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»Fernsehen macht dumm«, »Unser Bildungssystem produziert karrieristische Fachidioten«, »Der Kapitalismus braucht Konsumtrottel«. Wenn eine Gesellschaft auf das in ihr (zu Recht) grassierende Unbehagen an »allgemeiner Verblödung« statt mit handfesten Gegenmaßnahmen bevorzugt mit kulturpessimistischen Slogans und Verschwörungstheorien reagiert, wird klar, wie sehr sie sich bereits in ihrem Dummsein eingerichtet, es gar zum System erhoben hat. Markus Metz und Georg Seeßlen analysieren die Mechanismen, mit denen Dummheit heute produziert wird, nebst den fatalen Strategien, mit denen die meisten Individuen sie »bewältigen« und dadurch noch verstärken. Wer sich der Dynamik der »Blödmaschinen« nicht blind oder – noch schlimmer – sehend ergeben möchte, muß ihre Strukturen begreifen. Nur so entsteht die Chance, sie zu zerschlagen.
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Seitenzahl: 1116
»Fernsehen macht dumm«, »Unser Bildungssystem produziert karrieristische Fachidioten«, »Der Kapitalismus braucht Konsumtrottel«. Wenn eine Gesellschaft auf das in ihr (zu Recht) grassierende Unbehagen an »allgemeiner Verblödung« statt mit handfesten Gegenmaßnahmen bevorzugt mit kulturpessimistischen Slogans und Verschwörungstheorien reagiert, wird klar, wie sehr sie sich bereits in ihrem Dummsein eingerichtet, es gar zum System erhoben hat. Markus Metz und Georg Seeßlen analysieren die Mechanismen, mit denen Dummheit heute produziert wird, nebst den fatalen Strategien, mit denen die meisten Individuen sie »bewältigen« und dadurch noch verstärken. Wer sich der Dynamik der »Blödmaschinen« nicht blind oder – noch schlimmer – sehend ergeben möchte, muß ihre Strukturen begreifen. Nur so entsteht die Chance, sie zu zerschlagen.
Georg Seeßlen, geb. 1948, Studium der Malerei an der Kunsthochschule München, freier Journalist und Autor, lebt in Kaufbeuren.
Markus Metz, geb. 1958, Studium der Publizistik, Politik und Theaterwissenschaften an der FU Berlin, freier Journalist und Autor, lebt in München.
Markus Metz/Georg Seeßlen
Blödmaschinen
Die Fabrikation der Stupidität
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe
der edition suhrkamp 2609.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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eISBN 978-3-518-74379-9
www.suhrkamp.de
I. TEIL BLÖDMASCHINEN: DIE FABRIKATION DER STUPIDITÄT
PROLOG: Das Überraschungsei
1. KAPITEL Dummes Wissen/Wissende Dummheit: Dialektik der Blödmaschinen
2. KAPITEL Backstory, märchenhaft oder Wie aus Beratern der Weisen Herrschaft sowohl die Maschinisten als auch die Kritiker der Blödmaschinen wurden
3. KAPITEL Theorie der dummen Dinge oder Blödheit als Eigentum
II. TEIL DIE REVOLTE DER STUPIDITÄT
PROLOG: Karōshi für alle oder Über das Totarbeiten als Extremsport der Mittelschicht
4. KAPITEL That’s Entertainment! Profanierung und Sakrifiktion im Kampf um die kulturelle Hegemonie
5. KAPITEL BILD dir unsere Meinung – Zwei exemplarische Blödmaschinen und die Grenzen ihrer Kritisierbarkeit
III. TEIL DIE POLITIK DER STUPIDITÄT
PROLOG: Die Erfindung des Kapitalismus
6. KAPITEL Werkzeugkasten der Verblödung
7. KAPITEL Das strategisch begrenzte & das digital vernetzte Denken
8. KAPITEL Die Blödmaschinen und die Postdemokratie
Epilog: Der Untergang des Narrenschiffs
Literatur
»Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse«, sagt der Galileo Galilei bei Brecht. Mag sein. Aber wie bei allen Vergnügungen gilt es hier drei Dinge zu beachten: Erstens muß man es sich leisten können. Zweitens sind andere Vergnügungen schneller, bequemer und ungefährlicher zu haben. Und drittens gibt es immer jemanden, der etwas dagegen hat. Denn Denken hat, auch wenn man es nicht immer gleich bemerkt, im Gegensatz, sagen wir, zum Verspeisen einer Sacher-Torte, die Tendenz, nicht vollkommen berechenbare Folgen zu haben. Für den Denkenden wie für einen den Umständen des Denkens entsprechenden Teil des Rests der Welt.
Unzählige Methoden gibt es, uns das Denken auszutreiben. Vom Scheiterhaufen bis zur Droge, Arbeit und Rausch, Versprechen und Drohung, Illusion und Autorität, Glaube, Liebe, Hoffnung, Angst, Gewalt und Höllenfahrt dazu. Gesellschaft ist ein ewiges Paradox: Kontrolliertes Denken. Das geht nie gut, für die Gesellschaft nicht, und für den Denkenden schon gar nicht. Zivilisation ist das gegenseitige Abdämpfen von Denken und der Strafe, die es dafür setzen soll.
Die Grundvoraussetzung für das Denken ist, um noch einmal Brechts Galileo zu zitieren, daß man sich dumm fühlt. Im Gegensatz zu einem Gelehrten, der sich im Besitz des Wissens wähnt, im Gegensatz aber auch zu einem Weisen, der bekanntlich weiß, daß er nichts weiß, und das reicht ihm an Wissen für ein ganzes Leben. Aber ist es nicht ein Kreuz, wie immer und immer wieder der Dumme sich in den Wissen-Wollenden, und der in den Erkennenden und dieser sich wieder in den Gelehrten verwandelt, so daß wir beim Denken vor allem dem Erreichen einer höheren Stufe der Dummheit zusehen? Wer das Gedachte verteidigt, tut es schon auf dumme Weise. Und wenn einem das Ganze zu anstrengend geworden ist, dann kann man sich immer noch weise geben.
Wie dem auch sei. Es ist ein ewiger Kampf Davids gegen Goliath. Der Denkende gegen die Macht. Der Denkende gegen das Denkverbot, der Denkende gegen die Überzahl der Nichtdenkenden, der Denkende gegen die eigene Bequemlichkeit, Furcht und Korruptionsanfälligkeit. Denken als heroische Geste. Das gefällt uns. In der Fiktion. Im richtigen Leben sieht es anders aus. In aller Regel sind Leute, die denken, nicht einmal besonders sympathisch. Diese Verbohrtheit, diese Arroganz, dieses Sendungsbewußtsein. Soll das Vergnügen sein? Es nervt.
In einer Konsensgesellschaft unterdrückt man das gefährliche Denken durch zwei sehr bewährte Mittel. Man überträgt ihm gesellschaftlich einen Geruch. Denken ist peinlich, vor allem öffentlich. Eine Art, sich danebenzubenehmen. Und weil aber das Denken trotz allem nie ganz verleugnen kann, aus einem Vergnügen entstanden zu sein (the best things in life are free!), geht es darum, andere Dinge an seine Stelle zu setzen. Wir nennen sie: die Blödmaschinen.
Natürlich haben die denkenden Menschen in beinahe jeder Epoche das Empfinden, gerade in ihrer würden sie am meisten behindert, verleumdet und mißbraucht. Das ist ganz normal, denn das Denken wird in jeder Epoche behindert, verleumdet und mißbraucht, nur eben immer anders, und vielleicht ist die unsere zugleich die raffinierteste und die ehrlichste, insofern sie Behinderung, Verleumdung und Mißbrauch des Denkens als öffentliches Spektakel inszeniert. Blödmaschinen wirken nicht in den Kellern der Inquisition, und sie werden nicht in geheimen Kommandozentralen gesteuert. Sie sind demokratisch, menschlich und transparent. Jeder kann sie mit betätigen, jeder könnte sie ausschalten, für seinen Teil. Blödmaschinen machen selten angst (na ja, ab und zu drehen sie durch, und das kostet Opfer), sie verlangen nur wenig Unterwerfung (dies aber dann regelmäßig und verläßlich), und sie versprechen jede Menge Vergnügen. Ordentliches, berechenbares, ungefährliches Vergnügen. Und gar nicht mal so teuer.
So weit, so schön und einfach. Aber leider: Für schöne und einfache Sachen sind die Blödmaschinen zuständig. Das Denken macht es sich mal wieder schwerer.
