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Das atemberaubende Finale der fesselnden Trilogie
Emma und Galen brauchen etwas Zeit für sich. Allein. Weit weg von den Königreichen Triton und Poseidon. Emmas Großvater, der König von Poseidon, schlägt den beiden vor, eine kleine Stadt namens Neptun zu besuchen. Neptun ist die Heimat von Syrena und Halbblütern, die sich alles andere als wohlgesonnen sind. Emma und Galen geraten zwischen die Fronten. Sie treffen auf das Halbblut Reed, der seine Gefühle für Emma nicht lange verbergen kann. Plötzlich befinden sich Emma und Galen mitten in einem Machtkampf, der nicht nur ihre Liebe bedroht sondern auch ihre Königreiche.
Anna Banks’ »Blue Secrets«-Trilogie ist fantastische Romantasy und erzählt von einer verbotenen Liebe, die alle Grenzen überwindet. Aufregend und zutiefst romantisch geschrieben, entführt »Blue Secrets« seine Leser*innen in eine betörend schöne Welt.
Alle Bände der »Blue Secrets«-Trilogie:
Der Kuss des Meeres (Band 1)
Das Flüstern der Wellen (Band 2)
Der Ruf des Ozeans (Band 3)
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Seitenzahl: 417
Foto: © Eveline C Photography
Die Autorin
Anna Banks ist in einer Kleinstadt namens Niceville aufgewachsen und lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Crestview in Florida. Nach Der Kuss des Meeres und Das Flüstern der Wellen erscheint mit Der Ruf des Ozeans jetzt der dritte Band ihrer Blue Secrets-Reihe bei cbt.
Von der Autorin ist bereits bei cbt erschienen:
Blue Secrets – Der Kuss des Meeres (30879, Band 1)
Blue Secrets – Das Flüstern der Wellen (30915, Band 2)
Anna Banks
Blue Secrets
Der Ruf des Ozeans
Aus dem Englischenvon Michaela Link
cbt
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Of Neptune« bei Feiwel & Friends, an imprint of Macmillan, New York.
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© 2014 by Anna Banks
Published by arrangements with Feiwel & Friends.
All rights reserved.
© 2015 cbt Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Michaela Link
Lektorat: Julia Przeplaska
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
Covergestaltung: buxdesign | Lisa Höfner, unter Verwendung der Motive von Shutterstock.com (Juta, Kiselev Andrey Valerevich)
jb ∙ Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-15008-2V003
www.cbt-buecher.de
Für meinen Neffen Jason. Er weiß, warum.
1
Ich grabe meine nackten Füße in den Sand und schiebe mich gerade so nah ans Wasser heran, dass die Vormittagswellen meine Zehen kitzeln. Jede träge Welle leckt an meinen Füßen, dann zieht sie sich zurück, als wolle sie mich in den Atlantik hineinlocken. Eine jede flüstert von Abenteuer. Von Unheil.
Von verdammt friedlicher Stille.
Mehr will ich nach diesem vergangenen Sommer gar nicht. Nach Jagens Versuch, die Königreiche in seine Gewalt zu bringen, nachdem die Syrena beinahe von den Menschen entdeckt worden wären und nachdem ich einen Schwarm Fische zu einem Unterwassertribunal geführt habe – nach alldem war uns kaum Raum zum Atmen geblieben. Und dann raubte es uns den Atem endgültig, als Rachel ertrank.
Wir verdienen eine Pause, Galen und ich. Aber es sieht nicht so aus, als würden wir eine bekommen.
Der Wind schleppt immer wieder mal einen Schrei heran, der hinter mir aus unserem Haus hervorbricht. Galens Gebrüll und das seines älteren Bruders, Grom, sorgen für dicke Luft und treiben mich immer weiter vom Haus weg und tiefer ins Wasser hinein. Ich krempele meine Pyjamahosen hoch, lasse das Salzwasser um meine Waden schwappen und versuche, die Worte zu überhören, die ich durch das Gekreisch der Seemöwen über mir verstehen kann.
Worte wie »Loyalität« und »Privatsphäre« und »Gesetz«. Ich winde mich, als ich das Wort »Trauer« höre. Dieses Wort kommt von Grom und danach folgen keine Worte mehr von Galen. Ich habe gelernt, dieses Schweigen zu verstehen. Es ist von Pein und Qual und Schuldgefühlen erfüllt, aber auch von dem überwältigenden Verlangen, etwas zu sagen oder zu tun, um ebendiese Empfindungen zu verbergen.
Aber es lässt sich nicht verbergen, dass Rachels Tod ihn im tiefsten Innern zerrissen hat. Sie war mehr als nur seine Assistentin. Sie war seine engste menschliche Freundin. Vielleicht sehen die anderen nicht, wie tief diese Beziehung ging. Sonst würden sie ihm seine Trauer nicht ins Gesicht schleudern oder sie gegen ihn verwenden. Aber ich sehe es. Ich weiß auch, wie es ist, so heftige seelische Qualen zu leiden, dass man am Ende sogar die Luft verachtet, die einen am Leben erhält.
Galen weint nicht. Er redet nicht über sie. Anscheinend gibt es einen Teil von ihm, der Rachel gehört hat, und diesen Teil hat sie mitgenommen. Was von ihm übrig geblieben ist, versucht mit aller Macht, auch ohne den fehlenden Teil zu funktionieren, aber das klappt nicht wirklich. Wie ein Auto, dem das Benzin ausgegangen ist.
Ich will ihm helfen, will ihm sagen, dass ich weiß, wie er sich fühlt. Aber jemanden zu trösten, ist etwas anderes, als getröstet zu werden. In gewisser Weise ist es schwerer. Ich habe das alles durchgemacht, nachdem Dad an Krebs gestorben ist. Nachdem meine beste Freundin Chloe von einem Hai getötet wurde. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun oder sagen soll, um es Galen leichter zu machen. Denn nur viele, viele Sonnenaufgänge können den Schmerz lindern. Und dafür ist noch nicht genug Zeit vergangen.
Ich fühle mich mies, weil ich meine Mom in der Küche zurückgelassen habe, und sie ohne Unterstützung mit diesem Schlamassel fertig werden muss. Für sie als Poseidonprinzessin ist es besonders schwierig, sich allein durch diese Geschichte hindurchzumanövrieren. Aber ich kann noch nicht wieder zurück. Das geht erst, wenn mir eine fantastische Ausrede einfällt, warum ich es okay fand, mich bei diesem sehr ernsten und für Galen extrem wichtigen Gespräch aus der Affäre zu ziehen. Ich sollte da drin bei ihnen in der Küche sein, ich sollte neben Galen stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, und Grom mit einem so stinkigen Gesicht ansehen, dass ihm ganz schnell wieder einfällt, dass ich nicht seine Untertanin bin und auf Biegen und Brechen Galen zur Seite stehe werde, komme was wolle.
