8,99 €
In der Kathedrale von Exeter bricht eine Stickerin zusammen. In der Tate Gallery stirbt eine ältere Dame. Und in den Ruinen der keltischen Wallanlage Old Sarum stürzt eine Amerikanerin in einen tiefen Schacht. Jedes Mal lautet die Diagnose Herzversagen. Doch Inspektor Jury will nicht an einen Zufall glauben. Denn die drei Frauen verbindet ein Detail: Sie waren alle kurz vor ihrem Tod in Santa Fe ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 713
Martha Grimes
Blinder Eifer
Roman
Aus dem Englischen
Buch
Es sieht aus wie ein Zufall: In der Kathedrale von Exeter bricht eine Stickerin zusammen; in der Tate Gallery stirbt eine ältere Dame; und in den Ruinen der keltischen Wallanlage Old Sarum stürzt eine Amerikanerin in einen tiefen Schacht. In allen drei Fällen lautet die Diagnose Herzversagen. Doch Inspektor Jury glaubt, dass etwas anderes hinter den Todesfällen steckt. Denn die drei Frauen verbindet ein ganz bestimmtes Detail: Sie waren alle kurz vor ihrem Tod in Santa Fe …
Autorin
Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Rainbow’s End« bei Alfred A. Knopf, New York
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.
2. Auflage Neuveröffentlichung September 2004 Copyright © der Originalausgabe 1995 by Martha Grimes All rights reserved Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Für Diana
Wie die Männer zu Werke gingen, konnte er sich ja vorstellen, aber die Frauen? Da mußte Trevor lächeln, wahrhaftig. Die Latrinen waren große rechteckige Schächte, und kein dezentes Schild führte einen zu DAMEN/HERREN. Lachend lief er den Festungswall entlang und rauchte die erste Zigarette für heute. Er versuchte, sie sich einzuteilen, nicht mehr als zehn pro Tag. Ganz schön hart. Da half einem schon, wenn man Sinn für Humor hatte. Er begann wieder über die Latrinen nachzudenken. Nein, hier galt die Parole »Eine für alle, alle für eine«, egal, ob man die Hosen herunterlassen oder die Röcke hochheben mußte. Trevor machte sich einen Spaß daraus. Immer wenn er am Ausfalltor oder am Palast des Bischofs anhielt, versuchte er, sich in die Zeit der Römer zurückzuversetzen, so zu tun, als sei er einer von ihnen. Manchmal ein Palastwächter, manchmal ein Bäcker im Backhaus – er konnte sich gut in die Rollen hineindenken. Denn er betrachtete sich als Studiosus der Geschichte. Wenn die Dinge in seiner Jugend auch nur ein wenig anders verlaufen wären, wäre er zur Universität gegangen und hätte Geschichte studiert. Da wäre er vielleicht sogar berühmt geworden. Aber Schwamm drüber. Hat nicht sollen sein. Da mußte er eben für sich studieren. Hatte ja jede Menge Zeit, jetzt, wo er in Rente war und zwei Tage die Woche hier Eintrittskarten verkaufte. Darüber hinaus hatte er mehrmals pro Woche seine kleine Gruppe zur Führung. Aber nur im Sommer, wenn die vielen Touristen nach Salisbury kamen. All das konnte einen Mann schon gut auf Trab halten. Und zudem kam man aus dem Haus und der Frau nicht in die Quere. Aus dem Haus zu kommen, das war ein Segen.
Nun befand er sich über dem Palast des Bischofs Roger, so hoch, daß er den Nordwind voll abkriegte. Er zog sich den Kragen enger um den Hals und vergrub die Hände, ohnehin in Wollhandschuhen, tief in den Taschen. Es war Februar und zu dieser Stunde natürlich lausekalt. Nicht, daß er jetzt hier sein mußte, natürlich nicht. Und es stimmte, der Februar war ein grimmiger, rauher Monat. Konnte ganz schön deprimierend sein, wenn man sich zu sehr davon beeindrucken ließ.
Ein Sturm zog auf. Trevor roch den Regen, lange bevor er das Grollen hörte. Es war diese eigenartige Stunde kurz vor der Morgendämmerung. Er liebte den Anblick des ersten schmalen goldenen Saums am Horizont, der die fernen Hügel hinter Salisbury leuchten ließ wie Eishügel. Trev dachte an die Eiszeit. Vor hunderttausend Jahren bestand die Oberfläche der Erde größtenteils aus Eis. Er versuchte sich eine in Eis eingeschlossene Welt auszumalen. Er versuchte sich ein Bild von »vor einhunderttausend Jahren« zu machen. Aber sosehr er seinen alten Kopf anstrengte, er vermochte sich keine solchen Entfernungen in Raum und Zeit vorzustellen. Meine Güte, das gelang ihm ja nicht mal für die Entfernung von hier nach Salisbury.
Freddie Lake, mit dem er im Kartenkiosk arbeitete, mochte den Job nicht, er fand ihn langweilig, tagein, tagaus immer das gleiche. Nichts zu sehen als dämliche kaputte Mauern und Touristen. Aber schlußendlich brauchte man in jedem Job eine gehörige Portion Humor und Phantasie, in dem hier allemal. Das sagte er ja immer zu Freddie: Was dir fehlt, alter Junge, ist Phantasie.
Weit in der Ferne blitzte es, ein eindrucksvoller Anblick. Der Regen war immer noch ziemlich weit weg. Aber er würde kommen. Schwer, hier Entfernungen abzuschätzen. Wieder erhellte ein Lichtstrahl den Turm der Kathedrale von Salisbury. Bildschön, wenn man – wie er – einen Blick für das Kunstzeugs hatte. Wenn er sich nicht für Geschichte begeistert hätte, hätten es die schönen Künste sein müssen, dann hätte er eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen. Ja, er wußte diese Sonnenaufgänge zu genießen, auch die Sonnenuntergänge. Nun beobachtete er, wie der goldene Streifen trügerischen Lichts milchig wurde, sich auflöste und beinahe verschwand. O doch, er wußte auch die Natur zu schätzen, schon immer.
