Blitzschlag – Spuren der Zukunft - Hans-Dieter Betz - E-Book

Blitzschlag – Spuren der Zukunft E-Book

Hans-Dieter Betz

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Beschreibung

Der Klimawandel hat zugeschlagen. Die globale Ernährungskrise eskaliert. Und Peter hat die Lösung: mit gesteuerter Evolution schafft er klima-resistenten Weizen. Da trifft ihn ein tödlicher Blitzschlag. Aber es hatte kein Gewitter gegeben. War er Opfer seiner bahnbrechenden Erfindung geworden? Tochter Laura übernimmt die Aufklärung als Sonderermittlerin. Ihre Aufgabe wird täglich gefährlicher: Entführung im autonom fahrenden Wagen, Attacken auf ihre Firma, Ziel skrupelloser Brain Hacker … Mächtige Geheimorganisationen missbrauchen Peters Technik der Informationsübertragung für grauenvolle Manipulationen von Gehirnen und künstlicher Intelligenz. Doch Laura gibt nicht auf, sie wächst mit jeder neuen Herausforderung. Rückschläge und Siege, enttäuschte und erfüllte Liebe – Laura geht ihren Weg…

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Seitenzahl: 585

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Inhalt

Impressum 2

Widmung 3

1 Einschläge 4

Unter Beschuss 4

Aus heiterem Himmel 9

Ein klarer Fall 10

Lauras neue Welt 20

Überraschungs-Box 24

2 Rätsel allerorten 29

Am Tatort 29

Enrico ermittelt 32

Verblüffende Erkenntnisse 38

Hürdenlauf 44

Der verräterische Chip 47

3 Spuren der Vergangenheit 52

Teuflisches Projekt 52

Plantax-Gruppe 55

Nebenwirkungen 58

An einem Tag wie keinem anderen 63

4 Entführung 68

Nicht angekommen 68

Verfolgung 73

Constanze und Peter 92

5 Turbulenzen 96

Gedenken 96

Die Liste des Post-Doc 98

Post auf Sonderwegen 100

Der Nachlass 104

Der Videobeweis 107

Peters Akten 111

Megaplan 118

6 Spuren 124

Kasimirs Imperium 124

Organisation BIT 131

Geheime Transporte 134

Lücken im Verkehr 140

7 Vertreibung 143

Massenflucht 144

Weizensäcke im Visier 147

Getreidediebe 150

8 Horizonte 154

Pläne reifen 154

Analyse-Protokolle 160

Der verkappte Makler 173

Identifiziert 181

Dunkle Kanäle 183

9 Gefühle 185

Ionen-Feuerwerk 185

Lichtpunkte im Tunnel 196

Trickkiste Zulassung 198

Stufe 3 in Afrika 203

Ein Abend in der Bar 206

10 Die Konferenz 212

Intrigen 212

Zertifizierung 219

Plantax tagt 224

Kaffee mit Jim 228

Die Konferenz beginnt 232

Der Vortrag 236

Verkehrschaos 247

VIP Runde 250

Sternenhimmel am Meer 254

Enttäuschung am Morgen 257

11 Die HighBrain Projekte 262

KI – weiß bis schwarz 262

Sprung ins Dunkel 272

Kasimirs Vision 274

Angriff abgewehrt 278

Enttarnung 282

Tabuntaos Wahn 288

Neues aus Kiralistan 292

12 Das Gehirnlabor 294

Auf steinigen Wegen 294

Demut-2 erstrahlt 297

Manöver Fachartikel 300

Fisch im Netz 305

Laura und Jim 309

Richtigstellung 313

In der Klinik 315

Zielperson identifiziert 327

13 Grenznah 329

Falle 329

Hoffnung in Kiralistan 332

Nichts geht mehr 334

Beweise der Superlative 337

Gedanken manipuliert 346

Die Falle schnappt zu 354

Gesteuerte Fehler 357

Ein Ausflug mit Folgen 359

14 Aufgedeckt 366

Racco taucht auf 366

Erfolg im Verhör 368

Labor-Geheimnisse der Sonderklasse 372

Horror in der Gehirnklinik 379

Drohnenspezialist unter Verdacht 388

Perfekter Sinneswandel 389

Genie und Wahnsinn 391

Überfälliges Geständnis 394

Chaos und Hoffnung 398

BIT Boost 401

Agro-Lichtblick 405

Finale – Rettung und Tod 411

15 Am Ziel 417

Anhang 419

Wichtigste handelnde Personen 419

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-95-1

ISBN e-book: 978-3-903271-96-8

Lektorat: Tobias Kei

Umschlagfotos: Peter Hermes Furian, Sergey Khakimullin, Kati1313 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Meiner Familie

1 Einschläge

Unter Beschuss

Tiefschwarze Nacht hatte sich über die weite Ebene gesenkt, der einsamsten Landschaft Kiralistans. Die hochgelegene Steppe war im Norden von wilden Bergmassiven begrenzt, im Osten und Westen von Höhenzügen umgeben, die sanft nach Süden ausliefen. Sengende Hitze und Dürre waren nicht ungewöhnlich, doch sie nahmen Jahr für Jahr zu und vernichteten immer mehr der ohnehin minimalen Landwirtschaft. Das sollte sich jetzt ändern, ein neues Projekt versprach Hoffnung.

Mit anbrechender Dunkelheit war es endlich angenehm kühl geworden. Wolkenbänder verdeckten die Sterne und den Neumond. In der gerade fertig gestellten Wohnanlage des modernen Agrarzentrums Kira-1 waren alle Lichter erloschen. Nur die heranfliegenden Drohnen konnten die Konturen der Gebäude mit empfindlichen Laserreflektoren ausmachen. Das Bauteam genoss im fertiggestellten Personalgebäude seinen verdienten Schlaf, ermüdet von einem langen Tag anstrengender Arbeiten unter glühender Sonne.

Plötzlich schrillte das Funkgerät am Nachtlager des Bauleiters, der den Anruf sofort annahm: „Höchste Alarmstufe! Dimitri, bringt euch alle sofort in Sicherheit“, brüllte Major Radani mit sich überschlagender Stimme aus der nächstgelegenen Garnison, „ein schwer bewaffneter Trupp und Kampfdrohnen rasen auf euer Gelände zu. Nehmt volle Deckung im Bunker, so schnell ihr könnt!“

Bevor Dimitri antworten oder nachfragen konnte, brach die Verbindung ab. Dimitri dachte sofort an den Überfall vor wenigen Monaten: Eine Miliz war mit geländegängigen Lastwagen in die Anlage eingedrungen, hatte den Bauleiter erschossen und die gesamte Hightech-Ausrüstung gestohlen. Stand die Wiederholung eines solchen Angriffs unmittelbar bevor? Diesmal auch mit Drohnen?

Schlaftrunken drückte er instinktiv den roten Knopf an der Wand neben seinem Bett, um die Notfall-Sirenen auszulösen. Augenblicklich erschallte auf dem ganzen Gelände ein durchdringendes Geheul; das musste jeden aufwecken. Er griff nach Funktionsgürtel und Lasergewehr, hastete zum Hinterausgang und steuerte in großen Sprüngen auf eine unterirdische Bunkeranlage zu. Diese schützte auch die Wasser- und Stromversorgung einschließlich der solar aufgeladenen Flüssig-Batterien. Die Sirenen verstummten. Plötzlich störte ein schwaches Brummen die Stille der Nacht. Dimitri dreht sich um und erkannte fahles Licht von Scheinwerfern einer Lastwagenkolonne. Die Motorengeräusche wurden langsam lauter. Bald würden die Angreifer hier sein. In diesem Moment detonierten Bomben. Das mussten militärische Kleindrohnen sein, die unmittelbar vor dem Hauptangriff als ferngesteuertes Vorauskommando eingesetzt wurden.

Dimitri erreichte die Eingangstreppe, die in den Bunker hinunterführte. Noch einmal blickte er kurz zurück und versuchte, die Gefahr einzuschätzen. Die Kampfdrohnen verrichteten hörbar ihr zerstörerisches Werk. Inzwischen ließ sich das Zischen der ersten Schüsse aus aufblitzenden Lasergewehren vernehmen, eine Explosion drohte sein Trommelfell zu zerreißen, weitere Detonationen folgten, Gebäude stürzten krachend in sich zusammen. Die große Lagerhalle fing Feuer, dessen Schein gespenstisch aufleuchtete. Bewaffnete Angreifer, aber auch seine in Todesangst flüchtenden Mitarbeiter in der durch Trümmer verstaubten Luft ließen sich schemenhaft erahnen.

Widerstand schien aussichtslos. Es war zu spät, irgendeine Verteidigung zu organisieren. Ohne nachzudenken stieg Dimitri in den gut getarnten Schutzraum; er hielt die schwere Eisentüre noch einen Spalt offen und hoffte, dass sich seine Leute hierher flüchten würden. Sie kannten alle den Sicherheitsbunker, aber seltsamerweise kam niemand. Also verriegelte er die schwere Tür und lauschte. Die Zerstörung der Anlagen schien ihren Lauf zu nehmen. Nach schier endlos empfundener Zeit verebbten Schüsse und Detonationen, nur das Knistern der Feuer war zu vernehmen. Motorenlärm ertönte, der bald leiser wurde; die Angreifer schienen sich zu entfernen. Vorsichtig öffnete Dimitri die Tür und schaute die Stufen hinauf, überall rot-schwarz gefärbte Feuerschwaden und unerträglicher Gestank. Langsam stieg er hoch, niemand war zu sehen oder zu hören. Nun wurde ihm das ganze Desaster bewußt: Soweit er blicken konnte, waren die Gebäude zerstört, das Werk eines Jahres vernichtet. Nur die etwas entfernt installierten Solarpaneele schienen noch intakt zu sein. Er rief laut in die Nacht hinaus, aber keine Antwort kam zurück. Feuer und Hitze verboten es, sich den Gebäuden zu nähern, um nach Überlebenden zu suchen. Allem Anschein nach war er der Einzige, der es geschafft hatte.

