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Die Frauen von Bliss County sind bereit, den Mann ihrer Träume zu treffen, um ihren Zielen näher zu kommen: Eine glückliche Ehe, ein schönes Zuhause und eine Familie. BLISS COUNTY: DER HOCHZEITSPAKT Die Frauen von Bliss County sind bereit, den Mann ihrer Träume zu treffen. Doch wer wird das Herz von Hadleigh erobern? Der Beginn einer neuen Serie von Nr.1-"New York Times"-Bestsellerautorin Linda Lael Miller über den Traum in Weiß! "Wir werden nicht ewig die Brautjungfern sein! Zusammen werden wir unseren Mr. Right finden." So lautet der Pakt, den Hadleigh Stevens mit ihren besten Freundinnen geschlossen hat. Schon lange sehnt sie sich nach einer eigenen Familie, Kinder und den perfekten Ehemann. Doch auf ihrer Brautmission läuft sie ständig dem attraktiven Tripp Galloway, dem Kumpel ihres Bruders, über den Weg. Bereits vor Jahren ließ er ihr Herz höher schlagen. Damals war Tripp gebunden - und heute scheint er allergisch auf das Thema Heiraten zu reagieren. Oder deutet Hadleigh seine Signale etwa falsch? BLISS COUNTY: (K)EIN MANN ZUM HEIRATEN Dunkle Haare, blaue Augen und ein Lächeln, das jeden dahinschmelzen lässt - Spence Hogan schafft es immer noch, Melodys Puls in die Höhe zu treiben. Dabei weiß die erfolgreiche Schmuckdesignerin genau, dass der Polizeichef kein Mann zum Heiraten ist. Dazu liebt er die Frauen viel zu sehr - und zwar alle Frauen. Spence hat alles getan, um sich einen Ruf als Womanizer zu erarbeiten. Denn nie würde der unerschrockene Cop zugeben, dass er sich davor fürchtet, sein Herz zu verschenken. Allerdings hat Melody etwas an sich, das er seit ihren ersten gemeinsamen Date in der Highschool nicht mehr vergessen kann … BLISS COUNTY - DER TRAUM IN WEIß In Bliss County ist das Heiratsfieber ausgebrochen! Nur Becca Stuart ist von dem märchenhaften Tag in Weiß noch weit entfernt. Fast zerbrochen ist sie an dem Schmerz, als ihre große Liebe starb und damit die Hoffnung auf das ewige Glück. Doch dann begegnet sie Tate Calder. Sein Lächeln lässt Beccas einsames Herz schneller schlagen - und zum ersten Mal seit langer Zeit spürt sie, dass es auch für sie ein Happy End geben könnte. Allerdings hat sich der verwitwete Single-Dad Tate geschworen, nie wieder den Bund fürs Leben zu schließen. Nicht gerade die optimalen Voraussetzungen für die Erfüllung des Hochzeitspakts …
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Seitenzahl: 1107
Linda Lael Miller
Bliss County (3in1) - Auf der Suche nach Mr. Right
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder
auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
Linda Lael Miller
Bliss County – Der Hochzeitspakt
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Christian Trautmann
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Marriage Pact
Copyright © 2014 by Hometown Girl Makes Good, Inc.
erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l
Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz, John Hall Photography
ISBN eBook 978-3-95649-415-4
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
In Liebe für Buck und Goldie Taylor,
wahre Freunde und echte Weststaatler.
Eines Samstags im September, vor zehn Jahren …
Beide Seiten der schattigen Straße waren verstopft von Autos und Pick-ups, und zwar in beide Richtungen auf einer Länge von einer Meile. Dabei lief die Zeit – rasant. Tripp Galloway entschied sich daher, den alten Pick-up seines Stiefvaters in zweiter Reihe neben der wartenden Limousine des Brautpaars zu parken. Er stellte den Automatikhebel auf „Leerlauf“, zog die Handbremse an und sprang aus dem Wagen. Den Motor ließ er laufen, die Tür offen.
Der Chauffeur der Limousine vertrieb sich die Zeit auf dem Gehsteig, das Handy ans Ohr gepresst. Ein Auf-die-Uhr-Gucker, urteilte Tripp im Vorbeigehen. Der Mann konnte das Ende der Veranstaltung offenbar nicht erwarten, damit er sein Geld erhielt und verschwinden durfte. Sein Hängebackengesicht war gerötet.
Als der Chauffeur bemerkte, dass Tripp den Pick-up einfach stehen lassen wollte, unterbrach er sein Telefonat. „Hey, Kumpel, Sie können hier nicht parken …“
Tripp lief ohne ein Wort an ihm vorbei durch das offene Tor und den Plattenweg entlang.
Die Türen der kleinen und ehrwürdigen Kirche aus rotem Backstein in Mustang Creek, eines der ältesten Gebäude der Gemeinde, standen trotz des kühlen, wenn auch sonnigen Herbstnachmittags weit offen. Drinnen war es verdächtig ruhig.
Das konnte ein gutes Zeichen sein – oder auch nicht.
Tripp hatte nicht viel Ahnung von Hochzeiten, schon gar nicht heutzutage, wo viele Paare die Zeremonie frei nach ihrem Geschmack gestalteten. Aber wenn die Veranstaltung vorbei war und er zu spät kam, um ein Ehe-Unglück zu verhindern, dann müsste man doch triumphale Orgelmusik hören, oder?
Andererseits konnte die Stille auch bedeuten, dass Hadleigh Stevens genau in diesem Augenblick „Ja, ich will“ sagte. Und damit wäre der Zug abgefahren.
Tripp atmete tief durch und schritt weiter.
Drei Platzanweiser hielten sich in der winzigen Vorhalle auf und beobachteten die Zeremonie am Altar, wobei sie nervös ihre steifen schwarzen Fliegen richteten. Tripp schob sich dreist zwischen ihnen hindurch. Und endlich befand er sich im Altarraum.
Zum Glück versuchte niemand, ihn aufzuhalten.
Sein Auftritt würde für Hadleigh dramatisch genug werden, auch ohne dass irgendwer niedergeschlagen wurde oder es ein Handgemenge gab.
Mal ganz abgesehen davon, dachte er grimmig, dass dies hier eine Kirche und keine Cowboy-Bar ist.
Auf dem Weg zum Brautpaar nahm er die übrigen Gäste nur aus den Augenwinkeln wahr. Sie drängten sich auf den Kirchenbänken und der Chorempore entlang der Wände.
Die Hochzeit war offenkundig das Hauptereignis der Saison. Außer im Juli, wenn das Rodeo stattfand, passierte nicht viel in Mustang Creek. Daher wäre die Hochzeit ohnehin schon Gesprächsstoff gewesen, auch ohne die bevorstehende Unterbrechung. Jetzt, schoss es Tripp durch den Kopf, wird der Tag zur Legende werden.
Die Zeit schien plötzlich langsamer zu verstreichen, während er unbeirrt seinen Weg fortsetzte.
Hadleigh stand vorn, eine Erscheinung in Weiß, wunderschön. In ihrem Schleier, der ihren weitgehend nackten Rücken bedeckte, glitzerten winzige Strasssteine in den Regenbogenfarben wie Lichtstrahlen in einem Wasserfall. Sie und der Bräutigam standen vor dem Pfarrer, der Tripp natürlich noch vor dem glücklichen Paar erblickte. Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch, seufzte schwer und klappte das kleine Buch zu, aus dem er gelesen hatte. Das Geräusch hallte dröhnend in der Kirche wider.
Unter den Gästen herrschte für einen Moment Verblüffung, dann erklang Gemurmel.
Innerlich wappnete Tripp sich gegen den Aufruhr, allerdings schritt immer noch niemand ein.
Hadleigh drehte den Kopf, um dem Blick des Pfarrers zu folgen, und erschrak, als sie Tripp entdeckte, der nur wenige Meter vor ihr stehen geblieben war. An seinen Stiefeln klebten die pink-weißen Rosenblätter, die den Mittelgang bedeckten.
Sie gab keinen Laut von sich, zumindest noch nicht. Doch trotz der Schichten aus Chiffon, aus denen ihr Schleier gemacht war, sah Tripp, wie Hadleighs leuchtende Augen sich vor Überraschung weiteten. Innerhalb der nächsten Sekunden aber wich die Verblüffung der Braut purer Wut.
Sie wirbelte herum, trat einen Schritt auf ihn zu und wäre beinahe über den Saum ihres übertriebenen Brautkleids gestolpert. Das trug nicht gerade zur Verbesserung ihrer Stimmung bei.
Tripp war ein unerschrockener Kriegsveteran und verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Linienflugzeuge zu fliegen. Doch jetzt hatte er Herzklopfen, und er spürte, wie die Hitze ihm den Hals hinaufkroch und es in seinen Ohren pulsierte.
Sag etwas, forderte ihn eine Stimme in seinem Kopf auf – die Stimme seines toten besten Freundes, Hadleighs älteren Bruders Will.
Nach einem kurzen Räuspern erkundigte sich Tripp in wohlwollendem Ton: „Habe ich den Teil verpasst, bei dem der Pfarrer fragt, ob jemand einen Grund nennen kann, weshalb diese zwei nicht im heiligen Bund der Ehe vereint werden sollen?“
Hinter sich hörte er empörte Laute, gefolgt von lautem Geflüster und hier und da nervösem Gekicher. Aber das war im Moment die geringste seiner Sorgen.
Er schaute unverwandt den Pfarrer an und wartete auf die Antwort.
Hadleigh stieg das Blut in die Wangen. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es schien, als wären ihre Stimmbänder verknotet.
