleben oder im Beruf einzelner Frauen bis zu programmatischen Vorstössen auf politischer Ebene. Es ist wohl auch kein Zufall, dass sich zu den verschiedensten Aktivitäten der Selbstentfaltung meistens deutlich mehr Frauen einfinden als Männer.
Aufschlussreiche Hinweise über Wertveränderungen und Lebensstil gibt eine amerikanische Untersuchung, wonach 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung in Europa und in den USA zu einer Avantgardegruppe mit folgenden Merkmalen gehören: Leben nach individuellen Wertmassstäben, innere Bedürfnisse sind wichtiger als traditionelle Verpflichtungen und Statussymbole, grosses Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen, Wunsch nach Selbstverwirklichung, hoher Grad an sozialer Verantwortung. Diese Bevölkerungsgruppe soll sich nach der Studie im Lauf der achtziger Jahre verdoppeln und beträchtlichen Einfluss auf wirtschaftliche und politische Institutionen gewinnen.
WERTEVERÄNDERUNGEN ERREICHEN AUCH DIE
INSTITUTIONEN
Weil der Bewusstseinswandel – als Motor der Veränderung – vom Individuum ausgeht, ist es nur folgerichtig, dass sich die ersten Auswirkungen der «neuen Ethik» dort zeigen, wo der einzelne Mensch zu einem grossen Teil allein bestimmend ist: im privaten Alltag, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Einstellung zur Berufsarbeit (Wunsch nach Teilzeitarbeit, Jobsharing: Zwei Personen teilen einen Arbeitsplatz). Viel schwieriger ist es, Veränderungen dort herbeizuführen, wo starre, hierarchische Strukturen den Alltag bestimmen: in wirtschaftlichen Organisationen, staatlichen Verwaltungen, in der Bürokratie des Bildungssystems oder im Apparat einer Gewerkschaft.
Nur: Auch Institutionen sind von Menschen gemacht und werden von Menschen geführt. Wenn sich in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung eine Wertveränderung vollzieht, wird diese auf die Dauer nicht vor den Toren der Institutionen stehen bleiben. Wenn beispielsweise Eltern lernen, mit ihren Kindern offener und menschlicher umzugehen, als dies ihre eigenen Eltern konnten, wird sich mit dem Nachrücken neuer Generationen auch in den Strukturen der Institutionen einiges ändern – auch wenn in Jahrhunderten gewachsene Traditionen sich nicht von einem Tag zum anderen abstreifen lassen.
Heute schon wirken starke, neue Impulse von der Basis ins gesellschaftliche Leben hinein und ragen teilweise bereits weit ins politische Feld hinaus. Für die verschiedensten Minderheiten und Bevölkerungsgruppen, für unzählige soziale Probleme und politische Anliegen sind in den letzten zehn Jahren Tausende von Selbsthilfegruppen entstanden. Sie bilden vor allem in den Vereinigten Staaten, wo ihre Zahl auf eine halbe Million geschätzt wird, zusehends aber auch in europäischen Ländern ein Netz neuartiger sozialer Versorgung und politischer Aktivität.
Eine der bekanntesten und ältesten Selbsthilfegruppen sind die Anonymen Alkoholiker. Heute gibt es – nach ähnlichem Muster – Selbsthilfegruppen für Drogenabhängige, für Strafentlassene, für Kranke, für geschlagene Frauen, für Homosexuelle, für alte Menschen, für Paare und für alleinerziehende Eltern – um nur einige Stichworte zu geben.
«Sie handeln in eigener Sache» – dies hält Michael Lukas Moeller, ein Kenner der Szene in der Bundesrepublik, für das entscheidende Merkmal von Selbsthilfegruppen. Das unterscheidet sie von herkömmlichen sozialen Institutionen (Jugendämtern, Beratungsstellen), die Hilfe für andere anbieten. In ähnlicher Weise heben sich Bürgerinitiativen von der gängigen Parteiendemokratie ab: Auch sie handeln aus Betroffenheit und in eigener Sache – ob zur Realisierung einer Wohnstrasse oder zur Verhinderung eines Kernkraftwerks.
ANTIKÖRPER IM GESELLSCHAFTLICHEN ORGANISMUS
«Die Existenz so vieler spontaner Gruppen und Grüppchen zeugt von der Vitalität, die unseren Gesellschaften, trotz der Krise, die sie durchlaufen, eigen ist.» Dies sagt nicht ein Apostel der Alternativszene, sondern der Präsident des «Club of Rome», Aurelio Peccei. In seinem neuen Buch «Die Zukunft in unserer Hand» setzt er grosse Hoffnungen auf die vielfältigen Bewegungen, die sich «aus einem Gefühl für die Verantwortung des Menschen» von der Basis her entwickeln. Er vergleicht sie mit «Anti-Körpern, die sich bilden, um in einem kranken Organismus wieder normale Bedingungen herzustellen».
Aus einer anderen Perspektive kommt Erhard Eppler zu ähnlichem Schluss: «Ist nicht alles, was sich heute an der Basis regt, Teil eines und desselben Wert- und Bewusstseinswandels? Wie es unterirdische Wasseradern gibt, die Studentenbewegung und Ökologiebewegung verbinden, so gehören vielleicht auch Frauenbewegung, Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Bürgerrechtsbewegung enger zusammen, als viele sich bisher klargemacht haben.»
Auf eine kurze Formel gebracht: All die Gruppen und Grüppchen, diese «Bewegung, die keinen Namen hat», sind nicht blosse Reparaturwerkstätten einer kranken Gesellschaft, sondern Laboratorien für die Zukunft. Ob allerdings die Verwandlungsprozesse, die sie auf sanfter Flamme vorbereiten, noch rechtzeitig zu wirken vermögen – diese Frage bleibt vorläufig offen.
Der amerikanische Psychologe Carl R. Rogers, der Anfang dieses Jahres (1982) 80 Jahre alt wurde, ist ein entschiedener Verfechter einer vom einzelnen Menschen ausgehenden «stillen Revolution». Weltweit gilt Rogers als der grosse alte Mann der Gruppentherapie und als einer der wichtigsten Begründer der Humanistischen Psychologie. Weniger bekannt ist die gesellschaftlich-politische Dimension seiner «personenbezogenen Psychologie», die sich nicht um allgemeine Strukturen, sondern um den konkreten Menschen kümmert.