Sollte er in den Bunker zurück? Nein, dort alleine eingeschlossen zu sein war ihm zuwider. Geschockt und erschöpft, ohne viel nachzudenken, suchte er in einiger Entfernung einen geschützten Platz hinter einem Gebüsch, wo die Luft einigermaßen erträglich und die Sicht nach oben durch dicke Blätter verdeckt war. Er wickelte sich in seine Infrarot abweisende Wärmedecke. So würden ihn Drohnen nicht so leicht entdecken – falls sie wiederkämen. Dies erschien ihm unwahrscheinlich, weil die Angreifer wissen mussten, dass Radani mit seiner Truppe bald eintreffen würde. Er kauerte sich erschöpft auf den Boden und nahm einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche. Dann schlief er ein.

Erst als die frühe Sonne hinter der nahen Bergkette emporstieg und ihre Strahlen die Nacht verdrängten, weckte ihn Motorenlärm. Major Radani kam mit großen, schwer gepanzerten Armeefahrzeugen und Sanitätseinheiten, um die Lage zu sondieren und Verletzte zu versorgen. Doch es gab keine Überlebenden. Die Feuer waren nahezu erloschen, aber die Luft war voll von Rauch. Dimitri schwenkte die Arme, um auf sich aufmerksam zu machen, so dass ein Rettungsfahrzeug vor ihm anhielt. Ein Sanitäter hüllte ihn in eine Wolldecke, führte ihn zu einer Steinbank in sicherer Entfernung von den qualmenden Ruinen und gab ihm heißen Tee zu trinken. Vor Kälte zitternd erzählte er, was er gesehen hatte.

Radani hörte sich den kurzen Bericht an und versuchte Dimitri zu beruhigen: „Es ist vorbei, die kommen nicht so schnell wieder. Ich kann mir denken, wer das war. Eine Söldnertruppe, die den Rebellen nahesteht und für erkleckliche Summen fast alles macht, was verlangt wird. Wir werden sie suchen und erwischen, das ist sicher.“ Einschränkend ergänzte er: „Wenn sie nicht zu schnell über die Grenze flüchten.“

„Verdammt, mir wäre die Gewissheit lieber, dass sie nie wiederkommen“, klagte Dimitri, „du erinnerst dich, das war schon die zweite Attacke auf Kira-1 innerhalb weniger Monate. Beim ersten Mal haben sie ‚nur‘ die Ausrüstung für Big Data Betrieb gestohlen, auch die neueste Generation unserer agrar-meteorologischen Drohnen. Was wollten sie denn diesmal erreichen, was gibt es für Gründe, harmlosen Pflanzenanbau zu bekämpfen? Wir müssen die Auftraggeber und ihre Motive für diese Angriffe finden.“

„Du hast recht, es ist nur zu verstehen, wenn wir als Urheber gut vernetzte Hintermänner annehmen“, antwortete Radani mit sorgenvoller Miene. „Höchstwahrscheinlich sind ausländische Interessengruppen verantwortlich, denen ihr mit eurer neuen Kornproduktion irgendwie in die Quere kommt. Ich kenne keine einzige Organisation in unserem Land, die ein Motiv hätte, die eigenen Ernährungsgrundlagen zu zerstören. Euer Getreideanbau wird ja auch den Einheimischen zum Vorteil gereichen, denn die Ernten werden nicht nur exportiert, ein Teil bleibt im Land und stabilisiert die Ernährung, jeder weiß das und hält es für fair. Auch wir fürchten die Welt-Ernährungskrise, und sind stolz darauf, einen Beitrag zur Bewältigung der existenziellen Nöte beizusteuern. Kurzum, wer all das so niederträchtig ignoriert, muss als sehr ernstzunehmender Gegner betrachtet werden.“

„Ich werde schleunigst die Zentrale der GenTra informieren und einen Bericht senden, sobald ich den entstandenen Schaden abgeschätzt habe. Ich möchte nicht in der Haut meines Chefs stecken. Er wird keine Wahl haben, schneller Wiederaufbau ist unumgänglich.“

„Allerdings erstaunt mich, dass der Angriff nicht mit vollautonomen Kampfdrohnen ohne aktive Truppen geführt wurde. Unser Glück im Unglück. Ich nehme an, sie hatten nur ältere Kleindrohnen mit kurzer Reichweite und mussten daher selbst ‚vorbeischauen‘. Doch zuerst geht es uns um die Toten, die Angehörigen und polizeiliche Aufarbeitung. Meine Leute stellten gerade fest, dass niemand außer dir den Angriff überlebt hat. Schockierend, zwei Dutzend unschuldige Menschen sinnlos zu töten. Solche Verbrechen sind für die Region und unser Land kein Aushängeschild. Wir werden nach besten Kräften versuchen, diesen Sumpf auszutrocknen.“

„Nötig wär’s. Hast du eine Idee, wie?“

„Am wichtigsten wäre die Kooperation mit lokalen Stämmen. Vielleicht können wir einen der am Angriff beteiligten Burschen aufgreifen und zum Reden bringen. Auf jeden Fall werde ich den Polizeipräsidenten drängen, die Vorgänge mit Priorität zu untersuchen und die Hilfe des Geheimdienstes anzufordern, der bei Verdacht auf ausländische Straftäter leichter über Grenzen hinweg ermitteln kann. Übrigens, all eure Fahrzeuge und Fluggeräte hier sind Schrott – was machst du denn jetzt? Kann ich dich irgendwo hinbringen?“

„Am südlichen Ende unseres Feldes, etwa zehn Kilometer von hier, haben wir eine Hütte für meteorologische Messungen. Dort habe ich einen Geländewagen geparkt, der genügt mir fürs Erste zum Weiterkommen – falls es ihn noch gibt.“

„Klar, ich lass’ dich sofort hinbringen.“

„Ich werde dann nach Hause fahren, einen ausführlichen Bericht senden und weitere Instruktionen abwarten. Wir müssen uns unbedingt etwas zur Absicherung einfallen lassen. Auf jeden Fall werde ich der Firma Vorschläge für den Wiederaufbau ausarbeiten.“

„Und ich werde schauen, wie wir die Angreifer ausfindig machen können. Da muss eine Art Getreidemafia am Werke sein. Ich bleibe dran.“

Dimitri dankte Radani überschwänglich und sie verabschiedeten sich mit verständnisvollem Schulterklopfen und Nicken. Doch beide teilten das beklemmende Gefühl, dass diesem Gegner nicht so leicht beizukommen sein würde.

Aus heiterem Himmel

Er hatte es fast geschafft.

Klar, noch war nicht alles überstanden, neue Gegner waren aufgetaucht. Doch er besaß einen einzigartigen Schlüssel zur Lösung des Problems.

Er genoss den Weg durch den Park und sortierte seine Gedanken. Um ihn herum herrschte Ruhe, nur Vögel zwitscherten vereinzelt, und eine nahe Paketdrohne surrte leise. Die Dämmerung war hereingebrochen, noch war es angenehm warm. Letzte Sonnenstrahlen tauchten ferne Wölkchen in warmes Licht.

Peter atmete tief die frische Luft ein. Schon konnte er sein Haus sehen. In voller Vorfreude, Constanze von den neuen Entwicklungen zu berichten, warf er das Jackett über die Schulter und beschleunigte seine Schritte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Sein Gesicht zerriss.

Ein grelles Licht, wie eine tödliche Waffe, blendete ihn, ein Krampf lähmte seine Brust, ein betäubender Donnerschlag zerschmetterte sein Bewusstsein. Seine Hand klammerte sich um den Griff der Aktentasche. Das Sicherheitsarmband wurde glühend heiß, ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Die Augen fielen zu, das Herz flatterte, der Körper vibrierte. Es ging zu schnell, um noch einen klaren Gedanken zu fassen oder gar zu schreien. Er taumelte, verlor die Besinnung und fiel zuckend zu Boden.

Constanze wusste genau, wann ihr Mann eintreffen würde. Als sie das grelle Licht sah und den Donnerschlag hörte, dachte sie, ein Blitz hätte ins Haus eingeschlagen. Aber nichts Ungewöhnliches geschah im Haus, kein Stromausfall, kein Brandgeruch. Sie öffnete die Haustüre, schaute hinaus. Alles war ruhig, kein Wind, kein Regen, kein Donnergrollen, nichts. Peter musste jeden Moment eintreffen. Sie blickte in Richtung Haltestelle. Plötzlich glaubte sie etwa 100 Meter entfernt auf dem Weg zur Straße, halb verdeckt durch dunkles Grün, eine Gestalt am Boden liegen zu sehen. Eine schreckliche Ahnung erfasste sie, sie rannte hinaus, den Weg entlang, so schnell sie konnte, jedwede Gefahr durch weitere Blitze war ihr vollkommen egal, ihr Herz raste wie wild. Sie erreichte die Stelle, sah einen Mann gekrümmt am Boden liegen, bewegungslos, warf sich verzweifelt über ihn, und schrie: „Peter, Peter … “

Ein klarer Fall

Die Stadt mit zwei Millionen Einwohnern profitierte enorm von der neu entwickeltenTec-Demokratie, bei deren Einführung das MinisteriumTechnik und Vorsorgeals ideale zusätzliche Säule eingerichtet wurde. Damit gewannen die Menschen mehr Freiheit, Ruhe, Planungssicherheit und Vertrauen in die Zukunft. Der Erfolg verdankte sich entscheidend der Jugend. Sie wollte so einiges nicht länger hinnehmen: weltweit grassierende staatliche Konzeptionsmängel, übermächtige KI, fatale Einzelentscheidungen mächtiger Politiker und trickreiche Manipulationen und Gier in der Wirtschaft, alles zu Lasten von Freiheit, Lebensqualität und Umwelt. Die hochmoderne Wirtschaft funktionierte zunehmend nachhaltig, ohne Materialverschwendung und Naturzerstörung, trotz beachtlichen Aufwands für Instandhaltung und zeitnahe Modernisierung. Da es inzwischen auch gelang, die Bevölkerungszahl der Stadt und des Landes stabil zu halten, bedurfte es keiner zusätzlichen Bodenflächen für Baumaßnahmen.