Er drückte die Zigarette aus – hätte er doch bloß mit dem Anzünden noch ein wenig gewartet –, blies sich auf die Hände und bewegte sie wie einen Blasebalg. Die Finger würden ihm abfrieren, wenn er die Eintrittskarten ausgab. Aber heute würden eh nicht viele Touristen kommen, nicht im Februar.
Trevor langte bei einer der Latrinen an, über die er sich so amüsiert hatte. Wer weiß, was für Ausdrücke sie im Mittelalter für Aborte gehabt hatten. Es gab mehrere auf der gesamten Anlage, der hier war innerhalb der Mauer und vermutlich für die Wachen bestimmt gewesen. Da mußte er immer lachen. Plumpsklos! Er ging ein paar Meter den Hügel hinunter und kam zu dem Eisengeländer, das man um das große rechteckige Loch errichtet hatte, damit die Leute nicht hineinfielen. Oder hineinpißten. Ha, ha.
Er beugte sich über das Geländer und schaute so weit hinunter, wie er konnte. O Gott, man stelle sich vor, an einem Februarmorgen aus dem Bett zu steigen und mit nackten Füßen über die eiskalten gepflasterten Wege zu tapern, bis man zu diesem Loch kam. Trev überlegte, warum es so lange gedauert hatte, Wasserklosetts zu erfinden. So toll war die Erfindung ja nun auch wieder nicht. Man mußte nur an einer dämlichen Kette ziehen, und in der Toilette in seinem Haus sogar mehr als einmal.
Er kniff die Augen zusammen und beugte sich noch ein wenig weiter vor. Seine Augen waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Er konnte sich also irren.
Er irrte sich nicht: In der tiefen Dunkelheit unten auf dem Grund lag etwas. Er versuchte sich einzureden, daß es keine Leiche sein konnte, dort unten doch nicht, aber er wußte, es war eine.
Trevor fuhr so abrupt auf, daß er beinahe gestolpert wäre, rückwärts allerdings. Er fing an zu schreien und wußte gleichzeitig, es war sinnlos. Innerhalb einer Meile gab es niemanden, der ihn hätte hören können. Er drehte sich um und ging im Kreis, als ob er ein Ritual brauchte, das ihm sagte, was zu tun sei. Na los, alter Junge, sei kein Waschlappen und benutz deinen Grips, darauf kommt’s jetzt an. Klapp nicht zusammen wie ein altes Weib. Natürlich, das Kartenhäuschen. Da war ein Telefon. Von dort konnte er im Krankenhaus anrufen, nein, bei der Polizei. Wer auch immer da unten lag, der brauchte keinen Krankenwagen mehr, dazu war’s zu spät.
Er rannte los und blieb nur einmal kurz stehen, um sich mit zitternden Händen eine Zigarette in den Mund zu stecken. Diese Fluppen, die bringen mich noch mal ins Grab.
Trevor Hastings stand im Rampenlicht, und nach den anfänglichen Schrecksekunden wollte er es jetzt auch auskosten. Erst als Detective Chief Inspector Rush von der Kripo in Wiltshire in schwarzem Auto und schwarzem Regenmantel auftrat, wurde Trevor nervös. Der Mann zog den Regenmantel so eng um sich zusammen, daß er aussah wie ein Exhibitionist. Aber DCI Rush entblößte nichts, weder seinen Körper noch etwas in seinem Gesicht.
Und Trevor begriff erst, nachdem Rush eine Reihe schmallippiger Fragen an ihn gestellt hatte: Er wurde verdächtigt! Daß er die Leiche hier entdeckt hatte, machte ihn verdächtig! Dabei hatte er doch nur seine Bürgerpflicht getan und die Polizei gerufen. Er hätte auch einfach abhauen können. Von wegen telefonieren, er hätte sich in seinen Mini setzen und wegfahren können. Wäre er ja wohl auch, wenn er den da unten runtergeschubst hätte? Keine Frage.
Wie dem auch sei, Trevor wurde gebeten – nein, ihm wurde befohlen –, an Ort und Stelle zu bleiben. Als wäre er ein dämlicher Hund. Platz! Der Pathologe war mit seiner Untersuchung noch nicht fertig, es hatte verdammt lange gedauert, die Leiche aus ihrem Höhlengefängnis hochzuwinden. Eine Latrine, hatte Trevor ihnen gesagt. Das hier war ein römisches Fort, das hier war Old Sarum, waren sie etwa noch nie hier gewesen? Herr im Himmel, die Geschicke des Landes lagen in Händen von Leuten, die keine Ahnung von Geschichte hatten. DCI Rush hieß ihn, »sich zur Verfügung zu halten«, solche Sprüche machten die Bullen doch, kurz bevor sie einen einbuchteten. Verdammter Mist!
Trevor begab sich in den Kartenkiosk, um sich aufzuwärmen. Sollten sie doch draußen auf dem vereisten Gras rumtrampeln und sich Frostbeulen holen. Ehrbare Bürger herumzukommandieren! An dem armseligen Haufen Knochen hätten sie doch gleich erkennen können, daß der Mensch da unten schon eine Zeitlang, möglicherweise seit Tagen, tot und nicht heute morgen über das Geländer gestoßen worden war.
Er stampfte mit den Füßen auf, damit seine Zehen warm wurden. Er war eher wütend als ängstlich. So eine Frechheit! Diese blöden Bullen waren unfähig, über ihren Tellerrand zu sehen. Wahrscheinlich lag die Leiche schon mehrere Tage dort. Ein, zwei Tage mit Leichtigkeit, denn es war ja nur eine Handvoll Besucher dagewesen. Schließlich war Februar, und die paar Touristen, die um diese Zeit überhaupt in diese Gegend kamen, schauten sich lieber Stonehenge an, mit Old Sarum hatten die nichts am Hut. Dabei fand Trevor letzteres viel interessanter. Jetzt wurde er auch noch wütend auf die Touristen. Wenn sie sich in Old Sarum statt in dem dämlichen Stonehenge herumgetrieben hätten, dann wären ihm die dummen Unterstellungen der Herren Polizisten aus Wiltshire erspart geblieben.