Seien wir ehrlich: Wir verständigen uns nicht mehr in der Art, wie man es zu Galileos Zeiten getan hat. Linear angeordnete Textzeichen sind nur noch ein Teil der Verständigung, sozial und semiotisch limitiert obendrein. Nicht daß wir deswegen weniger redeten oder gar weniger Gerede aufnehmen müßten als zu anderen Zeiten, im Gegenteil. Aber im Sprechen, da brauchen wir nur unseren Fernseher einzuschalten, hat der Gestus längst über die Logik triumphiert: Die audiovisuelle Text-Performance dient der Inszenierung des Sprechenden, sie zeigt – ›authentisch‹ – den Impuls als Geste, und deswegen ist Sprechen im Medium stets am Rande der Hysterie (oder der Langeweile). Wie macht ein Guido Westerwelle das denn, wenn er über Jahre hinweg immer wieder dieselben Sätze über Leistung, die sich wieder lohnen müsse, und damit Steuern, die gesenkt werden müßten, mit einer Emphase vorträgt, als hätten sie irgendeinen rationalen Sinn oder als wäre ihm gerade die politische Erleuchtung gekommen? Spricht vielleicht seine Krawatte deutlicher? So wie Johannes B. Kerner das von Barbara Walters gelernte Kopf-Schiefhalten sprechen läßt? Falsche Frage. Wie macht es ein Publikum, auf so etwas mit »frenetischem Applaus« zu reagieren, als habe jemand das erlösende Wort gesprochen, eine Pforte aufgestoßen? Wir könnten einfach von »Lügen«, von »Dummheit«, von »Inszenierung« sprechen. Oder eben von einem gemeinsamen Genuß der Blödheit. Wenn nicht hinter dieser öffentlichen Trennung der »Impulsgeste« vom Inhalt mehr stecken müßte, nämlich eine fundamentale Veränderung der Art, wie der öffentliche Raum organisiert wird und wie man ihn betritt. Und andersherum eine ebenso fundamentale Änderung der Art, wie ein Mensch, mit Bildern und Erzählungen aus der Welt kommend, sein eigenes Inneres betritt. Genau von diesen Veränderungen, Veränderungen des Menschenbildes und Veränderungen der Gesellschaftsform, handelt dieses Buch.
In einem wundervollen alten »Lemmy Caution«-Film verzweifelt ein Automechaniker an seiner dauerplappernden Ehefrau: »Sie redet einfach irgendwas!« Ja, diese Frau redete, um nicht schweigen zu müssen. Aber in Wahrheit hat natürlich auch Lemmy Caution immer nur irgendwas gesagt, damit man seine Stimme hörte, seine Distanz und Überlegenheit. Richtig ausgedrückt hat Lemmy Caution sich dagegen nur durch Kinnhaken.
Es ist »kinematografisiertes Sprechen«, eine akustische Verbindung von Text-Derivaten mit »ikonografischen« Gesten, oder, einfacher gesagt: Das Gesprochene ist nicht etwas, das vom Körper erzeugt wird, um ihn zu verlassen (»Es gilt das gesprochene Wort.«), es ist vielmehr etwas, das den Körper erweitert, ihm den Raum schafft, in dem er sich bewegen kann, ohne ihn ganz zu verlassen. Sprache, die dem Blick ähnelt, der der Bewegung vorausgeht, dem Tier-Schrei ähnlicher als dem »Text«.
Die audiovisuelle Impulsgeste, die wir ursprünglich von Herrschern und Priestern kennen, bis sie bei Charles Chaplin bzw. Adolf Hitler zu ihrem furchtbaren (vorläufigen) Ende kam, ist mittlerweile demokratisches und vor allem mediales Kommunikationsmittel. Sie ist an die Stelle der »Höflichkeit«, der »Ehrerbietung« und der Vermeidung, aber auch an die Stelle der »Offenbarung« und der »Selbstermächtigung« getreten: Impulsgesten, so wie wir sie aus dem Fernsehen, von Wahl- oder Werbeveranstaltungen kennen, entscheiden über den Ausgang von Begegnungen im öffentlichen Raum.
Im Gegensatz zu einer »Höflichkeitsgeste« weiß eine Impulsgeste nicht ohne weiteres, was sie selber bedeutet. Sie ist keineswegs un-autoritär, setzt aber anders als die Geste der Höflichkeit kein lineares Regelwerk voraus. Begegnet ein Manager einem Arbeiter (so etwas kommt vor), so ist nicht geregelt, wie tief der Arbeiter sich verbeugen muß, vielmehr spielen die beiden Kontrahenten sich gegenseitig durch ihre Impulsgesten die Geschichte von Macht und Abhängigkeit vor. Die Unterwerfung, wir ahnen es, ist fundamentaler, als es eine noch so tiefe Verbeugung wäre, weil sie die »Freiwilligkeit« des Unterworfenen und das »Wohlwollen« des Unterwerfers mit spielt. Und zwar im Bewußtsein der Anwesenheit eines dritten Blicks, ob nun eine Kamera dabei ist oder nicht. Das Schauspiel soll Klarheit schaffen und doch nichts verraten.
Wenn wir den öffentlichen Raum mit Impulsgesten betreten, so ist jede Begegnung ein Machtkampf mit offenem Ausgang. Die Geste, sprachlich, mimisch und durch den Kostüm-Code unterstützt, sagt nichts aus, sondern ruft etwas ab. Guido Westerwelle spricht mit seinem »Leistung muß sich wieder lohnen« also weder etwas Neues noch etwas Sinnvolles aus, sondern ruft ein Weltbild ab: Mein finanzielles Interesse in einem Nicht-Satz verpackt, der nun als Maske getragen werden kann, mit dem man in den öffentlichen und halb-öffentlichen Räumen kenntlich ist. Im öffentlichen Raum wie im Medium spielt sich Kommunikation als geheime Verständigung ab, wie bei Edgar Allan Poes »purloined letter« ist dabei freilich das Geheimnis im Offensichtlichen verborgen. Impulsgesten-Reden setzt daher, und schon haben wir eines der vielen Rädchen der postdemokratischen Blödmaschinen, sowohl auf seiten der Sender als auch auf seiten der Empfänger voraus, daß sie sich, was den Diskurs anbelangt, wesentlich dümmer stellen, als sie sind. Daher ist auch die Antwort auf eine Impulsgeste (nur zum Beispiel der frenetische Applaus, anderswo, etwa im Fernsehen, das willige Überschreiten von Geschmacks- und Ekelgrenzen) körperlich und kollektiv. Das reale oder imaginäre »Wir«, das durch die Impulsgeste erzeugt wird, spukt auch durch diesen Text: Fernsehen und postdemokratische Politik erreichen nicht »mich«, sondern immer nur »uns« (eine Masse der Vereinzelten, den isolierten Massenmenschen).
So wie die Impulsgeste an die Stelle der »Etikette« getreten ist, so ist an die Stelle des Bildes die »Visiotype« getreten. Visiotypen sind inoffizielle »Welt-Bilder«: »Unser blauer Planet« (der Blick eines nicht allzu fernen Gottes auf seine gefährdete Schöpfung, die Kreation der idealen Farbe für die Verpackung einer Schokoladenmarke), Hubschrauber über Urlandschaft, das Tor des Monats, die Straße nach dem Attentat, der Eisbär, dem bald die Schollen für die Wanderungen ausgehen werden, Kinderaugen blicken dich an, Mann mit Mikrophon, ekstatisch usw. Auch Visiotypen sagen in sich nichts aus, sondern rufen Weltmodelle ab, die uns in ein wohliges Bescheidwissen tauchen. Man kann sie deuten als Verbindungen eines archaischen Bildes mit einem aktuellen Kontext. Wie die »Impulsgeste« vor die Sprachentstehung zurückgreift, um etwas auszudrücken, was jenseits der Sprache liegt, ein wirkliches Interesse beispielsweise, das in einer demokratischen und sozialstaatlichen Öffentlichkeit nicht benannt werden darf, so greift die Visiotype auf ein vor-semiotisches Bild-Erleben zurück, erklärt ein Signal zum Symbol (Kinderaugen, Hunger, Geld), um abzubilden, was nicht Bild werden kann. Es ist das fundamental Blöde an unserer Gesellschaft, daß man in ihr nicht anders kann, als Dinge zu wissen, die man nicht wissen darf.