Alle wichtigen öffentlichen Einrichtungen und die für Menschen unabdingbaren Basissysteme wurden der Obhut einer ständigen Kommission in dem neu gegründeten Ministerium unterstellt. Demokratisch gewählt und mit unabhängigen Fachleuten besetzt. Die Vorgaben der Kommission an die Politik wurden eingehalten, obgleich die international nötige Harmonisierung der Standards ein schwieriges Dauerthema blieb. Das neue Ministerium gewährleistete bei gesichertem Budget, dass alle öffentlichen technischen Installationen im Land permanent instand gehalten wurden, und zwar unabhängig vom Wechsel führender politischer Gruppen und der jeweiligen Finanz-Haushalte. Das betraf das gesamte Straßennetz, Bahnstrecken und notwendige Nebeneinrichtungen. Seitdem gab es weder Reparaturstau noch überalterte, fehleranfällige Einrichtungen. Die Industrie boomte, weil für die zahlreichen Aufgaben Unmengen an Aufträgen vergeben wurden, oft mit technisch anspruchsvollem Innovations- und Modernisierungsbedarf, aber auch bewusst mit Arbeiten für weniger ausgebildete Menschen. Natürlich beschäftigte der Schutz gegen Cyber-Attacken eine Heerschar an Experten. Diese Arbeitsgruppe stand auf Basis klarer Regeln mit der Polizei und, aufgrund ständig gefährlicher werdender internationaler Datenspionage, mit dem Geheimdienst in engem Austausch.

Mittlerweile lebten die Menschen nach einer schwierigen Übergangszeit in einer Art Mobilitäts-Paradies. Komfortable U-Bahnen und Busse versorgten störungsfrei und in kurzem Takt die ganze Stadt mit Außenbezirken. Überregionale Hochgeschwindigkeitszüge bedienten Flughäfen und Fernverkehr. Vor allem standen autonome, emissionsfreie Fahrzeuge in reichlicher Menge öffentlich zur Verfügung, überwiegend mit Wasserstoff-Technologie betrieben, und konnten per Anforderung in Minutenschnelle zu jedem angegebenen Standort zur sofortigen Benutzung bestellt werden. Kinder, Kranke, Behinderte, alte Leute, Besucher, Firmen – jeder konnte diesen Service in Anspruch nehmen, sofern bei der Verkehrszentrale eine Registrierung vorlag. Lufttaxis gehörten trotz ungünstiger Ökobilanz, Wetterabhängigkeit und Wartungsaufwand im Außenbereich zum Bestand, nicht aber für Massentransport, schon gar nicht im städtischen Innenbereich, wo es reichlich Alternativen gab.Connected Mobilityin Perfektion.

Den Durchbruch hatten vor allem zwei standardisierte Kommunikationskanäle ermöglicht. Zum einen zwischen Fahrzeug und Zentrale: Die Wagen senden nur Position und Ziel an die Zentrale, und diese gibt übergeordnete zwingende Fahranweisungen zurück, wie Route, Fahrbahn und Geschwindigkeit. Diese kleinen Informationspakete sind mühelos in einfachsten Netzen zu übertragen. Zum anderen verbinden sich alle Fahrzeuge innerhalb eines kleinen Umkreises miteinander über Kurzstreckenfunk, schon lange unter dem Stichwort „talking cars“bekannt, ideal für sichere lokale Feinabstimmung, vorneweg Abstands-, Vorfahrts- und Notfall-Management. Dies erfordert zwar die Bearbeitung sehr großer Datenmengen, besonders für Bildanalysen. Dennoch problemlos, weil Sensoren und Algorithmen autonomer Fahrzeuge schon seit vielen Jahrzehnten immer weiter optimiert worden waren und in jedem Fahrzeug leistungsstarke Kompakt-Quantenrechner zur Verfügung standen, nur im kleinen Kern tiefgekühlt, ohne externe Rechenpower der Hyperscaler zu benötigen. Alle wesentlichen Fragen waren gelöst worden: Datensicherheit, Mindestanforderungen an die Module, Leitzentralen, rechtlicher Rahmen, internationaler Standard der Genfer UN-ECE Gremien für autonomes Fahren und mehr …

Als überaus erfolgreich erwies sich dieLeitzentralefür autonomen Verkehr. Sie war unabdingbar, weil ein Wagen nur dann in minimaler Zeit quer durch die Stadt oder über längere Strecken fahren konnte, wenn die steuernde Zentrale die komplette Lage in ihrem gesamten Überwachungsbereich kannte und allen Fahrzeugen gleichzeitig optimale Vorgaben machte. Natürlich verblieben Zonen, in welchen eine Steuerung durch menschliche Fahrer sinnvoll und zulässig war; dies betraf Lieferverkehr an Be- und Entladestationen, Baustellenbetrieb, Service Fahrzeuge aller Art, private Areale und verkehrsarme Gebiete.

***

Weniger als vier Minuten nach Peters seltsamem Unfall traf der medizinische Notdienst unter Sirenengeheul und blinkenden Rotlichtern mit einem großen Funktionswagen ein, der voller modernster medizinischer Technik steckte und nicht weit entfernt unterwegs gewesen sein musste. Die Rettungszentrale hatte ein schwerwiegendes Ereignis angenommen und dem Einsatzteam als wahrscheinlichste Ursache eine Explosion am Zielort angegeben, möglicherweise mit Feuer. Wenige Sekunden später erschienen auf dem Infoschirm die medizinisch relevanten Daten eines Herrn Freudberg, der die Unfallmeldung ausgelöst hatte und höchstwahrscheinlich betroffen war. Gleichzeitig wurde eine Erkundungsdrohne entsandt, um das sichtbare Ausmaß des Vorfalls zu prüfen und aufzuzeichnen. Als das Rettungsfahrzeug den Zielort erreicht hatte, einen Fußweg, der in einer Parkanlage zu Wohnhäusern führte, war weit und breit nichts von Unfall, Explosion oder Feuer zu sehen.

„Da hat man uns eine völlig falsche Position gegeben“, wunderte sich der Ältere der beiden Sanitäter. In diesem Moment sahen sie die Drohne heranfliegen. Diese bestätigte die Beobachtung der Sanitäter, meldete jedoch die Anwesenheit von zwei Personen am hypothetischen Unfallort, eine sitzend, die andere liegend.

„Ja, dort“, rief der jüngere Sanitäter plötzlich erregt, „schau, da liegt einer, und jemand sitzt auf dem Boden, los geht’s.“ Die beiden sprangen aus dem Fahrzeug.

Constanze saß weinend neben ihrem wie leblos daliegenden Mann und hoffte, dass es sich nur um eine Ohnmacht handeln würde. Die beiden Sanitäter leiteten sofort Wiederbelebungsversuche ein, aber sie zeigten nicht den geringsten Erfolg. Kein Puls, keine Atmung – kein sichtbares Lebenszeichen.

„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen und weiter reanimieren“, wandte sich der leitende Sanitäter an Constanze, die aber nicht reagierte, sie hatte offenbar einen Schock erlitten. „Gleich kommt noch ein Rettungswagen, man wird sich schnellstens auch um Sie kümmern“, rief er ihr zu. Ohne Zeit zu verlieren, legten sie Peter vorsichtig auf eine Trage, rollten diese zum Fahrzeug und schoben ihn hinein.

In diesem Moment traf ein Streifenwagen der Polizei ein. Die beiden Beamten hatten von der Zentrale für den Grund des Einsatzes die gleichen Stichworte erhalten sowie den Namen des möglicherweise Betroffenen.

Sie rannten zu den Sanitätern: „Was ist passiert?“ Aber die beiden riefen nur: „Wir müssen los“ und brausten davon. Einer der Polizisten ging auf die am Boden sitzende Frau zu und sprach sie an. Sie musste ja wissen, was sich ereignet hatte. Aber sie weinte bitterlich und reagierte nicht.

„Offensichtlich unter Schockwirkung“, meinte er, „wir beobachten sie und warten, bis die zweite Ambulanz eintreffen wird.“

„Ja.“ Der andere tippte die Einsatzakte auf dem Schirm seines Kommunikators an und sah, dass der Wagen in wenigen Minuten kommen würde. Die beiden schauten sich nochmals gewissenhaft um und meldeten ihrer Einsatzzentrale, dass sich ein schwerer Personenschaden als richtig herausgestellt hatte, jedoch die Feuerwehr und weitere Notdienste zurückbeordert werden konnten.

Als Peter niedergestreckt wurde, hatten Sensoren in seinem Sicherheitsarmband eine Notfall-Meldung an die Unfallzentrale der Stadt ausgelöst. Intelligente und hochvernetzte Computer analysierten diese Daten in der gleichen Sekunde und entschieden, an welche Abteilung die Meldung weiterzuleiten war und ob ein Notfallexperte die Sache persönlich beurteilen sollte. Letzteres war hier der Fall, weil die Nachricht ungewöhnlich hohen Schalldruck und extrem hohe Temperaturen beinhaltete, was unüblich war. Da ID-Nummer und Standort des Armbandes in Echtzeit übermittelt worden waren, erschien auf dem Bildschirm des prüfenden Experten sofort der Name des Besitzers, auf den das Armband registriert war, sowie ein Kartenausschnitt rund um den letztgemeldeten Standort des Senders. So war es möglich, die Rettungsmaßnahmen gezielt zu starten. Die Polizei hatte die ID Peters benutzt, um seine engsten Kontaktpersonen einzusehen. Seine Frau Constanze war nicht erreichbar, aber Tochter Laura konnte über den Unfall informiert werden. Sie sagte ihr sofortiges Kommen zu.

Schon während der Herfahrt wurden den Sanitätern auf einem Bildschirm die medizinischen Befunde des vermutlichen Opfers angezeigt, die sich im Speicher des zentralen Gesundheitssystems befanden und mit der gemeldeten ID verknüpft waren. Das betraf Informationen wie Blutgruppe, Allergien, Alter, besondere Erkrankungen, genetische Vorgeschichte und Gesundheitszustand. Diese Hilfen ließen sich natürlich nur dann nutzen, wenn die betreffende Person an das Melde-System angeschlossen war und das Sicherheitsarmband auch tatsächlich trug. Jeder Bürger der Stadt konnte dabei mitmachen, es war aber ein freiwilliges Angebot. Die Mehrheit der Menschen wusste den Nutzen dieses Systems zu schätzen, zumal dann die Krankenversorgung schneller, besser und als Anreiz auch finanziell günstiger zu haben war.

Als klar wurde, dass es sich bei dem Opfer tatsächlich um Peter Freudberg handelte, der als VIP eingetragen und in der Öffentlichkeit durch zahlreiche Innovationsförderungen bekannt war, rief die Unfallzentrale den Chefkommissar der Kriminalpolizei Alfredo Buca persönlich an.