Aber es ist schwer, diese Nummer durchzuziehen, weil ich Grom irgendwie recht geben muss. Erschwerend kommt hinzu, dass der Tritonkönig so ungefähr die einschüchterndste Persönlichkeit ist, der ich jemals über den Weg laufen musste. Er würde mein Widerstreben sofort erkennen und sich darauf einschießen. Er würde mich durchschauen, wenn ich anfangen würde, so zu tun, als wäre mir der Ausflug wirklich wichtig.
Dieser blöde Ausflug.
Letztes Jahr beim Schulball – na ja, bei unserer eigenen Version eines Schulballs, bei der wir in Armani-Klamotten unter Wasser tanzten – haben wir einander versprochen, dass wir einen Ausflug in die Berge unternehmen würden. Um mal von allem wegzukommen oder so. Und zuerst hielt ich diese ganze Sommerspritztour landeinwärts mit Galen für eine gute Idee. Na gut, in Wirklichkeit erschien sie mir wie der ungetrübte Himmel. Galen besteht darauf, mit mir allein zu sein. Um die viele Zeit wettzumachen, die wir verloren haben, als wir beide unsere Gefühle füreinander verleugnet haben. Dann die Zeit, die wir damit verbracht haben, Jagens Griff nach den beiden Königreichen abzuwehren. Und was könnte besser sein? Zeit mit Galen allein zu verbringen, ist ungefähr gleichbedeutend mit der Zehn auf meinem Ekstasometer. Natürlich will ich die ganz verlorene Zeit wiederhaben – ich würde auch gleich noch die Zeit drauflegen, bevor wir uns überhaupt begegnet sind, wenn ich das Universum dahingehend bestechen könnte, Wünsche zu erfüllen.
Aber der bedeutendere Grund – der wahre Grund –, warum ich glaube, dass Galen weg will, ist Rachel. Ich weiß, dass er einen Tapetenwechsel braucht. Er will weg von dem Haus, das sie geteilt haben. Weg von der jetzt so unerträglich stillen Küche, in der sie früher auf klappernden Stilettos herumstolziert ist und ihm köstliche Speisen aus Meeresfrüchten zubereitet hat. Das Haus hat früher nach Rachels Kochkünsten und italienischem Parfüm geduftet und wahrscheinlich auch nach Schießpulver, wenn man am richtigen Tag kam.
Und ich weiß doch ganz genau, wie sich das anfühlt! Jeden Tag in meinem von oben bis unten mit Erinnerungen an Chloe angefüllten Zimmer aufzuwachen, war wie eine schnell wirkende Injektion schmerzlicher Erinnerungen. Jeden Tag das leere Platzdeckchen meines Vaters am Tisch anzustarren, war ein Gefühl, als würde ich Geier über seinem verlassenen Platz kreisen sehen. Aber Galen hat sich bisher geweigert, seine Trauer zuzulassen. Und dieser Ausflug kommt mir vor wie der Versuch, die Trauer noch länger auf Distanz zu halten. Was nicht gesund sein kann. Und da es nicht gesund ist, habe ich nur bedingt das Gefühl, ich würde ihn wirklich unterstützen, wenn ich jetzt Partei für ihn ergreife.
So oder so, ich sollte jetzt zurückgehen. Ich sollte zurückgehen und für Galen da sein und Grom erklären, dass Galen diesen Ausflug braucht. Ganz egal, was seine Gründe dafür sind. Und dann, unter vier Augen, sollte ich Galen meine Bedenken mitteilen. Ich sollte jetzt für ihn da sein und ihn vor den anderen unterstützen, genau wie er es für mich täte – genau, wie er es bereits für mich getan hat.
Ich werde mich erklären müssen. Ich werde etwas dazu sagen müssen, warum ich überhaupt mitten im Gespräch davongelaufen bin, damit ich nicht ganz so sehr wie das Biest dastehe, das ich bin. Takt war in letzter Zeit nicht unbedingt meine Stärke. Ich glaube, dass Galens Schwester Rayna ansteckend ist, dass sie mich irgendwie mit ihrer Schroffheit infiziert haben muss. Aber vielleicht ist Takt auch gar nicht das, was ich momentan brauche. Vielleicht sollte ich es mit der Wahrheit versuchen. Die Wahrheit wäre Galen nur peinlich, beschließe ich. Und er würde sich dann noch einsamer fühlen.
Vielleicht bin ich in dieser ganzen Sache aber auch einfach bloß ein feiges Huhn.
Ich schätze, ich muss der Sache mit dem Takt ernsthaft eine Chance geben. Entzückend.
Gerade als ich mich umdrehe und zurückgehen will, spüre ich meinen Großvater im Wasser. Der Puls von Antonis, dem Poseidonkönig, schlingt sich um meine Beine wie eine Schnur, die sich zuzieht. Fantastisch. Genau das hat uns jetzt noch gefehlt. Eine weitere königliche Meinung zu unserem Ausflug.
Ich möchte, dass er an die Oberfläche kommt, und versuche, mir eine tolle Ausrede auszudenken, warum er nicht ins Haus gehen sollte. Mir fällt nichts ein. Egal was ich sage, es wird abweisend klingen, obwohl ich ihn wirklich gern öfter sehen würde. Er steht ganz weit oben auf der Liste von Leuten – von Leuten mit einer Flosse, meine ich natürlich –, mit denen ich gern mehr Zeit verbringen würde. Aber jetzt ist gerade kein guter Moment dafür.
Es dauert nicht lange, und mein Vorwand, ihn wegzuscheuchen, steht in Gestalt meines nackten Großvaters vor mir. Ich halte mir die Augen zu und in mir kocht es – ungewollt. »Also wirklich! Du vergisst echt jedes Mal, wenn du dich in einen Menschen verwandelst, dir Shorts anzuziehen! So kannst du nicht ins Haus gehen.«
Großvater seufzt. »Entschuldige bitte, Emma. Aber du musst zugeben, dass diese ganzen menschlichen Traditionen doch etwas erdrückend sind. Wo könnte ich wohl so ein Short finden?«
Dass Kleider ihm wie eine gewaltige Bürde erscheinen, erinnert mich daran, dass unsere Welten sich auf spektakuläre Weise voneinander unterscheiden. Und dass ich eine Menge von ihm lernen könnte. Ohne die Hand von den Augen zu nehmen, zeige ich aufs Wasser und schicke ihn möglichst weit von der Stelle weg, wo Galen, wie ich weiß, ein Paar versteckt hat. Im Zweifelsfall hinhalten. »Versuchs mal da drüben. Unter dem großen Stein. Und man nennt die Dinger Shorts, nicht ›ein Short‹.«
»Ich fürchte, du wirst jemand anderen mit deinen menschlichen Ausdrücken langweilen müssen, Kleine. Mir ist das völlig gleichgültig.« Ich höre ihn unter Wasser verschwinden und mehrere Sekunden später wieder auftauchen. »Der Short ist nicht hier.«
Ich zucke die Achseln. »Ich schätze, dann kannst du nicht reingehen.« Das läuft besser, als ich erwartet habe.