Das beseelte Ding schließlich ist eines, das zugleich verläßlich und ewig und andererseits flexibel und gegenwärtig genug ist, um ein wechselseitiges Leiten zu ermöglichen. Es gibt darin keine Subjekt-Objekt-Beziehung mehr, und es ist nicht zufällig, daß sich das beseelte Ding aus dem Reich der Magie wie aus dem Reich des Kinderspielzeugs in die Welt des »reproduzierenden« (arbeitenden und Kinder großziehenden) Erwachsenen bewegt. Es ist das »Maskottchen«, dem ich einen Teil meines Schutzes anvertraue, indem ich ihm auftrage, »ein Auge auf mich zu haben«, es ist die Kücheneinrichtung, in die ich »mein ganzes Herz gesteckt« habe, es ist das Automobil, »das so ganz meiner Persönlichkeit entspricht«, das T-Shirt, in dem ich mich »einfach sicherer fühle« (wie Linus mit seinem Security Blanket) oder es ist die jeweils neue Form der Alltagstechnologie.
Hier gibt es keinen Unterschied zwischen dem Ding und dem Zeichen. Der Gebrauch des Dings ist sein eigener Ritus. Das Problem ist, und das macht das Blöde darin aus. Die Seele kann dem Ding nicht übertragen werden (durch welchen Voodoo-Ritus auch immer), es saugt sie sich vielmehr aus dem Menschenalltag, und deswegen läßt sie sich auch nicht mehr entfernen. So geht es im schlimmsten Fall: Die Welt ist eine Ansammlung von Visiotypen. Das Ich ist ein Kreis von beseelten Dingen. Und zwischen beidem kann nur die Impulsgeste vermitteln. Natürlich ist der schlimmste Fall die Ausnahme; überall gibt es »Wirklichkeitsreste« (wie im Traum, wie im Mythos).
Marxistisch gesprochen, können wir behaupten, daß die Beziehung zwischen der materiellen Basis und dem ideellen Überbau zusammengebrochen ist (Asterix’ größte Befürchtung ist wahr geworden: Der Himmel ist uns auf den Kopf gefallen). Unschärfer denn je sind sie geworden, die Grenzen zwischen der Immanenz und der Transzendenz, zwischen der Ware und ihrer Legende. Unter dem entleerten Himmel (auch die Fundamentalisten aller Religionen haben das Ihre zur Entleerung des Himmels beigetragen) haben sich transzendente Elemente in den Waren, den Transmissionen, den Programmen, den Zeichen, den Dingen aufgelöst. Wir beschreiben daher das Wirken der Blödmaschinen in zwei Grund-Diskursen, dem von Dummheit und Kritik und dem von Profanierung und – wir nennen es tückisch: Sakrifiktion.
Ob Denken also noch großes Vergnügen bereitet? Schwer zu sagen, da es einerseits kaum noch möglich ist, eine Antwort auf die Frage zu geben, was Denken eigentlich sei, und da es sich andererseits, mangels gesellschaftlicher Rückversicherung (und sei’s im Negativen: In der Herrschaft der Blödmaschinen macht sich niemand mehr die Mühe, dem jeweils neuen Galileo die Instrumente zu zeigen), nicht verwirklichen kann. Denken ist zum Privatvergnügen geworden, das heißt, es bringt nichts ein, sondern verursacht Kosten. Denn worum es geht, ist nicht das denkende Subjekt und der Widerstand, den Herrschaft und Beherrschte ihm entgegensetzen, sondern eben das, was zwischen beiden geschieht.
In diese Falle haben wir uns bis zu gewissem Grade selbst gedacht, nämlich indem wir so lange über das Denken nachgedacht haben, bis es mehr oder weniger verschwunden war. Und gibt es nicht seit langem diese Sehnsucht nach der Paradoxie eines »naiven«, eines »wilden«, eines »unbelasteten« Denkens, eines Galileo-Denkens außerhalb der Denkfabriken und Denkschulen? Der größte Genuß des Denkens ist – wie bei Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll – das Anfangen. Wer mit dem Denken anfängt, fühlt sich wie ein Gott oder eine Göttin, danach wird es mühsam. Eine perfekte Blödmaschine muß nur verhindern, daß man mit dem Denken anfängt. Der protestantische Kapitalismus hat dem Denken insofern das Vergnügen ausgetrieben, als man es kurzerhand und von vornherein zur Arbeit und zur Anstrengung erklärte. Da Denken gefälligst nicht ins Blaue hinaus zu gehen hat und es schließlich aus einer inneren und äußeren Debatte entstand, Rede und Gegenrede (früher gerne bei einer guten Flasche Wein), drehen wir nun »Denkarbeit« zur Konkurrenz um. Öffentlich denken kann man nur auf einem Markt der Gedanken, komplett mit Alleinstellungsmerkmalen, vergleichender Werbung und Copyrightverletzungen. Was wir von den Denkenden (oder denen, die es gefälligst hätten sein sollen) in unserer Kultur mitbekommen, ist eine Art von Krawall-Feuilletonismus, in dem man sich gegenseitig das Recht auf Denken abspricht. Ein Gedanke mag Sie noch so beglücken, auf dem Markt der Gedanken schreit es gleich: Das ist nichts wert. Das hat schon ein anderer gedacht. Wo liegt der Mehrwert (und was bringt das ein)?
Auf einem dermaßen anarchisch-komplettistisch organisierten Markt der Gedanken macht Denken nicht mehr so viel Vergnügen. Um es genau zu sagen: Gewöhnliche Menschen wie du und ich trauen sich kaum noch zu denken, weil sie das, was man früher den Pferden überlassen sollte (sie haben schließlich den größeren Kopf), heute dem Denk-Markt und dem Markt-Denken überlassen haben (sie haben die größeren Diplome). Und dann soll es gar noch ein »positives Denken« geben. Ein Widerspruch in sich. Positives Denken, wie es der Markt verlangt, heißt nichts anderes, als genau dort aufzuhören mit dem Denken, wo es interessant (und vergnüglich) wird. Denk-Markt und Markt-Denken sind Projekte der Selbstaufhebung gesellschaftlicher Intelligenz.
So ist es kein Wunder, daß selbst noch die natural born Denksüchtigen Auswege suchen, das allgemeine Denken in der Gesellschaft tut es sowieso. Bevor man über die Blödmaschinen denken kann, muß man sich das Denken, wie es sein soll, hierzulande, als Blödmaschine denken.
Anders gesagt: Wir leben offensichtlich in einer Gesellschaft, in der wesentliche Teile der inneren Verständigung, von Ausgleich, Projekt und Fortschritt, von Reflexion und, ja eben, Genuß, nicht über das funktionieren, was man »Denken« nennt. Impulsgesten, Visiotypen und beseelte Dinge sind nur Symptome für etwas, das man entweder einen Rückfall in magisches, animistisches und kindliches Denken nennen kann, oder aber etwas vollkommen Neues, für das es noch keine Begriffe gibt. Uns würde es nicht wundern, wenn es beides zugleich wäre. Aufgehoben in dem, was Roland Barthes als »Mythen des Alltags« beschrieben hat. Doch hat der große Denker, naturgemäß, dem Wesen und dem Wirken dieser Mythen seine Aufmerksamkeit geschenkt, und nur am Rande ihrer Produktion gedacht. Immerhin sind wir uns weitgehend einig darüber, daß sie »industriell« gefertigt werden, in einer Industrie, die »Unterhaltung«, die »Sinn«, die »Bewußtsein«, die »Bedeutung« produziert. Und zwar hauptsächlich in Bildern, Erzählungen und Dingen.
In einer Industrie, die, allgemein, »Mythen« produziert, im einzelnen aber bildhafte Elemente, die »Bedeutung« enthalten, geht es freilich nicht anders zu als in einer Industrie, die Käse, Textilien oder Massenvernichtungswaffen hervorbringt. Der tendenzielle Fall der Profitrate erzeugt einen Kostendruck auf die primären Produzenten (während die sekundären gerne mal eine Runde zocken gehen). Weshalb in einem Käse im Verkaufsregal immer weniger Käse und immer mehr von irgendeiner Substanz mit Käse-Aromen zu finden ist, für die Massenvernichtungswaffe aber immer mehr Mittelschichtsteuer und billige Kriegsschauplätze benötigt werden. Schon Groucho Marx hat erkannt, daß man einen Krieg nicht mehr absagen kann, wenn man das Schlachtfeld schon gemietet hat.
Über die Unterhaltungsindustrie hat man gesagt, sie sei die einzige mit unerschöpflichen Ressourcen. Das ist zwar insofern richtig, als man beliebig viel Bilder, Geschichten, Events etc. produzieren und vor allem reproduzieren kann, es ist aber falsch, was die beiden Pole des Konsums, die »Bedeutung« und die Aufmerksamkeit anbelangt.