Der Pfarrer, ein fast kahlköpfiger runder Mann namens John Deever, züchtete Schweine, wenn er nicht predigte, Trauungen vollzog oder neun Monate im Jahr an der Mustang Creek Highschool Werken unterrichtete. Er war bekannt dafür, dass er einen Overall unter dem Talar trug, falls gerade besonders viel zu tun war. So konnte er sich anschließend gleich wieder der Farmarbeit widmen, ohne sich groß umziehen zu müssen.
„Das“, verkündete Deever missbilligend, „ist höchst dramatisch.“
Allerdings hätte Tripp schwören können, ein kurzes Aufblitzen in den Augen des Mannes entdeckt zu haben, trotz des vorwurfsvollen Tons.
Der Bräutigam Oakley Smyth schaute sich um und wirkte leicht geschockt, sich in einer Kirche wiederzufinden, umgeben von Leuten und konfrontiert mit einem Einspruch. Er glich einem Mann, der jäh aus tiefem Schlaf gerissen worden war – oder einem Koma. Während er Tripps Anwesenheit zur Kenntnis nahm und erfasste, was diese bedeutete, verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen. Sein frisch rasiertes Gesicht lief rot an.
„Was zum …“, murmelte er, verkniff sich jedoch den Rest, was auch immer es gewesen sein mochte.
„Denn …“, fuhr Tripp energisch fort – wie jemand, der jedes Argument beiseitefegen will, „… denn zufällig kenne ich einen Grund, und zwar einen verdammt guten.“
Hadleigh hielt ihren Brautstrauß so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit wenigen entschlossenen Schritten war sie bei Tripp. Ihre Wangen schienen zu glühen, die whiskeyfarbenen Augen funkelten vor Zorn. „Was glaubst du eigentlich, was du hier tust, Tripp Galloway?“, stieß sie gepresst hervor und sah dabei aus, als hätte sie den Strauß pinkfarbener und weißer Blumen liebend gern gegen eine Pistole eingetauscht.
„Ich verhindere diese Ehe“, erwiderte er, da er das für eine rhetorische Frage hielt – schließlich lag die Antwort auf der Hand.
Für einen kurzen Moment herrschte angespannte Stille.
„Warum?“, flüsterte Hadleigh und beendete damit das Schweigen. Jetzt klang sie ebenso entsetzt wie wütend. Mit ihren achtzehn Jahren war sie eine erblühende Schönheit, aber noch lange keine erwachsene Frau, fand Tripp. Nein, sie war immer noch die kleine Schwester seines verstorbenen besten Freundes, die zu beschützen er geschworen hatte. Zu jung und zu naiv, um zu wissen, was gut für sie war, ganz zu schweigen davon, dass sie sich auf einen Abgrund zubewegte.
Statt darauf etwas zu erwidern, schaute Tripp ihrem Auserwählten in die Augen und fragte ruhig: „Soll ich Hadleigh erzählen, was gegen diese Hochzeit spricht, Oakley? Oder möchtest du es ihr lieber selbst sagen?“
Der Bräutigam hatte sich bisher nicht gerührt, bis auf ein gelegentliches Wangenzucken. Doch der Ausdruck in seinen Augen hätte glatt zwei Schichten braun-olive Farbe von einem Army-Jeep geschmolzen.
Wäre Tripp an Oakleys Stelle gewesen, hätte er vermutlich nicht nur finster gestarrt. Er hätte jedem Mann, der die Dreistigkeit besaß, im letzten Moment seine Hochzeit zu stören, einen Kinnhaken verpasst, Kirche hin oder her.
Eine bemerkenswerte Erkenntnis, wenn man bedachte, was er gerade tat. Aber hier ging es um Grundsätzliches.
Oakley schluckte sichtlich und schüttelte einmal sehr langsam den Kopf.
Der rechts neben ihm stehende Trauzeuge betrachtete die Decke, als wäre er plötzlich fasziniert von den Deckenbalken.
Keiner der Platzanweiser schritt ein, noch irgendein Gast.
Es war, als stünden alle anderen außerhalb einer großen, undurchdringlichen Blase und betrachteten Hadleigh, den Bräutigam und Tripp wie die Figuren in einer Schneekugel.
Hadleigh funkelte Tripp immer noch wütend an, bebend vor angestrengter Beherrschung. Tränen schimmerten in ihren Augen, und ihre volle Unterlippe zitterte.
Nicht weinen, flehte Tripp im Stillen. Alles, nur das nicht.
Sie war verletzt und durcheinander, und wenn Hadleigh litt, dann litt er mit. Das war wie ein Gesetz des Universums.
„Wie konntest du nur?“, flüsterte sie, und die Traurigkeit in ihrer Stimme traf ihn bis ins Mark.
Tripp hatte vorgehabt, es ihr zu erklären, allerdings später, an einem ruhigen Ort, ohne dass die Hälfte von Bliss County zuschaute. Also hielt er ihr die Hand hin und wartete darauf, dass Hadleigh sie ergriff. Wie oft hatte sie das als Kind gemacht, wenn sie Angst hatte oder unsicher war, und Will fort oder zu abgelenkt gewesen war, um es zu bemerken.
Statt seine Hilfe anzunehmen, umfasste Hadleigh den Brautstrauß mit beiden Händen und schlug ihm damit auf die Hand. Es schmerzte, als hätte sie ihn mit einer Bullenpeitsche und nicht mit dem Blumenstrauß gehauen, und der Schlag entlockte ihm ein leises und beleidigtes „Au!“.
„Ich gehe nirgendwo mit dir hin“, stellte sie klar, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte. Sie atmete schwer, straffte die schmalen Schultern und hob das Kinn. „Ich bin hier, um zu heiraten, und genau das werde ich auch tun. Ich liebe Oakley, und er liebt mich. Darum wäre ich dir dankbar, wenn du aus dieser Kirche verschwindest, bevor dich Gottes Zorn in Form eines Blitzes trifft!“
Seufzend schüttelte Tripp seine immer noch schmerzende Hand. Offenbar begriff jeder der Anwesenden, mit Ausnahme der Braut, dass die Party vorbei war.
Es würde keine Hochzeit geben, weder heute noch sonst irgendwann.
Keine Trauung, keine Hochzeitstorte, keine Flitterwochen.
Tripp versuchte, Hadleigh zur Vernunft zu bringen, ein unter diesen Umständen zugegeben ehrgeiziges Vorhaben.
„Hadleigh“, begann er, „wenn du wenigstens …“
Erneut holte sie mit dem Blumenstrauß aus. Diesmal zielte sie auf sein Gesicht und legte so viel Wucht in den Schlag, dass sie um ein Haar selbst das Gleichgewicht verloren hätte. Tripp wich dem Strauß aus, griff nach ihr und warf sie sich kurzerhand über die rechte Schulter.
„Mann, du bist noch genauso widerspenstig wie eh und je“, meinte er. Außerdem war sie schwerer, als sie aussah. Obwohl eine Bemerkung in dieser Richtung definitiv ein taktischer Fehler wäre. Zumal ihn gerade ein Meer aus wogender weißer Seide und mit Strass besetzter Spitze bedeckte, sodass er kaum noch etwas sehen konnte, geschweige denn atmen.
Die entführte Braut, ein Cowgirl aus Wyoming, wehrte sich heftig, indem sie kreischte und mit den Resten des Brautstraußes auf Tripps Rücken haute, während er sie durch den Mittelgang trug. Er zertrat die schon zerquetschten Rosenblätter, während er an den Reihen der Gäste vorbeimarschierte, ohne nach links oder rechts zu blicken. Stumm durchquerte er die Vorhalle und gelangte hinaus in den hellen Sonnenschein.
Noch immer sprach niemand ein Wort oder machte Anstalten, sich einzumischen, obwohl Hadleigh tobte und schrie und Hilfe verlangte.
Tripp marschierte mit weit ausholenden Schritten auf den Pick-up zu, dessen oft überholter Motor laute Geräusche von sich gab, während die zerbeulte, mit Tupfern von Grundierfarbe übersäte Karosserie förmlich vor Verlangen nach Geschwindigkeit zu vibrieren schien. Der Limousinenfahrer stand nach wie vor auf dem Gehsteig, kettenrauchend und in sein Handy plappernd. Als Tripp aus der roten Backsteinkirche kam, die strampelnde und kreischende Braut über der Schulter, klappte er den Mund zu und starrte die beiden an.
Inzwischen musste das Bouquet völlig hinüber sein, denn nun trommelte Hadleigh mit ihren Fäusten auf Tripps Rücken. Offenbar hatte sie die Absicht, mindestens eine seiner Nieren, am besten aber alle beide, zu blutigem Brei zu schlagen.
Endlich erreichte er den Pick-up. Tripp seufzte erleichtert, obwohl er mit Hadleigh und ihrem Brautkleid zu kämpfen hatte, bis er die Beifahrertür aufkriegte und es ihm gelang, Hadleigh in den Wagen zu befördern. Er stopfte das voluminöse Kleid hinein und warf die Tür fest zu. Vermutlich würde Hadleigh versuchen zu fliehen, doch bis sie sich durch sämtliche Kleiderschichten gekämpft und den Türgriff in der Hand hatte, saß Tripp schon auf dem Fahrersitz und fuhr los.
Er hoffte, dass sie vernünftig genug war, um nicht aus dem fahrenden Auto zu springen. Andererseits ließ ihr Männergeschmack berechtigte Zweifel an ihrem IQ aufkommen. Also fasste er sie am linken Arm – nur für den Fall, dass er ihren gesunden Menschenverstand überschätzte.
Sie schien sich ein wenig zu beruhigen, obwohl sie immer noch stinkwütend zu sein schien.