Ich kann praktisch spüren, wie er die Arme vor der Brust verschränkt.
»Du glaubst, ich bin hier, weil ich etwas dagegen habe, dass du mit Galen landeinwärts fahren willst.«
Mir klappt der Unterkiefer herunter. Und ich stottere ausgiebig, als ich sage: »Nun ja. Ähm. Bist du nicht deswegen hier?« Denn bisher hat er nichts anderes getan, als den Anstandswauwau für Galen und mich zu spielen. Vor einigen Monaten ist er hereingeplatzt, als wir rumgemacht haben, und Galen ist deshalb fast in Ohnmacht gefallen. Seither hat er schreckliche Angst davor, den Poseidonkönig zu enttäuschen. Aus diesem Grund könnte Großvaters Widerstand in Sachen Ausflug tatsächlich zum Spielverderber werden.
Deswegen darf er nicht ins Haus.
Ich höre, wie Großvater mit dem Wasser verschmilzt, und er bestätigt, was mir meine Ohren bereits verraten haben: »Du kannst wieder hersehen.« Er ragt nur noch von der Brust an aufwärts aus den Wellen. Großvater lächelt. Es ist dieses entzückende Lächeln, das in meiner Vorstellung ein Großvater seiner Enkelin schenkt, wenn sie ihm ihre grässlichsten Wachskreidegemälde zeigt. »Ich bin gewiss nicht glücklich darüber, dass ihr landeinwärts fahren wollt. Ich hätte auch gerne einmal etwas Zeit mit euch verbracht. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass Poseidonprinzessinnen herzlich wenig von meiner Meinung halten.«
Es ist irgendwie cool, als Prinzessin bezeichnet zu werden, obwohl meine Mutter die Prinzessin des Poseidonreichs ist. Trotzdem hebe ich eine Braue, als stumme Aufforderung, endlich zur Sache zu kommen. Großvater reagiert am besten auf »offen und direkt«.
»Ich bin hier, um mit dir zu reden, Emma. Nur mit dir.«
Gequält frage ich mich, ob es ein Syrena-Pendant zum »Bienchen- und Blümchengespräch« gibt. Wahrscheinlich schon, und es ist mit Sicherheit irgendeine grottige Analogie, die etwas mit Plankton oder Schlimmerem zu tun hat.
In der Ferne hören wir einen entrüsteten Aufschrei. Großvater legt den Kopf schräg. »Warum hilfst du deinem Prinzen nicht?«
Und ich dachte vorher schon, ich würde mich schuldig fühlen… Aber dann fällt mir ein, dass das keine Sache ist, in die Großvater seine Nase hineinstecken müsste. Und momentan tue ich Galen tatsächlich einen Gefallen, wenn ich auf Zeit spiele. »Wenn ich noch länger dageblieben wäre, wäre mir von dem vielen Testosteron, das da durch die Luft fliegt, noch ein Bart gewachsen.« Natürlich versteht er nicht, was ich meine; er weist mit einem zu Tode gelangweilten Augenrollen darauf hin. Syrena wissen nicht – oder interessieren sich offensichtlich nicht dafür –, was Testosteron ist.
»Wenn du es mir nicht sagen willst, ist das in Ordnung«, sagt er. »Ich vertraue deinem Urteilsvermögen.« Mehr Geschrei hinter mir. Vielleicht ist mein Urteilsvermögen doch miserabel. Ich will mich gerade entschuldigen, als er hinzufügt: »Es ist besser so, dass sie abgelenkt sind. Was ich zu sagen habe, ist nur für deine Ohren bestimmt, Emma.« In dem Moment lässt eine Möwe über uns eine Bombe fallen, danach landet sie sauber auf Großvaters Schulter. Er murmelt einen fischigen Kraftausdruck, spritzt Salzwasser über den ekligen weißen Klecks und spült ihn ins Meer. »Warum kommst du nicht ins Wasser, damit wir nicht so weit voneinander weg sind? Es wäre mir lieber, wenn niemand uns belauschen könnte. Komm, ich nehme wieder Syrena-Gestalt an, wenn du dich dann wohler fühlst.«
Ich wate in den Atlantik, und diesmal mache ich mir nicht die Mühe, meine Pyjamahosen hochzukrempeln. Ich komme an einem großen Krebs vorbei, der aussieht, als würde er mich gerne kneifen. Dann hocke ich mich ins Wasser, tauche meinen Kopf ganz unter, sodass ich dem Krebs von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe. »Wenn du mich zwickst«, erkläre ich ihm, »hebe ich dich aus dem Wasser und werfe dich zu den Möwen an den Strand.« Die Gabe Poseidons – die Fähigkeit, mit Fischen zu sprechen – hat ihre Vorteile. Meeresbewohner herumzukommandieren, ist nur einer davon.
Ich habe gelernt, dass speziell Krebse Miniwutanfälle bekommen. Das Tier huscht davon, als hätte ich ihm den ganzen Tag versaut. Als ich wieder hochkomme und meinen Großvater erreiche, berühren meine Füße den Boden nicht mehr. Nachdem ich zu ihm hinübergeglitten bin, sage ich: »Also? Wir sind so ungestört, wie es nur geht.«
Dann lächelt er mich an, als sei ich der Grund, weshalb er im Wasser treiben kann, und nicht die Wellen oder seine mächtige Flosse. »Bevor du zu deinem Abenteuer aufbrichst, Emma, muss ich dir von einer Stadt namens Neptun erzählen.«
2
Galen nimmt sich eine Orange aus dem Obstkorb. Wenn er seinen Zorn doch nur in die Frucht leiten könnte! Wenn er die Schale mit seiner Rage impfen könnte, damit man ihm seine Entrüstung nicht im ganzen Gesicht ansähe.
Genau wie sein älterer Bruder Grom, der seine Gleichgültigkeit wie eine zweite Haut trägt.
Aber ich bin nicht Grom, der unergründliche Tritonkönig. Galen drückt die Frucht so fest, dass sie auf der Küchentheke zu einem ausgeweideten Matsch aus Schale, Kernen und Saft wird. Es ist ein gutes Gefühl, das Innere aus etwas herauszuquetschen. Galen würden auf Anhieb ein paar tausend Gefühle in seinem Inneren einfallen, die er nur zu gerne neben den Saft der Orange auf die Theke schütten würde. Aber Grom würde das alles kein bisschen berühren. Er ist immun gegen Gefühle.
Grom verdreht die Augen, während Nalia beiläufig Papiertücher aus dem Schrank holt.
»War das wirklich nötig?«, fragt Grom.