Wäre nun aber »Bedeutung« tatsächlich ein rares Gut, und nach allem, was wir wissen, ist die Fähigkeit, Bedeutung zu schöpfen, fatal limitiert, so wäre eine industrielle Fertigung von Bedeutung automatisch, nämlich sowohl wegen des Mangels an Rohstoff als wegen des Falls der Profitrate, gezwungen, immer weniger vom teuren Rohstoff (»Bedeutung«) und immer mehr vom billigen (»Effekt«) zu verwenden; und so wie ein Käse, der weniger Käse und mehr Käse-Aromen enthält, sehr viel lauter nach Käse schmeckt als echter Käse, so ist ein »öffentliches Bild« (als einfache Beschreibung medialer Massenproduktion) um so lauter, je weniger Bedeutung es enthält. So müßten ja tatsächlich, und noch ohne Zutun irgendeiner Nebenabsicht, immer mehr Bilder und Dinge mit immer weniger Bedeutung auskommen. Zwei TV-Programme müssen schon aus der Produktionslogik heraus »blöder« sein als eines (betrachtet man Blödheit in diesem Fall als das Verhältnis von Wenig-Bedeutung und Viel-Effekt), vier TV-Programme müssen blöder sein als zwei, acht blöder sein als vier usw. (Ab da tauchen dann hier und da kulturelle »Nischenprodukte« auf, die in aller Regel von dem durch Vermehrung und Verblödung erzeugten Markt allein nicht mehr finanziert werden können.) So wäre noch einmal auf dem Medien-Sektor belegt, was Ökologen und Apokalyptiker ohnehin wissen: Wachstum erzeugt Blödheit. Daher wird gleichsam automatisch aus einer »Bewußtseinsindustrie« im Neoliberalismus eine »Verblödungsindustrie«, da immer mehr Medien, Programme, Formate, Genres etc. mit beidem zugleich fertig werden müssen, mit dem Fall der Profitrate und mit der Verknappung des Rohstoffes »Bedeutung«.
Wir müssen uns im übrigen unter »Bedeutung« gar keine allzu große Sache vorstellen. Bedeutung würde ja schon erzeugt, wenn ein Mensch einen Satz sagte, der sowohl in sich logisch als auch nützlich ist. Tatsächlich aber entwickelt sich Effekt-Kommunikation von der »Konvention« (Floskel-Kommunikation à la »Schönes Wetter heute«) über die Nicht-Bedeutung (einer erzählt von der Krankheit seiner Tante) auf die Un-Bedeutung hin. Un-Bedeutung meint nicht die Kommunikation von Unbedeutendem, was ja, wie eben in der Floskel, im Alltag ganz nützlich sein kann (Unbedeutendes-Sprechen miteinander ist sozial verträglicher als Einander-nicht-Kennen, darüber herrscht weitgehend Einigkeit), Un-Bedeutung meint Vernichtung des Bedeuteten in der willentliche Abwertung der Bedeutung bei gleichzeitiger Aufwertung des Bedeutenden. Eine semiotische Katastrophe, der wir eben auch Namen wie Johannes B. Kerner oder Anne Will geben können.
Etwas Analoges wie auf der Seite der Produktion spielt sich nun auch auf der Seite des Konsums ab. Der »Bedarf«, nennen wir ihn »Aufmerksamkeit«, ist durchaus beschränkt, steht aber einem geradezu grenzenlosen Angebot gegenüber, in dem wiederum freilich das »eigentliche« Gut, die Bedeutung, extrem aufgelöst ist, und zwar nicht nur im quantitativen Sinn (um an eine Aussage-Insel zu gelangen, muß ich, zumeist ohne Navigationshilfe, durch ein Meer von Blödsinn schwimmen), sondern auch im qualitativen Sinn: Die reale Bedeutung einer Politiker-Rede bzw. der sie ersetzenden/ergänzenden Impulsgeste muß ebenso entschlüsselt werden wie, sagen wir, die Dramaturgie einer »Volksmusik«-Sendung als nationalistische, anti-moderne und sexualpolitische Traumreise.
Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist also auch auf diesem Gebiet eine einigermaßen leicht zu entlarvende Illusion. Die Ware und der Konsument müssen gleichsam zueinander geprügelt werden, kein Mittel ist für diesen systemrelevanten Zweck zu unheilig.
So speist sich die Überfluß-Produktion einer Mediengesellschaft groteskerweise am doppelten Mangel. Immer mehr wird kommuniziert, daß nichts kommuniziert wird; immer mehr werden Bedeutungsmangel und Aufmerksamkeitsmangel zu den Kampfzonen eines Bürgerkrieges, dessen Geschichte wir weiter unten beschreiben werden.
Nehmen wir als »Blödheit« zunächst einmal eine Manifestation, die entschieden zu wenig Bedeutung für ihren Aufwand (bei der Produktion wie bei der Konsumtion) aufweist, so ergibt sich die schiere Notwendigkeit, daß sich jenseits der medialen »Sättigungsgrenze« (jeder besitzt die entsprechende Hardware) eine Bedeutungsmaschine in eine Blödmaschine verwandeln muß. Deren Kernfrage lautet folglich: Wie kann die Produktion gesteigert werden, während gleichzeitig der Rohstoff »Bedeutung«, sagen wir einmal, »rationell« eingesetzt (also soweit als irgend möglich eingespart) wird? Darauf gibt es eine Reihe von Antworten, und alle sind sie Futter für die Kulturkritik: Ein lügenhaftes Versprechen von Bedeutung, ein Aufbauschen der kleinen Dosis, die Füllung von Bedeutungslücken mit anderen Sensationen (daher ein mechanisches Voranschreiten der Beimengung von Sex und Gewalt), das hemmungslose Recyceln und Remixen der Bedeutung (wie aus den nicht verkauften Weihnachtsmännern Osterhasen werden, so werden in der Sinnindustrie auch aus der bedeutungslosesten Idee so lange »neue Formate« gewonnen, bis eines davon endlich »gekauft« wird), die Kannibalisierung auf dem internationalen Markt (die Blödmaschinen füttern sich gegenseitig), die serielle Zerlegung eines Bedeutungspartikels (zum neuerlichen »alltäglichen« Mythos der ewigen Wiederkehr), die Crossvermarktung (du bekommst eine Hälfte einer Bedeutung, die andere aber erst in einer anderen Ware), der Hype (ob es Bedeutung hat oder nicht, Hauptsache, es wird so viel davon gesprochen, daß es zur Bedeutung wird), die künstliche Verknappung und die Kartellabsprache, das Spiel mit Skandal und Verbot, die moralische Aufladung (es gehört zum guten Ton), die Distinktion (es bedeutet nicht viel, aber es setzt dich von anderen ab), die Wunscherfüllung, die »contentlose« Kommunikation (es bedeutet nicht viel, aber es setzt dich mit anderen in Verbindung), Belohnungsversprechungen, Bedrohungen (Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht), Konkurrenz (ein Partikel der Blödmaschine bedeutet fast ausschließlich dadurch, daß es ein anderes Partikel auf- und angreift) … Die Liste ließe sich beliebig verlängern, und vor allem verlängert sie sich in die Bereiche hinein, die man als die »No Go-Areas« der »bürgerlichen Kultur« beschreiben kann (Pornographie, offener Faschismus, schlechter Geschmack, »Infantilisierung«, Sadismus, Sentimentalität, Kitsch).
Der Bedeutungsrest eines Blödmaschinen-Produktes muß jedenfalls den Appetit so weit anregen, daß eine Art der semiotischen Bulimie entsteht: Bedeutungsfreß-Attacken, die sich mit Brechanfällen abwechseln. (Noch der gebildetste Mensch in unserer Gesellschaft kennt das: Wenn er sein Lieblings-»Nachrichtenmagazin« »verschlungen« hat und bemerkt, daß er so gut wie nichts von Bedeutung aufgenommen hat, kommt ihm … nun ja, Sie kennen es, wie gesagt.)