„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade eben getan hast!“, platzte sie schließlich heraus, als er sie losließ. Mittlerweile fuhren sie vierzig Meilen pro Stunde, daher war es unwahrscheinlich, dass sie jetzt noch einen Sprung wagte. Dafür gab es ein anderes Problem. Ihr verdammtes Hochzeitskleid füllte praktisch die ganze Kabine des Pick-ups aus, was nicht ungefährlich war. Tripp fühlte sich an seine Kindheit mit Will erinnert, als sie irgendwie an eine Packung Waschpulver gelangt waren, das sie in den Springbrunnen vor dem Gerichtsgebäude in Bliss River gekippt hatten. Im Nu war der Seifenschaum wie ein Tsunami über ihnen zusammengeschlagen.
„Glaub es ruhig“, erwiderte er knapp.
Inzwischen hatte sie den Schleier zurückgeschlagen. Darunter kam ein gerötetes Gesicht mit zerlaufenem Mascara zum Vorschein. Sie tat ihr Bestes, um Tripp finster anzufunkeln. Eine ihrer künstlichen Wimpern hatte sich gelöst und hing an ihrem Augenlid wie ein Insekt an der Windschutzscheibe. Tripp musste lachen.
Das war natürlich ein Fehler. Allerdings hätte er es, selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte, nicht geschafft, keine Miene zu verziehen. Dabei hatte er sein Glück wahrscheinlich schon genug herausgefordert. Über eine Frau zu lachen, die dermaßen wütend war, grenzte geradezu an Dummheit. Doch nun war es passiert.
Falls Will aus dem Himmel zuschaute, oder wo immer die guten Menschen landeten, hoffte Tripp nur, dass er zufrieden war. Es wäre leichter gewesen – und ungefährlicher –, mit einer Bärenmutter Walzer zu tanzen, als Hadleigh vor einem Leben mit jemandem wie Oakley Smyth zu retten.
Die Atmosphäre in der Fahrerkabine war zum Zerreißen gespannt. „Findest du das alles auch noch witzig?“, fuhr Hadleigh ihn an und verschränkte die Arme vor der Brust, was gar nicht so einfach war, weil das Kleid ihr im Weg war.
Tripp unterdrückte ein letztes Lachen. „Ja“, gestand er. „Ich finde das tatsächlich witzig. Und ich wette, dir wird es eines Tages auch so ergehen.“
„Ich hätte dich verhaften lassen können!“
„Nur zu“, erwiderte Tripp unbekümmert. „Bring Spence Hogan dazu, mich in den Knast zu werfen. Ich wäre allerdings schneller wieder draußen, als du ‚Pokerfreund‘ sagen kannst.“ Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber jetzt, wo du es erwähnst, würde ich meinen alten Kumpel Spence wirklich gern fragen, warum er dich nicht verhaftet hat, bis du zur Vernunft gekommen wärst und mit Smyth Schluss gemacht hättest.“ Er schüttelte den Kopf. „Smyth“, wiederholte er verächtlich. „Wie überheblich muss man eigentlich sein, um einen ansonsten absolut gewöhnlichen Namen mit y zu schreiben?“
„Du glaubst, du kennst Oakley“, meinte Hadleigh aufbrausend. „Aber das stimmt nicht.“
„Nein“, widersprach Tripp milde. „Du bist diejenige, die ihn nicht kennt.“
„Wir lieben uns! Zumindest liebten wir uns, bis du dich eingemischt hast! Wie soll ich den Leuten nach diesem Vorfall jemals wieder unter die Augen treten? Was ist mit all der Planung und dem Geld, das Gram und ich für dieses Kleid ausgegeben haben? Von den Blumen und dem Kuchen und den Brautjungfernkleidern für Bex und Melody ganz zu schweigen. Und zu allem Überfluss wartet in unserem Esszimmer auch noch ein Berg Geschenke, die wir jetzt zurückgeben müssen …“
Sie verstummte, und Tripp wartete eine Weile, bevor er sagte: „Du bist verliebt in die Liebe, Hadleigh. Das ist alles. Hast du denn noch gar nicht darüber nachgedacht, dass ein Mann, der eine Frau wirklich liebt, wenigstens irgendetwas gesagt, wenn nicht sogar gekämpft hätte, um zu verhindern, dass sie an ihrem Hochzeitstag aus der Kirche geschleppt wird?“
Dieses Argument nahm ihr den Wind aus den Segeln, und Tripp bereute seine Worte sofort – ein bisschen. Die Wahrheit tut weh. Leider war an dieser abgedroschenen Weisheit viel dran.
„Oakley ist ein Gentleman“, entgegnete sie schließlich und schniefte pikiert. „Kein raubeiniger Cowboy, der glaubt, er könne alles mit seinen Fäusten lösen!“
„Hast du etwas gegen Cowboys?“, neckte Tripp sie.
Erneut wurde sie knallrot. „Ach halt den Mund. Halt einfach den Mund.“
Diskretion war nie eine seiner Stärken gewesen. „Wo wir gerade dabei sind … warum, um alles in der Welt, klebst du dir falsche Wimpern an?“, fragte er mit echter Neugier. „Mit den Wimpern, mit denen du zur Welt gekommen bist, ist doch nichts verkehrt, soweit ich das beurteilen kann.“
Hadleigh stieß einen frustrierten Laut aus. „Bist du fertig?“, entgegnete sie sauer.
So viel zu einer vernünftigen Unterhaltung zwischen Erwachsenen.
Normalerweise hätte Tripp darauf bestanden, dass sie sich anschnallte. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie in dieser bauschigen Wolke aus jungfräulicher weißer Seide und Spitze den Gurt nicht finden würde.
Jungfräulich.
Ob Hadleigh noch unschuldig ist? Oder hatte Oakley Smyth – oder irgendein anderer schleimiger Typ – sie ins Bett gelockt?
Diese Vorstellung machte Tripp wütend, obwohl Hadleighs Sexleben ihn überhaupt nichts anging. Sicher, achtzehn war jung, doch so jung nun auch wieder nicht. Viele Frauen in dem Alter schliefen schon mit Männern, auch wenn sie nicht verheiratet waren.
Tripp beschloss, diesen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und ihn ebenso wenig auszusprechen. Denn das wäre einem Streichholz gleichgekommen, das man an eine Lunte hält.
Stattdessen würde er sich aufs Fahren konzentrieren.
Also rollten sie in gereiztem Schweigen über die ruhige Hauptstraße von Mustang Creek, vorbei an der Post und dem Lebensmittelladen sowie dem alten Kino, das während einer der letzten Rezessionen geschlossen worden war.
Nach und nach entspannte Tripp sich und erinnerte sich lächelnd an die alten Tage, als Hadleigh ein schlaksiges Mädchen gewesen war, mit zerschrammten Knien, knochigen Ellbogen, Zahnlücken und dem Sommersprossengesicht mit den großen Augen, in denen lauter Fragen standen. Damals war sie ihm und Will und ihren Freunden ständig hinterhergelaufen, wann immer sie es zuließen. Seitdem hatte sie sich zwar sehr verändert, aber das hieß doch noch lange nicht, dass sie sich für den Rest ihres Lebens an einen Mann binden musste. Bis dahin hatte sie immer noch eine Menge Zeit.
Was war denn mit dem College? Schließlich war sie sehr klug. Ihre Ergebnisse beim College-Eignungstest waren überdurchschnittlich gewesen, weshalb ihr ein Vollstipendium von einer der besten Universitäten im Land angeboten worden war. Außerdem … wollte sie nicht wenigstens ein bisschen von der Welt außerhalb von Wyoming, Montana und Colorado sehen? Sich in einigen Jobs ausprobieren, um herauszufinden, was ihr wirklich lag? Oder wenigstens für eine Weile allein wohnen?
Ein schrecklicher Gedanke kam Tripp, während er darüber nachdachte, warum sie es so eilig damit hatte, einen Ehemann zu finden. Und wie ein Idiot platzte er gleich damit heraus, anstatt es für sich zu behalten. „Sag mal … du bist doch nicht etwa schwanger?“
Sie erstarrte in ihrem Versuch, die falschen Wimpern abzureißen. „Selbstverständlich nicht. Oakley und ich haben – hatten – zwar vor, Kinder zu bekommen, allerdings nicht sofort.“ Wieder schimmerten Tränen der Empörung in ihren Augen.
Kein Wunder, dass sie sauer und enttäuscht war, schließlich hätte dies der schönste Tag ihres Lebens werden sollen. Vielleicht war er das auch, aber im Moment musste es sich für Hadleigh eher wie der schlimmste Tag anfühlen. Tripp war unendlich froh über ihre Antwort, hatte sich jedoch so weit im Griff, sich nichts anmerken zu lassen. Die Vorstellung, die süße, sensible und früher so vernünftige Hadleigh könnte das Kind eines anderen Mannes unter dem Herzen tragen, hatte ihn schwer getroffen.
Besonders da dieser Mann ihr höchstwahrscheinlich das Herz brechen würde, noch ehe die Flitterwochen vorbei waren.
Außerdem war Hadleigh einzigartig. Eine Frau, die echte, wahre Liebe verdiente, genauso wie sie es verdiente, beschützt zu werden, zusammen mit dem Baby, das sie eines Tages haben würde.
„Wenn Oakley dich liebt“, meinte Tripp mit sanfter, rauer Stimme, „wird er auf dich warten, Hadleigh. Er wird warten, bis du bereit bist, seine Frau zu werden.“
Sie wandte den Blick ab, und Tripp sah, dass sie wieder weinte und versuchte, es vor ihm zu verbergen. Etwas in ihm zog sich zusammen.
„Verrat. Mir. Wieso.“ Sie sprach jedes Wort mit Nachdruck und sehr langsam aus.
Bisher hatte Tripp keinen weiteren Plan gehabt als den, Hadleigh aus der Kirche zu holen, bevor sie Oakley Smyths Ehefrau werden und ihr Leben dadurch ruinieren konnte. Doch jetzt, wo sich der Aufruhr gelegt hatte, begann er, seine Möglichkeiten abzuwägen.