Vor Jahrzehnten machte Rogers eine Entdeckung, deren politische Tragweite ihm erst viel später bewusst wurde. Er bemerkte, dass er als Therapeut wesentlich erfolgreicher war, wenn er einem Patienten gegenüber nicht als Experte auftrat, sondern ihm als Mensch begegnete und ihn – ohne zu werten oder zu analysieren – auf seinem inneren Weg begleitete. Damit erschütterte er das etablierte Rollenverhältnis zwischen Therapeutin und Patient: Stattdessen entstand eine hilfreiche menschliche Beziehung zwischen gleichwertigen Partnern.
Was Rogers aus der therapeutischen Situation gelernt hatte, wandte er später auf anderen Gebieten an. Als Lehrer und Administrator an der Universität verzichtete er auf die ihm durch seine Stellung verliehene Macht und entfachte dadurch aufregende, kreative Lernprozesse. Jede Teilnehmerin konnte sich als vollwertige Person mit allen Schwächen und Stärken einbringen, sich selbst mit der ganzen Vielfalt von Ideen, Gefühlen und Fähigkeiten entdecken.
Offenheit, Echtheit, Einfühlungsvermögen und bedingungslose Zuwendung: Diese Qualitäten sind für Rogers die notwendigen Bedingungen für ein therapeutisches Klima, das Selbstheilungskräfte weckt und fördert. Darüber hinaus bilden diese Eigenschaften die optimalen Voraussetzungen für menschliches «Wachstum» schlechthin, das heisst für die Entfaltung der Person in verschiedensten Beziehungsformen: Lehrer/Schülerin, Partnerschaft, Eltern/Kinder, Arbeitsgruppen, Ärztin/Patient. In dieser Ausweitung erforscht und erprobt die «personenbezogene Psychologie» nichts anderes als die menschliche Grundlage der Demokratie: die ganzheitliche, aus Intellekt und Gefühl entwickelte Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung.
Rogers ist kein Theoretiker. Seine Einsichten sind aus Erfahrung gewachsen, und nur behutsam und oft Jahre später hat er sie theoretisch ausformuliert. Sein Misstrauen gegen blosse Theorien und seine tiefe Abneigung gegen alles institutionell Erstarrte dürften Gründe dafür sein, dass er – in unserer kopflastigen Kultur – als Ethiker und Humanist (noch) nicht die Beachtung gefunden hat, die er verdient.
Einen Bärendienst erwiesen ihm ausserdem seine deutschsprachigen Verleger, indem sie seine beiden jüngsten Bücher, die seine gesellschaftspolitischen Ideen enthalten, mit irreführenden Modetiteln versahen: «On Personal Power» (sinngemäss: Die Kraft oder Macht des Einzelnen) heisst bei uns «Die Kraft des Guten», und aus dem bescheidenen Titel «A Way of Being» (wörtlich: Ein Weg zu sein) wurde grossspurig «Der neue Mensch».
Nachtrag 2020: Rogers starb im Jahre 1987 mit 85 Jahren.
Benutzte LiteraturErhard Eppler, «Wege aus der Gefahr», Reinbek bei Hamburg, 1981. Erich Fromm, «Haben oder Sein», Stuttgart, 1976. Marilyn Ferguson, «Die sanfte Verschwörung. Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermanns», Basel, 1982. Michael Lukas Moeller, «Selbsthilfegruppen», Reinbek, 1978. Michael Lukas Moeller, «Anders helfen», Stuttgart, 1981. Aurelio Peccei, «Die Zukunft in unserer Hand», Wien, 1981. Carl Rogers, «Die Kraft des Guten», München, 1977. Carl Rogers, «Der neue Mensch», Stuttgart, 1981.
CAM_402, Brückenbauer (heute: Migros Magazin), Gegenwart (Anthroposophische Vierteljahres-Zeitschrift), 19.3.1982 © Christoph A. Müller, Basel
Wer heutzutage ein Buch schreibt, das Mut macht und Optimismus verbreitet, läuft Gefahr, als ahnungslos oder verrückt zu gelten. Beides trifft auf die amerikanische Journalistin Marilyn Ferguson nicht zu, deren Buch «The Aquarian Conspiracy» (wörtlich: Die Wassermann-Verschwörung) nun unter dem Titel «Die sanfte Verschwörung» in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Autorin ist keine Phantastin, weiss aber, Phantasie schöpferisch zu nutzen. Sie verfügt über ein erfinderisches Gespür für soziale Prozesse, die in die Zukunft weisen.
Ihr Buch ist so etwas wie ein visionäres Dokument. Auf fünfhundert Seiten hat sie eine Fülle von Beobachtungen, Aussagen und Berichten zusammengetragen, die den Tatbestand der «sanften Verschwörung» aufspüren und erläutern: die stille und von vielen nicht beachtete Ausbreitung eines radikalen Umdenkens, einer grundlegenden Veränderung unserer Lebenswerte. Bei diesem Umschwung, schreibt Marilyn Ferguson, «handelt es sich weder um ein neues politisches noch um ein religiöses oder philosophisches System. Es handelt sich um einen neuen Geist – eine aufsehenerregende, neue Sicht der Welt nimmt ihren Anfang, die bahnbrechende Erkenntnisse der Wissenschaft und Einsichten ältesten menschlichen Gedankengutes umfasst.»
EINE BEWEGUNG OHNE NAMEN
Marilyn Ferguson beschreibt eine «Bewegung, die keinen Namen hat». Sie ist kaum organisiert, von niemandem gesteuert und von keiner einheitlichen Ideologie zusammengeschweisst. Tausende von Menschen verschiedenster Herkunft sind Glieder dieser Bewegung – aber oft ohne es zu wissen und ohne sich untereinander zu kennen. «Es gibt unzählige Verschwörer. Sie befinden sich in Firmen, Universitäten und Krankenhäusern, in Lehrerkollegien, in Fabriken und Arztpraxen, in Bundes- und Staatsämtern, in Stadträten und an Regierungssitzen – im Grunde genommen in allen Bereichen des Landes, wo Politik gemacht wird.»