Entscheidend bleibt die Voraussetzung aller eingehenderen Beschäftigung mit den Blödmaschinen: Eine kapitalistische Gesellschaft, die die Erzeugung von Bedeutung industrieller Produktion und marktwirtschaftlicher Verbreitung überläßt, handelt sich unabdingbar, und unabdingbar exponentiell gesteigert, die Produktion von Blödheit ein. Der Fall der Profitrate in der Bewußtseinsindustrie läßt sich direkt im Produkt ablesen, dem Bedeutung entzogen und Blödheit injiziert ist. (Der Ärger der konservativen Politiker, die etliche der Blödmaschinen nach Kräften unterstützt haben, bezieht sich darauf, daß diesem Produkt jede Form der Bedeutung entzogen ist, also auch jenes »falsche Bewußtsein«, mit dem man zum Beispiel Wahlen gewinnen kann; Blödmaschinen taugen am Ende nicht einmal mehr als aktive Propagandamedien, so daß schließlich sogar das Nullsprech eines Guido Westerwelle zu hoch für das Blödmaschinen-Produkt ist.)
Wie für Käse, Kosmetik und Klamotten entsteht auch für die Sinn- bzw. Blödheitsware ein Massenmarkt, auf dem am Ende nur wenig Anbieter übrigbleiben. Nicht neue Ideen, nur neue Medien bringen diesen mehr oder weniger monopolistischen Markt in Bewegung. Die ungeheure Gleichförmigkeit, die allein den fallenden Profit auffangen konnte, wird nun freilich zum Problem. Alle Produkte beziehen sich auf die gleichen Visiotypen, Impulsgesten und beseelten Dinge, alle Produkte verlieren zugleich an Wert. So müssen sie entweder teurer werden (eine »bürgerliche Zeitung« ist ein Luxus, den sich schon lange kein Mensch im unteren Drittel der Gesellschaft mehr leisten kann, vor allem aber mag die Kulturindustrie selber sie sich nicht mehr leisten und entläßt munter Redakteure und Autoren) oder billiger (alles in allem, und nur 99 Cent). Während aus dem Sinn-Kampf ein Preiskampf wird, entwickelt sich »Qualität« also zu einem absurden Luxus. Der Punkt ist erreicht, an dem »Bedeutung« so wenig mehr zu ertragen ist wie andernorts »Schönheit« oder »Geschmack«. Es ist der Punkt, an dem sich die Blödmaschinen zu Tode gesiegt haben.
Während nun »das Medium« sich unentwegt entwertet (oder ökonomisch sakrifiziert werden muß wie die bürgerliche Zeitung oder das Nachrichtenmagazin, das öffentlich überlegt, ob es sich statt von der Werbung nicht wieder von den Lesern bezahlen lassen will), selbst das einstige Leitmedium Fernsehen gegenüber den neuen elektronischen Applikationen nur noch wie ein billiger Ramschladen der Bewegtbilder erscheint – was den Feuilletonisten mit klammheimlicher Freude erfüllt, ist er dem Monstermedium der Blödmaschine doch ein Leben lang diskursiv nicht beigekommen –, wandern auch die beseelten Dinge, jene kleinen Trost- und Belebungsdinge, mit denen man den Wohn- und Arbeitsraum schmückt, von den Trend-Shops in die 1-Euro-Läden ab. Der zweifelhafte Erfolg ist eine ungeheure Beschleunigung der Entwertung; ein komischer Sinn-Spruch (manifest gewordene, aber eben geteilte Blödheit, die für einen Augenblick absurderweise soziale Wärme erzeugt zu haben scheint, wie das Schleifen-Bild vom Kaminfeuer im Flachbildfernseher architektonische Wärme erzeugte) auf Postern, T-Shirts, Emailleschildern etc., ein Maskottchen, das alle erdenklichen Formen vom Schlüsselanhänger bis zum Sofatier annimmt (»Ich bin hier bei der Arbeit und nicht auf der Flucht«, Playboy-Hasen, Pandabärchen, »Knut«-Eisbären usw.), profanieren (»Ich kann’s nicht mehr sehen/hören!«) so schnell, wie der Preis gefallen ist. Der Fall der Profitrate in der Vermarktungskette eines Medien- und gadget-Zusammenhangs ist in aller Regel für die Seele eines beseelten Dinges »mörderisch«. Wir sehen gleichsam auf dem Objekt/Zeichen-Markt unentwegt dabei zu, wie Blasen erzeugt werden und platzen, nicht mehr allein in der linearen Entwicklung einer historischen Religion der Moden, sondern durchaus in Form der Krisen und der Katastrophen.
In dieser scheinbar chaotischen Entwicklung der Zeichen-Objekte scheint es indes immer wieder einige Linien von gewisser Nachhaltigkeit zu geben, die ihre Aufgabe als »Mythos des Alltags« besonders gut erfüllen oder so sehr Zeichen-Ding gewordene dynamische Ideologie werden, daß sie sogar Generationensprünge schaffen und, was den Medien in der aktuellen Verblödungsphase unmöglich geworden ist, »oben« und »unten« verbinden.
Wir leben, das ist das Beste, was wir von uns sagen können, in der Epoche des Scheiterns. Alle großen Projekte der Menschheitsverbesserung sind gescheitert, so sagt man, alle Ideen und Konzepte, aber Scheitern gehört auch schon zum politischen und akademischen Mittelbau. Und noch jeder einzelne Mensch scheitert ein Leben lang so vor sich hin, daß ihm nach nichts mehr der Sinn steht als nach jenen regelbaren, parallelen Welten der Zeichen und Wunder, in denen man nicht scheitern kann, weil sich das Ziel stets den Möglichkeiten anpaßt und nur das quantitative Noch-nicht als Motor gilt. Nur erhebend sinnlos muß das Ganze sein, kontrolliert regressiv und tief drinnen ein vollständiges Weltmodell enthaltend, das Immanuel Kant mitsamt seinem Subjekt/Objekt-Problem für lange Zeit in Urlaub schickt: Das Subjekt frißt und baut zugleich seine Objekte zum inneren Zeichenkosmos. Früher mußte man vielleicht noch zum Schmetterlingssammeln und Krokodile-Totschießen nach Afrika, später reichte eine Plastilin-Menagerie oder eine in langen Stunden errichtete Modelleisenbahnanlage oder der Eiffelturm aus Streichhölzern geklebt. Dann kam das digitale Netz: Im Internet kann man sich verfangen, aber niemand ist darin gescheitert. Doch selbst dies ist ja noch ein komplexes, dialogisches Feld, in dem es immerhin so etwas wie Widersprüche gibt. Ein universales und unendlich verständliches System ist dagegen das Überraschungsei und sein Inhalt. Die globale kapitalistische Metapher auf das Subjekt, das nicht eins werden will.
Gewiß, die Verbindung von Süßigkeit und Spielzeug steht in altehrwürdiger Tradition in der Vermarktung, das Kindheitsglück wird erzeugt durch den kleinen Zuckerrausch und das Welt-Objekt in den kleinen Schöpferhänden. Und früh schon drängte auf dem Markt das Nebeneinander zum Ineinander, schon in der Nachfolge der »Wundertüte«. »Cracker Jack« war eine Mischung aus Popcorn und glasierten Nüssen, die, seit 1893 verkauft, kleine zusätzliche Spielzeug-»Preise« in den Packungen enthielt. Schokoladetafeln wurden zu begehrten Spiel- und Sammelobjekten, zum Beispiel als Schiebespiele, mit denen man aus Kopf, Rumpf und Beinen immer neue Monster aus Mensch und Tier erzeugen konnte. Zu den beliebten Süßigkeiten der fünfziger Jahre gehörten Marshmallow-Tiere, denen Ringe und anderer Kinderschmuck ins süße Fleisch gezogen waren; und selbst der Kaugummi-Automat des nächsten Jahrzehnts versprach gelegentlichen Gewinn eines kleinen Spielzeugs, während andere Automaten in den sechziger Jahren mit plexigläsernen Kugeln mit Spielzeug-Inhalten um jugendliche Konsumenten warben. Bevor man juristisch dagegen vorging, konnte man zum Beispiel bei Sanella Sammelbilder und Figurenserien als »Beigabe« bekommen. Das Überraschungsei scheint alle diese Traditionslinien wieder aufzunehmen und in eine einzige, unschlagbare Marketing-Idee verwandelt zu haben.
Man könnte also sagen: So neu war die Idee, auf die man vor einem drittel Jahrhundert bei der Firma Ferrero kam und die 1972 in Italien und dann auf dem deutschen Markt erprobt wurde, gar nicht. Und niemand rechnete auch am Anfang mit dem fundamentalen Erfolg dieser Konzeption, die zunächst als österliche Sondervermarktung von Schokoerzeugnissen für kleinere Kinder gedacht war. Das Neue am Überraschungsei wurde gleichsam erst im Konsum selber erzeugt, und zwar durch einen Vorgang, den man in Sammlerkreisen gelegentlich mit dem rührend verräterischen Begriff der »Adoption« beschreibt. Das Überraschungsei wurde nicht nur gekauft, es wurde in der Tat kulturell adoptiert.