Trevor blies sich in die Hände. Aber wenigstens hatte er jetzt wirklich mal was zu erzählen und stand noch dazu im Mittelpunkt. Da würde die Alte aber die Segelohren spitzen, soviel war sicher! »Äh, hab ganz vergessen, dir zu erzählen, daß ich eine Leiche in Old Sarum gefunden habe. Muß in eine Latrine gefallen sein.« Er würde nicht mal von seinem Daily Mirror aufschauen, wenn er ihr das sagte. Locker vom Hocker, als tauchten in Old Sarum jeden Tag Leichen auf. Dann sähe sie sich zur Abwechslung vielleicht endlich mal verpflichtet, ihm zuzuhören.
Detective Chief Inspector Rush fühlte sich Trevor gegenüber zu nichts verpflichtet, am allerwenigsten zu einer Entschuldigung, als der Pathologe festgestellt hatte, daß die Frau seit mindestens zwölf Stunden tot war. Er erzählte es ihm draußen im Stehen vor dem Kiosk, den schwarzen Mantel immer noch eng um sich geschlungen, die Schultern eingezogen, die Augen glanzlos, dunkel. Knallhart, der Typ, dachte Trevor bei der Mitteilung des Chief Inspectors.
»Zwölf bis vierzehn Stunden, da hätte sie gestern am späten Nachmittag hiergewesen sein müssen. Falls sie eine Besucherin war. Erinnern Sie sich an sie?«
»Wie das? Hab sie ja bis jetzt noch nicht gesehen.« Für diese Retourkutsche gratulierte Trevor sich innerlich. Das Spiel konnten auch andere spielen.
Aber Chief Inspector Rush sah nicht so aus, als ob er Spielchen spielte, wie er da im grellen Licht eines Blitzes stand, der gespenstische Schatten über sein Gesicht warf. Er schien abzuwägen, ob man einem Nichtpolizisten den Anblick der Leiche zumuten konnte. »Dann kommen Sie mal mit.«
Trevor tat es leid, daß er den Mund aufgemacht hatte.
Merkwürdig, dachte er, als er mit den anderen in dem fahlen grauen Licht stand und auf den Körper der toten Frau hinunterschaute. Merkwürdig, daß sie nicht, hm, toter aussieht. Nach so einem Sturz! Sie lag mit dem Gesicht nach unten, so daß man nur die eine Seite sehen konnte. Wenn sie nicht die Blutergüsse auf der Wange gehabt und den Unterarm so komisch abgewinkelt hätte, hätte man meinen können, sie … hm, sie schliefe. Trevor haßte es immer, wenn Leute eine Leiche so beschrieben. Wie zum Beispiel Mavis: »Als ob er schlief, so natürlich sah er aus.« Aber bei der toten Frau traf das zu. Dabei wußte er, daß in den Jeans und der Jacke nur kaputte Knochen steckten. Trevor nickte, räusperte sich und versuchte, so ruhig zu reagieren wie der Polizist. Er sagte: »Ja. Sie kam, kurz bevor es dunkel wurde.«
»Und Ihnen ist nicht aufgefallen, daß sie nicht wieder weggegangen ist?« fragte Rush.
»Warum sollte es?« knurrte Trevor. »Wir verkaufen den Leuten Eintrittskarten, wir wischen ihnen nicht den Hintern ab.«
Rushs Augenbrauen schoben sich einen Millimeter in die Höhe, aber er sagte nichts.
Trevor zeigte auf einen kurzen Pfad mit heruntergetretenem Gras, der hügelaufwärts von der Latrine wegführte. »Sehen Sie dort? Die ausgetretenen Stellen? Da kürzen die Leute gern den Weg nach oben ab. Gefährlich, kann ich Ihnen sagen. Mich überrascht immer wieder, daß nicht mehr ausrutschen und das Gleichgewicht verlieren. Ist mir selbst schon ein-, zweimal passiert.«
Rush schaute sich die Fußspuren im Gras genau an. Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube nicht, daß es so war. Sie ist entweder hineingefallen oder -gestoßen worden.« Weiter ließ er sich nicht aus.
Ach, du Klugscheißer, dachte Trev, wie willst du das rauskriegen? Sollte mir den Atem sparen, sonst kann ich hinterher mein Porridge nicht mehr kaltpusten. Sagt Mavis jedenfalls immer. Und Trev mußte ihr ausnahmsweise recht geben. Er verschränkte die Arme fest vor der Brust. Wehe, wenn DCI Rush ihm noch eine Frage stellte!
Tat er prompt. »Können Sie sich daran erinnern, wer sonst noch hier war und zur gleichen Zeit eine Eintrittskarte gekauft hat? Oder so einen National-Trust-Ausweis?«
»Eine Mitgliedskarte des ›Freundeskreises‹, meinen Sie.« Trevor betrachtete die auf dem Bauch liegende Gestalt. »Hm, wahrscheinlich schon ein halbes Dutzend, aber so aus der Lamäng muß ich sagen, erinnere ich mich an niemand Besonderen. Vielleicht erinnert sich Freddie an etwas.« O Gott, diese Bande war ja wild entschlossen, aus der Sache ein, wie sie es nannten, Gewaltverbrechen zu machen.
Das arme Mädchen. Abgenippelt, nur weil sie einen falschen Schritt getan hatte. Das vermutete er zumindest, egal, was dieser jämmerliche Haufen hier glaubte. Man würde ja sehen. Man weiß doch nie, wann man dran ist. Wacht morgens auf, putzmunter, alles paletti, und bei Einbruch der Nacht ist man hinüber.
Nun ging die Sonne richtig auf. Er schaute zur Stadt hinab, die in der Ferne im Morgendunst lag. Von den Giebeldächern und den dicht an dicht stehenden Schornsteinen stieg Nebel auf. Die Sonne wob einen Lichtschleier um den Turm der Kathedrale, der ein paar Augenblicke lang aussah wie in Silber getaucht.