Was diese Menschen verbindet, sind zunächst Erfahrungen mit sich selber, innere Wandlungen und Entdeckungen, die ihr Selbstgefühl verändert und ihr Leben bereichert haben. Sie haben gelernt, sich selber mehr zuzutrauen und wurden dadurch fähig, auch andern mehr zu vertrauen. Indem sie anerzogene innere Zwänge abbauten, begannen sie, in ihrer Umgebung neue, bisher ungenutzte Freiräume zu ertasten. «Mit neuen Augen gesehen», schreibt Marilyn Ferguson, «kann unser Dasein vom Unglücksfall zum Abenteuer umgeformt werden. Wir können die alten Begrenzungen, die armseligen Erwartungen überschreiten. Es stehen uns neue Wege des Geborenwerdens offen...»
PERSÖNLICHES ERLEBEN IM MITTELPUNKT
Die Auseinandersetzung mit sich selber beginnt oft nicht im stillen Kämmerlein, sondern kann durch verschiedenste Formen psychischer und körperlicher Aktivitäten ausgelöst und gefördert werden. Marilyn Ferguson zählt Dutzende von Methoden auf, die sie insgesamt als «Psychotechnologien» bezeichnet und denen sie eine Schlüsselrolle für persönliche Veränderungen zuschreibt. Es handelt sich um die verschiedensten Formen der Psychotherapie, um Selbsterfahrungsgruppen, Meditationstechniken, Psychodrama, körperliche Ausdrucksformen wie Tanz, Tai-Chi oder Bioenergetik, aber ebenso um künstlerische Aktivitäten wie Malen, Singen usw. Bei all diesen Betätigungen werden neue Wahrnehmungsfähigkeiten erprobt und eingeübt. Nicht die Aneignung theoretischer Kenntnisse, sondern die Selbst-Erfahrung und das persönliche Erleben stehen im Vordergrund.
Marilyn Ferguson hält die Beschäftigung mit sich selber nicht für eine Flucht in die Innerlichkeit und konstruiert deshalb auch keinen Gegensatz zwischen privatem Ego-Trip und politischem Engagement. Selbstbefreiung ist für sie vielmehr der erste Schritt zur gesellschaftlichen Veränderung: «Zu Beginn setzten sich gewiss die wenigsten eine Veränderung der Gesellschaft zum Ziel. In diesem Sinn handelt es sich um eine ungewöhnliche Verschwörung. Sie sahen nun aber, dass ihr eigenes Leben zur Revolution geworden war. Sie erkannten sich selber als diejenigen, die alles neu überdachten, alte Voraussetzungen untersuchten, ihre Arbeit und ihre Beziehungen, die Gesundheit, die politische Macht sowie die sogenannten ‹Experten›, Ziele und Werte neu überprüften.»
Die stille Revolution wirkt von innen nach aussen. Sie setzt nicht an der Spitze der Institutionen an, sondern wächst aus der Betroffenheit einzelner Menschen. Marilyn Ferguson vergleicht diesen Prozess mit einer Kristallisation oder mit der Wirkung eines Ferments, das allmählich alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzt und verändert.
NETZWERK ALS ORGANISATION
Die Stärke des Buches ist der Nachweis einer Vielzahl von Tendenzen, die diese umwälzende Bewegung anzeigen. Denn obwohl ungesteuert und ohne vorgegebene Leitidee, verläuft die stille Revolution durchaus nicht chaotisch. Sie postuliert kaum Ideale – das unterscheidet sie von den meisten humanistischen und sozialen Bewegungen der Vergangenheit –, aber sie entdeckt und verwirklicht durch ihre eigene Umsetzung ein Bündel von Lebenswerten, die man benennen kann. Ganzheitlichkeit zum Beispiel ist ein Schlüsselbegriff – in der Gesundheitspolitik (ganzheitliche Medizin), in der Bildung (Lernen als Erfahrung von Körper, Gefühl und Denken), in der Arbeitswelt (selbstverwaltete Einheiten) sind in den letzten Jahren zahlreiche Experimente entstanden, die die Aufsplitterung des Menschen in Rollen, Funktionen, Denkspeicher und Symptome zu überwinden trachten.
Die aufbrechende neue Ethik ist vielen Wertmassstäben der Industriegesellschaften entgegengesetzt. Das «Haben» im Sinne Erich Fromms verliert an Bedeutung zugunsten des «Seins». Echtheit, Transparenz, Selbstentfaltung und Beziehungsfähigkeit werden wichtiger als Prestige, Karriere, Macht und Geld.
NETZE UND PROZESSE
Starre Hierarchien und bürokratische Strukturen sind Säulen technologischen Denkens. Auch in dieser Hinsicht findet eine bemerkenswerte Umkehr statt. Mit der Ausbreitung der «sanften Verschwörung» ist eine neue, ihr gemässe Organisationsform entstanden: das Netzwerk. Als kleine, überschaubare Einheiten bilden sich auf allen möglichen Betätigungsfeldern locker verbundene Gruppierungen, die sich selbst verwalten und meist ohne Hierarchie auskommen. Die Zahl der Selbsthilfegruppen in den Vereinigten Staaten wird auf eine halbe Million geschätzt, 15 Millionen Amerikaner sollen einer oder mehrerer Gruppen angehören. Es gibt Frauengruppen, Männergruppen, Gruppen für Eltern, die ein Kind verloren haben, Umweltschutzgruppen, Singlesgruppen – um nur einige zu nennen. In Europa ist das Angebot derartiger Netze noch nicht so vielfältig, aber die Zahl der Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen nimmt ebenfalls rasch zu und bildet neuartige und tragfähige Strukturen sozialer Versorgung und politischer Aktivität.
Marilyn Fergusons Buch ist selbst Teil der Bewegung, die es beschreibt. Es ist schwer zusammenzufassen, weil es Tausender von Mosaiksteinchen bedarf, um die Umrisse des Neuen sichtbar zu machen. Die Abkehr von ideologischen Konzepten und kopflastigen Allerweltstheorien ist gerade ein Merkmal der «sanften Verschwörung». Das Buch vermittelt Prozesse, und seine Lektüre wird ihrerseits zum Prozess: Jeder Leser und jede Leserin wird darin Bekanntes finden, eigene Regungen und Erfahrungen wiederentdecken und zu Neuem angeregt werden.
Marilyn Ferguson: «Die sanfte Verschwörung – Persönliche und gesellschaftliche Transformationen im Zeitalter des Wassermanns», Basel, 1982.