Falls da welche waren.
Er konnte Hadleigh nicht zu dem kleinen Haus fahren, das sie mit ihrer Großmutter bewohnte. Zumindest noch nicht, denn Alice Stevens war vermutlich noch in der Backsteinkirche und versuchte, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen. Vielleicht brachte sie in dieser Minute den unvermeidlichen Klatsch zum Verstummen.
So wie es schien, würde es jede Menge Tratsch geben, und Tripp verspürte nicht das geringste Bedürfnis, die Probleme noch zu verschlimmern, indem er Zeit mit Hadleigh allein hinter verschlossenen Türen verbrachte. Nicht einmal für die wenigen Minuten, die es dauern würde, bis Alice von der Kirche zu Hause war.
Wenn er Hadleigh irgendwo hinbrachte, wo sie ungestört waren, würden die Leute annehmen, dass er nicht nur ihre Tränen trocknen wollte, nachdem er ihre Hochzeit mit seinem Auftritt verhindert hatte.
Ihm und Hadleigh stand ein schwieriges Gespräch bevor, und das war nicht überall möglich. Die Ranch seines Stiefvaters war dafür nicht geeignet, denn sie lag mehrere Meilen außerhalb der Stadt und die Chancen standen gut, dass Jim um diese Zeit unterwegs wäre. Er nutzte das Tageslicht und ging so sorgsam damit um wie mit seinem Geld. Also wäre er höchstwahrscheinlich irgendwo auf seinem Land unterwegs, um verrostete Zäune zu flicken oder ein paar dürre Rinder zusammenzutreiben, die den letzten Winter überlebt hatten.
„Du“, stieß Hadleigh hervor, „wirst das nicht einfach abtun. Du wirst nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert, Tripp Galloway, denn du hast gerade meine Traumhochzeit verhindert, und das werde ich weder vergessen noch verzeihen!“
Er wertete das nicht als leere Drohung. Ein Gefühl von Aussichtslosigkeit überfiel ihn. Wenn das der Preis war, den er dafür zahlen musste, das Richtige gemacht zu haben – wovon er felsenfest überzeugt war –, dann okay. Aber das hieß nicht, dass es einfach werden würde.
Ein Stück die Straße hinunter entdeckte er Bad Billy’s Burger Palace und Drive-Thru und entschied, dass der Laden für eine Unterhaltung genügen würde. Mit etwas Glück wären nur die Bedienung sowie ein paar Stammgäste und Touristen da – und keine neugierige Meute. Die Ortsansässigen konnten anschließend übereinstimmend bezeugen, dass zwischen Tripp und der Braut, die er Oakley Smyth vor der aristokratischen Nase weggeschnappt hatte, nichts war. Alle anderen, die auch nur das leiseste Interesse am neuesten Klatsch hatten, hielten sich ohnehin noch am Ort des Verbrechens auf und zerrissen sich dort die Mäuler. Sie würden sich gegenseitig fragen, was nur aus dieser Welt geworden sei, und vorgeben, diesen ganzen Zirkus nicht inbrünstig zu genießen.
„Ich höre dich“, sagte Tripp müde, während er den Blinker setzte. Tripp stellte fest, dass er hungrig war. Kein Wunder, schließlich hatte er weder für das Frühstück noch für das Mittagessen Zeit gehabt, bevor er sich über den berüchtigten kalifornischen Freeway 405 zu dem Hangar kämpfen musste, wo seine Cessna aus dritter Hand auf ihn wartete. Es zeigte sich jedoch, dass der Luftverkehr über L. A. fast so chaotisch war wie die Engstellen auf den Highways unter ihm.
Als er endlich auf der Landebahn außerhalb von Bliss River aufsetzte, fünfunddreißig Meilen von Mustang Creek entfernt, zweifelte Tripp an seinem Verstand.
Jims klappriger Pick-up wartete startklar auf ihn, mit vollem Tank, steckendem Schlüssel und einer Nachricht, geschrieben auf die Rückseite eines alten Kalenderblatts aus dem Futtermittelladen – der Aprilseite 1994, um genau zu sein.
Konnte nicht auf dich warten, hatte Jim in seiner seltsam eleganten Handschrift geschrieben. Hab ein paar kranke Kälber auf der Ranch, deshalb ist Charlie – der neue Helfer – in seinem Wagen mitgefahren, um mich wieder mit nach Hause zu nehmen. Wir sehen uns später auf der Ranch. PS: Bring Hadleigh die Nachricht schonend bei, ja? Sie wird ziemlich verletzt sein und wütend wie eine Wildkatze, die mit allen vier Pfoten in einem Sirupbottich erwischt wurde.
Mit diesem weisen Ratschlag im Kopf war Tripp über kurvige Highways und Schotterpisten-Abkürzungen gerast, den Fuß praktisch im Vergaser des alten Pick-ups, damit er bloß rechtzeitig zur Kirche gelangte, bevor der Pfarrer die Sache mit den üblichen Worten besiegelte.
Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau.
Die Gefahr war mittlerweile gebannt, trotzdem schüttelte es Tripp bei der Vorstellung, dass Hadleigh um ein Haar Mrs Oakley Smyth geworden wäre.
Hadleigh starrte durch die staubbedeckte Windschutzscheibe und machte ein verblüfftes Gesicht. „Bad Billy’s?“, fragte sie, während Tripp den Pick-up auf den Parkplatz lenkte. „Was machen wir hier?“
„Ich komme um vor Hunger“, antwortete Tripp freundlich und stellte den Wagen in der Nähe der Tür ab. Der Parkplatz war fast leer, ein gutes Zeichen. „Und ich glaube, du möchtest ein paar Antworten.“
„Ich trage ein Hochzeitskleid“, erinnerte sie ihn, indem sie die Worte zwischen ihren zusammengebissenen, perfekten weißen Zähnen hervorstieß. Vor gar nicht so langer Zeit war sie ein „Metallmund“ gewesen, wie Will sie genannt hatte. Tripp dachte mit einem Anflug von Nostalgie daran und verkniff sich ein Grinsen. Damals hatte sie so viel Stahlgitterwerk im Mund gehabt, dass sie lispelte.
„Ist mir schon aufgefallen.“
„Kannst du mich nicht einfach nach Hause bringen?“ Hadleigh klang jetzt kleinlaut; ihre Kraft ließ nach. Das war nur ein vorübergehender Zustand, wie er vermutete. Binnen weniger Minuten würde sie bereits wieder versuchen, ihm die Augen auszukratzen.
„Denk an deinen Ruf“, riet er ihr. „Wie sähe es denn aus, wenn wir bei dir zu Hause allein wären, nach dem, was passiert ist? Was würden die Leute sagen?“
„Als würde es dich kümmern, was irgendwer denkt“, konterte Hadleigh und verdrehte dabei die Augen. „Wie dem auch sei, ich versuche jedenfalls, nicht an meinen Ruf zu denken. Denn der dürfte ernsthaft Schaden erlitten haben.“
Tripp grinste, stieg aus dem Auto und ging auf ihre Seite. Er öffnete die Tür, während sie nach dem Türknopf suchte, um ihn auszusperren. In ihrem aufgebrachten Zustand kam ihr anscheinend nicht in den Sinn, dass er jederzeit mit dem Schlüssel aufschließen konnte.
„Möchtest du selbst laufen?“, erkundigte er sich übertrieben höflich und verbeugte sich. „Oder soll ich dich tragen?“
Es sah aus, als ergieße sich aus dem Wagen eine schimmernde Wolke aus Stoff. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf den Boden, wobei sie jede Hilfe von Tripp ablehnte. Der glitzernde Saum ihres prächtigen Kleids schleifte über den Schotter vor Bad Billy’s Restaurant, zwischen weggeworfenen Zigarettenkippen, Kaugummipapier und Strohhalmen hindurch.
„Wage es ja nicht, mich anzufassen“, warnte sie ihn mit anscheinend neu erwachter Wut und rauschte majestätisch an ihm vorbei, wie eine Königin vor ihrem großen Auftritt bei Hofe – oder beim Gang zur Guillotine mit der Würde der Unschuldigen. Der Schleier hing auf ihren Rücken hinunter, nur noch von einer Haarnadel gehalten, die herauszurutschen drohte, sodass ihr wundervolles braunes Haar sich aus dem ehemals anmutigen Knoten lösen und herabgleiten würde.
„Würde mir nicht im Traum einfallen“, erwiderte Tripp erneut grinsend. „Dich anzufassen, meine ich.“
Er beschleunigte seine Schritte, um Hadleigh zu überholen, und hielt ihr die schwere Glastür auf, bis sie an ihm vorbeigeschritten war.
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick über die Schulter zu und marschierte mit gestrafften Schultern und hoch erhobenen Hauptes an dem Schild vorbei, auf dem stand, man möge bitte warten, bis man zu einem Tisch geführt wurde.
Wie Tripp gehofft hatte, waren nur ein paar Kellnerinnen und Bedienungen am Autoschalter in dem Schnellrestaurant, außerdem der Koch und ein Typ, der mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kirschkuchen vor sich auf seinem Barhocker saß.
Tripps Magen fing an zu knurren.
Unterdessen näherte Hadleigh sich, immer noch in königlicher Haltung, der nächsten Tischnische und rutschte auf die mit Vinyl bezogene Sitzbank, wobei sie einen lustigen Versuch unternahm, ihre wogenden Röcke, und was sich sonst noch darunter befand, zu bändigen. Ihr Gesicht war jetzt blass, und erneut überfiel Tripp Mitgefühl. Oder war es Reue?
Vermutlich von beidem ein bisschen.
Er setzte sich auf die Bank ihr gegenüber.