Mittlerweile darf sich das Überraschungsei als meistverbreitetes Kinderspielzeug der Welt bezeichnen. Bislang sind über 3000 verschiedene Figuren entwickelt worden. Damit ist, das kann man verstehen, nicht nur ein Segment eines Weltmarktes so monopolistisch besetzt, daß sich McDonald’s und Coca-Cola nur neidisch umsehen können, sondern auch eine universale Objekt-Sprache entwickelt, die auf das Weltverständnis nicht weniger wirkt als, sagen wir, Star Wars oder der jeweils neueste Popstar à la Justin Bieber. Das Überraschungsei ist die europäische Antwort auf die Zeichenoffensiven der USA im globalen polit-ökonomischen Handelskrieg. Kein Wunder, daß die USA das einzige Land der Erde sind, in denen Überraschungseier noch nicht in jedem Supermarkt zu haben sind, sieht man einmal von Afrika ab: Dieser Kontinent wird ja auch im Zeichenkrieg ignoriert.
Am Beginn der Überraschungsei-Geschichte dominierten die Steckfiguren, kleine Bausätze von Tieren, Automobilen, Flugzeugen und Raumstationen. Dann erst folgten die Hartplastik-Figuren, die es in verschiedenen Serien (eine Serie zwischen zehn und 12 Stück) gibt und die im Gegensatz zu den Bastelspielen den Sammel-Impuls und damit die Konsum-Gewohnheit verstärken. Dazu kommen Metallfiguren, meist historischer und militärischer Ausrichtung, die mehr oder minder zeitgemäße Form des standhaften Zinnsoldaten, und schließlich das Puzzle, das seinen Sammelwert dadurch erhält, daß im nächsten Überraschungsei vielleicht ein anderes Puzzle steckt, mit dem und zwei weiteren einer Serie wiederum ein Super-Puzzle zusammengesetzt werden kann. Kein Wunder also, daß sich ein zweiter Markt auftut, der die begehrten Objekte ohne Überraschung, aber zu signifikant erhöhtem Preis anbietet, ein Markt, der sich aus fröhlichen Tauschbörsen zu einer nicht mehr ganz so fröhlichen Geschäftemacherei entwickelt hat. (Auf den wilden folgt allemal der noch wildere Kapitalismus.)
Der Trick war zuerst einmal eine Art von Rundum-Glücksversprechen. Nicht nur hob sich damit die Alternative »etwas Süßes« oder »etwas zum Spielen« auf, es war auch die Hierarchie von Ware und Beigabe durchbrochen. Das Überraschungsei betont (zunächst) das Gleichwertige der beiden Genüsse, das Konsumieren und das Besitzen. Und mehr noch, es verbindet sie in ein Ritual, dessen psychologische Tiefenstruktur jede und jeder rasch versteht, der einmal einen Überraschungsei-süchtigen Menschen dabei beobachtet hat, wie er sein »Geschenk« ent-wickelt. Dieses Ei ist ihm, so scheint es, ein lebendiger Organismus, dem er zur Geburt eines ganz persönlich für ihn bestimmten Wesens verhilft. Diese »gestaffelte Verpackung« ist Verlängerung des Rituals mit drei sehr distinkten Geräuschen: Knistern der Aluminiumfolie, das Knacken des Schokolade-Eis und das alles entscheidende »Plop«, mit dem das innere Gehäuse geöffnet wird, um die wahre Überraschung freizugeben.
Am Anfang, wie gesagt, war das Überraschungsei, die kinder sorpresa, kinder surprise, kinder overraskelse, eine österliche Marktidee zur Erweiterung der Kinder-Schokoladen-Palette. Das Ganze erwies sich indes rasch als erfolgreich genug, um den saisonalen Aufhänger hintanzustellen. Dennoch blieb ganz offenkundig die Eiförmigkeit der universalen Glücksmetapher mitbestimmend für den Erfolg, was sich am mehr oder weniger kläglichen Scheitern aller Konkurrenzprodukte zeigt. Die Überraschungseier wurden zuerst einmal zum kleinen Geschenk par excellence, Mitbringsel, Belohnung und, man konnte damals schon hier und dort kritische Stimmen hören: »Ruhigstellung« für Kinder. Doch recht bald schon kam zum doppelten Aspekt von Süßigkeit und Spielzeug ein dritter Anreiz, nämlich eben das Sammeln. Und wenn es erst einmal etwas zum Sammeln gibt, dann bemächtigen sich noch stets und gründlich Erwachsene der Objekte der Kinderkultur.
Fünf Jahre nach der Markteinführung begann das Überraschungsei bereits ein Doppelleben zu führen als Teil der quietschbunten Kinderkultur einerseits sowie einer immer ausdifferenzierteren Sammelleidenschaft der Erwachsenen andererseits. Die Eroberung dieses zweiten Marktes ging eher schleichend und vorerst wenig geplant vor sich. Man entdeckte das eine oder andere Stück aus einem Überraschungsei als Maskottchen auf dem Telefonbord, im Auto und schließlich, das war schon fast ein Massenphänomen, auf dem Bildschirm der schnell zunehmenden Computer-Arbeitsplätze: kein Bildschirm ohne seinen Zwerg, Schlumpf, Happy Hippo aus dem Überraschungsei. Natürlich träumte ein Teil vor allem davon, sich in dem einen oder anderen Schrein etwas vom Glück der, nun ja, unbeschwerten Kindheit bewahren zu können. Die forcierte Niedlichkeit insbesondere der Hartplastikfiguren trug dazu nicht weniger bei als die martialischeren Metallfiguren, die in noch tiefer versunkene Reiche der Kindheit zu führen versprachen. Aber wie es so geht, wenn ein neues Sammelgebiet entdeckt wird: Bald erzeugten fanatische Komplettisten eine rege Sammlerszene mit eigenen Zeitschriften, mit Vereinen, Börsen, Auktionen, Philosophien und einem eigenen Jargon. Mittlerweile läuft das meiste über das Internet und die Sammler-Szene hat, natürlich, ihre Geschäftemacher hervorgebracht.
Diese Doppelstrategie der Vermarktung war erheblich beteiligt an der Verbreitung des Überraschungseis in der Welt. Der Markt in Kanada zum Beispiel wurde zu nicht geringem Teil für ferrero-kinder surprise geöffnet, weil mitteleuropäische Einwanderer ihre Sammelleidenschaft in der neuen Heimat nicht aufgeben wollten. Ein Land nach dem anderen wurde erobert; seit 1990 gibt es die kinder prekvapeni etwa auch in Tschechien, in jüngeren Jahren wurden neue Märkte in Lateinamerika mit dem Überraschungsei versorgt, Israel ist so wenig ohne Überraschungsei geblieben wie Neuseeland. In Rußland kann man neben den neuen Überraschungseiern für sündteure Preise Objekte der vergangenen Perioden aus dem Westen erwerben, die durch spezialisierte Kuriere ins Land gebracht werden. Immer universaler wird dabei die Sprache des Eis, seiner Adoption und der »geborenen« Objekte. Wenn es ein Zeichen auf der Welt gibt, das beinahe alle Menschen, arm und reich, in Krieg und Frieden, »verstehen«, dann ist es das Überraschungsei. Die Dansk Kinderaeg-forening vermeldete am 14. April 2010 in Faro mit Stolz die Eröffnung des ersten Überraschungsei-Museums der Welt. Es wurde Zeit.