CAM_404, Brückenbauer (heute: Migros Magazin), Badener Tagblatt, Basler Zeitung, Luzerner Neuste Nachrichten, St. Galler Tagblatt, Bündner Zeitung, 5.6.1982 © Christoph A. Müller, Basel
Anmerkung 2021
Die Reformbewegung, die in den 1960er-Jahren Teile der tschechoslowakischen Gesellschaft erfasste und unter dem Namen «Prager Frühling» auch im Westen Sehnsüchte und Hoffnungen weckte, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Für mich bleibt es eine der eindrücklichsten politischen Erfahrungen meines Lebens. Meine erste Reise nach Prag, es muss 1964 oder 1965 gewesen sein, war ebenso Schock wie Beglückung. Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, wie einschneidend sich damals der «Eiserne Vorhang» auf unser Bewusstsein auswirkte. Die Länder und Menschen dahinter existierten für uns nicht. Und dann welches Erstaunen nach ein paar Stunden Zugfahrt: Hier leben Menschen wie du und ich, sie lachen und träumen über das Gleiche wie wir, die Gassen und Plätze ihrer Stadt sind mir vertraut, auch wenn ich sie zum ersten Mal sehe. Phantasie, Lebenslust und schwarzer Humor überraschen mich an jeder Strassenecke. Begegnungen, Gespräche, Freundschaften nähren Hoffnungen und setzen sich bei der nächsten Reise fort. Ich war drei- oder viermal in Prag, bevor im August 1968 die russischen Panzer den kaum begonnen Frühling niederwalzten. Seither hat sich vieles verändert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich das Land in zwei Republiken geteilt, die tschechische und die slowakische. Und Prag ist zum Touristenmagnet geworden.
Wer die Stimmung liebt, die vor einigen Jahren die Luft jenes Frühlings durchzog, aus dem kein Sommer werden sollte, wird gut daran tun, sich Jan Prochazkas Artikelsammlung «Solange uns Zeit bleibt» anzusehen. Der tschechische Originaltitel – das Buch erschien noch 1968 in Prag – heisst «Politik für jedermann» und hätte für hiesige Verhältnisse vielleicht zu anspruchslos gewirkt. Dem politischen Realismus Prochazkas wird der lyrische Unterton in der Wendung «Solange uns Zeit bleibt» freilich nicht gerecht. Aber fragen Sie sich selbst: Hätten Sie ein Buch gekauft, das sich als «Politik für jedermann» ausgibt? Was kann das schon sein, nicht wahr? Und wer will sich gern mit jedermann verwechselt wissen?
WER WAR JAN PROCHAZKA?
Doch Prochazka hat sich nicht geirrt: Seine politerarischen Essays sind Politik für jedermann. «Politik» freilich etwa in dem Sinne, in dem man Märchen als Philosophie bezeichnen kann, und «für jedermann» verstanden als Vielgestaltigkeit der Fabel, von der jeder so viel versteht, als er darin zu entdecken vermag.
Jan Prochazka, 1929 in einer südmährischen Kleinbauernfamilie geboren, Mitglied der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei seit seinem zwanzigsten Altersjahr, war einige Jahre lang Beamter in einer Landwirtschaftsbehörde, veröffentlichte 1956 seinen ersten Roman und beschloss daraufhin – trotz geringen Erfolgs seines Erstlingswerks – als freier Schriftsteller zu arbeiten. Er schreibt Drehbücher, wird 1962 Leiter der erfolgreichsten Produktionsgruppe des Tschechoslowakischen Staatsfilms und 1963 ins Zentralkomitee des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands gewählt. Unermüdlicher Einsatz für einen liberaleren Sozialismus kennzeichnet seine literarischen und filmischen Arbeiten wie auch seine politische Tätigkeit. 1968 wird er stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbands (Vorsitzender war Eduard Goldstücker), einer der Keimzellen des Prager Frühlings.
Nach dem Einmarsch der Russen setzt er seine Arbeit fort, so gut es geht, verliert 1969 seinen Posten im Schriftstellerverband und wird schliesslich auch aus der Partei ausgeschlossen. Mitte 1970 wird er von Fieber befallen, muss sich mehreren Operationen unterziehen und stirbt am 20. Februar 1971. Pavel Kohout hielt die Grabrede. Er erwähnte, «dass es in der Geschichte des tschechischen Films keinen anderen dramatischen Dichter gegeben hat, der ihm ein Werk dieses Umfangs (Prochazka hat 30 Drehbücher verfasst) und dieser Qualität gewidmet hätte», sprach von seiner Phantasie, die «ertragreich war wie ein mährischer Acker», und verabschiedete sich von ihm mit den Worten: «Es tröstet mich, dass kein Schmerz auf deinem Gesicht liegt. Der letzte Ausdruck, der sich ihm für immer eingeprägt hat, ist das leise Lächeln eines Menschen, der fortgeht mit dem Bewusstsein, dass er wiederkehren wird.»
ENGAGIERT, ABER NICHT AUFDRINGLICH
«Solange uns Zeit bleibt» ist eine Sammlung von Zeitungsartikeln, Aufsätzen und Ansprachen aus den sechziger Jahren, die Prochazka mit kurzen Bemerkungen ergänzte und 1968 herausgab. Es geht um verschiedenste Gebiete, politische, wirtschaftliche, literarische, aber auch um Alltagsthemen, kleine Begebenheiten, die Anlass zu grundsätzlicher Erwägung geben, Fragen von Lesern, auf die Prochazka Antworten entwirft. Er illustriert seine Gedanken mit vielschichtigen Bildern, ohne jedoch in eine nur Eingeweihten verständliche Allegorie zu flüchten; er hat das Ganze im Auge, verachtet darob aber nicht das Detail; er geizt nicht mit seinem Humor, weiss ihn jedoch fein zu nuancieren, – er kennt weder Witzelei noch Burleske. Man kann hier lernen, was «engagierte Literatur» sein kann. Nicht jenes aufgepfropfte Engagement, das zum Himmel schreit und dessen Marktwert sich nach der Häufigkeit des Wortes «Vietnam» oder «Dritte Welt» bemisst, sondern die Fähigkeit, das Einzelne im menschlich-gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen, und gleichzeitig und ebenso sehr das Allgemeine, Prinzipielle in seiner konkreten Erscheinungsform wiederzuerkennen und – bei aller möglichen Verfälschung und Entfremdung – in seiner relativen Berechtigung anzuerkennen.