Eine Kellnerin – auf ihrem Namensschild stand Ginny – kam mit tänzelnden Schritten und großen Augen an ihren Tisch. In Las Vegas oder Los Angeles mochten die Leute in Hadleighs Kleidung in billige Schnellrestaurants gehen, aber in Mustang Creek, Wyoming, passierte das einfach nicht.
Zumindest nicht bis zum heutigen Tag.
„Was darf’s sein?“, erkundigte sich die Bedienung, als würde sie Frauen in Hochzeitskleidern jeden Tag Essen servieren. „Das Tagesgericht ist Hackbraten-Sandwich mit Salat und einem Dressing Ihrer Wahl.“
Halbwegs rechnete Tripp damit, dass Hadleigh verkündete, sie sei entführt worden und verlange, auf der Stelle die Polizei zu rufen. Zu seiner Überraschung erklärte sie stattdessen bestimmt: „Ich nehme einen Cheeseburger, medium, dazu einen Schokoladen-Milchshake, bitte. Mit Schlagsahne.“
„Für mich das Tagesgericht“, sagte Tripp ein wenig heiser, sobald er an der Reihe war. „Blue-Cheese-Dressing auf dem Salat.“
Ginny – sie kam ihm nicht bekannt vor, aber er war auch lange fort gewesen – schrieb alles sorgfältig auf ihren Block und verschwand.
„Ich hatte schon seit sechs Wochen keinen Milchshake mehr“, gestand Hadleigh und klang, wie Tripp fand, als wollte sie sich rechtfertigen, da sie fest damit rechnete, dass er sie kritisierte. „In diesem verdammten Kleid ist kein Platz für ein einziges zusätzliches Pfund, obwohl ich monatelang wie verrückt trainiert und nur von Salatblättern und Wasser gelebt habe.“
„Ich schätze, du kannst es riskieren“, erwiderte er. Für seinen Geschmack sah sie gut aus, besser als gut, gemessen daran, wie dieses Kleid ihre Kurven mit aufregender Vollkommenheit umschmeichelte.
Sie verzog das Gesicht. „Vielen Dank.“ Ihr Ton war so säuerlich wie ihre Miene.
„Warum sich nicht auf das Gute konzentrieren? Da die Hochzeit gestorben ist, kannst du essen, so viel du willst.“ Er machte eine Pause. „Solange keine Naht platzt, bevor du zu Hause bist, ist doch alles in Ordnung.“
Sie kniff die ausdrucksvollen, goldgesprenkelten Augen zusammen. Selbst mit verlaufenem Make-up war ihr Gesicht wunderschön, auf eine unperfekte Art.
„Ist dir eigentlich klar, dass mein ganzes Leben ruiniert ist?“, fuhr sie ihn an. „Und das ist alles deine Schuld!“
„Du bist achtzehn“, erinnerte er sie. „Dein ganzes Leben hat noch gar nicht angefangen.“
„Das glaubst du vielleicht. Außerdem bin ich schon ziemlich reif für mein Alter.“
„Von wegen“, konterte Tripp.
„Deiner Meinung nach“, erwiderte sie. „Wie dem auch sei – falls du es vergessen haben solltest: Es ist absolut legal, wenn eine Frau mit achtzehn heiratet.“ Sie verzog das Gesicht. Selbst das sah gut aus bei ihr. „Und wenn Gram nichts dagegen hat, warum dann du?“
Er beugte sich über den Tisch. „Deine Großmutter hat vermutlich etwas dagegen, nur verfügt sie nicht über die Kraft, dich aus der Kirche zu schleppen. Und erzähl mir bloß nicht, sie hätte sich nicht den Mund fusselig geredet, damit du begreifst, dass es besser ist, noch eine Weile zu warten. Ich kenne Alice Stevens zu gut, um das auch nur eine Sekunde lang zu glauben. Du warst einfach zu stur und wolltest nicht auf sie hören, das ist alles.“
Ihr Kopf lief rot an, und sie wich seinem Blick aus – offenbar war Alice tatsächlich gegen die Heirat gewesen. Dann schaute sie ihn wieder an, so durchdringend, dass er es fast körperlich spürte. „War es Gram? Hat sie dich gebeten zurückzukommen und das zu tun, was du gemacht hast?“
„Nein“, antwortete er. „Ich verfolge die Lokalnachrichten online. Dabei habe ich erfahren, dass du heiraten wirst. Deine Großmutter hatte nichts damit zu tun.“
„Du mochtest Oakley noch nie, genauso wenig wie mein Bruder. Ich verstehe nicht, warum, denn er ist wirklich sehr lieb.“
Es stimmte, weder Tripp noch Will hatten sich mit Oakley abgeben wollen, der während der gesamten Schulzeit in ihrer Klasse gewesen war. Darum, dass er sieben Jahre älter war als Hadleigh, ging es nicht.
Ebenso wenig entscheidend war in diesem Fall Tripps schlechte Meinung von Oakley, der ein Schleimer und hinterhältiger Typ war und vom Kindergarten an bis zur Abschlussklasse andere schikaniert hatte. Hier ging es um ein Versprechen, das Tripp seinem Freund Will vor einigen Jahren gegeben hatte, als dieser sterbend in einem Feldlazarett in Afghanistan gelegen hatte. Vor allem aber ging es um die Recherche, die Tripp betrieben hatte, obwohl er Smyth schon so lange kannte. Er hatte einfach das Gefühl gehabt, dass sich da noch mehr verbarg.
Und natürlich stellte sich diese Vermutung als richtig heraus.
Jetzt war er also wieder hier, zurück in seiner alten Heimatstadt, und saß an einem Tisch im Schnellrestaurant der Braut gegenüber, die er vor knapp einer halben Stunde gekidnappt hatte.
Das Essen wurde serviert. Die Kellnerin eilte gleich wieder davon, nachdem sie beide kurz und gründlich gemustert hatte. Hadleigh rührte ihren Cheeseburger nicht an, und auch Tripp ließ sein Hackbraten-Sandwich unberührt auf dem Teller liegen.
Mit leiser Stimme erzählte er Hadleigh von der Tänzerin in Laramie, einer Frau namens Callie Barstow. Mit ihr hatte Oakley immer wieder zusammengelebt, über fünf Jahre lang. Bis zum letzten Wochenende, um genau zu sein. Darüber hinaus hatten die beiden gemeinsame Kinder, einen vierjährigen Jungen und ein sechs Monate altes Mädchen. Die Kinder trugen Callies Nachnamen, und der Smyth-Clan wusste entweder nichts von ihrer Existenz oder ignorierte sie einfach, bis sie vielleicht wieder aus seinem Leben verschwinden würden.
Laut dem Bericht des Detektivs fing Callie allmählich an, unter der ständigen Heimlichtuerei zu leiden. Sie wollte, dass ihr und den Kindern Respekt entgegengebracht wurde sowie angemessene finanzielle Unterstützung, und die Kinder sollten als rechtmäßige Erben des Smyth-Vermögens anerkannt werden. Aber Oakley drückte sich anscheinend nicht nur vor der Ehe mit ihr, sondern überhaupt davor, die Frau seinen Eltern vorzustellen. Das Ende vom Lied war, dass Callie die ganze Situation satt hatte. Falls Oakley seinen Eltern weiterhin nichts von ihren Enkeln erzählte, würde sie es tun.
Oakley wollte diese peinliche Konfrontation weiter hinauszögern, wusste allerdings gleichzeitig, dass er das nicht ewig schaffen würde. Also beendete er ziemlich theatralisch die Beziehung. Die Kinder unterstützte er weiter, das musste sogar Tripp ihm widerstrebend zugutehalten. Dann machte er Hadleigh einen Antrag. Offenbar hoffte er, Callies unausweichlichem Geständnis die Brisanz nehmen zu können, indem er eine Frau heiratete, die gesellschaftlich akzeptierter war.
Obwohl die Stevens im Vergleich zu den Smyths eher arm waren, waren sie alteingesessen. Sie galten als eine sehr geachtete Familie. Hadleighs und Wills Vorfahren gehörten zu den allerersten Pionieren, die sich in den 1850ern in dem Landstrich niedergelassen hatten, lange vor den landhungrigen Einwanderern, die auf den Bürgerkrieg folgten. In Orten wie Mustang Creek zählte diese lange Verbundenheit eine Menge.
Das alles wäre völlig in Ordnung gewesen – bis auf die Tatsache, dass Oakley weiterhin regelmäßig mit Callie schlief.
Ansehen zu müssen, wie Hadleigh diese Informationen verarbeitete, war schlimmer als alles, was Tripp bis dahin hatte durchmachen müssen. Natürlich mit Ausnahme der Tiefpunkte seines Lebens, als er seine Mutter verloren und einige Jahre später am Totenbett seines besten Freundes gewacht hatte, in einem fremden Land, unfassbar weit weg von zu Hause.
Manche Leute, vermutlich die meisten, hätten jetzt Beweise gefordert: Fotos, Dokumente, irgendetwas, das die Wahrheit dessen belegte, was Tripp erzählt hatte. Aber Hadleigh hörte nur zu und glaubte ihm. Ihre Träume zerplatzten, eine Welt stürzte für sie ein, das erkannte er in ihren braunen Augen.
Das Schlimmste jedoch kam erst noch, denn Hadleigh fragte ihn, ob er sie mit nach L. A. nehmen könnte, wenn er wieder abreiste. Er gab ihr eine Antwort, von der er wusste, dass sie so schmerzhaft sein würde wie ihr zerbrochenes Märchen von der Hochzeit.
„Das geht nicht“, erklärte er ruhig. „Meine Frau hätte kein Verständnis dafür.“
Mustang Creek, Wyoming, heute
Mitte September
Tja, Hund, wir sind fast zu Hause“, sagte Tripp Galloway zu seinem Beifahrer, einem schielenden schwarzen Labrador, den er im letzten Jahr als Welpen von der Ladefläche eines zerbeulten Pick-ups am Rand eines Highways in Seattle gekauft hatte.