Überraschungseiersammeln ist eine getreue Abbildung des Aktienbooms der letzten Jahre, nur lustiger und gefahrloser. Der fetischistische Wert und die wundersame Wertvermehrung gingen Hand in Hand. Der Marktwert selbst einer neueren Figur beginnt bei einem Euro, ist nach einem Jahr bei zwei bis drei Euro angelangt und steigert sich dann langsam, aber kontinuierlich. Da es in der Regel keine Neuauflagen einer Figuren-Serie gibt, bleibt der Sammler-Wert auch einigermaßen konstant. Die Metallfiguren (bislang ungefähr 200 Modelle) können sogar schneller im Wert steigen. Zu den begehrtesten gehören Figuren aus der amerikanischen Geschichte, aber auch eine deutsche »Balletttänzerin«. Die großen Summen werden mit Figuren aus den ersten Jahren erzielt, in denen es noch keine organisierten Sammler und kleinere Auflagen gab. Aber schon der »Eierlauf-Schlumpf« aus der »Olympiade der Schlümpfe«-Serie erzielte in den achtziger Jahren Preise zwischen 300 und 350 DM. Problematisiert wird der Sammler-Markt im übrigen durch legale Nachschöpfungen der Objekte, die Ferrero zuläßt, die aber für einen Sammler nicht den geringsten Wert haben, »weil sie nicht aus dem Ei sind«. Es ist der heilige Wert dieses Objekts, daß es »aus dem Ei ist«, auch wenn man selber nicht mehr die Geburt des Objektes mit dem Schokoladenverzehr eines real existierenden Überraschungseis geheiligt hat. Schlimmer als die Nachahmungen, die der Kenner etwa an fehlenden Nummern rasch erkennt, sind die wirklichen Fälschungen. Beinahe noch übler ist die Täuschung eines Sammlers durch in Fachkreisen »Fremdfiguren« genannte Mini-Spielsachen, unter denen man sich irgendwelchen Wundertüten-Plunder vorstellen muß, von dem der kriminelle Ü-Ei-Objekt-Händler behauptet, sie stamme aus einer sehr frühen Serie oder aber aus einer Serie, die, zum Beispiel, nur in Liechtenstein gefertigt wurde. Am Ende jeder Vermarktungskette steht die Erzeugung krimineller Energien, selbst bei einer Ware, die sich so unschuldig gibt.
Die semiotische Universalität der Ü-Ei-Objekte wird mehr oder weniger kreativ durchbrochen durch eine Aufsplitterung in »Dialekte«. So gibt es zum Beispiel Figurensets, die in allen Ländern angeboten werden (insbesondere jene, die nach bereits vorhandenen Serien der populären Kultur gefertigt werden, etwa »Mickey Mouse«, »Asterix«, »Die Schlümpfe« oder »Wickie und die starken Männer«), andere, die nur – oder zuerst – auf einem speziellen Markt vertrieben werden wie die »Bill Body«-Serie aus Österreich, was den Sammler zu internationalen Kontakten oder gar zu »Beutefahrten« ins Ausland animiert.
Im Gegensatz zu den frühen Jahren ist dieser internationale Markt der Sammler mittlerweile durchstrukturiert und kontrolliert. Neben den privaten Sammlern auf den Flohmärkten, die mit den mittlerweile umfangreichen Preiskatalogen (wie zum Beispiel »Spielzeug aus dem Ei«) unter dem Arm auf »Schnäppchenjagd« sind, strukturieren vor allem Versandgeschäfte den Markt, die sich immer weiter spezialisieren. So gibt es Anbieter, die die Hartplastikfiguren vertreiben, daneben aber auch solche, die ausschließlich die Beipackzettel anbieten oder das notwendige und nützliche Zubehör für eine gepflegte Ü-Ei-Sammlung: Sortimentskästen, Sortierboxen, Stecksysteme. Spezialisierte Ladengeschäfte wie das »Maxi-Muß« in Berlin bieten Figuren-Sets aus anderen Ländern an, ständig das Neueste erfährt man als Abonnent der Ü-Ei-Newsletters, und der Computerfreak läßt sich seine Sammlung von der »Ü-Base«-Dateiverwaltung in Ordnung halten.
Wo die Verschwörung von Markt, Kapital und Paranoia in einem geschlossenen System so übermächtig zu werden droht, da wächst das Rettende auch in Form von lauteren und kritischen Gegenverschwörungen. Da sind zum Beispiel die »hEIligen hEIden«, die sich radikal gegen die Geschäftemacherei unter den Sammlern wenden (ein wenig wie die Anhänger des »lauteren Donaldismus« gegen Geschäftemacherei bei Comic-Sammlungen) und von allen verlangen, die Erlöse der Wertsteigerungen ihrer kleinen magischen Objekte sozialen Zwecken zuzuführen. Allerdings nimmt man hier, daher der Name, das Ritual der Enthüllung wichtiger als das Objekt selber: Das Überraschungsei ist, im Kanon der hEIligen hEIden, ein Orakel, dessen Befragung man sich mit der entsprechenden Würde und Gelassenheit widmen soll.
Was das Überraschungsei so universal erfolgreich macht, ist nicht nur das Formen-Esperanto seiner kleinen Objekte, die sich zu einer Sprache der Meta-Kindheit finden, und es ist nicht nur das genialisch konstruierte Ritual der »Ent-Wicklung« des magischen Objekts, das den guten alten Jäger und Sammler in uns freisetzt mit der zusätzlichen, mythischen Beigabe eines entschlüsselten Rätsels. Dieses Ei ist in gewisser Weise zu einer Keimzelle des Kapitalismus geworden: An ihm transformiert sich, Schritt für Schritt, und beinahe ohne ein Gefühl und Bewußtsein von Schuld und Verlust zu erzeugen, ein »ursprüngliches«, kindliches Verlangen – zugleich nach Tröstung und Welt, nach Abenteuer und Geborgenheit – in alle erdenklichen Phasen der Gier: aus der kleinen Freßgier entwickelt sich Neugier, daraus Besitzgier und von dieser ist es nur noch ein kleiner Schritt aus der Kindheit zur Geldgier, die ihr Hauptaugenmerk auf die Wertsteigerung der eigenen Schätze richtet. Das so belebte und biographisierte Objekt hat seinen Symbolwert (Ausweis der Kindlichkeit und Unschuld) nicht verloren. So ist aus dem Kindheitstraum die Parodie der Aktie als Teilhabe am irrealen Geldfluß geworden, und das Überraschungsei ist das beste Lehrbuch für ein Kind, das, wenn es einmal groß ist, zugleich ewig kindlich und marktwirtschaftlich tückisch denken will.
Diese vernetzte Verbindung von Kindheit und Marktwirtschaft ist materiell wie mythisch vollständig abgesichert. So wie es, anders als bei den richtigen Aktien, keinen dramatischen Wertverfall geben kann, so kann der Weg jederzeit zurück in die vollständige Regression, vom Tauschwert zum Schmuse-Wert, gegangen werden.
Die magischen Objekte der Überraschungseier sind Anker in einer imaginären Kindheit und Ahnungen der erbarmungslosen Aneignung der Welt. Die Zeichenwelten wollen immer vollständiger werden, die Gier ist groß. Aber die entwickelte Sprache der kleinen Dinge, die nur von Glück, Glück und nochmals Glück sprechen können und dabei um so sprachloser werden, je mehr von ihnen beieinander sind, behauptet, der Welt ein vollständig sinn- und problemfreies Feld abgerungen zu haben. In Wahrheit verspricht sie uns, den Weg jederzeit zurückgehen zu können, von der mörderischen Gemeinheit des Marktes zur Schokoladentröstung der Kindheit.
Vielleicht öffnen wir das magische Ei immer wieder, um im stellvertretenden Objekt »geboren« zu werden (und gleichzeitig bereits das Ding unserer Seele, die Ware erzeugt zu haben), um, wie man es beim Ü-Ei-Orakelspiel macht, so etwas wie ein Totem zu erhalten (und wie sollte es in der Akkumulationsphantasie des Kapitalismus anders sein, als daß wir uns dann nach einer kaufbaren Totemisierung einer ganzen Welt sehnen). Vielleicht aber sehnen wir uns in der endlosen Wiederholung des Ritus auch danach, selber in das Ei zurückzukehren, das so sorgsam und mehrfach umhüllt und geschützt ist. Wenn man jemandem dabei zusieht, wie er Überraschungseier aufmacht, sieht man bei etwas sehr Leidenschaftlichem, Zärtlichem, etwas sehr Erotischem und dann auch wieder sehr Traurigem zu. Das zerbrochene Schokoladenei neben der Figur und dem technischen gadget ist ein überdeutliches Todesbild. So muß das nächste Ei herbei, und auch in dieses muß man hinein. Scheitern kann man nur draußen.