Alfredo genoss eine ungewöhnliche Position als technischer Polizeipräsident. Der Verwaltungsdirektor des Präsidiums hielt ihm den Rücken frei, so dass er sich zukunftsgestaltender Organisation widmen oder, falls notwendig bzw. besonders interessant, als Chef der Kommissare in operative Ermittlungen aktiv einschalten konnte. Dafür, dass er bereits Mitte fünfzig war, war er äußerst agil und ein Arbeitstier, wenn es darauf ankam. Auch wenn er gelegentlich impulsiv reagierte, war er sich seiner Schwächen in Sachen Temperament bewusst und suchte zumeist Ruhe und Erholung, um erst gar keine Art von Stress aufkommen zu lassen. Von seinen Leuten verlangte er Höchstleistungen, aber er verhielt sich fair und ließ sich durch gute Argumente überzeugen.

In seinem geräumigen Büro befanden sich ein enormer Schreibtisch sowie eine noch größere Sitzgruppe für zwölf Besucher. Die Wände waren von alten Holzregalen verdeckt, in welchen sich Berge von Büchern und Akten und – an exponierten Stellen – silbern und golden glänzende Pokale häuften. Ein Humidor hielt Zigarren bereit. Alfredo, von stattlicher Figur und imposantem Äußeren, gehörte zur Hautevolee der Stadt. Er pflegte eine enge Verbindung mit dem Oberbürgermeister und hatte gute Kontakte in die Handelskammer und so ziemlich alle städtischen und staatlichen ministeriellen Abteilungen. Jeder, der mit ihm sprach, konnte nicht umhin zu bemerken, wie sehr sich Alfredo seiner Bedeutung bewusst war.

„Gerade will man seinen wohlverdienten Feierabend beginnen“, knurrte Alfredo widerstrebend, als er in seinem Büro die Systeme herunterfuhr, „da kommt schon wieder was herein. Hoffentlich kann ich das an Olaf delegieren, mir reicht es für heute.“ Er schaltete auf Lautsprecher-Empfang.

Als der Anrufer das Wort „VIP“ erwähnte und den Sachverhalt kurz erklärte, sank Alfredos Laune gegen null. Da musste er wohl selbst ran. Peter Freudberg war stadtbekannt. Alfredo erinnerte sich an die SonderrechteSwiftModus-Bfür die Nutzung von autonomen Fahrzeugen, die er ihm genehmigt hatte. Damit war es Peter in dafür ausgestatteten Wagen erlaubt, in besonderen Fällen den Modus „autonom“ zu überschreiben und selbst zum Fahrer zu werden. Eine noch wichtigere Rolle spielte die Möglichkeit, in seinem Firmenfahrzeug aufSondereinsatzmit modifizierten automatischen Vorfahrtsrechten umzustellen. Das bedeutete, dass er in verschiedenen Dringlichkeits-Stufen den normalen Verkehr von der Verkehrs- und Leitzentrale so beeinflussen lassen konnte, dass ihm weitreichend freie Fahrt mit höherer Geschwindigkeit erlaubt wurde. Dazu lenkte das von HighBrain entwickelte ProgrammCarSwiftim Zentralrechner die autonom fahrenden Wagen der anderen Verkehrsteilnehmer für die gerade nötige Zeitspanne auf die rechte Fahrbahn oder einen Standstreifen. Meist erforderte die Aufrechterhaltung des Verkehrsflusses, die Geschwindigkeit anderer Wagen zu reduzieren. Die VollversionSwiftModus-Adieser höchst nützlichen Schnellverkehrs-Variante beinhaltete noch zügigeres Freimachen einer Fahrspur und Anwahl deutlich höherer Geschwindigkeiten. Erklärlicherweise war sie nur den offiziellen Einsatzfahrzeugen von Polizei und Notdiensten vorbehalten.

Peter Freudbergs Bekanntheit fußte auch auf seiner Beratung des hochkarätigen Arbeitskreises „Antriebskonzepte“. In dieser Gruppe befassten sich Firmen wie HydMove und HighBrain mit Energiespeichern, Solarmodulen, Tank- und Speicherlogistik sowie Sicherheitstechniken. Reine Elektromobilität, obwohl weit verbreitet, hatte sich wegen der Nachteile traditioneller Akkus nicht dauerhaft etabliert. Nachhaltigere Alternativen mit günstiger verfügbaren Ausgangsstoffen hatten sich durchgesetzt, wie mit Solarenergie aufzuladende Flusszellen-Akkus hoher Energiedichte, welche den E-Motor am Ende der Kette nicht infrage stellten. Der Arbeitskreis präsentierte seine Vorschläge der BehördeTechnik und Vorsorge, die weitreichende Kompetenzen besaß, Konzepte plante und realisierte.

Alfredo verzog sein Gesicht. Der gemütliche Abend mit Diana würde ausfallen. Er musste sich als Ausgleich etwas Besonderes für das nächste Wochenende überlegen. Er drückte die Taste zur Bereitstellung eines Einsatzfahrzeugs und rief Enrico Pinola. Obwohl erst 38 Jahre, hatte der sich in die modernen Methoden des investigativen Polizeidienstes so gut eingearbeitet, dass sich Alfredo blind auf ihn verlassen konnte.

„Ja klar, komme sofort“, antwortete Enrico beflissen, der noch im Büro saß und seine Datenfiles ordnete. „Ich schaue noch schnell in die neu eingetroffene Notrufakte, vielleicht ist für diesen speziellen Einsatz noch irgendetwas aus dem Magazin mitzunehmen.“

„Kaum nötig“, sagte Alfredo knapp, „wir wissen noch nicht mehr, lass uns unterwegs im System nachsehen, ob neue Meldungen dazu reinkommen. Die Erkundungsdrohne müsste in Kürze einen ersten Bericht fertig haben.“

Sie trafen sich kurz darauf am Westausgang des Polizeigebäudes, der dem Fuhrpark am nächsten lag, bestiegen das bereitgestellte und vorprogrammierte Fahrzeug und brausten imSwiftModus-Adavon.

Peters Aktentasche lag noch am Unglücksort am Boden, nachdem die Sanitäter sie aus der starren Umklammerung durch Peters rechte Hand entwunden hatten. Da es sich um einen persönlichen Gegenstand handelte, sollte Constanze die Tasche mitnehmen, wenn sie sich wieder gefasst und die Polizei den Unfall protokolliert hatte. Die in der Aktentasche befindliche Sicherheitsbox für vertrauliche Unterlagen enthielt auch mehrere fest integrierte Sensoren, die gewaltsames Öffnen, extreme Temperaturen und explosionsbedingte Druckwellen registrieren konnten. Daher hatte die Box eine eigene Meldung an die Sicherheitszentrale der GenTra geschickt.

Die Sirenen hatten auch einen Nachbarn aufmerksam werden lassen. Mit seinem halbwüchsigen Sohn eilte er herbei und beriet sich mit den über Constanze gebeugten Polizisten. Er kannte Constanze und schickte sogleich seinen Sohn in das Haus, um ein Glas Wasser und eine Decke zu holen, denn nach Sonnenuntergang würde es schlagartig kühler werden. Sie führten Constanze auf eine in der Nähe befindliche Parkbank, wo sie etwas Wasser trank und langsam wieder zu sich kam.

„Zum Glück erholt sie sich“, stellte der ältere Polizist fest, „die Ambulanz wird gleich eintreffen.“ Und zu ihr gewandt: „Sie können beruhigt sein, die bringt Sie zur Überprüfung in die Klinik.“

Constanze versuchte ihm fest ins Auge zu schauen und murmelte: „Nein, es geht mir besser, ich möchte schnell nach Hause. Ich muss wissen, was mit Peter geschehen ist.“

Nachdem die zweite Ambulanz eingetroffen war, untersuchten die Sanitäter die Geschockte. Außer Kreislaufstabilisierung schien keine akute Maßnahme erforderlich. In diesem Moment erreichten Buca und Pinola die Unfallstelle. Die beiden eilten schnurstracks auf die Gruppe zu.

„Was ist genau passiert, gab es keine Explosion?“, rief Buca noch im Gehen.

Constanze starrte ihn an und stammelte: „Es war ein Blitz, ein schrecklicher Blitz, er hat Peter getroffen.“

Die Kommissare sahen sie an. Es hatte kein Gewitter gegeben.

„Doch, das kann stimmen“, warf der Nachbar ein, der das Gespräch mitverfolgt hatte, „mein Sohn und ich hörten einen kräftigen und furchterregenden Donnerblitz, der sicher ganz nah war. Ich hatte schon Angst, er hätte mein Haus getroffen, es gab aber nur einen einzigen Knall mit kurzem Grollen.“

„Aha, das können wir überprüfen“, wandte sich Buca an Pinola und fuhr mit gewichtiger Miene fort: „Da wir bereits zwei Zeugen für den Blitzschlag haben, scheint das wohl die nächstliegende Erklärung zu sein. Wenn Herr Freudberg tatsächlich von einem Blitz getroffen wurde, dann müssen die Ärzte Spuren davon an seinem Körper finden.“

Pinola hatte sich zum Telefonieren abseits gestellt. Auch in der Klinik waren alle Wiederbelebungsversuche gescheitert. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, Peter ins Leben zurückzuholen. Die Ärzte hatten klare Verletzungen diagnostizieren können, die Tod durch Blitzschlag möglich erscheinen ließen. Es gab gut sichtbare äußere Verbrennungen: Am linken Arm war das Sicherheitsband heiß geworden und hatte schwere Hautverletzungen verursacht. Innere Verbrennungen waren mit Ultraschall kaum feststellbar. Im Gegensatz zu Elektrounfällen führt ein direkter Blitzschlag meist zum sofortigen Tod durch Atem- und Herzstillstand oder zu irreparablen Nerven- und Gehirnschädigungen, aber wegen der kurzen Einwirkdauer verbrennt der Stromimpuls eher die Haut als das innere Gewebe. Dem üblichen Vorgehen entsprechend würde Peter noch in die Pathologie gebracht werden, um weitere Untersuchungen durchzuführen und ein verlässliches Protokoll mit korrekter Todesursache zu erstellen. Pinola hatte nun die Aufgabe, diese furchtbare Nachricht Constanze mitzuteilen.

Er ging langsam auf sie zu, sein Gesicht war ernst. Sie konnte sofort erkennen, dass er keine freudige Nachricht brachte. Sie musste sich mit einem Male eingestehen, dass alle Hoffnung zunichte war. Sie sah Pinola an und schüttelte leicht den Kopf, um ihn gleich wieder zu senken. Eine schmerzhafte Leere erfasste sie, ein Gefühl von Erschöpfung und leichter Schwindel überkamen sie.