Hübsch, dachte Trev und bekam DCI Rushs Worte nur halb mit. »Entschuldigung. Was?«
»Sie war Amerikanerin.«
Trevor fand, der Bulle sagte das sehr nachdenklich. »Ja, und? Das ist in Old Sarum nichts Besonderes. Jedenfalls nicht so, als ob man einen Brontosaurus träfe. Amerikaner kommen massenhaft hierher.«
Rush überlegte noch ein wenig und sagte schließlich: »Dann wollen wir Sie nicht länger festhalten.«
Bevor Trevor antworten konnte, hatte Rush sich umgedreht und redete mit dem Arzt. Der Ärztin, bemerkte Trev nun. Eine Frau, ach, du lieber Himmel!
Nun schien die Sonne heller, umgab die Silhouette eines am Rand der Latrine stehenden Polizisten mit einem Schimmer. Als ob sie alle abwechselnd pinkeln gingen, dachte Trev. Er zog den Kragen seines Anoraks hoch und ging den Abhang hinunter. Na gut, heute würden sie wohl keine Eintrittskarten mehr verkaufen. Er mußte zugeben, er bedauerte beinahe, daß er gehen mußte, weg von dem Drama, zurück zu seinem uralten Mini, seinem Reihenhäuschen (Wohnzimmer und Küche unten, Schlafzimmer, Gästezimmer oben, die Kinder waren aus dem Haus) unter tausend anderen Reihenhäuschen und zu der schwachen Glühbirne, die Mavis immer in seine Leselampe schraubte, weil sie ja an allen Ecken und Enden sparte.
Er blieb stehen, um sich seine dritte Zigarette anzuzünden. Heute erlaubte er sich mal ein, zwei mehr als sonst, schließlich war es ein verdammt aufregender Morgen gewesen. Als er das Streichholz wegwarf und weiterging, überlegte er sich noch einmal, was er Mavis erzählen wollte. Da würde sie aber aufhorchen, wenn sie hörte, daß eine Polizeiärztin dabeigewesen war. Daß eine Dame in diese Grube stieg und dort an einer Leiche herumfummelte!
Heutzutage mischten die Frauen ja überall mit.
»Janet Leigh hat nie wieder geduscht.«
Diane Demorney, Exklusivlieferantin stets sehr spezieller Informationen, schob die Zigarette im Mund zurecht zum Zeichen, daß ihr jemand Feuer geben solle. Als sie sich vorbeugte, fiel ihr rabenschwarzes, akkurat geschnittenes Haar über ihre Wangen. Auf eine gierige, raubtierhafte Weise sah Diane gut aus. Sie hielt ihren Modelkörper tipptopp in Form; ihr Lippenstift war blutrot, die Fingernägel so scharf wie winzige Sicheln.
Melrose Plant und Marshall Trueblood schauten von den Namenslisten, die sie anlegten, auf, warfen erst einander und dann Diane einen Blick zu.
Melrose Plant hatte sich zwar geschworen, nie mehr auf Dianes Gesprächsthemen einzugehen, aber er wußte, wenn Trueblood nicht nachgefragt hätte, wäre er weich geworden.
»Janet Leigh?« Marshall Trueblood hob eine Augenbraue, wohlgepflegt wie der ganze Rest des Mannes. Sein Armani-Ensemble war mit einem türkisfarbenen Hemd und einer blaßgrüntürkis gestreiften Krawatte aufgepeppt. Bis hin zu der knallrosafarbenen Sobranie-Zigarette erstrahlte er in einer einzigen Farbenpracht.
Sie seufzte. Hatten sie nicht zugehört? »Janet Leigh hat nie wieder geduscht! Nur gebadet. Gibt mir wohl mal jemand Feuer?«
Trueblood gehorchte. »Die Schauspielerin Janet Leigh?«
Diane schaute ihn an, als sei er nicht recht bei Trost. »Mein Gott! Wenn Sie in einer Dusche erstochen worden wären, und sei es nur im Film, würden Sie hinfort nicht auch lieber baden?«
Was Melrose zu der Bemerkung veranlaßte: »Ich bade sowieso immer. Meine Gummiente schwimmt nicht in der Dusche.«
»Meinen Sie Psycho? Den Hitchcock-Film Psycho? Reden Sie darüber?« fragte Trueblood.
»Worüber sonst?« Sie suchte das Jack and Hammer nach Dick Scroggs samt ihrem Wodka mit dem unaussprechlichen Namen ab. Nirgendwo zu sehen. »Schmiert er draußen schon wieder mit Farbe rum?«
Dick Scroggs hatte das Jack and Hammer, ein ursprünglich cremefarben getünchtes Gebäude im Neo-Tudorstil, erst kürzlich verschönert, indem er ultramarinblaue Farbe auf die Fassade geklatscht hatte, damit sie zur Beinkleidung des »Jack« paßte, der Holzfigur, die hoch oben auf einem vorspringenden Balken thronte. Zum Glück erstreckte sich Dicks Ehrgeiz nicht auf das Innere des Pubs (vielleicht hinderte ihn aber auch nur seine Arbeitsscheu). Das Jack and Hammer dümpelte seit Jahren fröhlich vor sich hin, runde Holztische, wackelige Stühle, ein riesiger Kamin in der Saloon Bar, dem besseren Teil der Lokalität, und im Schankraum schmale Bänke an den Wänden und eine Dartscheibe. Touristen würden es lieben. Wenn sie es je zu Gesicht bekämen. Denn zum Glück für einige lag Long Piddleton abseits der ausgetretenen Touristenpfade. Wie Northampton. Ganz Northamptonshire, das ziemlich weit unten in der Hitliste der beliebten Grafschaften rangierte. Der wohlhabenden Einwohnerschaft Long Piddletons beziehungsweise der im Ruhestand Lebenden war es höchst willkommen, daß man sozusagen hinter dem Mond lag, die Geschäftsleute hätten indes nichts gegen die eine oder andere Busladung mit Touristen gehabt. Dick Scroggs hätte den Garten hinter seinem Haus sofort in einen Parkplatz verwandelt, wenn es denn notwendig gewesen wäre.