Ridley sah ihn an und gähnte herzhaft.
Tripp seufzte. „Die Wahrheit ist, dass ich auch nicht allzu begeistert bin“, gestand er.
Ridley gab ein mitfühlendes Jaulen von sich und drückte die Schnauze wieder an die fleckige Scheibe auf der Beifahrerseite. Das war seine Art zu sagen, dass er gern den Kopf aus dem Fenster stecken würde, wenn es Tripp recht wäre, um seine Ohren im Wind flattern zu lassen wie zwei pelzige Fahnen.
Tripp lachte und drückte den Knopf auf seiner Armlehne, um Ridleys Fenster bis zur Hälfte herunterzulassen. Das unausweichliche Röhren erfüllte die große Kabine. Der Hund war im Hundehimmel, während sein Herrchen sich nicht zum ersten Mal fragte, wie Ridley bei dem heftigen Fahrtwind atmen konnte.
Ein weiteres kleines Geheimnis des Lebens, dachte er.
Vor sich erkannte er die heruntergekommenen Randbereiche von Mustang Creek – hier und dort eine Tankstelle mit Shop, ungepflegte Grundstücke mit ein paar einsamen Wohnwagen, die ihre besten Tage hinter sich hatten, und mehr Lagerhäuser, als irgendeine Gemeinde brauchte, besonders von der Größe seiner Heimatstadt.
Das sind vermutlich die Zeichen der Zeit, dachte Tripp ein wenig mürrisch, dass die Leute so verdammt viel Zeug haben, dass ihre Häuser und Garagen überquellen. Statt einmal in sich hineinzuhorchen und sich zu fragen, welche Leere sie in ihrem Innern auszufüllen versuchten, kauften sie noch mehr Zeug und mieteten sich dann einen Lagerplatz, um die Ergebnisse exzessiven Einkaufens unterzubringen. Wenn das in diesem Tempo weiterging, würde bald der ganze Planet überschwemmt sein mit Kartons und Kisten voller vergessener Dinge.
Resigniert schüttelte er den Kopf. Er war ein wohlhabender Mann, hielt es aber für sinnvoll, von allem nur ein Teil zu besitzen, ob es sich nun um Uhren handelte, Stiefel, Häuser oder Autos. Natürlich machte er gewisse Ausnahmen, zum Beispiel bei Hunden, Pferden und Rindern, um nur einige zu nennen. Andererseits waren Tiere keine Dinge.
Tripp lenkte seine Gedanken wieder auf die bevorstehende Heimkehr. Im Lauf der Jahre war er immer mal wieder hier gewesen, zu Thanksgiving oder zu Weihnachten, zu Beerdigungen und Hochzeiten – von denen eine besonders denkwürdig gewesen war. Außerdem zu einem oder zwei Klassentreffen in der Highschool. Aber es war schon sehr lange her, seit er hier gewohnt hatte.
Außerhalb der Saison war Mustang Creek nur ein verschlafenes kleines Nest in einem großen Tal, mit hoch aufragenden Bergen an allen Seiten. Im Sommer, wenn die Leute Familienurlaub machten und Wohnmobile und Minivans durchkamen, um sich entweder auf dem Weg zum oder vom Yellowstone die Grand Tetons anzusehen, kam Leben in den Ort. Die zweite lebhafte Saison war natürlich der Winter, wenn Besucher aus aller Welt zum Skilaufen kamen, eine der beeindruckendsten Landschaften bewunderten und zur Freude der mitunter genervten Einwohner viel Geld ausgaben.
Zufällig trafen Tripp und Ridley in der kurzen ruhigen Spanne zwischen den Besucherströmen ein. Tripp freute sich darauf, eine ruhige Zeit auf der Ranch seines Stiefvaters zu verbringen und wieder einmal richtig körperlich zu arbeiten. Nachdem er jahrelang sein kleines, aber profitables Charterjet-Unternehmen von Seattle aus geführt hatte, sehnte er sich nach der Befriedigung, die ein schweißtreibender, die Muskeln beanspruchender Tag auf der Ranch verschaffte. Ironischerweise hatte er in seinem Unternehmen meistens hinter dem Schreibtisch gearbeitet, statt im Cockpit zu sitzen, wo er viel lieber gewesen wäre.
Er hatte einige schwerwiegende Veränderungen in seinem Leben vorgenommen, die meisten in jüngster Zeit. Dazu gehörte, dass er seine Firma inklusive aller sechs Flugzeuge sowie sein Penthouse mit der atemberaubenden Aussicht auf Elliot Bay verkauft hatte.
Den Stadtverkehr vermisste er nicht, weder das Gehupe noch den anderen Lärm und auch nicht das Gedränge, durch das man sich ständig schieben musste.
Tripp Galloway war bereit für ein wenig Erholung auf dem Land.
Mehr als bereit.
Es gab Dinge in seiner Vergangenheit, die er bewältigen musste, jetzt, wo er vorübergehend die Überholspur des Lebens verlassen hatte, mit all den Tabellen und Kalkulationen, den Dreiteilern und Meetings – ganz zu schweigen von der permanenten Flut an Textnachrichten, Anrufen und Entscheidungen, die es zu treffen galt, und zwar ständig, sofort und am besten gestern.
Hier, draußen auf dem Land, würde er nicht mehr verdrängen können, was rund um die Uhr in seinem Unterbewusstsein brodelte. Zum Beispiel der Verlust seiner Mutter, als er sechzehn gewesen war. Oder hilflos am Bett seines besten Freundes zu sitzen, während dieser starb, Tausende Meilen weit von zu Hause entfernt. Und dann war da noch seine kurze Ehe, die inzwischen acht Jahre zurücklag. Er und Danielle kamen ohneeinander besser zurecht, daran bestand kein Zweifel. Trotzdem war die Scheidung eine sehr schmerzliche Erfahrung gewesen.
Seitdem war er mit vielen Frauen ausgegangen, hatte jedoch stets darauf geachtet, sich nicht zu sehr auf sie einzulassen. Sobald die jeweilige Dame von Kindern und einem Haus anfing und Hochzeitszeitschriften herumliegen ließ, aufgeschlagen bei Hochzeitskleidern oder günstigen Verlobungsringen, beendete er die Sache, und zwar schnell. Dabei war es nicht so, dass Tripp kein Zuhause oder keine Familie wollte.
Er hatte geglaubt, Danielle wolle beides auch.
Das war ein Irrtum gewesen.
Als sie die Beziehung nach etlichen Meinungsverschiedenheiten endlich beendeten, machte ihm nicht Danielles Auszug noch monatelang, sogar jahrelang zu schaffen, sondern der geplatzte Traum. Das Scheitern.
Tripp verdrängte die deprimierenden Gedanken, während er und sein Hund ins Zentrum der kleinen Stadt fuhren. Er wollte sich nicht von der Vergangenheit herunterziehen lassen. Ridley hatte den Kopf wieder eingezogen und beobachtete die Umgebung mit heraushängender Zunge.
Mustang Creek in ordentlichem Zustand bot einen interessanten Anblick. Die Main Street war gestaltet wie eine alte Westernstadt, mit Holzfassaden an sämtlichen Gebäuden, Gehsteigen aus Planken und Anbindepfosten. Vor einigen Läden gab es sogar Pferdetröge. Obwohl ein paar der Lokale Namen hatten, die nach einem Saloon klangen – the Rusty Bucket, the Diamant Spur und so weiter –, gab es nur eine echte Bar, die Moose Jaw Tavern. Hinter dem Rusty Bucket verbarg sich eine Versicherung, und das Diamont Spur war eine Zahnarztpraxis.
Vielleicht war dieser Westernstil kitschig, aber Tripp gefiel es irgendwie. In manchen Momenten hatte er das eigenartige Gefühl, in ein Zeitloch gefallen und im neunzehnten Jahrhundert gelandet zu sein, als das Leben noch unkomplizierter, wenn auch unkomfortabler war.
Nachdem sie die Main Street hinter sich gelassen hatten, sah die Stadt gleich moderner aus, wenn man die 1950er denn modern nennen wollte. Hier standen gepflegte Schindelhäuser mit gestrichenen Veranden und eingezäunten Vorgärten, in denen die letzten Sommerblumen blühten. Die Gehsteige wölbten sich an einigen Stellen, hauptsächlich durch Baumwurzeln, und Hunde liefen allein durch die Straßen, sauber und gut gefüttert. Sie fühlten sich sicher, weil sie jemandem gehörten, jeder sie mit Namen kannte und sie den Weg nach Hause ganz leicht fanden.
Ridley jaulte, wahrscheinlich vor Neid, als sie an einem dieser selig herumstreunenden Hunde vorbeikamen.
Tripp lachte und tätschelte den Hals des Labradors. „Beruhige dich“, sagte er. „Sobald wir auf der Ranch sind, wirst du mehr Auslauf haben, als dir lieb ist.“
Ridley legte die Schnauze auf das Armaturenbrett, rollte mit den Augen und seufzte, als wollte er sagen: „Alles nur leere Versprechungen.“
Und dann tauchte sie plötzlich auf, die Kirche aus rotem Backstein, ganz unverändert wie der Rest der Stadt. Ihr Anblick erinnerte Tripp daran, wie er Hadleigh Stevens’ Hochzeit gesprengt hatte, indem er sie wie einen Sack Getreide einfach über die Schulter geworfen und hinausgetragen hatte. Ein seltsames Gefühl meldete sich in seinem Bauch.