Mag sein, dass es in einer Situation permanenter politischer Unterdrückung einfacher ist, relevante Literatur zu produzieren. Die verbotenen Gedanken schaffen sich beinahe von selbst ihren schwarzen Markt in der Doppeldeutigkeit der Formulierungen, Anspielungen drängen sich auf, die banalste Story hat plötzlich politische Brisanz. Und dennoch, wenn man bedenkt, was in solchen Umständen aus Literatur wird und wozu sie befähigt, und man sich vergegenwärtigt, welchen Aufwand Poeten und Literaten im freien Westen erbringen, um vielleicht eines Tages eine Antwort auf die existenzielle Frage zu finden, wozu und für wen sie eigentlich schreiben oder schreiben sollen, drängt sich die folgende Empfehlung Prochazkas geradezu auf: «Wenn der Busfahrer uns auf einer zwanzig Kilometer langen Strecke erst dreimal in den linken Strassengraben wirft und dann Stein und Bein schwört, dass er Sie nächstens nur noch in den rechten Strassengraben umkippt, ist es doch am besten, ihm einen anderen Beruf zu verschaffen, der seiner Intelligenz und seinen Fähigkeiten entspricht.»
WAHRHEIT UND SOZIALISMUS
Es fehlt in Prochazkas Artikeln nicht an bissigen Bemerkungen zum sozialistischen Alltagsrealismus, oft in aphoristischer Prägnanz. Etwa: «Mit einer Arche Noah, an der jeder von uns die Hand auf ein Leck hält und deren Lotse nur mit den Kenntnissen aus dem Turnsaal der Dorfschule ausgestattet ist, können wir es mit dem Weltkapitalismus nicht aufnehmen.» Oder: «Ich dachte darüber nach, in welchem Ausmass wohl die Wahrheit dem Sozialismus nützlich sei und wann sie anfinge, dem Sozialismus gefährlich zu sein, und ob da mit der Wahrheit etwas nicht stimme oder mit dem Sozialismus. Ich denke noch immer darüber nach.» Zur Planwirtschaft: «Verkünden wir also nicht, es werde bis zum Jahr 1990 neue Bänke in den Prager Parks geben! Allzu langfristige Pläne deprimieren den Menschen.» Zur Armee: «Man kann, wie ich meine, seine Heimat lieben, ohne die Armee zu lieben. Ich sage gewiss nichts Neues, wenn ich behaupte, dass die Welt nicht durch das Verdienst der Generäle, sondern eher durch die Bestrebungen und die Ideen jener weitergekommen ist, die allen Grossen und Grössenwahnsinnigen äusserst zuwider waren.» Zum Personenkult: «Wenn es uns auch in unserem Lande gelungen ist, den Persönlichkeitskult ohne das Vorhandensein einer Persönlichkeit zu etablieren, sollten wir doch nicht versuchen, ohne Demokratie zu demokratisieren.» Zur Bürokratie: «Das Wesen jedes bürokratischen Systems besteht darin, im Handeln der Menschen nicht dessen wirklichen und echten Sinn zu suchen, sondern nur die Bestätigung für permanente argwöhnische Unterstellungen.»
Als bei einer harmlosen Studentendemonstration die Polizei brutal eingriff, notierte Prochazka: «Fast täglich lesen wir, wie die Polizei in Tokio, in Berlin und ich weiss nicht wo sonst noch Studenten prügelt und verletzt. Unsere Kommentare darüber zeugen von Sympathie für jene Studenten. Daher sollten wir die gleichen Methoden nicht als auch hierzulande üblich anerkennen. Das wäre kein Fortschritt, sondern eher eine Rückkehr. Ein Abrücken vom sozialistischen Humanismus, von dem wir so viel reden und den wir jetzt nur noch zu verwirklichen brauchen.»
ANSATZPUNKT FÜR VERÄNDERUNGEN
Was mit «sozialistischem Humanismus» gemeint war, erfahren wir bei der Lektüre von Prochazkas Texten. Allerdings nicht in der abstrakten Form eines politischen Systems oder programmatischer Thesen, die sich auswendig lernen liessen. Das Entscheidende, was das Phänomen des Prager Frühlings überhaupt kennzeichnet, lässt sich auch bei Prochazka nur mittelbar nacherleben, es ist selbst nicht ausformuliert, nicht in letzter Gedankentransparenz sichtbar gemacht. Es lebt in vielfältigen Äusserungen und man findet es in unzähligen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und auch emotionalen Regungen der damaligen Konstellation. Es war auch jenes unbenannte, aber in seinen Auswirkungen erfahrbare ideelle Agens, das der damaligen Bewegung die ungeheure Ausstrahlungskraft verlieh, die weit über die Grenzen der Tschechoslowakei hinausreichte. Man mag nach Worten suchen, es zu umschreiben, von einem neuen Humanismus sprechen oder die arg abgenutzte Formel der Menschenwürde bemühen. Doch mit derartigen terminologischen Einkreisungsmanövern ist wenig erreicht. Fruchtbarer wäre es schon, wenn wir, die wir über die notwendigen äusseren Voraussetzungen der persönlichen Freiheiten verfügen, entschlossen damit beginnen würden, was vor vier Jahren bis zum Blütenstadium gedieh, bei uns selbst und in unseren Verhältnissen zur Reife zu führen. So schwierig wäre solches Unterfangen durchaus nicht, nachdem der Anfang gemacht ist.
«Ich fasse den Menschen als einen Wert an sich auf und nicht nur als ein Wesen in seiner Beziehung zu den ihm gestellten Aufgaben... Er ist nicht nur darum durch die schwierigen Zeitläufte bis zur Gegenwart vorgedrungen, um eine kleine Schraube zu sein, die nicht rostet.» Das Menschenbild, das hier anklingt: Der Mensch als ein Wert an sich ist vielleicht das Kernstück, an dem anzusetzen und weiterzuarbeiten wäre. Prochazka kommt an einer anderen Stelle noch präziser darauf zu sprechen und gibt auch andeutungsweise die Methode an, wie vorzugehen wäre. Er spricht über die Gleichgültigkeit und die Resignation, um dann fortzufahren: «Ich würde vorschlagen, den Menschen nicht im Allgemeinen zu betrachten, sondern konkret und im Besonderen. Vielleicht kämen wir dann dahinter, warum er manchmal Interesse hat und warum er es manchmal verliert.» Und, um jedes Missverständnis auszuschliessen, noch ein letzter Hinweis: «Eine wirksame Änderung jedoch kann nur von der ersten Person Einzahl ausgehen.»