»Er ist draußen«, sagte Vivian Rivington, die neben Melrose in der runden Nische vor dem Erkerfenster saß und durch die bleiverglasten Fenster starrte, als ob Seufzer und sehnsüchtige Blicke den Frühling herbeizaubern könnten. Melrose kannte den wirklichen Grund für diese Seufzer. Sie war wieder einmal dabei, die Koffer zu packen und nach Venedig zu fahren. Herrgott, wie lange war sie nun schon mit Graf Dracula verlobt? Sechs Jahre? Sieben?
Trueblood setzte »Janet« auf seine Liste und entzündete ein Streichholz, um sich eine neue Zigarette anzustecken, diesmal eine tiefblaue. Diese Sobranie-Zigaretten rauchte er mittlerweile so lange, daß seine Finger eigentlich in allen Regenbogenfarben hätten schillern müssen, dachte Melrose. Er schaute sich Truebloods Notizen an. »Janet?« las er vor. »Soll das ein Witz sein? Nie im Leben würde sie Janet heißen.«
»Kümmern Sie sich, verdammt noch mal, um Ihre eigene Liste.« Trueblood deckte schnell die Seite mit seinen Namen zu.
»Sie würde nicht Janet heißen«, wiederholte Melrose. Er schürzte die Lippen. »Ich frage mich, wie alt diese Leute sind.«
Trueblood kritzelte weiter und sagte: »So alt wie wir.« Er schaute sich in der Runde um. »In den Vierzigern.«
»Wie bitte?« Das verbat sich Diane ja nun vehement. »Sie vielleicht alle«, tat sie ihre hochbetagten Trinkgenossen mit einer kurzen Handbewegung ab. »Ich bin in den Dreißigern, Anfang Dreißig. Melrose ist natürlich alterslos. Er verändert sich nie. Wahrscheinlich ist er mit seinem matten Goldschopf und der Brille schon zur Welt gekommen. So, jetzt wird’s aber Zeit. Huhu, Dick!«
Endlich kam Dick Scroggs, stämmig und seinerseits um die Fünfzig, mit der Farbdose herein. Diane zeichnete ein Martiniglas in die Luft. Dann sagte sie: »Arbeiten Sie immer noch an Ihren Listen? Ich habe meine schon seit Ewigkeiten fertig.« Sie klopfte mit einem rotlackierten Fingernagel auf einen vor ihr auf dem Tisch liegenden Umschlag. »Letzter Abgabetermin ist morgen früh; das haben Sie selbst gesagt.«
»Stimmt. Aber ich kann mich bei dem Namen der Ehefrau nicht entscheiden.« Hingebungsvoll kaute Marshall Trueblood an seinem Bleistift und starrte Löcher in die Luft. Mit den Namen der drei Kinder war er zufrieden, nicht aber mit den Namen, die er für die Mutter dieser Mischpoke aus Chelsea ausgesucht hatte.
Diane redete weiter. »Wenn diese Familie hierherzieht, bedeutet das hoffentlich nicht, daß London Long Piddleton entdeckt hat, um Gottes willen. Bisher sind wir von solcherart Menschen verschont geblieben.«
In Anbetracht dessen, daß Diane Demorney direkt aus London nach Long Piddleton gezogen war, und zwar ohne Zwischenstopp in einer Dekompressionskammer für solcherart Menschen, unterschied sie sich von einem »Emigranten« aus London, sprich von solcherart Menschen, kaum. Worauf Melrose sie diskret hinwies.
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich bin weder aus Chelsea noch vom Sloane Square, und schon gar nicht aus South Kensington. Ich habe ganz am Ende der King’s Road gewohnt, praktisch in Parson’s Green, was ja wohl kaum ›in‹ ist.« (Diane fand es neuerdings »in«, »out« zu sein.) »Und außerdem habe ich sowieso nicht den Nerv zum Wochenendmenschen. Angeblich wollten sie doch schon lange in Watermeadows einziehen. Wo bleiben sie?«
»Vermutlich machen sie wie die Royals einen auf Landleben«, bemerkte Trueblood.
Melrose schrieb einen Namen auf seinen Block. »Da werden sie aber enttäuscht sein. Hier in der Gegend geht das nicht.«
Vivian Rivington ließ Frühling Frühling sein und wandte sich vom Fenster ab. »Reden Sie nicht so einen Unsinn; das geht doch nirgendwo mehr.« Ihr von Natur aus rosiger Teint war ziemlich blaß, und der gräßlich artischockenfarbene Pullover war auch nicht dazu angetan, ihrer Haut oder dem kastanienbraunen Haar Farbe zu verleihen.
»Der Wochenendmensch schafft das überall. Sich aufs Land zurückzuziehen, ist eine Geisteshaltung. Mit königlichen Affären und Scheidungen oder gar mit einem bestimmten Landstrich hat das nichts zu tun«, erläuterte Trueblood.
Diane Demorney gähnte und fuhr mit einer Knoblauchzehe über den Rand ihres Glases. Dick Scroggs war endlich zur Stelle und mixte einen frischen Martini à la Demorney. Die Knoblauchzehe – existentiell notwendig für den perfekten Martini, behauptete sie – mußte sie selbst beisteuern. Das passende Glas steuerte sie auch bei. Und der Wodka war ebenfalls eine Demorneysche Trouvaille: In der Flasche befand sich Büffelgras, das heißt, es schwammen lange, fadenähnliche Dinger darin herum, die aussahen, als stammten sie vom Meeresboden. Trueblood nannte ihn Käpt’n-Nemo-Martini.