„Bringt mich bitte nach Hause, ich bin müde.“ Gemeinsam stützten sie die Verzweifelte, damit sie stehen konnte. Der Nachbar, die Aktentasche in der einen Hand, die andere um ihre Schulter gelegt, führte Constanze nach Hause. Er würde noch bis zum Eintreffen Lauras bei ihr bleiben.

Buca, Pinola und die beiden Polizisten verfassten das Einsatz-Protokoll, photographierten die Unfallstelle, die nach ihrer Wahrnehmung offensichtlich keine sichtbaren Unfallmerkmale aufzeigte, und nahmen die knappen Aussagen von Constanze und der Nachbarn auf. Auch die ersten Befunde der Klinik zur Todesursache wurden sorgfältig eingefügt. Sie warteten noch, bis das Team von der Spurensicherung eingetroffen war. Dann fuhren sie zurück aufs Präsidium.

Als Hobby-Meteorologe wunderte sich Pinola darüber, dass es einen Blitz gegeben haben sollte, ohne auch nur das kleinste Gewitter. Kurzerhand rief er aus dem Auto den Wetterdienst an und fragte nach. Die Auskunft kam sofort und war eindeutig: Ja, um 18:01 wurde ein Blitz im amtlichen Messsystem registriert, dessen Position mit derjenigen des Unfallortes exakt übereinstimmte. Pinola wiegte erstaunt den Kopf und nahm sich vor, morgen seinen Freund Jim vom Wetterdienst anzurufen und Näheres zu hinterfragen. Der hatte anscheinend schon Feierabend gemacht.

„Ein klarer Fall. Lassen Sie sich morgen die Ergebnisse der KTU geben. Und wenn wir dann noch den Blitzschlag mittels schriftlicher Aussage des Wetterdienstes amtlich verifizieren können“, wandte sich Buca trocken an Pinola, „dann stellen Sie das Einsatzprotokoll fertig, so dass es anderen Behörden, medizinischen Abteilungen und Versicherungen zur Einsichtnahme verfügbar ist. Für uns ist die Akte abgeschlossen. Wenn es nur immer so einfach ginge!“ Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, wie sehr er sich mit dieser Annahme täuschte.

Lauras neue Welt

Laura wohnte etwa eine Stunde vom Elternhaus entfernt, nahe der Firma, wo sie als Bio-Ingenieurin und Innovationsmanagerin arbeitete. Obwohl erst 28, bewältigte sie bereits höchst verantwortungsvolle Aufgaben. Mit einem interdisziplinären Team entwickelte sie biotechnische Geschäftsmodelle für anspruchsvolle Kunden. Fachlichen Erfolg verdankte sie ihren naturwissenschaftlichen Interessen und praktischer Intelligenz – gut erklärlich angesichts der physikalischen Begabung von Vater und Großvater. Hoch gewachsen, schlank, mit langen dunkelblonden Haaren und blau-grünen Augen war sie eine auffällige Erscheinung. Gleichwohl fußte ihre Beliebtheit auch auf ihrer aufgeschlossenen und freundlichen Art.

Seit über einer Woche hatte sie wegen einiger Reisen und eines neuen Projekts nicht mehr mit ihren Eltern telefoniert. Dabei taten sie das, wenn es denn ging, beinahe jeden Sonntag. Peter hatte ihr regelmäßig über den Stand seiner Firma Bescheid gegeben; sie kannte die wichtigsten Vorgänge, auch die Zusammenarbeit mit der größeren Schwesterfirma NutricaTec Group, kurz Nutrica, die Anteile an GenTra besaß und sich auf Pflanzenanbau, Nahrungsmittelproduktion und Vertrieb spezialisiert hatte. An breit gestreuten Herausforderungen ihres eigenen Berufs abgeschliffen, begeisterte sie sich zunehmend am Geschäftsfeld der GenTra.

Die verheerenden Folgen des Klimawandels waren ihr total bewusst. Leider war die in fortschrittlichen Ländern gelungene Vermeidung von Verkehrsemissionen zu spät gekommen und hatte den Anstieg von Temperaturen und CO2-Ausstoß nicht ausreichend gebremst. Umso mehr faszinierte sie Vaters Beitrag zur Bewältigung der Ernährungskrise. Alle Welt wartete auf technische Lösungen der schon allzu lang hausgemachten Probleme, doch es fanden sich bislang nur begrenzt wirksame Behandlungen von Symptomen, kaum eine Maßnahme ging bis an die Wurzeln des Übels. Da ragte Peters Erfindung über alles andere hoch hinaus.AllCornmusste global eingesetzt werden. Das wäre ein Befreiungsschlag. Dafür würde sie sich einsetzen. Bis zum Letzten.

Sie hatte vielleicht allzu selbstverständlich gehofft, dass eine Situation, die Peters Funktion als CEO unmöglich machte, nicht so bald eintreten würde. Peter war erst 61 Jahre, vollkommen gesund und tatkräftig, fehlte nie wegen Krankheit und zeigte nicht die geringsten Schwächen oder Ermüdungserscheinungen. Sie hatte immer geargwöhnt, dass er einem seiner Freunde nacheiferte, der noch mit 88 Jahren ein großes Familienunternehmen erfolgreich leitete, obwohl er gelegentlich einräumte: „Man müsste noch mal siebzig sein.“ Jedenfalls suchte Peter genügend Ausgleich und widmete regelmäßig Abende der Musik und Wochenenden der Familie und Freunden. Doch ein einziger Blitz zeigte: Sie hatte sich getäuscht, auf unerwartete und schreckliche Weise.

Die automatisch ausgelöste Unfallnachricht hatte sie zu Hause erreicht. Ihr einziger Gedanke: alles liegen und stehen lassen, so schnell wie möglich zu Vater und Mutter fahren. Dann der Anruf mit der Todesnachricht. Sie stürzte in ein unbekanntes schwarze Loch, von dessen Existenz sie bislang keine Ahnung gehabt hatte. Noch während sie eilig einen Koffer hervorsuchte und einige Sachen im Schlafzimmer zusammenpackte, fuhr der bestellte autonome Wagen vor, der sie in die Stadt brachte. Würde sich nun ihr ganzes Leben verändern? Müsste sie ihren Beruf aufgeben und in Peters Firma die aufgerissene, viel zu große Lücke füllen? Sie musste sich auf das ungemachte Bett setzen und innehalten, Tränen traten in ihre Augen. Sie fühlte sich ihrem Vater so innig verbunden, so nahe. Und mit einem Schlag war vieles zu Ende, ihr Schmerz wurde zunehmend tiefer …

Eine halbe Stunde, nachdem Constanze zurück in das Haus geführt worden war, traf Laura ein. Als sie Mutter im dezent erleuchteten Wohnzimmer erblickte, wurde ihr der Ernst der Lage bewusst. Sie eilte zu Constanze, setzte sich neben sie auf das Sofa, nahm sie still in den Arm und versuchte sie zu trösten. Ohne Worte. Solche waren jetzt nicht hilfreich. Nach langen Minuten wünschte sich Constanze ein Beruhigungsmittel und wollte nur noch schlafen. Laura, die sich gut im Hause auskannte, beauftragte damit keinen Serviceroboter, sondern ging in die Küche und bereitete Baldriantee zu. Danach führte sie ihre Mutter nach oben ins Schlafzimmer, flüsterte beruhigende Worte und versicherte, dass sie über Nacht bei ihr bliebe, im Gästezimmer schlafen würde und jederzeit gerufen werden könne.

Leise hatte es an die Haustür geklopft. Wer konnte das jetzt noch sein? Laura eilte die breite Treppe hinunter durch den großen, mit modernen Möbeln, hohen Bodenvasen und wertvollen Orient-Teppichen ausgestatteten Wohnraum und ging zum Foyer. Als sie durch die Scheibe in der Haustür blickte, erkannte sie Edo, der sie ernst anschaute. Den IT-Chef der GenTra und engen Mitarbeiter ihres Vaters kannte sie von klein auf. Er umarmte sie wortlos, bevor sie in das Wohnzimmer gingen.

Sie bot Edo einen der breiten Ledersessel an, die um den Couchtisch herumstanden. „Ich habe eine Sicherheitswarnung erhalten. Was genau ist passiert?“

Schluchzend berichtete Laura, was sie wusste. „… ein entsetzlicher Unfall. Wenigstens hat er nicht lange leiden müssen.“ Betretenes Schweigen erfasste den Raum. Edo blickte auf den Boden und schüttelte den Kopf.

„Niemand“, versuchte Edo Laura zu beruhigen, „schon gar nicht Peter, hat daran Schuld, keiner kann für ein solches Naturereignis verantwortlich gemacht werden.“

„Trotz allem, das ist doch verrückt“, murmelte Laura, „so ein verdammtes Pech. Wie man es dreht und wendet, ein Volltreffer im Glücksspiel ist wesentlich wahrscheinlicher. Und ausgerechnet so punktgenau in Ort und Zeit, in den wichtigsten Stunden in Peters Leben, der lang ersehnten Realisierung seines Traums, das verstehe ich nicht.“

Edo nickte. „Es ist Schicksal, einfach unfassbar, mehr ist dazu nicht zu sagen.“

Nach einer Weile stand Laura auf und holte ihnen beiden einen doppelten Whiskey aus der Bar. Sie wusste, dass Vater das immer getan hatte, wenn er Probleme wälzte. Das Getränk schien ihre Lebensgeister wieder etwas aufzuwecken.