Nalia macht kurzen Prozess und wischt die Orangereste weg. Galen wirft ihr einen entschuldigenden Blick zu. Er hätte selbst saubergemacht, nachdem er und Grom sich über den Ausflug geeinigt hätten. Aber dann erwidert Nalia seinen Blick voller Mitleid. Galen hat es so satt, dass ihn alle bemitleiden. Allerdings hat es in Nalias Fall nichts mit Rachel zu tun. Nalia fühlt mit Galen, weil sie glaubt, dass er diesen Streit nicht gewinnen wird. Dass er Grom nicht gewachsen ist.
Galen beschließt, dass sie die Schweinerei ruhig selbst wegwischen kann.
»Eigentlich könnte ich mir etwas Besseres zum Zerquetschen vorstellen als eine Orange«, witzelt Galen. Wie zum Beispiel den harten Schädel seines Bruders Grom. Oder vielleicht seine Kehle. Rachels Worte fallen ihm ein: »Nun reg dich mal ab!« Galen zählt bis zehn, genau wie sie es ihm beigebracht hat. Dann zählt er bis zwanzig.
»Werd erwachsen, Bruder«, bemerkt Grom.
»Und du hast ein ganzes Königreich zu regieren, Hoheit. Weshalb ich nicht verstehe, warum wir immer noch hier sind. Und das sind meine Shorts.«
Grom zieht eine Augenbraue hoch, dann zuckt er die Achseln. »Deshalb kamen sie mir so klein vor.«
»Grom –«, setzt Nalia an, aber er fällt ihr mit einem Schnauben ins Wort.
»Du hast gerade erst vor ein paar Tagen deinen Abschluss auf der Menschenschule gemacht, Galen. Willst du nicht erst mal eine Weile ausspannen?« Grom nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche, dann schraubt er den Verschluss so fest wieder zu, dass es knirscht.
»Highschool«, sagt Galen. »Wir haben den Highschool-Abschluss gemacht. Wenn du weiterhin alles einfach ›Menschen‹-Dies und ›Menschen‹-Das nennst –«
»Ich weiß, ich weiß.« Grom wedelt wegwerfend mit der Hand. »Sehr schön. High School. Was ist überhaupt so high an der High School? Nein, nein, erspar mir die Antwort. Es interessiert mich nicht genug. Aber, kleiner Bruder, warum hast du es so eilig, die Strände zu verlassen?«
»Zum hundertsten Mal«, knirscht Galen, »ich habe es nicht eilig, die Strände zu verlassen. Ich habe es eilig, Zeit mit Emma zu verbringen, bevor wir aufs College gehen oder bevor die Archive ihre Vereinbarung mit uns beiden doch noch einmal überdenken oder bevor eine neue Katastrophe über uns hereinbricht. Kannst du das Königreich nicht ohne meine Hilfe regieren, Bruderherz? Das hättest du auch gleich sagen können.«
Diese Worte verursachen einen Riss in der Fassade von Groms Gesicht. »Vorsicht, Galen. Wirst du denn niemals lernen, dass Diplomatie ihre Vorzüge hat?«
»Direktheit auch«, brummt Galen. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Hör mal, ich weiß ehrlich nicht, was dein Problem ist. Wir machen eine zweiwöchige Reise.«
»Unser Bündnis mit den Archiven ist immer noch heikel, Galen. Es dauert seine Zeit, Vertrauen aufzubauen. Dein Verschwinden mit Emma für so viele Sonnenaufgänge wird zu Gerede führen. Das weißt du. Und wir haben gerade miterlebt, wie groß die Macht von Gerede sein kann.«
Galen verdreht die Augen. Grom spricht von Jagens Beinahe-Übernahme der Häuser Triton und Poseidon, eine Verschwörung, die mit Gerede und Spekulationen begonnen hat und die Königsfamilien fast ihre Freiheit und ihren Thron gekostet hätte. Aber das hier ist etwas anderes. »Warum sollten sich die Königreiche darum scheren, dass wir unsere Freizeit miteinander verbringen?« Er will eigentlich nicht brüllen. Aber er bedauert es auch nicht.
»Nun, zum einen«, wirft Nalia so ruhig ein, dass es Galen ärgert, »bin ich mir sicher, dass es Gerede geben wird, ob ihr das Gesetz respektiert und euch nicht vor eurer Zeremonie paart.«
Dem kann Galen nichts entgegenhalten. Er kann nicht behaupten, dass die Gerüchte völlig grundlos seien. Er kann kaum die Finger von Emma lassen. Und sie ist in dieser Hinsicht auch nur wenig hilfreich, weil sie es sich so bereitwillig gefallen lässt, dass seine Hände auf Wanderschaft gehen. Er kneift sich in den Nasenrücken. »Sie müssen uns einfach vertrauen. Sie könnten in dieser einen Sache im Zweifel zu unseren Gunsten entscheiden.«
Grom zuckt die Achseln. »Könnten sie. Aber sie möchten die neue Poseidonprinzessin auch unbedingt kennenlernen. Sie muss mehr Zeit in den Königreichen verbringen.«
»Damit sie hinter ihrem Rücken über das Halbblut herziehen können?« Allein der Gedanke weckt in Galen den Wunsch, nach einer weiteren Orange zu greifen. Dennoch weiß er, dass Grom recht hat. Galen will ebenfalls, dass Emma mehr Zeit im Wasser verbringt. Dr. Milligan sagte, sie könnte am Ende vielleicht sogar imstande sein, den Atem viel länger anzuhalten. Momentan gelingt es ihr nur für einige Stunden. Vielleicht könnte sie mit genug Übung tagelang unter Wasser bleiben. In diesem Fall würden er und Emma nicht so oft zwischen Land und Meer wechseln müssen, sobald sie verbunden wären.
»Je mehr sie vor Ort ist, desto weniger werden sie sich an ihrer Anwesenheit stoßen, Galen. Sie geben ihr eine Chance. Das Mindeste, was du tun kannst, ist, dich entsprechend zu verhalten. Eines Tages werden sie nicht einmal mehr bemerken, dass sie ein Halbblut ist. Oder sie werden zumindest lernen, es zu akzeptieren.«
Das kann er nicht ernst meinen, denkt Galen. Alles an Emma schreit »Halbblut«, angefangen bei ihrer bleichen Haut und dem weißen Haar bis hin zu der Tatsache, dass sie keine Flosse hat. Sie ist in jeder Hinsicht ein schroffer Kontrast zu den Syrena.
Galen steht von seinem Barhocker auf. Er sollte sich die Beine vertreten, weil er dann vielleicht nicht dem Drang nachgeben muss, über die Theke zu springen. Woher dieser ganze Zorn? »Es sind nur zwei Wochen, Grom. Zwei Wochen sind alles, worum ich bitte. Antonis ist damit einverstanden.« Zumindest hatte Antonis nichts gegen ihre Reise einzuwenden. Und ich erhebe schon wieder die Stimme. Vor einer anderen Zuhörerschaft wäre Grom gezwungen, ihn in seine Schranken zu weisen.