Der Wochenendmensch, den Trueblood eben beschrieben hatte, war in Wirklichkeit eine Wochenendfamilie, die angeblich den Landsitz namens »Watermeadows« zwischen Long Piddleton und Northampton gepachtet hatte. Dummerweise konnten sie dem Makler Mr. Jenks keine Informationen dazu entlocken. Dieser, ein dünnes Männlein in den Sechzigern, besaß viele Laster. Geiz, Habgier und einen durchtriebenen Charakter, der mit unverbindlicher Höflichkeit überzogen war wie ein Filet Wellington aus Knorpelfleisch mit einer leckeren Kruste. Unbeliebt hatte er sich jedoch gemacht, weil er das harmonische Ladenensemble in der High Street störte, indem er das Haus neben Trueblood’s Antiques annektiert hatte. Einer Tugend konnte er sich allerdings rühmen. Wenn man es denn tugendhaft nennen wollte, keine Informationen über Klienten herauszugeben. Recht bedacht, konnte es sich auch nur um eine weitere Facette seiner Laster handeln: um Gewinnsucht und Heimlichtuerei.
Mr. Jenks hatte sich in einem Laden, an dem ein doppelseitiges Schild prangte, eingerichtet. Die eine Seite warb für sein Makler-, die andere für sein Reisebüro. Je nach Bedarf spielte er auch den Repräsentanten beider Firmen. Der janusköpfige Laden war ein schmales georgianisches Gebäude mit einem Erkerfenster, das Pendant zu Truebloods Antiquitätengeschäft. Und Marshall Trueblood war dementsprechend doppelt erbost ob der Übernahme dieser Räumlichkeiten. Er hatte nämlich selbst schon überlegt, ob er sie zwecks Geschäftserweiterung erwerben sollte. Aber er nahm es wie üblich mit Würde und Anstand und lauschte sogar mit einem beträchtlichen Maß an Geduld, wenn Mr. Jenks über drastische Einbrüche am Immobilienmarkt, sinkende Zinssätze und Hypothekenkäufe redete. Mr. Jenks war stets Leuten auf der Spur, die ihre Hypotheken nicht abtragen konnten und ihre Häuser verkaufen mußten.
Aus diesem Grund wurde das riesige Anwesen Watermeadows aber keineswegs an die Familie, über die Marshall Trueblood und Melrose Plant Listen anlegten, vermietet.
»Die Kinder heißen bestimmt Alistair und Arabella. Sie glauben, sie hätten zwei Kinder, nicht wahr, Viv-viv?« sagte Trueblood bleistiftkauend.
»Nein.« Das Kinn auf die Fäuste gestützt, hatte Vivian sich wieder zum Fenster gedreht. Auf dem Sims lag verharschter Schnee, der auch an diesem sonnigen Februartag nicht schmolz. Melrose bemerkte den reizenden Kontrast zwischen ihrem gräßlich artischockenfarbenen Twinset und einem schimmeliggrünen Rock. Bildschön, wie sie war, schien sie fest entschlossen, sich so reizlos wie möglich herzurichten.
Trueblood fuhr fort: »Er trägt bestimmt eine Regenjacke mit Kapuze und ein Sakko mit Lederflecken am Ellenbogen. Sie, blonder Kurzhaarschnitt und Tweedjackett. Sie rufen immer ›Hallöchen ‹ und finden alles ›einfach hinreißend‹. Und haben natürlich zwei schokoladenbraune Neufundländer. Und einen Landrover. Den Landrover dürfen wir nicht vergessen. Oder einen Range Rover, ist ja einerlei. Die Köter sitzen hinten drin, vielleicht mit einer Tigerkatze. Die gehört Arabella. Sie hat darauf bestanden, sie mitzubringen, obwohl Mami sie lieber zu Hause bei der Köchin gelassen hätte. Sie haart so schrecklich. Sie heißt …«
Vivian drehte sich vom Fenster um. »Meine Güte, so hören Sie doch auf!« bat sie nicht böse, aber weidlich angeödet. Immerhin redeten sie seit Wochen über diese Leute.
Vivian wollte sich mal wieder nach Venedig aufmachen. Wie oft (überlegte Melrose) war sie seit ihrer Verlobung mit diesem italienischen Grafen nun schon dorthin gefahren? Wie oft war die Hochzeit – meist unter irgendeinem von Plant und Trueblood ausgeheckten Vorwand – hinausgezögert und verschoben worden? Das letztemal hatte ihr der Tod einer Giopinnoschen Tante eine kleine Atempause verschafft. Die war nun zu Ende, die Familie hatte den Verlust bemerkenswert gut verkraftet. Melrose hatte Vivian beim Tee in Ardry End auf den Kopf zugesagt, daß den Grafen Franco Giopinno zu heiraten für sie offenbar eine Art Hobby sei, dem sie, wenn sie nichts Besseres zu tun hatte, frönte wie Tennisspielen oder Times-Kreuzworträtselraten. Daraufhin hatte Vivian ihm ein Kressesandwich an den Kopf geworfen.
»Hm, vielleicht irre ich mich bei der Katze.« Trueblood drehte sich um und bestellte bei Dick noch ein Pint des scheußlichen Biers, das dieser zusammenbraute, um mit Trevor Sly, dem Wirt des Blue Parrot, mitzuhalten.
»Offen gestanden, bin ich froh, daß sie nur am Wochenende kommen«, sagte Diane Demorney. »Da müssen wir sie wenigstens nicht das ganze Jahr über ertragen.«
»Also ehrlich«, sagte Vivian, »Sie tun beide so, als gehöre Long Pidd Ihnen. Ja, als gehöre ganz Northants Ihnen.«
»Mir schon«, sagte Melrose und fügte leise hinzu: »Zum Kuckuck, da kommt Agatha.«
Mit den Worten: »Also, ich kann Ihnen mit Sicherheit eines über sie erzählen«, trat Lady Agatha Ardry ein, und ihre weite schwarze Pellerine wirbelte um sie herum. »Sie« waren während der letzten Tage ein so heißes Thema gewesen, daß sich eine Spezifikation erübrigte.