Edo nickte ihr zu und schlug vor: „Laura, du musst jetzt stark sein und dich um deine Mutter kümmern. Aber auch um die Firma. Du weißt, dass dein Vater dich als Nachfolgerin bestimmt hat. Zwar bist du noch jung, aber niemand zweifelt, dass du dazu in der Lage bist. Er sagte regelmäßig, du wärst über die wichtigsten Vorgänge informiert, auch zur Zusammenarbeit mit unserer größeren, an GenTra beteiligten Schwesterfirma Nutrica, die unsere Entwicklungen umsetzt und die Kornproduktion in den Markt bringt. Du weißt um den Beitrag deines Vaters zur Lösung der Nahrungsmittelkrise, er kam so gut voran, stand direkt vor dem Ziel. Du darfst uns damit jetzt nicht alleinlassen.“

Edo sah sie nachdrücklich an. „Lass uns kurz mit Jack sprechen, unserem Entwicklungsleiter, von Anfang an Peters rechte Hand. Er sollte dir baldigst die aktuellen Vorgänge in der GenTra erklären. Ich bin sicher, auch er möchte dir helfen.“

Überraschungs-Box

Jack hatte ebenfalls den Alarm aus der Sicherheitsbox seines Chefs erhalten und wartete auf Informationen, während er sich mit später Arbeit im Pflanzenlabor ablenkte. Alsbald berichtete ihm Edo die Bruchstücke, die er inzwischen in Erfahrung gebracht hatte. Jack vernahm die deprimierenden Details und bekundete sein tiefstes Beileid.

„Edo, noch etwas. Ich möchte die Trauer nicht stören, aber um keine Unruhe zu erzeugen, sollten wir das morgige Geheimtreffen sofort absagen.“ Er schaute auf dem Videoschirm seines Kommunikators, auchTeldexergenannt, zu Laura: „Wir sprechen hier von derPlantax-Gruppe, wie wir sie intern nennen. Ohne Peter ergibt die Besprechung vorerst keinen Sinn. Die Teilnehmer haben ihr Kommen lange geplant und sollten Bescheid erhalten.“

Edo antwortete: „Da Peter diese wichtige Besprechung leiten wollte, schlage ich eine Verschiebung vor. Es reicht uns nicht, nur über das Wesentliche von Peter informiert worden zu sein. Wir wissen nicht genug über seine Verhandlungsstrategien.“

Jack stimmte sofort zu: „Sehe ich auch so. Die Verschiebung darf aber nur von kurzer Dauer sein, sonst kommen wir nicht voran. Wichtig ist: GenTra muss weiterlaufen.“

An Laura gewandt fuhr Jack vorsichtig fort: „Du weißt, was auf dich zukommt?“

Sie nickte verständnisvoll und bestätigte: „Ja, ich ahne es, obwohl ich noch keine Details kenne. Klar, ich werde Aufgaben übernehmen müssen. Aber bitte nach und nach, ich bin traurig und muss den Schock verdauen. Natürlich müsst ihr mir noch mehr offenbaren. Ich hoffe, dass wir schon morgen damit beginnen können, vorausgesetzt, dass es Mutter wieder besser geht. Ich habe mir von meinem Chef erst einmal freigeben lassen.“

Jack wandte sich an Edo: „Ruf mich doch morgen an, damit wir die Lage durchgehen und die Absagen mit dem richtigen Wortlaut formulieren können.“

Obwohl bereits spät, war Laura trotz aller Müdigkeit begierig zu erfahren, was sich zuletzt ereignet, was ihren Vater bewegt hatte. Sie wollte gern ein guter Ersatz für ihn sein, obwohl ihr bewusst war, dass sie diese Aufgabe kaum so schnell und gut bewältigen könnte. Sie dachte an eine Übergangslösung, bis eine andere geeignete Führungsperson gefunden war. Zudem müsste eine zumindest teilweise Freistellung bei ihrem jetzigen Job arrangiert werden. Vieles ging ihr durch den Kopf, das Bild ihres Vaters, die bevorstehende Beerdigung, die Verwandten und Bekannten, alles auf einmal, zu viel auf einmal. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und kühlen Kopf bewahren.

„Edo, fang an, die Kurzfassung bitte. Ich möchte mir keine falschen oder unnötigen Gedanken machen. Ich will alles Wesentliche wissen.“ Laura fror leicht und kuschelte sich in die Sofakissen.

Edo schaute sie zögerlich an, so als hätte er Zweifel, dass sie aufnahmefähig und bereit wäre, sich im ersten Moment der Trauer mit komplizierter Materie zu befassen.

„Deinem Vater war es gelungen“, begann er bedächtig, „AllCornmit so phantastischen Eigenschaften auszustatten, dass unsere Schwesterfirma Nutrica mit der weltweiten Markteinführung des neuen Getreides beginnen konnte.“

Laura nickte: „Ja, das weiß ich, wir haben oft über dieses Ziel gesprochen. Die entscheidende Idee kam schon von Opa, ich erinnere mich an viele Diskussionen, alle hielten ihn damals für verrückt, aber es waren einfach geniale Visionen.“

„Richtig, wir verdanken deinem Opa sehr viel, er freut sich, die Früchte reifen zu sehen, die er gepflanzt hat. Nun aber zum Punkt: Wir stehen vor einem Desaster und laufen Gefahr, das ganze Projekt zu verlieren, riesige Investitionen in den Sand zu setzen. Sogar die Existenz der GenTra könnte auf dem Spiel stehen.“

Laura riss die Augen weit auf und schaute ungläubig: „Wie denn das?“

„In den letzten Monaten gab es schon vier ‚Einschläge‘, die Peter zu schaffen machten. Vor Monaten wurde Kira-1, unsere Versuchsstation in Kiralistan, überfallen und ausgeraubt. Danach kam ein anonymes, wenig freundliches Ersuchen zur Übernahme der Firma; Peter ging nicht darauf ein. Vor einer Woche spielte man uns eine Analyse vonAllCornzu, welche gravierende Nebenwirkungen bei den Konsumenten aufzeigte; wenn das wahr wäre, könnten wir einpacken. Und gestern geschah ein weiterer Angriff auf Kira-1, mit vielen Toten und Sachschäden. In allen vier Fällen wissen wir nicht, wer dahintersteckt. Du kannst dir vorstellen, wie sich Peter fühlte. Und heute das. Wir haben echte Probleme.“

„Entsetzlich“, seufzte Laura, „und ihr wisst nicht, wer das anzettelt?“

„Nein, wir haben keine gute Erklärung dafür, so massiv ins Feuer zu geraten. Es wäre noch verständlich, dass Investoren und Konkurrenten die GenTra als hochprofitabel einschätzen und sich einklinken möchten. Aber kriminelle Machenschaften der erlebten Art sind sicher nicht die übliche Lösung. Es muss für die Desaster noch einen anderen Grund geben, der uns bislang verborgen geblieben ist.“

„Hm, das erinnert mich an eine Bemerkung meines Vaters, dass seine Erfindung noch wesentlich weiterreichende Konsequenzen haben könnte. Wir sollten herausfinden, was er damit gemeint hatte. Vielleicht führt das auf die richtige Spur. Ein schwerwiegendes Rätsel, und die Lösung ist für uns überlebenswichtig.“

„Interessant, du bestärkst meine Vermutung. Übrigens“, fuhr Edo fort und deutete auf Peters Aktentasche, „darin findest du die Sicherheits-Box mit dem fatalen Analysebericht sowie einige von Peters Akten zur geplanten und gerade abgesagten Sitzung. Morgen werden wir gemeinsam reinschauen, wenn du dich stark genug fühlst.“

Da Laura seine Hilfe heute nicht mehr benötigte, machte sich Edo auf den Weg nach Hause. Laura brachte ihn zur Türe und sank dann erschöpft in einen Sessel. Wieder kreisten ihre Gedanken. Sie hatte noch nicht realisiert, was es bedeutete, Peter zu verlieren, es kam zu plötzlich. Sie atmete tief durch, genoss einen frischen Luftzug, der durch das leicht gekippte Fenster hereinwehte, und fühlte sich plötzlich stark und tatkräftig. „Ich muss wissen, was gerade mit der Firma passiert“, sagte sie zu sich. Bald würde sie die Firmenanteile ihres Vaters erben und Verantwortung übernehmen müssen. Es gab keine andere Wahl, als sich mit allen Vorgängen zu befassen, auch den schrecklichen.

Mit Macht überkam sie das Gefühl, Vaters Aktentasche inspizieren zu müssen. Sie öffnete den Verschluss, sah denTeldexerund eine Sicherheitsbox, die Notizen und Berichte enthalten musste. Sie versuchte sie sanft zu öffnen, aber das klappte nicht. Außerdem könnten die Sicherungen bei gewaltsamem Öffnen einen automatischen Notruf auslösen. Was tun? Sie rief Edo an. Da sie eh als Peters Vertreterin autorisiert werden würde, hatte Edo keine Bedenken, er war sogar froh, ihr schon jetzt den Zugang zu den vertraulichen Informationen zu ermöglichen. Das brächte die Dinge voran.

„Ich bin noch auf dem Weg, aber ich habe meinen Rechner dabei. Gleich werde ich eine Blockade per Funksignal aufheben. Du musst dann auf einem nicht sichtbaren Lesefeld an einer Seite der Box einen Sicherheitscode eingeben, den ich dir gleich perTeldexerverschlüsselt zusenden werde; das wirkt in etwa wie das Scannen eines Strichcodes im Supermarkt. Dieser zweite Schlüssel ist aber nur fünf Minuten aktiv, danach wird er ungültig. Beeil’ dich also. Ruf mich an, wenn du Schwierigkeiten hast.“

Laura schaffte es auf Anhieb, mit den erhaltenen Codes die Box zu öffnen. Sie schaute hinein und stockte verdutzt. Soweit sie auch ihre Augen aufriss, die Box war leer, nichts war drin, gar nichts. Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte Peter die Akten im Büro gelassen und eine leere Box mitgenommen? Ohne die persönliche Identifizierung kam normalerweise niemand an den Inhalt, die Sicherungen waren zu stark. Sie rief Edo nochmals an und berichtete von ihrer Entdeckung.

„Nein, unmöglich“, insistierte er, „die Akten waren bestimmt drin. Lass mich Conny anrufen, auch wenn es schon spät ist. Sie müsste das bezeugen können.“

Als Peters Chef-Assistentin per Videocall davon hörte, hatte sie auch keine Erklärung. „Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe gesehen, wie Peter die Akten nach dem Überprüfen hineinlegte und die Box verschloss. Dann habe ich sie persönlich zur Sicherheitskontrolle am Ausgang gebracht, wo er sie später abholte.“

Alle drei blickten ratlos drein und Edo musste einräumen: „Ich weiß mir auch keinen Reim darauf zu machen. Lass uns drüber schlafen und morgen nach einer einfachen Erklärung suchen.“

Sie beendeten die Schaltung. Laura rätselte hin und her. Fragen zuhauf. Wer steckt hinter diesen Attacken? Warum musste Peter sterben? War sie selbst in Gefahr? Wie könnten die Angreifer gestellt und die Gefahren beseitigt werden? Sie war gerädert und fiel todmüde ins Bett.