Prochazkas letzte literarische Arbeit war das Vorwort zum Buch «Solange uns Zeit bleibt». Es ist Ende 1969 geschrieben. Zu einem alten Thema findet Prochazka Worte von bemerkenswerter Frische und Einfachheit. Hier ein paar Auszüge:
«Ich denke in Stunden der Nostalgie und allgemeinen Ermüdung über die Freundschaft nach. Ein ungewöhnlich aktuelles Thema. Es bietet sich geradezu als Gegenstand der Meditation an. Mir ist aufgefallen, dass es eher Freundschaft zwischen Männern als zwischen Frauen gibt. Ich weiss nicht warum, aber es scheint wirklich so zu sein. Uneigennützige reine Freundschaft zwischen Mann und Frau findet sich auch selten. Dabei denke ich natürlich nicht an Eheleute, bei denen man das Fehlen solcher Gefühle möglicherweise entschuldigen könnte. Doch am allerschlimmsten ist es mit der Freundschaft zwischen Völkern und Staaten bestellt. Es hat sich schon im Privatleben erwiesen, dass die am wenigsten geeignete Methode, bei jemand Zuneigung zu erwecken, wohl die ist, ihm unvermutet mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.»
«Es ist kaum etwas fragwürdiger und lächerlicher als eine ausposaunte Freundschaft, die dauernd reklamiert und zur Schau gestellt wird. Jemand, der unaufhörlich versichert, er sei unser bester Freund, macht sich verdächtig. Der beste Freund würde etwas so Ungeheuerliches nie sagen. Und wenn man seinen Freund nicht verlieren will, soll man ihn auch nie daran erinnern, dass man ihn speiste, wenn er Hunger hatte, ihm half, Einbrecher aus seinem Haus zu jagen, ja, ihm Blut spendete, als eine Transfusion dringend vonnöten war. Wohltaten unter wirklichen Freunden verpflichten nicht, setzen keine Gegenleistungen und wiederholte Dankesbezeugungen voraus. Wer anders als ein Freund ist berechtigt, uns unangenehme Dinge zu sagen? Und wessen Worte sollten wir uns zu Herzen nehmen, wenn nicht die eines guten Freundes? Ich sollte mich freuen, dass es meinem Freund besser geht als mir selbst. Sollte stolz darauf sein, dass ein so kluger Mensch mein Freund ist.»
«Die Freundschaft zwischen zwei oder mehreren Partnern darf nicht darauf begründet sein, dass man einen anderen hasst, der ausserhalb dieses Bereichs oder dieser Gemeinschaft steht. Ich glaube, dass alles, was auf Hass aufgebaut ist, sei es auch aus einer Ideologie hergeleitet, nicht überdauert, sondern zur Verwesung, zum Scheitern verurteilt ist […]. Ich bin daher aus vielen Gründen eher für die Freundschaft als für die Feindschaft. Zwischen Einzelmenschen und zwischen Völkern. Für eine Freundschaft, in der jeder frei ist, seine Freunde zu wählen und auch mit ihnen zu brechen, wenn er es für richtig hält. Für Bindungen jedoch, denen diese wichtige Voraussetzung aus welchen Ursachen immer versagt ist, würde ich mich nach einer anderen Bezeichnung umsehen!»
Jan Prochazka: «Solange uns Zeit bleibt». Mit einem Nachwort von Pavel Kohout. Recklinghausen, 1971.
CAM_119, Badener Tagblatt, 31.12.1971
© Christoph A. Müller, Basel
Anmerkung 2021
In den 1970er-Jahren war die Forderung nach Mitbestimmung am Arbeitsplatz ein viel diskutiertes gesellschaftspolitisches Thema, zunächst in Deutschland, dann aber auch in der Schweiz. Die Demokratie dürfe nicht vom wirtschaftlichen Geschehen ausgesperrt bleiben, war die zugrunde liegende Überzeugung. Am 21.3.1976 fand darüber eine schweizerische Volksabstimmung statt. Die von den Gewerkschaften eingereichte Initiative sowie der Gegenentwurf des Bundesrates wurden mit 76 Prozent der Stimmenden und einer Stimmbeteiligung von knapp 40 Prozent abgelehnt. Mit einer Dreiviertelmehrheit entschieden damals die Stimmenden in der «ältesten Demokratie der Welt», dass sie am Arbeitsplatz keine Mitbestimmung wünschten. Der nachfolgende Artikel beleuchtet die vorgängige Debatte im Nationalrat. Was man dazu noch wissen muss: Das Wort «Systemveränderung» war damals – im Nachklang der 60er-Jahre – für viele gleichbedeutend mit «Revolution».
Systemveränderung ist ein Modewort, und sein begrifflicher Aussagewert ist um einiges geringer als die emotionale Ladung, die es transportiert: hier kultisches Symbol der Fortschrittlichkeit schlechthin, dort Tabusignal vor einem gespenstischen Weg, der in den sicheren Abgrund führt. So viel Aufhebens ist das wenig originelle Schlagwort indessen nicht wert. Es bezeichnet nämlich in etwas allgemeinerer und aufgeblasener Form nur einen vertrauten Vorgang, dem wir einen ebenso vertrauten Namen zu geben gewohnt sind, nämlich ganz einfach den der Politik. Ja, Politik ist Systemveränderung – was sollte sie sonst sein? Würde Politik darin bestehen, alle unsere Einrichtungen so und genauso zu belassen, wie sie sind, könnten wir auf sie verzichten.
Die Einführung des Frauenstimmrechts, Schaffung und Ausbau eines tragfähigen und kostspieligen Netzes sozialer Sicherheiten (AHV, IV, KUVG) oder die Forderung, Schule und Ausbildung auf neue Grundlagen zu stellen: Sie alle, um nicht mehr zu nennen, sind Beispiele tiefgreifender Systemveränderungen.