Es war nicht so, dass er bedauerte, was er getan hatte. Die Zeit hatte gezeigt, dass es richtig gewesen war. Der Idiot Oakley Smyth, den sie fast geheiratet hätte, wurde gerade das dritte Mal geschieden, wegen Spielsucht und seiner Abneigung gegen die Monogamie. Darüber hinaus war sein Vermögen dank einer Klausel im Testament seiner Eltern, die jede Änderung gestattete, die der Testamentsvollstrecker für angebracht hielt, nicht mehr wert als ein Traktor, den man bei Wind und Wetter draußen vor sich hinrosten ließ. Das hatte zur Folge, dass der Geldfluss von einem Sturzbach zu einem Tröpfeln verkümmerte.
Es schien, als sei Oakley dieser Tage nicht unbedingt zu beneiden.
Das war Tripp nur recht. Was ihm hingegen gar nicht recht war, weder damals noch heute, war, Hadleigh so verletzt zu sehen – und zu wissen, dass er ihr persönlich das Herz gebrochen hatte, egal wie gut seine Absichten auch gewesen sein mochten. Zu wissen, dass sie nie das gefunden hatte, was sie wirklich wollte, schon seit sie ein kleines Mädchen war: ein Zuhause und eine Familie, und zwar die ganz traditionelle, die aus Mann und Frau, den statistischen zweieinhalb Kindern und ein paar Haustieren bestand.
Als sie den Ort verließen, setzte ein leichter Nieselregen ein, passend zu seiner Stimmung – das Wetter konnte sehr schnell umschlagen in Wyoming. Bis zur Ranch waren es noch etwa zehn Meilen, und Tripp gab Gas, denn er konnte es nicht erwarten, endlich dort hinzugelangen.
Während der Wagen Fahrt aufnahm, ließ Ridley ihn wissen, dass er ein weiteres Mal seinen Kopf in den Wind stecken wollte, Regen hin oder her.
Regen.
Nun, dachte Hadleigh Stevens, im Gegensatz zu mir werden die Farmer und Rancher ihn zu schätzen wissen.
Manche Leute fühlten sich bei solchem Wetter richtig wohl. Sie kochten sich Tee, entzündeten ein hübsches Feuer im Kamin, streiften die Schuhe ab und schlüpften in bequeme Slipper. Doch Hadleigh machte es immer ein wenig traurig, wenn der Himmel sich bewölkte und es zu regnen begann, ob in Strömen oder nur tröpfelnd.
An jenem Nachmittag vor vielen Jahren hatte es auch geregnet, als ihre Großmutter in die Schule gekommen war, das Gesicht von Kummer zerfurcht und ohne ein Wort zu sagen, um Hadleigh abzuholen. Sie waren in Grams altem Kombi weggefahren, um Will abzuholen. Blass wartete er vor dem Gebäude der Highschool und scherte sich nicht um den Regen. Da er sieben Jahre älter war als sie, wusste er, was sie nicht wusste – dass ihre Eltern nur Stunden zuvor bei einem Autounfall außerhalb von Laramie ums Leben gekommen waren.
Es regnete auch am Tag der Beerdigung ihrer Mom und ihres Dads und auch einige Jahre später, als Hadleigh und ihre Großmutter vom Wills Tod erfuhren, der an den Folgen einer Bombenexplosion in Afghanistan gestorben war.
Und als Gram schließlich nach langer Krankheit gestorben war, hatten alle ihre Schirme unter dem grauen Himmel aufgespannt, wie bunte Pilze.
Heute versuchte Hadleigh mit ihrer üblichen Methode, die düstere Stimmung zu vertreiben – indem sie sich beschäftigte.
Sie hatte Patches mittags geschlossen, den Stoffladen, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ihre beiden engsten Freundinnen wollten heute Abend vorbeikommen, in einer ernsten Angelegenheit. Das bescheidene Haus war ordentlich und sauber. Hadleigh hatte nach dem Mittagessen eine Stunde lang gesaugt, Staub gewischt und Möbel poliert, doch es gab immer noch viel zu tun. Zum Beispiel musste sie noch duschen, etwas mit ihren Haaren machen und einen Kuchen zum Nachtisch backen.
Sie warf gerade einen letzten kritischen Blick auf das Wohnzimmer, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war, als sie draußen auf der Veranda ein vertrautes Jaulen hörte, gefolgt von beharrlichem Kratzen an der Fliegentür.
Muggles.
Als Hadleigh die Tür öffnete, flog ihr Herz dem klitschnassen Golden Retriever zu, der einsam auf ihrer Fußmatte saß, mit leuchtenden braunen Augen, in denen sich Hoffnung und Zerknirschtheit widerspiegelten.
Langsam trat Muggles über die Türschwelle und tropfte den bunten Teppich in dem kleinen Flur voll. Wieder schaute das Tier betrübt zu Hadleigh auf.
„Ist schon gut“, versicherte sie und beugte sich herunter, um ihm den Kopf zu tätscheln. „Mach schön Platz. Ich hole dir ein hübsches flauschiges Handtuch. Dann bekommst du etwas zu essen und kannst es dir vor dem Feuer gemütlich machen.“
Gehorsam setzte Muggles sich, und um die Hündin herum bildeten sich kleine Regenpfützen.
Hadleigh lief schnell ins Badezimmer – Gram hatte es die Damentoilette genannt – und nahm ein blaues Handtuch aus dem Regal zwischen Waschbecken und Toilette.
Zurück im Flur kniete sie neben Muggles, wickelte sie in das Handtuch und trocknete das dreckige Fell so gut sie konnte.
„Und jetzt zum Futter“, sagte sie, als Muggles so sauber war, wie es ohne Bad oder gründliches Abduschen eben ging. „Folge mir.“
Muggles wedelte einmal mit dem buschigen Schwanz und erhob sich vom Teppich.
Das arme Ding roch nach – nassem Hund. Noch immer hingen Matschklumpen im Fell der Hündin, doch es kam Hadleigh nicht in den Sinn, sich über ihre sauberen Teppiche oder frisch gewischten Fußböden aufzuregen.
In der Küche, die wie der Rest des Hauses angenehm unmodern war, ging Hadleigh zur Speisekammer, wo die Plastiknäpfe standen, die sie extra für Muggles gekauft hatte. Die Hündin war in den vergangenen drei Monaten regelmäßig zu Besuch gekommen, seit ihre Besitzerin Eula Rollins gestorben war. Eulas Mann Earl war schon alt, nicht mehr gesund und überdies vom Kummer über den Verlust seiner geliebten Frau gebeugt. Er war kein unfreundlicher Mensch, nur neigte er verständlicherweise dazu, manche Dinge zu vergessen – zum Beispiel dazu, den Hund wieder ins Haus zu lassen.
Darum hielt Hadleigh einen Fünfundzwanzig-Kilo-Sack Hundetrockenfutter vorrätig, genau wie einen Stapel alter Decken im Flurschrank – für genau solche Momente, in denen Muggles Wasser, eine Mahlzeit und einen Platz zum Ausruhen brauchte.
An der Spüle füllte sie einen der Näpfe mit Wasser. Während Muggles durstig trank, ging Hadleigh auf die Veranda, um eine großzügige Portion Trockenfutter zu holen.
Als der Hund fraß, nahm Hadleigh die Decken aus dem Schrank im Flur und legte sie vor den Pelletofen in der einen Ecke der Küche. Kaum hatte Muggles zu Ende gefressen, trottete sie müde zu dem improvisierten Hundebett, drehte sich ein paarmal und legte sich zum Schlafen nieder.
Hadleigh seufzte. Wie die meisten Frauen in der Nachbarschaft kümmerte sie sich um Earl, indem sie ihm hin und wieder einen Auflauf brachte oder einen frisch gebackenen Kuchen, seine Medizin von der Apotheke abholte, ihm die Zeitung und die Post brachte. Und vor jedem Besuch nahm sie sich vor, den alten Mann auf Muggles anzusprechen, sehr behutsam natürlich. Doch sobald sie die Straße überquert, an die vertraute Tür geklopft und er sie hineingelassen hatte, verlor sie angesichts seiner Einsamkeit und Verzweiflung, die überdeutlich zu spüren war, den Mut.
Ein andermal, sagte sie sich dann schuldbewusst. Morgen oder übermorgen spreche ich ihn darauf an, ob ich Muggles nicht lieber adoptieren sollte. Earl liebt diesen Hund. Und er ist alles, was ihm von Eula geblieben ist, abgesehen von bittersüßen Erinnerungen und diesem alten Haus voller Nippes.
Tja, dachte sie seufzend, während der Regen heftig auf ihr Dach prasselte, vielleicht ist „ein andermal“ jetzt. So viel Mitgefühl sie auch für Earl empfand, irgendetwas musste geschehen. Muggles konnte schließlich nicht für sich sprechen, also blieb Hadleigh nichts anderes übrig.
Entschlossen nahm sie ihre Kapuzenjacke von einem der Haken auf der hinteren Veranda. Sie musste zwischen anderen Jacken wühlen, da Grams dort immer noch hingen, zusammen mit der zerschlissenen Jeansjacke, die erst ihrem Dad und später Will gehört hatte.
Sie spürte einen Kloß im Hals und berührte einen der Ärmel, der am Ellbogen ganz weich war und an den Aufschlägen aus-gefranst. Für einen Augenblick überließ sie sich den Erinnerungen an die beiden Männer. Da sie ein deutlicheres Bild von Will hatte, erinnerte sie sich an den Klang seines Lachens, an die Art, wie er stets die Fliegentür beim Betreten oder Verlassen des Hauses zugeknallt hatte, begleitet von Grams gut gemeinten Ermahnungen.
Wie viele jüngere Geschwister hatte Hadleigh ihren großen Bruder verehrt. Inzwischen hatte sie seinen Verlust zwar akzeptiert, konnte sich aber nicht damit abfinden, wie unfair es war. Er war noch so jung gewesen, als er starb, voller Möglichkeiten, Energie und Idealismus, und er hatte nie die Chance bekommen, seine Träume zu verwirklichen.