Marshall Trueblood richtete sich auf. »Ah! Sie haben sie gesehen?« Das fuchste ihn. Wie überaus ärgerlich, wenn Agatha die neuen Mieter von Watermeadows als erste gesehen hätte. »Wie viele? Wie sehen sie aus? Ihre Hunde? Katzen? Autos?«
Agatha brauchte geraume Zeit, sich häuslich niederzulassen und den Kragen ihres bräunlichgelben Kostüms glattzuziehen, in dem sie mit ihrer gedrungenen, fülligen Figur wie ein Heuballen aussah. Sie mußte frisch vom Friseur kommen, ihre funkelnagelneuen mausgrauen Locken waren in Form gelegt und angeklatscht, als hätte der Haarstylist sie mit Silberpolitur eingerieben. Sie bat Dick Scroggs um Bedienung und sagte dann höchst salbungsvoll: »Sie haben ein Recht auf Privatsphäre, Mr. Trueblood. Es gibt Leute, die nicht den halben Tag bei Bier und Klatsch verbringen.«
Sie haben ein Recht auf Privatsphäre, dachte Melrose, bedeutet schlicht und ergreifend, daß Agatha nichts weiß.
»Haben Sie sie gesehen?« fragte Diane.
»Nicht … direkt.«
»Was heißt«, sagte Melrose, »indirekt auch nicht.«
Dick Scroggs schenkte Agathas queenreifem Winken keine Beachtung. Vergeblich wedelte sie mit steifer, ausgestreckter Hand hin und her. Er rollte einen Zahnstocher im Mund und las seinen Bald Eagle. Also schrie sie, wie es ohnehin ihre Art zu sein pflegte: »Einen kleinen Sherry!«
»Was bedeutet«, fuhr Melrose fort, als Scroggs vor Schreck sein Bier über die Zeitung kippte, »daß du sie in Wirklichkeit überhaupt nicht gesehen hast.«
Mit selbstgewichtiger Miene richtete Agatha die Falten ihrer Pellerine. »Es tut mir unendlich leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Mr. Trueblood …«
Nichts tat sie lieber, dachte Melrose.
»… aber Ihre Wochenendfamilie kommt nicht aus Chelsea.« Nun horchte Trueblood auf. »Sie wohnen bestimmt im Südwesten Londons. In SW 3 vielleicht oder in SW 4.«
»Oder W 1, das würde ja auch schon genügen«, sagte Melrose.
Agatha konnte vor Wonne kaum an sich halten. »Ich muß feststellen, daß ich meinen Drink immer noch nicht habe, Mr. Scroggs.« Sie schaute Richtung Tresen, wo Dick, den Zahnstocher im Mund, wieder über die Zeitung gebeugt stand. »Ignoriert mich wie üblich.«
Trueblood erbarmte sich und rief Scroggs die Bestellung zu. Der schaute prompt auf und nickte. »Woher dann? Woher kommen sie dann?«
Sobald Scroggs ihr den Sherry vorgesetzt hatte, sagte sie: »E 11.«
Trueblood schnappte nach Luft. »Aus dem gräßlichen East End? Sie machen wohl Witze.«
»Aus Whitehall oder Shoreditch«, sagte Diane und stieß eine Rauchwolke aus. »Obwohl … Shoreditch könnte E 13 sein.« Diane hatte einmal alle Postbezirksnummern auswendig gelernt, weil sie auf den Briefträger scharf war und ihm imponieren wollte.
»O Graus!« Trueblood schlug sich vor die Stirn. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Moment mal! Das sind die Docklands! Ha, das ist ein Unterschied. Seit die luxussaniert werden, ziehen viele Leute aus Chelsea und vom Sloane Square dorthin.«
»Sie haben es für ’n Appel und ’n Ei gekriegt«, sagte Agatha. »Hat mir jedenfalls Mr. Jenks erzählt. Sie sind nicht einfach irgendwer, es sind Verwandte.«
Melrose schaute sie skeptisch an. »Mr. Jenks hat dir das erzählt? Mr. Jenks mit den festversiegelten Lippen? Daß ich nicht lache. Das hast du von Mrs. Oilings, deiner Zugehfrau, also können wir es vergessen, weil sie auch nichts weiß.«
»Ach? Ach, wirklich?« fragte Agatha und versuchte, soviel Ironie mitschwingen zu lassen wie möglich. »Dann teile ich dir hiermit mit, daß Mrs. Oilings auch bei Mr. Jenks putzt!« Triumphierend lehnte sie sich zurück. Und erkannte jäh, daß sie in der Falle saß.
Melrose lächelte. »Samstags nachmittags. Wenn niemand da ist.«
Agatha wechselte umgehend das Thema. »Ich kann Ihnen des weiteren erzählen, daß sie einen guten Tropfen zu schätzen wissen.«
»Wer nicht?« bemerkte Diane.
»Woher wissen Sie das?« fragte Vivian.
»Weil einer von ihnen reichlich Zeit –«, hier hob sie erneut die Stimme in Richtung Dick Scroggs, »– im Blue Parrot verbringt!«
Als der Name der Konkurrenz fiel, schnellte Scroggs herum. »Was soll das denn nun?« Er vergaß seine Zeitung und kam an ihren Tisch geeilt.
Entzückt, daß sie nicht nur Dick Scroggs schlechte Neuigkeiten, sondern überhaupt Neuigkeiten über die Mieter von Watermeadows mitzuteilen hatte, grinste Agatha wie ein Honigkuchenpferd.
Scroggs stemmte die Hände in die kräftigen Hüften. »Seit wann gehen Sie ins Blue Parrot?«
»Ich? Machen Sie sich nicht lächerlich, da würde ich nie im Leben hingehen. Ich habe nur zufällig gesehen, wie ihr Auto über die alte, holprige Straße dorthin geflitzt ist. Und an der liegt nur das Blue Parrot.«
»Und woher«, fragte Melrose, »wußtest du, daß das Auto aus Watermeadows ist?«
»Es kam aus ihrer Auffahrt, was dagegen?«
»Was du nicht sagst.«
»Ja. Aus der, die zur Northampton Road führt.«
»Und Sie sind hinterhergefahren«, sagte Vivian mißbilligend.