»Antonis stimmt zu, weil er es Emma unbedingt recht machen will. Immerhin ist es noch neu für ihn, eine Enkeltochter zu haben. Du bist mein Bruder. Ich habe mich schon zu lange mit deinen Mätzchen abgefunden.«
»Was hat denn das mit irgendwas zu tun? Warum kannst du nicht einfach deine Zustimmung geben, damit wir weitermachen können?«
»Weil ich das Gefühl nicht los werde, dass du sowieso fahren wirst, ob ich zustimme oder nicht. Oder irre ich mich etwa, Galen?«
Galen schüttelt den Kopf. »Ich will deine Zustimmung.«
»Das ist keine Antwort.«
»Mehr habe ich nicht zu bieten.« Er will Groms Zustimmung. Wahrhaftig, er will sie. Aber Grom hat recht – Galen will so weit wie möglich von hier weg. Selbst wenn es bedeutet, seinen älteren Bruder wütend zu machen. Der Drang zu fliehen ist beinahe überwältigend und er weiß nicht genau, warum. Nur eins ist sicher: dass er Emma bei sich haben will. Ihre Berührung, ihre Stimme, ihr Lachen. Sie ist die Algensalbe auf den klaffenden Wunden in seinem Inneren.
Grom seufzt und zieht die Kühlschranktür auf. Bedächtig stellt er die halbleere Wasserflasche neben einen Behälter mit etwas Grünem. »Ich weiß deine Aufrichtigkeit zu schätzen. Du bist kein Jungfisch mehr. Nach menschlichen Gesetzen hat Emma das Alter der Unabhängigkeit erreicht. Ihr kennt beide den Unterschied zwischen Richtig und Falsch. Es ist an euch, eure Entscheidungen zu treffen. Aber ich muss mich fragen, kleiner Bruder: Bist du dir sicher, dass das hier wirklich das Richtige für dich ist? Denn zwei Wochen werden nichts ändern. Manche Dinge … manche Dinge lassen sich nicht ungeschehen machen. Ich hoffe, du verstehst das.«
»Hör auf damit, alles mit Rachel zu verknüpfen!« Bitte.
»Hör auf damit, nichts mit Rachel zu verknüpfen! Trauere um sie, Galen.«
»Also, dann habe ich deine Zustimmung?« Galen stößt den Barhocker zurück an seinen Platz. »Denn Emma und ich müssen packen.«
Ich wünschte, Emma würde wieder reinkommen.
3
Ich verdiene es nicht, wie mein Großvater mich so anlächelt. So, als hätte ich in meinem ganzen Leben nie etwas Schlechtes getan. So, als würde er mir alles Mögliche zutrauen, nur nichts Schlechtes.
Klar, er hat ja auch einen guten Teil meiner Kindheit verpasst. Ich hoffe, er findet nie heraus, dass Chloe und ich in der neunten Klasse Kekse mit Schokostückchen für meine Biolehrerin gebacken haben – nur dass es gar keine Schokolade war, sondern ein Abführmittel, und wir … na ja, plötzlich hatten wir mehr Zeit, uns auf eine besonders schwierige Prüfung vorzubereiten.
Ich frage mich, ob es bei den Syrena Abführmittel gibt oder ob sie überhaupt welche brauchen. Was würden sie verwenden? So etwas sollte ich lieber Mom fragen. Ich glaube nicht, dass ich Galen fragen könnte, ohne ohnmächtig zu werden.
Dann begreife ich, dass ich über Abführmittel nachgedacht habe, statt Antonis zuzuhören. Ich weiß nicht, warum es mich überrascht, wenn mein Großvater spricht oder mich ins Vertrauen zieht. Vielleicht liegt es an all den Geschichten, die Galen und Toraf mir erzählt haben und in denen der Poseidonkönig immer nur als ungeselliger Einsiedler vorkommt. Oder vielleicht liegt es daran, dass ich es nicht gewohnt bin, überhaupt einen Großvater zu haben, geschweige denn einen, der mit mir reden will. Oder vielleicht sollte ich mich jetzt lieber mal ganz flott an dieses Gefühl des Neuen gewöhnen und seine verflixte Frage beantworten.
Nur, was war die Frage? Ach ja. Ob ich mich einem Abenteuer gewachsen fühle.
»Natürlich«, sage ich zu ihm. »Falls Galen mit dabei ist.«
Großvater runzelt die Stirn. »Ich habe gehofft, dass du eine dieser Zeichnungen bei dir hättest, Emma. Die Menschen vom Land machen.«
Zeichnungen, die Menschen vom Land machen … »Eine Karte?«
Der alte Syrena kratzt sich den Bart. Inzwischen kenne ich ihn gut genug, um zu bemerken, dass er Zeit schindet. Der Hang zu dieser Taktik muss bei uns in der Familie liegen. »Ja, ja, das ist es. Eine Karte. Aber bevor wir über eine Karte sprechen, darf ich darauf vertrauen, dass diese Sache unter uns bleibt? Oh, nein«, sagt er schnell. »Es ist nichts Schlimmes. Eigentlich ganz im Gegenteil. Aber es ist etwas, das ich nur dir mitteilen will. Die anderen würden … es nicht so zu schätzen wissen wie du. Und du würdest es vielleicht nicht wirklich begrüßen, wenn sie es wüssten.«
Ich versuche immer noch, nicht nur die Tatsache zu begreifen, dass mein Großvater weiß, was eine Landkarte ist, sondern auch, woher dieses plötzliche Interesse rührt. Anscheinend haben »die anderen« keine Ahnung davon. Und es ist klar, dass »die anderen« – einschließlich Galen – nichts davon erfahren sollen. Ich weiß nicht so recht, wie ich dazu stehe. Aber ich bin zu neugierig, um es nicht zu versprechen. Außerdem hat Antonis versichert, dass es nichts Schlimmes ist. Vielleicht ist das hier so ähnlich, wie wenn normale Großeltern ihren Enkeln Kekse und Süßigkeiten zustecken, von denen die Eltern nichts wissen sollen. Es ist an und für sich nicht schlimm, aber die Eltern fänden es trotzdem nicht so toll. Mehr wird nicht dahinterstecken. Ein unschuldiges Geheimnis zwischen Großvater und Enkelin.
»Ich kann eine Karte auf mein Handy laden, aber ich habe es am Strand gelassen. Du wirst mit mir an Land kommen müssen, und wenn du an Land kommst, wirst du Shorts brauchen. Sie sind da drüben.« Ich zeige in eine andere Richtung als jene, in die ich ihn ursprünglich geschickt habe. »Unter dem Treibholz im Sand.«
Er nickt. Großvater trägt mich Huckepack zu den Shorts hinüber, dann lässt er mich los, damit er menschliche Beine annehmen kann.