2 Rätsel allerorten

Am Tatort

Enrico wollte Näheres über den vermeintlichen Blitzschlag herausfinden, der Peter Freudberg gestern getroffen haben sollte. Seit fünf Jahren bekleidete er nun die Position des Hauptkommissars. Die Aufträge seines Chefs Alfredo hatten natürlich stets Priorität, doch ansonsten durfte er weitgehend nach freiem Ermessen vorgehen. Mit seiner drahtigen Figur, der Körpergröße von einem Meter zweiundachtzig und unermüdlichem Fleiß brachte er beste Voraussetzungen für die intensiven und unregelmäßigen Herausforderungen des Dienstes. Alfredo blickte wohlwollend auf dessen an der Wand aufgehängte Abschlusszeugnisse und Fortbildungsurkunden und schätzte seine Fähigkeit, mit den ständigen und immer wichtiger werdenden Neuerungen der Technik zurechtzukommen. Überstunden und Sondereinsätze schreckten Enrico nicht im Geringsten. Seine Lebensgefährtin fand seinen Beruf interessant, denn sie las gerne Krimis und konnte ihre Zeit in einer Event-Agentur ziemlich frei gestalten und im Homeoffice arbeiten, wenn Enrico wieder mal unvorhergesehene Pflichten wahrnahm.

Gleich nach Dienstbeginn rief er beim Wetterdienst an. Der zuständige Meteorologe hatte das Gutachten bereits erstellt. Dem zufolge gab es um 18:01 Uhr einen Blitz in Form von fünfzehn Teilblitzen, die in weniger als einer halben Sekunde nacheinander mit zwölf verschiedenen Bodenkontakten niedergingen. Als Enrico noch mehr Details erfragte, verband man ihn mit Jim Hausmann. Dieser räumte ein, dass weit und breit kein Gewitter stattgefunden habe. Allerdings könnten einzelne Blitze während einer Art Vorgewitterphase auftreten, ohne dass tatsächlich ein Gewitter folgen müsse. Blitze würden auch durch erhöhte Objekte ausgelöst werden und sogar unter heiterem Himmel niedergehen. Wegen dieser Komplexität würde die Bewertung des Falles noch etwas dauern und später vorgelegt werden. Enrico bedankte sich und bat um die bereits vorliegenden Daten der Meteorologen, die er gleich erhielt.

Nachdem Enrico von den vielen Teilblitzen gehört hatte, welche die gestrige kriminaltechnische Untersuchung nicht beachtet hatte, erschien ihm eine Tatortbesichtigung sinnvoll. Zur Unterstützung bestellte er den Streifenpolizisten Olaf Andrich mit Kameraausrüstung zur sofortigen Abfahrt. Enrico mochte den athletisch gebauten Mann, der Ende zwanzig war und sich immer hilfsbereit und aufmerksam zeigte.

Am Unfallort suchten Enrico und Olaf nach Einschlagspuren des Blitzes. Es hatte nicht geregnet und die Gegend war abgelegen, so dass sie am Boden keine starken Veränderungen gegenüber gestern erwarteten. Sie wussten, wo Peter gelegen hatte, und suchten an dieser Stelle und im Umkreis nach Brandspuren der einzelnen Teilblitze. Auf dem Asphalt, wo Peter getroffen worden war, fanden sich keine identifizierbaren Spuren. Aber auf den Grasflächen zwischen den Büschen auf beiden Seiten des Weges gab es eine Anzahl verbrannter Flecken, jeweils etwa zehn Zentimeter groß, die dem Blitz zuzuordnen sein konnten. Vor allem die kreisförmige Anordnung der Flecken war kaum ein Ergebnis etwaiger ätzender Hinterlassenschaften von Hunden. Sie fanden elf solcher Stellen, fotografierten und vermaßen die Koordinaten. Es fehlte nur der zwölfte Einschlagpunkt; womöglich hatte er auf dem Asphalt oder im Gebüsch gelegen.

Der nächste Schritt galt der intensiveren Befragung der Zeugen. Der Nachbar, Herr Miller, der bereits gestern seine Aussage zu Protokoll gegeben hatte, wohnte mit Frau und Sohn im übernächsten Haus und stellte sich noch mal bereitwillig zur Verfügung.

„Ich saß in meinem Wohnzimmer“, begann der Mann zu berichten, „als es plötzlich einen entsetzlich lauten Knall gab, der wie ein Hammerschlag in meinen Ohren dröhnte. Ich dachte sofort, dass ein Blitz in mein Haus eingeschlagen habe, so laut war es gewesen. Mein Sohn war draußen vor dem Haus, stürzte aber kurz darauf verschreckt herein. Ich rannte im ganzen Haus umher, um den Brandherd ausfindig zu machen, fand aber nichts Ungewöhnliches. Auch der Strom war da, keine Sicherung löste aus. Dann ging ich hinaus, lief um das Haus herum und fand nichts, was auf Brandschäden hindeutete.“

„Gut“, erwiderte Enrico, „das klingt plausibel und passt ins Bild. Aber kurze Zeit darauf sind Sie doch noch mal nach draußen gegangen.“

„Ja“, fuhr der Mann fort, „als ich wenig später eine Polizeisirene und aufgeregte Stimmen hörte, kam mir das Ganze schon komisch vor und ich wollte nachsehen. Oh je, dann lag da unser Nachbar auf dem Fußweg, schrecklich. Ich kenne ihn und seine Frau, seit wir vor zehn Jahren hier eingezogen sind, obwohl wir uns nur gelegentlich sehen und uns bisweilen gegenseitig mit Paketsendungen oder Handwerkern aushelfen.“

„Ihr Sohn war auch am Schauplatz erschienen, können wir ihn sprechen?“

„Klar, er ist oben in seinem Zimmer, ich rufe ihn.“

Der Junge kam herunter und schaute Enrico und Olaf neugierig an.

„Wie heißt du und wie alt bist du?“

„Ich bin der Oswald und gerade dreizehn geworden.“

„Erzähl mal, was du gesehen hast“, bat Enrico den Jungen, der gleich loslegte:

„Ich hab vor Sonnenuntergang mit meinem neuen Fernglas-Kit gespielt, das hat eine tolle neuartige Objekterkennung mit unbegrenztem Video-Speicher, ja, ich wollte den Sonnenuntergang beobachten und Aufnahmen machen. Es gab gute Farbeffekte, Sonne, blauen Himmel, viele helle und dunklere Wolken, das hat mir toll gefallen. Aber als der Blitz kam und der laute Knall, da rannte ich sofort ins Haus zurück, ich wäre gerne noch länger draußen geblieben, um noch mehr Aufnahmen zu machen.“

„Was hast du gesehen, als der Blitz kam?“

„Es war furchtbar hell, es blendete mich, und dann der laute Donner.“

„Gut dass dir nichts passiert ist, abgesehen von dem Schrecken. Aber denk mal nach, hast du sonst noch etwas beobachtet, zusätzlich zu den vielen Farben am Himmel, bevor du ins Haus zurückgerannt bist?“

Der Junge dachte nach und antwortete brav: „Eigentlich nicht. Ich erinnere mich nur, dass alles wie immer sehr ruhig war, kein Lärm weit und breit. Als ich zuerst rausging, sah ich ein Flugzeug in großer Höhe, wohl ein Jet, der Kondensstreifen hinterließ. Gleichzeitig kam eine größere dicke Paketdrohne, nicht ganz so hoch, die brummte deutlich hörbar, und es kam mir vor, dass es über ihr etwas neblig war.“

„Wann war denn das genau?“, unterbrach Enrico, „weißt du es noch?“

Die Antwort kam prompt: „Vielleicht so eine Viertelstunde vor dem Blitz, oder etwas weniger. Wir sehen hier öfter kleine Flugzeuge und Luft-Taxis. Aber jetzt fällt mir doch noch etwas ein, ganz kurz vor dem Blitz kam noch eine kleine Drohne angeflogen. Das fiel mir auf, denn normalerweise gleiten die Paketdrohnen einfach nur so dahin, aber diese wurde sehr langsam, als sie bei mir vorbeiflog, sie stand fast still, und kurz darauf ist sie plötzlich wie wild losgesaust. Dann kam schon der Blitz und ich habe die Drohne nicht mehr verfolgt, weil ich ins Haus lief.“

Enrico überlegte, ob das für seinen Fall relevant sein könnte, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Jedenfalls war die Erzählung glaubwürdig, auch wenn er bedachte, dass man bei Jugendlichen öfter mit ausgeprägter Phantasie rechnen muss. Alle Infos kamen sorgfältig ins Protokoll, Enrico und Olaf dankten und verabschiedeten sich.

„Das muss ich Jim erzählen, möglicherweise können die etwas damit anfangen“, sagte Enrico zu Olaf beim Weggehen. Sie fuhren ins Präsidium zurück, wo sich Enrico die Freudberg-Akte vornahm, um die nächsten Schritte zu planen.

Enrico ermittelt

Der seltsame Todesblitz lies Enrico nicht los. Seit vielen Jahren hatte er sich aus Interesse mit Wetter-Phänomenen beschäftigt. Das hatte mit der klaren Wahrnehmung begonnen, dass er bei Stresssituationen wetterfühlig war, obwohl Experten, die es eigentlich genau wissen sollten, mangels Vorstellungskraft und Unkenntnis über Beobachtungen immer wieder behaupteten, dass Wetterfühligkeit pure Einbildung sei.

Bei einer Party hatte Enrico den bekannten Meteorologen Jim Hausmann kennen gelernt, mit dem er sich danach öfter traf und sich so über faszinierende Vorgänge in der Atmosphäre austauschen konnte. Da es bei Unwettern ungewöhnlich viele Polizeieinsätze gab, war Enrico besonders an Prognosen im kurzfristigen Vorhersagebereich interessiert. Natürlich nutzten sie die amtlichen Unwetterprognosen, die immer besser wurden und sich in den allermeisten Fällen als zutreffend erwiesen. Enrico war beeindruckt, wie gut Meteorologen kleinräumige Vorhersagen gelangen. Und trotzdem schaffte es die Forschung, Modelle und Ergebnisse ständig zu verbessern. Für ihn war es wichtig, sich selbst ein wenig auszukennen und das Zustandekommen sowie die Zuverlässigkeit von Vorhersagen zu verstehen.