»Nein, bin ich nicht. Es war lediglich vor mir auf der Northampton Road.« Mit spitzem Mund überlegte sie, welches Detail sie als nächstes auftischen sollte. »Ich bin nämlich nach Northampton gefahren.«
»Nein, bist du nicht«, sagte Melrose. »Du fährst nie nach Northampton. Du läßt mich nach Northampton fahren, wenn du dort hinwillst. Du hast am Ende der Auffahrt auf der Lauer gelegen, um zu sehen, ob jemand herausgefahren kommt.«
»Spioniert? Da weiß ich was Besseres mit meiner Zeit anzufangen!«
Dick Scroggs sagte: »Na, ich seh schon, wie’s kommt! Wer will, der kann sich bei Trevor Sly vergnügen, nur zu.« Empört stapfte er zurück zum Tresen, wo er laut mit Gläsern und Flaschen klirrte.
Melrose rief ihm zu: »Keine Sorge, Dick. Einen Schluck vom Cairo Flame, und die Flammen schlagen einem aus den Ohren. Da kann man nur noch die Flucht ergreifen. Ich hab den Geschmack von dem Zeug immer noch auf der Zunge.«
Daß Trevor Sly selbst sein Bier braute, war kaum ein Trost für Dick Scroggs, denn genau das tat er auch seit einiger Zeit, allerdings mit mäßigem Erfolg. Er zerbrach ein Glas und fluchte.
Vivian seufzte und blieb mit dem Blick an einem halben Dutzend weißer Umschläge hängen. Sie nahm einen. »R. JURY« stand darauf. Beim Anblick von Jurys Namen schüttelte sie den Kopf und ließ den Umschlag wieder fallen. »Jetzt ziehen Sie ihn auch noch in diese Sache rein. Nur damit er am Ende auch verblödet.«
Trueblood zog die Stirn kraus. »Ach, er hat auf seine Liste ja kaum einen Gedanken verschwendet. Haben Sie das nicht bemerkt? Er stand einfach da und kritzelte sie voll, ohne auch nur im entferntesten nachzudenken.«
Mehr zum Flügelfenster als zum Tisch sagte Vivian quengelig: »Warum fährt er eigentlich dauernd nach Stratford-upon-Avon? Er war doch gerade erst da.«
»Freunde«, sagte Melrose. Die Tatsache, daß es eine Freundin war, erwähnte er nicht. Melrose hatte die Beziehung zwischen Vivian und seinem Freund Jury nie recht begriffen. Als Jury das erstemal in Long Piddleton gewesen war, mußte irgend etwas vorgefallen sein (argwöhnte er). Nun wurde er quengelig.
Trueblood spann seine eigenen Gedanken fort. »Er hat nicht mehr als zwei, drei Minuten damit verbracht.«
»Er war in Eile«, sagte Melrose, strich »Fiona« aus und ersetzte es durch »Polly«. Das war ein guter Name, der nach Chelsea klang. »Er wollte nach Exeter.«
»Nach Exeter? Ich dachte, nach Stratford«, sagte Vivian.
»Danach nach Exeter.«
Leicht beunruhigt sagte Trueblood: »Sie meinen doch nicht, daß er es am Ende weiß? Schließlich ist er ja von Scotland Yard. Da wäre es kein Kunststück, in Jenks’ Büro zu marschieren und Einsicht in die Unterlagen zu verlangen.«
»Quatsch«, sagte Plant. »Jury würde nicht betrügen.«
Aber Trueblood bedachte den mit R. JURY gekennzeichneten Umschlag mit einem bänglichen Blick.
»Für läppische sechzig Pfund lohnt sich die Mühe doch kaum«, sagte Diane. Zehn Pfund betrug der Wetteinsatz. Sechs hatten eingezahlt. »Und wenn Sie das nächstemal nach Northampton düsen, sagen Sie mir bitte Bescheid, Agatha, ja? Dort gibt es einen Laden, aus dem Sie mir Büffelgraswodka mitbringen können.«
Agatha würde ihr eher einen Büffel mitbringen, dachte Melrose. Agatha verabscheute Diane Demorney.
»Sie haben uns aber noch gar nicht erzählt, altes Haus«, sagte Trueblood mit gezücktem Bleistift, »was es für ein Auto war.«
»Darauf habe ich nicht geachtet.«
»Hm, hm«, sagte Trueblood und legte schnell die Hand auf Agathas Umschlag, weil sie danach langte. »Finger weg!«
Diane Demorney hatte offenbar nachgedacht, eine Aufgabe, der sie sich nicht oft unterzog. »Exeter. Geht es um die Sache in der Kathedrale? Weswegen er den Anruf bekommen hat?«
»Genau«, sagte Melrose und legte sein zusammengefaltetes Blatt in einen Umschlag.
»Das ist das Stendhal-Syndrom«, sagte Diane und blickte der lavendelfarbenen Rauchwolke hinterher, die aus ihrer Zigarette aufstieg. »Sie wissen schon. Ich habe Ihnen doch erzählt, daß Stendhal in Ohnmacht fiel, wenn er große Kunst betrachtete.«
»Stendhal«, sagte Melrose und strich die Lasche des Umschlags glatt, »hat nie wieder geduscht.«
Warum er geglaubt hatte, Elsie sei in der kurzen Zeit seit ihrem letzten Treffen gewachsen, wußte Richard Jury auch nicht. Vielleicht deshalb, weil sie ein kleines Mädchen war und Kinder wie durch Zauberei wachsen, wie Märchenwesen, heute so klein wie eine Erbse, morgen so groß wie eine der griechischen Statuen im Garten.
»Hallo, Elsie. Kennst du mich noch?«
»O ja!« rief sie begeistert. »Sie waren doch von Scotland Yard! Sind Sie immer noch dort?«
Als sei »Scotland Yard« eine Sommeradresse, die am Ende der Saison ungültig wurde. »Ob ich immer noch dort arbeite? Aber natürlich. Richard Jury, Superintendent, Scotland Yard.«
Offensichtlich beeindruckt, lächelte Elsie zu ihm hinauf. Sie trug ihre große weiße Schürze so ungeschickt um sich gewickelt, daß der Saum an manchen Stellen fast den Boden berührte. Aus der Küche kamen die köstlichsten, pikantesten Gerüche, es duftete nach Zwiebeln, Wein und Kräutern, die Jury nicht identifizieren konnte.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!