«THEORETIKER» UND «PRAKTIKER»
Die Mitbestimmungsredeschlacht, die der Nationalrat in dieser Woche ausgefochten hat, gibt Anlass, sich solches in Erinnerung zu rufen. Die Einführung der Mitbestimmung bringt zweifellos eine Systemveränderung mit sich, und da Mitbestimmung nur als langfristiger gesellschaftspolitischer Prozess denkbar ist, kann man ruhig sagen, die Mitbestimmungsinitiative bilde den Anfang einer noch nicht absehbaren Systemveränderung. Auch wenn damit noch so gut wie nichts gesagt ist, sollte dies kein Grund sein, darauf Beschimpfungen statt Antworten zu erteilen, Umsturz zu wittern, statt Präzisierungen zu fordern.
Mehr als einmal tauchte übrigens im Lauf der Debatte der Vorwurf auf, die Begründungen, die für die Mitbestimmungsidee vorgebracht wurden, seien blosse Ansammlungen von Schlagwörtern, leere Theorien ohne Bezug zur Wirklichkeit. Solche Vorwürfe waren gewiss nicht immer grundlos. Auffällig aber war, dass manche Redner, die sich derart als Praktiker auszugeben trachteten, selbst wenig bemüht waren, Schlagwörter zu meiden. Da wurde etwa unsere freie Marktwirtschaft in ebenso hehren wie unkritischen Bekenntnissen beschworen und die Mitbestimmung als deren planmässiger Untergang hingestellt. Solcher Schwarzmalerei gegenüber gab ein Votant zu bedenken, wie viele Male die Eidgenossenschaft schon untergegangen wäre, wenn die Prognosen derer eingetroffen wären, die sich beharrlich jeglicher Reform und jedem Versuch, neue Wege zu beschreiten, entgegenzusetzen pflegen.
DER WAHRE FEIND DER «FREIEN MARKTWIRTSCHAFT»
Noch nützlicher wäre allerdings in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf die heutige Beschaffenheit des «freien Marktes» gewesen. Beim gewiss nicht umsturzverdächtigen amerikanischen Ökonomen John Kenneth Galbraith etwa hätte sich die interessante Schlussfolgerung angeboten, «dass nämlich nicht eine Ideologie, sondern der Ingenieur der wahre Feind des freien Marktes ist.» Denn: «Im westlichen Wirtschaftssystem wird der Markt von den Grossbetrieben beherrscht. Sie legen die Preise fest und suchen die Nachfrage für ihre Produkte sicherzustellen.» Und: «Ein guter Teil dessen, was die Firmen als Planung betrachten, besteht einfach darin, den Einfluss des Marktes zu verringern oder ganz auszuschalten.»
In unserem Wirtschaftssystem haben längst grundlegende Veränderungen stattgefunden – sie haben nicht auf eine Mitbestimmungsinitiative warten müssen. Denken wir an die faktische Entmachtung der Aktionäre, also der rechtmässigen Eigentümer von Publikums-Aktiengesellschaften. Ist dies etwa keine grundlegende, an die Eigentumsrechte rührende Systemveränderung? Ein moderner Grossbetrieb wird nicht mehr von den Kapitalgebern regiert, sondern von der betriebseigenen, sogenannten Technostruktur, also einer komplex verflochtenen Schicht von Angestellten. Die Organisation eines Grossbetriebs ist demnach nichts anderes als eine hierarchisch aufgebaute Arbeitnehmer-Selbstverwaltung.
BEGRIFFSKLITTERUNGEN
Kann man angesichts dieses Sachverhalts im Ernst behaupten, Arbeitnehmer würden durch die Verantwortung, die Mitbestimmung ihnen auferlegen würde, einfach überfordert? Man kann durchaus der Meinung sein, nur die bestehende hierarchische Struktur und Aufstiegsselektion sei in der Lage, die entscheidungsfähigen und führungsbegabten Arbeitnehmerinnen zu ermitteln und sie an die Spitze einer Unternehmung zu befördern. Aber man sollte die Ehrlichkeit aufbringen, die Verhältnisse so zu schildern, wie sie sind, und nicht Begriffsschablonen vorschieben, die aus der Zeit des Frühkapitalismus stammen. Es gibt nicht nur eine Ideologie des Noch-Nicht, es gibt auch eine Ideologie des Nicht-Mehr.
Viele Missverständnisse, die der Diskussion und Konkretisierung der Mitbestimmung im Wege stehen, werden derart durch die antiquierten Vorstellungen verursacht, mit denen links wie rechts an unserer Wirtschaftswirklichkeit vorbeigeschaut wird. Und so kann es kommen, dass die einen sich anschicken, Untergänge abzuwenden, die sie bereits überlebt haben, während sich die anderen von der Einsitznahme in Verwaltungsräten eine Einflussnahme versprechen, die einem abstrakten Wunschtraum entspringt. Die Throne der Verwaltungsräte sind zwar noch immer reichlich dekoriert und honoriert, doch längst nicht mehr mit jenem Pleinpouvoir ausgerüstet, das ihnen im Volksempfinden und im geltenden Gesellschaftsrecht formal zugebilligt wird. Systemveränderungen haben auch dann stattgefunden, wenn sie von unserem Bewusstsein noch nicht hinreichend registriert worden sind.
WARUM DER UMWEG ÜBER DIE VERFASSUNG?
Mit der Mitbestimmungsidee ist freilich eine weitere Schwierigkeit verbunden. Die Initiative der Gewerkschaften, aber auch der Gegenvorschlag des Bundesrates, der Mitbestimmung ja auch ausdrücklich postuliert und für den sich der Nationalrat nun entschieden hat, bleiben die Antwort schuldig, wie Mitbestimmung in der Praxis genau auszusehen habe. Bundesrat Brugger gar bekannte freimütig: «Wenn Sie mich nach dem konkreten Modell fragen – ich habe es nicht.» Doch dieser Mangel an Konkretheit liegt in der Sache selbst begründet. Ein Gegner der Mitbestimmung deutete es an, als er meinte, ein einheitliches Mitbestimmungsmodell sei in der Vielfalt unserer Wirtschaft undenkbar. Tatsächlich: Wenn Mitbestimmung mehr sein soll als ein staatlich reglementiertes Vertretungsrecht auf dieser oder jener Ebene, muss sie sich aus den besonderen Verhältnissen eines Betriebs heraus entwickeln können und sich in der jeweiligen Betriebspraxis auch bewähren. Man kann deshalb nicht schon im Voraus festlegen, wie sie genau auszusehen hat.