Nachdem Enrico die Aussagen des diensthabenden Meteorologen gehört und die Daten durchgesehen hatte, sprach er Jim noch einmal persönlich auf den Fall an. Er erreichte ihn per Videocall in dessen Kontrollraum mit totaler Rundumsicht in einem turmähnlichen Teil des Gebäudes des Allgemeinen Wetterdienstes.

„Hey Jim, hast du dir den Blitz von gestern mal angesehen?“, fragte Enrico ungeduldig in seinen Kommunikator, als Jim auf seinem Bildschirm auftauchte.

„Ja, es ist verrückt, da passt einiges nicht zusammen. Nicht nur das Auftreten so vieler Teilblitze. Um es kurz zu machen: Den Blitz dürfte es eigentlich nicht gegeben haben.“

„Versteh ich nicht, es gab ihn doch, er hat Peter erschlagen.“

Jim schien einigen Spaß daran zu haben, Enrico auf die Folter zu spannen. „Hm, es ist kompliziert, wie soll ich dir als Laie das erklären?“

„Du, hör’ mal“, sann Enrico auf eine Retourkutsche, „du hast mir eine ganze Menge an Meteorologie beigebracht. Hältst du dich etwa für einen miserablen Lehrer? Also, was ist wirklich los?“

„Nun gut. Grob gesagt, es gab nicht ausreichend Turbulenz, um eine Blitzentladung zu ermöglichen. Die Befunde sind höchst ungewöhnlich. Lass mich noch das erbetene Spezialgutachten für eure Akte verfassen, dann können wir in Ruhe darüber reden.“

„Okay, ich gedulde mich. Du, mir kommt eine Idee: Da Familie Freudberg und die Leitung der GenTra an der Aufklärung des Blitztodes äußerst interessiert sind, sollten deine Befunde dort bekannt werden. Wie wär’s, wenn du in einer informellen Informationsrunde persönlich berichten würdest?“

„Kein Problem, veranlasse das Treffen und gib mir Bescheid.“

„Gut. Ich kann’s kaum erwarten, dein Material zu sehen. Mach’s gut.“

Enrico hielt es für nicht geboten, die Akte wie vorgesehen zügig zu schließen. Doch für weitere Ermittlungen benötigte er Rückendeckung von Alfredo. Also bat er um eine Unterredung. Erstaunlicherweise empfing ihn Alfredo sofort in seinem Büro.

„Danke für den Termin, ich hab’ Neuigkeiten.“

Alfredo zog genüsslich an seiner Pfeife, während er auf Akten schaute. „Lass hören.“

„Ich habe mich gerade beim Wetterdienst genauer informiert“, erklärte Enrico kundig. „Wir wussten ja bereits, dass gestern am Unfallort um 18:01 ein Blitz niedergegangen war, obwohl weit und breit kein Gewitter stattgefunden hatte.“

„Ja, haben wir in der Akte“, bestätigte Alfredo, „egal wie so ein Blitz entsteht, wichtig ist, dass er tatsächlich stattfand. Es war ein bedauerlicher Unfall. Bereite das Schlussprotokoll vor, lass dir das Gutachten vom Wetterdienst schriftlich geben und füge das gestrige Protokoll vom Unfallort an sowie den kommenden Bericht der Pathologie. Damit schließen wir die Akte. Vorausgesetzt, dass der Obduktionsbefund nicht dagegenspricht, was wir der Lage nach nicht erwarten.“

Enrico blickte erstaunt und verzog das Gesicht, um Protest anzumelden. In diesem Moment piepste Alfredos Kommunikator. „Oh, wenn man vom Teufel spricht“, hob Alfredo seine Augenbrauen, „der Befund ist gekommen, schauen wir rein.“

Er öffnete das Dokument auf dem Schirm. Demzufolge war die pathologische Untersuchung beendet und Peters Leichnam freigegeben. Die Symptome starker äußerer Verbrennungen erwiesen sich als eindeutig genug, um jeden Zweifel auszuräumen. Zudem gab es keinerlei Hinweise auf andere beteiligte Todesursachen, daneben war sein Gesundheitszustand außerordentlich gut und durch keine Vorerkrankung oder akute Leiden beeinträchtigt gewesen. Das Fachgutachten endete mit der amtlichen Feststellung „Tod durch Blitzschlag“.

„Na also“, triumphierte Alfredo, „ich sagte es doch, quasi erledigt. Sobald der Wetterdienst das endgültige Gutachten erstellt hat, nichts wie rein in die Ablage. Die Protokolle bleiben für Anfragen von Behörden oder Versicherungen weiterhin verfügbar. Mensch, waren wir mal wieder schnell. Mit GenTra werde ich noch Kontakt halten, weil es mich persönlich interessiert. Doch jetzt warten andere Aufgaben.“

„Keine Frage“, versuchte Enrico behutsam gegenzusteuern, „ich dachte ganz genauso, aber ich habe gerade mit Jim Hausmann gesprochen. Er hat festgestellt, dass zwar ein Blitz gemessen wurde, jedoch die Radarbilder dagegensprechen. Verrückt, ich weiß. Das bedeutet für uns, dass wir eine saubere Klärung abwarten sollten.“

„Was für ein Unfug“, polterte Alfredo ungehalten los, „die Sache ist abgeschlossen. Selten war ein Unfall so klar, der Blitz wurde vom Wetterdienst gemeldet, von Zeugen gehört, von Medizinern als Todesursache bestätigt. Was wollen wir mehr? Unsere Arbeit ist erledigt. Warum sollten wir uns möglichen Vorwürfen aussetzen, unnötigerweise einem geklärten Fall nachzulaufen? Wir haben Wichtigeres zu tun.“

Enrico war von dieser Reaktion nicht überrascht, er kannte seinen Chef nur zu gut. Daher zielte er auf dessen Bedürfnis, möglichst nicht in die öffentliche Kritik zu geraten und Erfolge hauptsächlich sich selbst zuzuschreiben.

„Alfredo“, brachte er das Gespräch behutsam in die beabsichtigte Richtung, „ich muss die neuen Fakten ins Protokoll aufnehmen und mich dabei von Jim zur Bewertung der offensichtlichen Widersprüche beraten lassen. Es scheint mir nötig, eine weitere Diskussion zu führen, um ein zuverlässiges Bild zu erhalten. Nicht auszudenken, wie du in deiner herausragenden Position dastehen würdest, wenn sich doch noch herausstellen sollte, dass neue wichtige Umstände vorliegen, die unbedingt zu würdigen wären, wir aber die Akte voreilig geschlossen hätten.“

„Hm“, brummte Alfredo, dem die versteckte Brisanz der neuen Lage schlagartig bewusst wurde. „Nicht ganz falsch, Enrico. Wir sind für sorgfältige Ermittlungen und Zuverlässigkeit bekannt. Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?“

„Durchaus“, nahm Enrico die Chance wahr, „es könnte noch eine Straftat hinzukommen. Ich hörte nämlich vorhin von Edo, du kennst den Chef der Sicherheitsabteilung der GenTra, dass Akten gestohlen worden seien, die Peter während seines Unfalls eigentlich in seiner Aktentasche hätte haben müssen. Die Anzeige kommt noch rein. Diese noch nicht aufgeklärte Tat gehört auch zur Akte Freudberg.“

„Das alles ändert mein Bild. Wir halten die Akte bis auf Weiteres offen. Aber eines ist absolut klar: Wir wollen keinen ersichtlich falschen Spuren nachgehen, alle weiteren Recherchen nur informativ und mit äußerster Zurückhaltung angehen. Erstatte mir unverzüglich Bericht über alles, was du herausfindest.“

„Gut so“, dachte Enrico, der sich nun offiziell dem Blitzrätsel widmen durfte. Als Erstes würde er GenTra die kleine Gesprächsrunde vorschlagen.

Alfredo rückte näher zu Enrico und fuhr gedämpft fort: „Ich benötige dringend den Ermittlungsstand zu dem höchst ärgerlichen Fehler in der zentralen Verkehrssteuerung, du weißt schon. Die Algorithmen schließen doch so ein folgenschweres Verkehrs-Chaos eigentlich aus. Das ist blamabel und unentschuldbar. Wenn du mich fragst, handelt es sich dabei um einen raffinierten Hackerangriff. Wir müssen alles tun, um sicherzustellen, dass die Schwachstelle gefunden wird. Denke an internationale Veranstaltungen. Wir wären bis auf die Knochen blamiert, wenn so etwas noch einmal passieren würde.“

***

Am nächsten Morgen fühlte sich Laura erstaunlich frisch. Ein Blick auf denTeldexersagte ihr, dass ihre Schwester Melinda in Kürze eintreffen würde. Constanze schlief noch, ein gutes Zeichen. Sie holte sich einen Espresso aus der Küche und dachte nach. So viel war geschehen. Sie hoffte inständig, dass ihre Mutter den herben Schlag einigermaßen verarbeiten konnte. Um ihr noch mehr zur Seite zu stehen, würde sie sich beruflich einige Zeit freinehmen und bei ihr wohnen. Noch während sie über die nächsten Schritte sinnierte, klingelte es. Laura öffnete die Haustür und Melinda fiel ihr schluchzend um den Hals.

„Ich bin gestern von einer Geschäftsreise zurückgekommen, habe umgepackt und bin gleich hergefahren. Ich werde einige Tage bleiben. Wo ist Mutter?“

Constanze hatte die beiden wohl gehört, denn in diesem Moment kam sie die Treppe herunter. Die drei umarmten sich und trockneten ihre Tränen mit Taschentüchern. Constanze seufzte erleichtert und war sichtlich froh, beide Töchter bei sich zu sehen und ihre Nähe zu spüren.

„Bring mir bitte einen starken Kaffee, das brauche ich jetzt“, sagte Constanze, die üblicherweise Tee bevorzugte.

Laura eilte in die Küche. „Mir auch, bitte“, rief Melinda hinterher.

Sie unterhielten sich angeregt, immer wieder über Peter. Dennoch schien das Gespräch mit ihren Töchtern Constanze aufzumuntern. Melinda erklärte, dass sich ihr Mann und eine Freundin um ihren Sohn Felix kümmern würden, so dass sie auch eine Woche hierbleiben könne. Mutters Gesichtszüge zeigten Zufriedenheit.