Ist es nicht seltsam, wieviel Leben, Bedeutung und »Seele« dumme Dinge wie etwa eine Süßware mit gadget akkumulierten, in ihrer eigenen und in unserer Biographie? Können wir uns an eine Idee erinnern, die so viel Spuren in unserem Leben hinterließ, wie es etwa Barbie, der Plastikpuppe zum Anziehen, gelang? Die Wahrheit, hat Immanuel Kant gesagt, sei nichts weiter (oder auch so ungeheuer viel) als eine »regulative Idee«. Sie ist, anders gesagt, gerade das, was augenblicklich die meiste innere Ordnung in die Welt und ihre Wahrnehmung bringt. Etwas Vorläufiges, gewiß, etwas durchaus Respektables. Denken, demnach, wäre nicht nur der Genuß, den sich Brechts Galileo verspricht (bevor man es ihm austreibt und er es zu verbergen lernt), sondern, was zu unserem Professor aus Königsberg viel besser paßt, die Notwendigkeit. Es ist sowohl offensiv als defensiv, Aufbruch und Flucht: Es sind die Brüche in der Wahrnehmung, die uns das Denken aufzwingen, bis zur nächsten »regulativen Idee«.
Nehmen wir für den Augenblick an, die nächste regulative Idee, also die Wahrheit, werde nicht durch das Buch eines Philosophieprofessors und nicht durch Experimente im Weltall, sondern – durch ein Überraschungsei vermittelt. Der Markt habe sich nicht nur unserer ökonomischen Möglichkeiten und unserer Phantasien bemächtigt, sondern produziere schlicht »Wahrheiten«. Wahrheiten, die uns wahrscheinlicher erscheinen, wenn wir sie als »regulative Ideen« begreifen.
Was uns über den Markt und über dessen Agenten, die wir als »Blödmaschinen« beschreiben werden, erreicht, sind Ideen, die nicht gedacht werden, und Regulative, die nicht begriffen werden. Die »dummen Dinge« – und es gibt wesentlich dümmere, aber auch wesentlich reichere, neurotischere, abgründigere als das Überraschungsei – ziehen Leidenschaft und Sehnsucht, Einverständnis und Ablehnung an, wie es einst nur die großen Ideen vermochten. Old-School-Vertreter der Denk-Kultur halten das für den Sieg der maßlosesten Dummheit. Es ist genug darin vom Rückfall in vormodernes, in magisches und kindisches »Denken«; solche Dinge können nur »Fetische« sein, materielle Zentren des alten wie des neuen Aberglaubens. Was ist der postmoderne Mensch anderes als einer, der nie ganz aus seinem Überraschungsei herauskommt, und also nie zu Ende geboren wurde? Der alle Codes der äußeren Erscheinung als Spiegel von Persönlichkeit und alle Fragen nach dem richtigen Leben an einer Plastikpuppe verhandelt – und dann einen »Fernseh«-Apparat einschaltet, in dem er zusieht, wie lebende Frauen in das Abbild einer Plastikpuppe verwandelt werden, während ihre männlichen Widerparts genauso dämlich-selbstbewußt danebenstehen wie Ken im pinkfarbenen Barbie-Haus?
Die New School wird all das als Fortsetzung eines Prozesses betrachten, dessen Prophetien in der Pop-art und im Strukturalismus den Übergang vom klassischen linearen Denken zum visuellen und polyphonen Denken ahnten. Das Nähere regulieren die kleinen Unterschiede, die nach wie vor existieren. Wir verstehen vollkommen, daß jemand behauptet, man könne ein Studium der Soziologie durch die intensive Lektüre von »Die tollsten Geschichten von Donald Duck« ersetzen. Schwieriger ist die Frage, wie sehr ein Weltmeisterschafts-Maskottchen dem Rang einer »regulativen Idee« nahekommt.
Was heute gedacht wird, muß einerseits klüger sein als das, was vorher gedacht wurde, denn es basiert ja auf unendlichen Ketten der Korrekturen, der Ablagen und der dialektischen Fortentwicklungen. Aber andererseits muß es auch dümmer sein, denn alles, was vorher gedacht wurde, hatte ja Zeit sich anzureichern, neu betrachtet, aufgeladen zu werden. (Wie erwähnt haben ja auch die Denkenden sich und anderen den Genuß reichlich vergällt, indem sie ihn bürokratisch und literarisch »sakrifizierten«; nirgendwo als unter den professionellen Denkern ist es so sehr verbreitet, so ziemlich alles außerhalb der jeweils eigenen Gedanken für blöd zu halten.) Und dieser Verlust in der Bewegung vom »gesicherten« zum »riskanten« Denken gilt natürlich um so mehr für jene regulativen Ideen, die nicht in der Form von Texten erscheinen (und auch nicht in der Form jener Kunstwerke, die wie geschaffen dafür erscheinen, eine rege Text-Produktion zu initiieren). Die regulative Idee der Barbie-Puppe ist in ihrer Geschichte prächtig zu erkennen. Die regulative Idee »Deutschland sucht den Superstar« wird es vermutlich in einigen Jahren auch sein, so unglaublich dumm und obszön die Veranstaltung uns im Augenblick auch erscheinen mag.
Früher war alles besser – was insofern natürlich stimmt, als früher immer mehr Zukunft war, und auch wir, ja genau wir, vom Tod weiter entfernt als jetzt. Oder andersherum: Mehr noch als die Gefahren ist auch das Bessere immer nur im »früher« zu erkennen. Deshalb war Donald Duck besser als Pokemon. Der Salamander der Gratishefte der Schuhfabrik (»Lange schallt’s im Walde noch, Salamander lebe hoch«) besser als das quäkende rote Gesichterhemd des Textil-Discounters kik. Und entleeren sich die Sinnzeichen der Populärkultur nicht auch unentwegt? So schnell, daß wir eben gerade einmal noch über »Barbie«, aber ganz und gar nicht mehr über »Hello Kitty« miteinander sprechen können, wenn unsere Lebensalter mehr als ein Jahrzehnt auseinanderliegen.
Wir haben beschrieben, daß die industrielle, marktwirtschaftliche Produktion von Bedeutung unabdingbar zur Produktion von Blödheit führen muß. Unabdingbar, weil es nicht aus kulturellen, sondern aus ökonomischen Gründen geschieht. Wir haben aber gleichzeitig beschrieben, daß in diesen Produkten, nervig, laut und eben blöde, wie sie erscheinen mögen, ein neues Denken beginnen kann (vielleicht sogar unabhängig von den Absichten ihrer Produzenten). Neue Generationen machen aus Produkten der Blödmaschinen hochintelligente und hochdifferenzierte Elemente der Kommunikation. Wie denn nun? Es steht zu befürchten, daß wir noch einmal bei Null anfangen müssen.
Der weitläufigste Rohstoff des Kapitalismus ist die menschliche Dummheit. Das weitläufigste Produkt der menschlichen Dummheit ist der Kapitalismus. So wird dieser, wie man sich einbildet, zur »Natur«.
Und ist nicht alles andere als dieser Kapitalismus mit ein bißchen Demokratie drum herum ohnehin »schlimmer«, weil ja das andere System – wie immer es aussehen mag, nach unseren historischen und semiotischen Erfahrungen – die Dummheit keineswegs überwunden hat, wohl aber ihren ungehemmten Selbstausdruck unterdrückt? So daß sich gleichsam automatisch die Dummheit beim Bestreben, vernünftig zu wirken, in Terror verwandelt? Haben nicht alle Revolutionäre bislang das Ur-Verbrechen begangen, sich die Dummheit, statt sie zu bekämpfen, zunutze zu machen? Es gibt keine nützlichen Idioten! So wenig eine Herrschaft, die aus dem Terror entstanden ist, je den Terror wieder los wird, so wenig wird eine Herrschaft, die auf der Dummheit aufbaut, die Dummheit in sich selber los.
Also verhält es sich vielleicht ja auch genau anders herum: Der »freie Markt« wäre demnach die einzige adäquate Reaktion auf ein menschliches Grundverhalten, das sich aus so viel überraschender Intelligenz wie überraschender Blödheit zusammensetzt.
Wenn man anderen Menschen beim Einkaufen zusieht, egal ob es sich um die Zutaten für eine Gemüsesuppe oder um Finanzpakete handelt, so beobachtet man ein wunderbares Durcheinander von »Dummheiten machen« und »kluge Entscheidungen treffen«. Die Illusion, die uns dabei vermittelt wird, mittendrin und darüber hinaus, besteht darin, daß man »Dummheiten machen« und »kluge Entscheidungen treffen« spätestens bei den Folgen (leckeres Süppchen, Profit bzw. gelungene Altersversorgung) auseinanderhalten kann. Doch wenn der Gast die Fleischeinlage vermißt und der Dax einen seiner berühmten Sprünge macht, sieht alles wieder anders aus. (Und wir erinnern uns nur noch, bei all dem Chaos, das wir auf dem Markt und der Markt in uns angestellt hat, daß wir endlos geredet haben über das, was dumm oder vernünftig hätte gewesen sein können.)
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