Was soll aber in diesem Fall der Umweg über einen Verfassungsartikel? Diese Frage stellte der Zuger Industrielle A. C. Brunner, als er bemerkte, die Mitbestimmungsidee sei ihm im Grunde sympathisch, aber man könne sie nicht auf dem Wege der Gesetzgebung verwirklichen. Und die Gewerkschaften hätten gar ihrem Anliegen einen Bärendienst erwiesen, indem sie sich mit einer Initiative aufs politische Kampfparkett begeben hätten. Denn nun seien freiwillige, pragmatisch angesetzte Mitbestimmungsexperimente in den Betrieben vorerst blockiert: Kein Unternehmer werde sich dem Ruf aussetzen wollen, sich aus Opportunitätsgründen anzubiedern. Brunners Einwände wären gewiss berechtigt gewesen, wenn Firmenleitungen und Unternehmer bisher solch experimentierfreudige Bereitschaft bekundet und bewiesen hätten. Leider kann aber davon keine Rede sein: Von grossem Einfallsreichtum, menschlich engagierten Experimenten und einem pionierhaften Mut, auf dem Gebiet der Arbeits- und Betriebsorganisation nach neuen Wegen zu suchen, war – gerade in unserem Land – bislang doch kaum etwas zu spüren.
AUF DIE INITIATIVE KÖNNTE VERZICHTET WERDEN
Auf diesem Hintergrund kann man es berechtigt finden, Mitbestimmung zunächst auf der politischen und Verfassungsebene zu postulieren. Sie ist dort nicht zu verwirklichen, ihre Rechtsverankerung kann aber als Antrieb wirken, um allzu Festgefahrenes in unserem Wirtschafts- und Industriegefüge in Bewegung zu setzen. Der sprachlichen Umschreibung des Mitbestimmungspostulats in der Verfassung kommt aus diesem Grunde nicht vorrangige Bedeutung zu. Wäre das Parlament nicht ein so seltsamer Verein, der sich selbst (nämlich im Hinblick auf die Gesetzgebung) «ständig misstraut» – so drückte sich der Kommissionspräsident Julius Binder aus – würde als Verfassungsbestimmung durchaus genügen: «Der Bund ist befugt, über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer Vorschriften zu erlassen». Für weitere Präzisierungen käme die Gesetzgebung noch früh genug.
In diesem Sinne sollten sich nun aber auch die Gewerkschaften nochmals überlegen, ob sie nicht von der Rückzugsklausel ihrer Initiative Gebrauch machen wollen, sofern auch der Ständerat sich für eine akzeptable Fassung entschliesst. Der Verzicht, die Vertretung von betriebsfremden Gewerkschaftsdelegierten in der Verfassung vorzusehen, würde der Sache dienen und die Glaubwürdigkeit des Anliegens kräftigen. Über Nacht ist Mitbestimmung ohnehin nicht einzuführen, geschweige denn zu verwirklichen. Sie setzt, damit sie sich in der Praxis entwickeln kann, ein Klima des Vertrauens voraus. Und dazu müssen von allen Seiten Leistungen erbracht werden.
Als aufmerksamer Zuhörer verfolgte Bundesrat Brugger die Mitbestimmungsdebatte im Nationalrat. Der Gesamtbundesrat hat es sich mit der Mitbestimmungsdiskussion nicht leicht gemacht. Während seiner Amtszeit, erklärte Brugger, habe der Bundesrat mit keinem Problem so intensiv und ausgiebig gerungen wie mit der Verfassungsformel der Mitbestimmung. Aber auch persönlich, nicht nur als Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements und Sprecher des Gesamtbundesrats scheint sich der freisinnige Brugger mit der Mitbestimmungsidee angefreundet zu haben. Seine Einsicht in die Tragweite des Problems bezeugt etwa der folgende Satz aus seiner Rede: «Wenn Menschen in grosser Zahl den Sinn ihrer Arbeit nicht mehr zu erkennen vermögen, ist das eine schlimme Entwicklung.»
CAM_179, Badener Tagblatt, 23.3.1974
© Christoph A. Müller, Basel
Anmerkung 2021
Wie der vorherige Text bewegt sich auch dieser Artikel im Umfeld der Mitbestimmungsdiskussion, die in den frühen 1970er Jahren in unserem Land geführt wurde. Mit der Ablehnung der Mitbestimmungs-Initiative und des Gegenvorschlags in der Volksabstimmung vom 21. März 1976 verschwand die Forderung nach Mitbestimmung im Betrieb dann aber vollständig von der politischen Bühne.
«In allen Berufen gibt es Menschen, deren Leistungen unvergleichlich höher wären, wenn man ihnen mehr Initiative liesse, wenn man ihnen zusammen mit grösseren Verantwortungen die Lust und die Gelegenheit gäbe, zu lernen, zu erfinden, zu handeln.»
– Jean-Jacques Servan-Schreiber
Wer von Inflation spricht, meint in der Regel die Teuerung, und weil diese nirgends so spürbar ist wie im Geldbeutel jeder Konsumentin und Geld schliesslich eine wirtschaftliche Grösse ist, deuten wir die Inflation gemeinhin als ein wirtschaftliches Problem. So wird denn auch – mit wenig Erfolg – versucht, mit wirtschaftspolitischen Massnahmen dagegen anzukämpfen.
Ich würde mir – von wirtschaftlichen Fachkenntnissen einigermassen unbelastet, wie ich es bin – nicht anmassen, mich zu einem so heiklen Problem zu äussern, wenn ich nicht der laienhaften Überzeugung wäre, dass die Ursachen der zur Land- und Weltplage ausgeweiteten Inflation zu einem guten Teil nicht eigentlich wirtschaftlicher Natur sind, sondern mit Umständen zusammenhängen, die viel eher den Psychologen und die Anthropologin beschäftigen müssten.
Aufblähung ist mit einem Substanzverlust verbunden. Dass sich die Preise aufblähen, ist eine Tatsache, aber noch keine Erklärung. Denn die Preise sind nicht mehr als die Endwertindikatoren von Wirtschaftsvorgängen. Ihre Aufblähung ist deshalb nicht mehr als ein Hinweis auf andere Aufblähungen und Substanzverluste, die vorausgegangen sind. Schauen wir uns einmal nach anderen Formen solcher «Inflationen» um!