Als er geziemend bedeckt ist und neben mir im Sand sitzt, schenkt er mir ein wissendes Grinsen, das die kleinen Runzeln um seine Augen hervortreten lässt. Syrena altern langsam. Für einen Mann, der mehrere hundert Jahre alt ist, ist Großvaters Grinsen erstaunlich jugendlich und lebendig. Das einzig verräterische Zeichen für sein Alter ist die faltige Haut an seinem Bauch – und daran könnte auch nur der Winkel schuld sein, in dem er jetzt sitzt. Ich lade eine Karte auf mein Handy. »Ich kann Neptun anzeigen lassen.«
Er schüttelt den Kopf. »Es ist eine Weile her, seit ich dort war, aber bei meinem letzten Besuch war Neptun auf keiner menschlichen Karte zu finden.« Er reibt sich das Kinn. »Vom Wasser aus weiß ich, wo es ist. Zeig mir die Karte vom Land mit dem Wasser daneben, und ich werde wissen, wo es ist.«
»Natürlich.« Ich lade die Ostküste der Vereinigten Staaten und hoffe, dass ich ihn richtig verstanden habe. »Wie wär’s damit?« Ich halte ihm das Handy hin. Die Karte zeigt einige Details, so zum Beispiel beschriftete Highways und Autobahnen. Ich bezweifle, dass er versteht, was wir uns da ansehen.
Bis er sagt: »Chattanooga. Das ist sehr nah, wenn ich mich recht erinnere.«
Mein Großvater, der Halbfisch, kann lesen? Echt? »Ähm. Okay, ich kann das etwas näher heranzoomen.« Mit einer Bewegung meiner Finger sind jetzt bloß noch Chattanooga und seine Vororte auf dem Bildschirm zu sehen. Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass Chattanooga ein ganzes Stück vom Atlantik entfernt liegt. Tatsächlich muss ich mehrere Male scrollen. Meine Neugier wird sich gleich in einer Salve von Fragen entladen.
Großvater mustert mich noch eine Sekunden lang, als schätze er ab, ob er es mir sagen soll oder nicht. Oder vielleicht versucht er zu entscheiden, wo er anfangen soll. Und vielleicht sollte er sich besser beeilen, bevor ich platze.
Schließlich seufzt er. »Emma. Du hast meine Geschichte noch nicht gehört. Die Geschichte dessen, was ich getan habe, als deine Mutter verschwand.«
Es ist das erste Mal, dass jemand aus der Welt der Syrena »verschwand« gesagt hat statt »gestorben«, wenn es darum geht, was vor so vielen Jahren in dem Minenfeld mit meiner Mutter geschehen ist. Und jetzt, nachdem sie zurückgekehrt ist, sagen alle: »Als ich geglaubt habe, dass sie gestorben wäre.«
Ich habe die verschiedensten Versionen der Geschichte gehört. Wie Galen mir erzählt hat, sah es aus Groms Perspektive ursprünglich so aus: Mom wurde bei einer Explosion in einem Minenfeld in Stücke gerissen und galt als tot. Meine Mutter hat die Lücken in der Geschichte dann aus ihrer Sicht mit Einzelheiten darüber gefüllt, was an jenem schicksalsträchtigen Tag im Minenfeld geschah: Sie hat irgendwie überlebt, ist an Land gekommen, hat meinen Vater kennengelernt und … dann war ich da.
Aber manchmal gibt es in den Geschichten keine Lücken und Löcher, die nur darauf warten, gestopft zu werden. Geschichten, wie sie das Leben schreibt, können vielschichtig sein. Sie sind auf Fundamenten errichtet, die vor Jahrhunderten, vor vielen Generationen gelegt wurden. Solche Schichten sehe ich jetzt auf dem Gesicht meines Großvaters eingemeißelt.
»Ich habe getan, was jeder Vater tun würde, wenn sein Kind verschwindet«, fährt Antonis fort. »Ich habe nach ihr gesucht.« Und einfach so kommt eine weitere Schicht dieser Geschichte zum Vorschein. Eine Schicht, die nur Antonis beisteuern kann.
Dann sieht er mich an, schätzt meine Reaktion ab. Ich weiß nicht, wonach er sucht. Ich wende den Blick ab und grabe die Füße in den Sand, als sei das die wichtigste Aufgabe auf dem Planeten.
Zufrieden räuspert sich der alte Monarch. Er hält sich bedeckt, das kann ich wohl sagen.
Ich stoße den Atem aus. »Ja, ich weiß. Es hat geheißen, du hättest deine Fährtensucher lange suchen lassen.«
Großvater nickt. »Das ist wahr, junge Emma. Ich habe tatsächlich Fährtensuchertrupps ausgesandt. Sowohl während der hellen als auch der dunklen Stunden der Tage. Meine Fährtensucher waren die ganze Zeit über unterwegs. Und sie kehrten jedes Mal mit leeren Händen zurück.«
Das alles weiß ich bereits. Wir haben alles wieder und wieder unter die Lupe genommen. Vielleicht braucht mein Großvater einfach jemanden zum Reden. Und ich fühle mich irgendwie geehrt, dass er mich dazu auserwählt hat. Vor allem weil ich höre, wie sich seine Stimme verändert, wie sich seine Kehle bei jedem Wort zuschnürt, wie er fast an den aufwallenden Gefühlen erstickt. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen. Aber er reißt alte Wunden, die kaum verschorft sind, wieder auf, um mir davon zu erzählen. Nur mir.
»Sie kamen mit leeren Händen zurück und ich verlor allmählich die Hoffnung«, fährt er fort. Antonis lehnt sich auf die Hände gestützt zurück und blickt konzentriert auf die Wellen, die vor uns heranrollen. »Bis eines Tages Baruk zu mir kam, einer meiner vertrautesten und talentiertesten Fährtensucher. Er schwor bei Poseidons Vermächtnis, dass er den Puls deiner Mutter gespürt habe. Dass er schwach und sprunghaft sei. Er kam und ging so schnell, dass es unmöglich war, ihm zu folgen, selbst für ihn. Manchmal tauchte er gegen Sonnenaufgang auf, dann wieder gegen Sonnenuntergang. Wir vermuteten, dass sie wohl irgendwo abgetrieben sei.«
Na gut, vielleicht habe ich das nicht alles gewusst. In der Tat bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass mir die Gesichtszüge entgleist sind. »Grom hat das Gleiche gesagt, dass er manchmal ihren Puls gespürt habe. Hat er dir das erzählt?«
»Natürlich nicht«, antwortet Antonis mit ernster Stimme. »Genau wie ich es ihm nicht erzählt habe. Du musst verstehen, Emma, ich wusste nicht, was zwischen Grom und meiner Tochter vorgefallen war. Ich wusste nur, dass sie fort und er noch da war. Nein, ich habe es ihm nicht erzählt. Ich habe es niemandem erzählt.« Großvater hält inne und eine gewisse weise Neugier tanzt in seinen Augen. »Wäre dein Freund Toraf damals schon geboren gewesen, hätte ich vielleicht mein diplomatisches Geschick beim Haus Triton spielen lassen, um seine Talente als Fährtensucher zu nutzen. Du musst wissen, dass es noch nie einen wie ihn gegeben hat.«
Ich nicke. Mehr kann ich nicht tun. Es ist traurig, wie viele Gelegenheiten sich ihnen immer wieder geboten hatten, Informationen auszutauschen, zusammenzuarbeiten, um meine Mutter zu finden. Aber in diesem Fall wäre ich jetzt nicht hier. Daher hält sich mein Bedauern für diese längst vergangenen Umstände in Grenzen. Wenn mein Großvater auf eine Reaktion von mir wartet, sei es eine mitfühlende oder eine andere, so wird er sie nicht bekommen. Ich weiß, dass er seine Geschichte noch nicht beendet hat, und ich will nicht, dass er aufhört, sie mir zu erzählen.