Jahrelang hatte der Duft von Wills Aftershave noch in dieser Jacke gehangen, mit einem Hauch Holzrauch. Doch nun verströmte das Kleidungsstück einen feuchten Regentaggeruch, ein wenig muffig – wie ein alter Schlafsack, den jemand zusammengerollt und im Keller oder auf dem Dachboden verstaut hatte, um ihn anschließend zu vergessen.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich angesichts der Traurigkeit, die sie zu übermannen drohte. Denk ans Hier und Jetzt, denn nur das zählt.
Entschlossen setzte sie ihre Kapuze auf und zog die Bänder fest. Dann marschierte sie hinaus in den Regen.
Die Hände tief in den Taschen, folgte sie mit gesenktem Kopf dem betonierten Weg neben dem Haus, an Blumenbeeten und den vertrauten Fenstern vorbei. Im Stillen ging sie all die Dinge durch, die sie Earl sagen könnte, sobald er die Tür aufmachte – und verwarf gleich darauf wieder alles.
Was sie sich ausdachte, klang so … herablassend. Wie konnte sie diesem guten Mann erklären, dass er zu alt und zu krank war, um sich ausreichend um seinen Hund zu kümmern? Earl Rollins hatte sein ganzes Leben lang hart gearbeitet, war in der Kirche aktiv gewesen und in der Gemeinde. Er hatte in den letzten Jahren nicht nur seine berufliche Identität und die gewöhnlichen Freiheiten verloren, die jüngere Leute für selbstverständlich nahmen, zum Beispiel den Führerschein. Er hatte auch Eula verloren, seine Partnerin.
Auf der anderen Seite war da Muggles, eine lebendige, atmende Kreatur, die Futter brauchte, ein Dach über dem Kopf und Liebe.
Hin- und hergerissen zwischen Verantwortung und Mitleid setzte Hadleigh ihren Weg fort, erreichte den Vorgarten und blieb dann unvermittelt im nassen Gras stehen.
Ein Krankenwagen bog gerade mit Blaulicht in die Auffahrt der Rollins ein.
Hadleigh schaute kurz nach links und rechts und rannte über die Straße. Ihr Herz pochte schnell.
Eine andere Nachbarin, Mrs Culpepper, stand in Earls Türrahmen und winkte den Sanitätern, sie sollten sich beeilen.
„Schnell“, flehte sie.
Das musste Hadleigh der Frau von den Lippen abgelesen haben, denn wegen des prasselnden Regens auf den Dächern, Gehsteigen und dem Asphalt war es unmöglich, etwas zu hören.
Die Rettungssanitäter liefen an Mrs Culpepper vorbei und verschwanden im Haus.
Hadleigh rannte zur Veranda. Sie wollte niemandem im Weg sein, aber sie musste unbedingt wissen, was passiert war.
Mrs Culpepper drehte sich zu ihr um, nachdem sie die Sanitäter mit schriller Stimme in die Küche geschickt hatte.
„Es ist schrecklich“, stöhnte die ältere Dame.
Und obwohl Hadleigh eine unziemliche – ein Wort ihrer Großmutter – Ungeduld verspürte, nahm sie sich zusammen. Mrs Culpepper, lange schon in Rente, war in der ersten Klasse ihre Lehrerin gewesen. Genau wie Eula und Earl gehörte sie zu Mustang Creek, Wyoming, wie die Landschaft.
Also wartete Hadleigh höflich auf weitere Informationen.
„Ich kam vorbei, um nach Earl zu sehen“, berichtete Mrs Culpepper, nachdem sie ein paarmal geschluckt und sich mit der Hand Luft zugefächert hatte, wie an einem heißen Tag. „Denn ich habe ihn seit Dienstag weder gesehen noch gehört. Zum Glück schließt er seine Tür nie ab. Eula hat das früher auch nie gemacht, nicht einmal wenn Earl beruflich unterwegs war. Wie dem auch sei, als niemand auf mein Klopfen und Rufen öffnete, bin ich einfach hineingegangen und habe ihn auf dem Küchenfußboden gefunden, die Augen weit aufgerissen. Es kostete ihn große Kraft, zu sprechen …“ Sie machte eine Pause, um tief Luft zu holen. „Ich habe sofort einen Krankenwagen gerufen und mich dann neben Earl gekniet, um zu hören, was er mir zu sagen versuchte.“
Behutsam legte Hadleigh ihr eine Hand auf die zarte Schulter. „Vielleicht sollten Sie sich lieber hinsetzen“, schlug sie vor, besorgt wegen der blassen Gesichtsfarbe der alten Dame und dem Zittern in der Stimme.
Doch Mrs Culpepper schüttelte den Kopf. „Nein, nein“, protestierte sie. „Es geht mir gut, meine Liebe.“ Ein weiterer flacher, rasselnder Atemzug folgte. „Als ich endlich verstand, was Earl mir mitzuteilen versuchte, brach es mir glatt das Herz. So krank er war, machte er sich wegen des Hundes Sorgen. Er wollte wissen, wer sich um ihn kümmern würde.“
Hadleighs Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte also recht gehabt, Earl liebte Muggles wirklich. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, kamen die Sanitäter mit der Trage aus der Küche. Unter der Krankenhausdecke sah Earl eingefallen und grau aus. Seine Augen waren geschlossen.
Hadleigh betrat den winzigen Flur und schob Mrs Culpepper behutsam zur Seite, damit die Sanitäter vorbeikonnten. Dann lief sie ihnen schnell hinterher. Draußen gelang es ihr, Earls Hand zu halten. Sie fühlte sich kalt und trocken an.
„Seien Sie unbesorgt“, sagte sie und hob wegen des jetzt auf alle niederprasselnden Regens ein wenig die Stimme. „Hören Sie mich, Earl? Machen Sie sich wegen Muggles keine Sorgen. Sie ist bei mir, und ich verspreche, dass ich mich so lange wie nötig um sie kümmern werde!“
Erstaunlicherweise öffnete Earl die Augen und blinzelte im Regen. Ein zögerndes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und seine Lippen formten ein Wort. „Danke.“
„Bitte treten Sie zur Seite, Ma’am“, bat einer der Sanitäter in brüskem, aber noch höflichem Ton.
In Earls nassem Vorgarten sah Hadleigh zu, wie die Sanitäter geschickt die Beine der Trage einklappten und den Patienten in den Wagen schoben. Einer der beiden Männer kletterte ebenfalls hinein und setzte sich neben Earl, während der andere die Türen schloss, nach vorn lief und sich hinter das Steuer setzte.
Sekunden später raste der Wagen davon.
Trotz ihrer Benommenheit besaß Hadleigh noch genug Geistesgegenwart, um die Straße zu überqueren und ihren schon ein wenig ramponierten Kombi mit der Holzverkleidung aus der Garage zu fahren, um Mrs Culpepper nach Hause zu bringen. Sie wohnte zwar ganz in der Nähe, praktisch nur um die Ecke, worauf sie Hadleigh auch hinwies. Aber der Regen ließ nicht nach, und ein Nachbar auf dem Weg ins Krankenhaus reichte, fand Hadleigh.
Nachdem sie Mrs Culpepper sicher vor ihrem Haus abgeliefert hatte, rannte Hadleigh zurück zum Wagen und fuhr nach Hause.
Unterwegs musste sie wieder an Will denken und wie stolz er auf diesen alten Kombi gewesen war. Er hatte darauf bestanden, dass es sich um einen Oldtimer handele, und hatte vor, seinen Originalzustand wiederherzustellen, sobald seine Dienstzeit bei der Airforce beendet wäre und er zurück nach Mustang Creek käme.
Am Ende war er zwar heimgekehrt, aber in einem mit der Flagge bedeckten Sarg, begleitet von einem tieftraurigen Tripp Galloway und zwei weiteren uniformierten Soldaten.
Tripp Galloway.
Allein bei dem Gedanken an diesen Mann stellten sich ihr die Nackenhärchen auf. Aber an diesem trüben, verregneten Nachmittag war selbst diese Gereiztheit eine willkommene Abwechslung.
Tripp hatte nicht vorgehabt, bei Hadleigh vorbeizuschauen, zumindest nicht bewusst. Trotzdem parkte er jetzt vor ihrem Haus, in dem er als Kind so viel Zeit mit Will verbracht hatte. Lächelnd erinnerte er sich an jene glücklichen Tage, als sie in der Auffahrt Basketball gespielt und in der Garage auf alten Gitarren herumgeschrammelt hatten, überzeugt, dass ihr bunt gemischter Haufen potenzieller Hinterwäldler dazu auserkoren war, die nächste chartstürmende Grunge-Band zu werden.
In diesem Haus war er stets willkommen gewesen.
Alice hatte ihn freundlich empfangen und einfach noch ein Gedeck auf den Abendbrottisch gestellt, wenn er mit Will, je nach Jahreszeit, nach dem Basketball-, Baseball- oder Footballtraining hereinkam. Blieb Tripp nach dem Essen noch länger, was oft genug der Fall war, machte sie ihm ein Bett in Wills Zimmer. Dafür räumte er den Tisch ab, trug den Müll raus und half entweder Will oder Hadleigh – je nachdem, wer an der Reihe war – beim Abwasch und Abtrocknen. Nach dem Tod seiner Mutter kümmerte Alice sich um seine Hausaufgaben und wusch manchmal sogar seine Wäsche.
So war Alice, möge Gott ihrer großzügigen Seele Frieden gewähren.
Jetzt hatte Hadleigh das Kommando, und ihr würde er ungefähr so willkommen sein wie eine Flohinvasion.
Ridley gab ein tiefes Knurren von sich, nicht feindselig, eher ein wenig verzweifelt.