Er spürt das anscheinend. »Nach einigen Tagen verschwand ihr Puls. Baruk war überzeugt, dass sie tot war. Ich wollte das nicht hinnehmen. Baruk hielt mich für verrückt, er hat mich angefleht, sie loszulassen und mich wieder dem Leben zuzuwenden. Aber verstehst du, ich konnte nicht. Nalia war alles, was ich noch hatte. Am Ende habe ich Baruk befohlen, mir die Richtung zu weisen, wo er sie zuletzt gespürt hatte. Ich wusste, dass sie vielleicht tot war. Aber ich wusste noch etwas über meine Tochter, Emma. Etwas, das ihr bis zum heutigen Tag nicht klar ist. Nalia hatte immer eine heimliche Schwäche für Menschen.«
Jepp, das wusste ich definitiv nicht. Ich begreife allmählich, dass ich mit alldem, was ich nicht weiß, ein Schwarzes Loch füllen könnte. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, dass ein guter Vater weiß, was seine Jungfische im Schilde führen. Es gab eine Zeit kurz vor ihrem Verschwinden, da haben meine Fährtensucher berichtet, dass sie jeden Tag die gleiche Stelle in der Nähe der Arena besuchte. Tag für Tag folgten sie ihr, aber wenn sie dort eintrafen, war sie bereits fort. Sie haben nie etwas gefunden, sie kamen nicht dahinter, was es mit ihren täglichen Besuchen auf sich hatte. Zuerst glaubte ich, sie trage sich mit dem Gedanken, sich mit anderen Männer einzulassen, da sie anfangs gegen Grom eingenommen war. Doch alle Fährtensucher waren sich einig, dass sie keinen anderen Puls aufnahmen. Also beschloss ich, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Beinahe wäre es mir entgangen, ich sage es dir. Aber irgendwie fing eines der glänzenden Stücke aus ihrem Besitz einen der wenigen Sonnenstrahlen auf, die den Meeresgrund erreichen. Ich schätze, ich habe den Schlamm wohl genau an der richtigen Stelle aufgewühlt. Und so kam es, dass ich ihr Versteck mit den menschlichen Dingen gefunden habe.«
Ohmeingott! »Meine Mutter hat Menschendinge gesammelt?« Und mein Großvater hat sie nie auffliegen lassen? »Und du hast es ihr erlaubt? Was ist mit dem Gesetz? War es dir egal?«
Er machte eine geringschätzige Handbewegung. »Ach, welches Gesetz hat sie denn schon gebrochen? Wer konnte beweisen, dass sie Kontakt mit Menschen gehabt hatte? Wer wollte sagen, dass sie diese Dinge nicht in alten Schiffswracks gefunden hatte?«
Er hatte also ein Auge zugedrückt. Er hatte sich dazu entschieden, sie deshalb nicht in die Mangel zu nehmen. Irgendwie liebe ich ihn dafür nur umso mehr. »Also hast du wegen ihrer Besessenheit von Menschensachen den Schluss gezogen, dass sie an Land gegangen war?«
Antonis schüttelt den Kopf. »Ja und nein. Ich dachte, dass sie es vielleicht getan hat. Ich habe die Küsten abgesucht und mich dann tiefer ins Landesinnere vorgewagt. Natürlich habe ich sie nie gefunden. Aber dafür habe ich etwas anderes entdeckt, Emma. Etwas, wovon ich niemandem erzählt habe.«
Und in diesem Moment begreife ich, dass das hier nicht einfach auf ein unschuldiges Geheimnis zwischen Großvater und Enkelin hinausläuft.
4
Galen lädt den Rest von Emmas Gepäck in den Kofferraum seines SUV und zieht eine Augenbraue hoch, während er die beiden sehr unterschiedlichen Stapel persönlicher Besitztümer betrachtet. Er hat nicht einmal einen ganzen Koffer gefüllt, doch Emma hat es auf zwei große und einen kleinen gebracht. Ganz zu schweigen von diesem fetten Handtaschending, das sie immer mit sich herumschleppt. Er grinst. Entweder hat sie etwas Großes geplant oder sie hat gar nicht geplant.
Nicht dass es ihm etwas ausmachen würde. Er ist einfach glücklich darüber, mit ihr wegzukommen.
»Was meinst du, worum es vorhin ging?«, fragt Grom und schreckt ihn auf.
Galen runzelt die Stirn. »Seit wann kannst du dich auf deinen Menschenbeinen so anschleichen?«
Sein Bruder schenkt ihm ein träges Lächeln, dann zuckt er die Achseln. »Ich lerne schnell.«
»Offensichtlich«, brummelt Galen.
»Nun?«
»Nun was?«
Grom hat Galens Geduld heute bereits auf eine harte Probe gestellt. Dass er gezwungen wurde, vor allen um die Erlaubnis für diese Reise zu bitten – insbesondere, weil sie die Sache bereits unzählige Male diskutiert hatten –, war unnötig und demütigend. Hat Grom seine königlichen Muskeln wegen Nalia spielen lassen? Oder hat er wirklich das Gefühl, dass ich meine Position als Botschafter bei den Menschen ausnutze?
Denn in diesem Fall ist Galen bereit, diese Tätigkeit für seine königliche Majestät zu beenden. Vielleicht müssen die Menschen nicht beobachtet werden. Ihre Existenz auf Erden währt nur einen Augenblick und ist weitaus kürzer als die jedes Syrena und dann sind sie verschwunden. Genau wie Rachel.
Grom verschränkt die Arme vor der Brust und der Stoff seines geborgten Flanellhemds spannt sich. Emmas Vater muss von schmalerem Körperbau gewesen sein als er. »Was glaubst du, hatte Antonis Emma zu erzählen? Sie waren viel zu still, als sie vom Strand gekommen sind. Antonis’ Shorts waren trocken. Sie sind offensichtlich eine ganze Weile dort gewesen.«
»Was kümmert’s mich?«
»Du wärst ein Narr, wenn dem so wäre. Antonis ist immer … ein Geheimniskrämer gewesen.«
Galen lehnt sich gegen den SUV und tritt in den Kies der Einfahrt. »Klingt nach einer typischen Eigenschaft im Haus Poseidon.«
Grom nickt. »Ja. Genau. Deswegen musst du herausfinden, was sie im Schilde führen.«
»Die beiden haben so viele Jahre – nein, Emmas ganzes Leben – nachzuholen. Vielleicht bringen sie sich einfach gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Und ich glaube es auch nicht.«
Grom hat recht. Galen glaubt es nicht. Sicher, sie haben viel zu besprechen. Aber Antonis kommt selten an Land. Er muss einen Grund gehabt haben. Einen Grund, von dem sonst niemand erfahren sollte. Trotzdem ist es die Sache nicht wert, diese Reise gleich mit einem Streit zu beginnen. »Emma wird es mir erzählen, wenn sie es will.«
Er sieht Grom an, fordert ihn zum Protest heraus. Sie wissen beide, dass der Tritonkönig seiner geliebten Nalia niemals irgendwelche Antworten abpressen würde. Und sie wissen beide, dass seine Erfolgsaussichten auch eher mäßig wären, selbst wenn er es versuchte.
Grom seufzt. »Vielleicht kannst du ihr Fangfragen stellen oder so.«
Aber Galen weiß, dass das Thema noch nicht durch ist. Soweit geht Groms Scheinheiligkeit dann doch nicht. Und das ist gut so, denn Emma ist mittlerweile auch ziemlich gut darin geworden, sich anzuschleichen.
»Wovon redet ihr?«, ertönt ihre Stimme hinter Grom. Galen merkt ihr an, wie unmöglich sie es findet, dass Grom ein altes Hemd ihres Vaters trägt. »Und noch viel wichtiger: Sind wir bereit, diese Party steigen zu lassen?«
Nalia schiebt sich an Galen vorbei und umarmt Emma. »Ich wünsche dir eine gute Reise, Schatz, und dass dir nichts passiert.« Dann beugt sie sich weiter vor. Galen weiß, dass es nicht für seine Ohren bestimmt ist, was sie als Nächstes sagt. Aber er hört es trotzdem. »Ich werde dafür sorgen, dass Grom bei eurer Rückkehr eigene Kleider hat. Dann muss er nicht mehr Dads Sachen tragen.«
Galen zieht sich zurück und lässt ihnen einen Moment für sich. Obwohl er sich gerade über seinen Bruder ärgert, tut Grom ihm leid, weil er nicht einmal weiß, dass über ihn gesprochen wird. Oder wie sehr er Emmas Geduld strapaziert. Galen boxt seinen Bruder leicht in die Schulter. »Also, wie sieht’s mit deiner Erlaubnis aus, Hoheit?«
Grom verdreht die Augen. »Viel Spaß, kleiner Fisch. Vergesst nur nicht, dass ihr noch nicht verbunden seid, also …«
Galen hebt die Hand. »Grom.« Dieses Gespräch wollte er nie mit seinem Bruder führen. Oder mit sonst jemandem, um genau zu sein.
»Ich erinnere dich nur daran«, sagt Grom und man sieht ihm an, dass ihm das ganze Gespräch genauso peinlich ist wie Galen. »Zweisamkeit bietet viele Gelegenheiten.«
Dessen ist sich Galen sehr wohl bewusst. Er weiß jedoch beim besten Willen nicht, ob es ihm noch etwas ausmacht. Die Finger von Emma lassen, darin ist er nicht gut. Und er ist sich nicht sicher, wie viel ihm noch am Gesetz der Syrena liegt. Das Gesetz hat sich schließlich auch im Hinblick auf Halbblüter geirrt. Emma ist kein Gräuel. »Darüber rede ich nicht mit dir.«
Grom wirkt erleichtert. »Aber Zweisamkeit bietet auch viele Gelegenheiten für Gespräche, daher würde es trotzdem nicht schaden, wenn du –«
Er wird unterbrochen, denn Nalia hakt sich bei ihm unter. »Toraf und Rayna sind bereits gegangen«, sagt sie. »Rayna lässt ausrichten, dass du ihr etwas ›Interessantes‹ mitbringen sollst.« Eigentlich waren die beiden nur gekommen, um sich von Emma und Galen zu verabschieden, aber angesichts der Spannungen zwischen Galen und Grom hatte Toraf einen Grund vorgeschoben, um sich und Rayna wieder entschuldigen zu lassen. Galen wünscht, er hätte etwas Zeit mit ihnen verbringen können.
Galen lächelt. »Natürlich, das sieht ihr ähnlich.« Er schlendert auf die Fahrerseite hinüber. »Bis in zwei Wochen.« Er wartet nicht auf eine Antwort, damit Grom nicht noch auf die Idee kommt, um die Zeitspanne zu verhandeln. Zwei Wochen sind bloß eine Schätzung. Galen hat das Gefühl, dass zwei Wochen zu kurz sein werden, wenn er und Emma tatsächlich miteinander allein sind. Zumindest für ihn.
5
Die Autobahn vor uns sieht aus wie ein Fluss aus Autos, der zwischen zwei Bergen dahinströmt. In meinen Ohren hat es während der letzten Stunde immer wieder geknackt, weil es ständig bergauf ging. Ein ums andere Mal gucke ich zu Galen auf den Fahrersitz hinüber, um festzustellen, ob es ihm genauso geht. Manchmal spüre ich, wie der Druck auf meine Ohren steigt, je tiefer wir im Ozean tauchen. Ich frage mich, ob Galens Syrena-Ohren sich an jede Art von Druck anpassen können oder nur an den Druck, den das tiefe, blaue Meer verursacht.
Er hat sich nicht darüber beklagt, aber das hat nichts zu bedeuten. Tatsächlich hat er überhaupt nicht viel gesprochen, was wiederum etwas zu bedeuten haben könnte. Entweder merkt er nicht, wie oft ich ihn anschaue, oder er tut so, als würde er es nicht merken. Ich kapiere, was das bedeutet: Er will nicht reden.
Aber angesichts des heimlichen Grunds für diesen Ausflug erscheint es mir kontraproduktiv, ihn seine Gedanken für sich behalten zu lassen. Als meine beste Freundin Chloe starb, wollte ich mich nur noch verkriechen und nicht mehr leben. Die Vorstellung, dass Galen ähnlich leidet, macht mich verrückt. Rachel war seine beste Freundin, vielleicht hat sie ihm sogar noch mehr bedeutet als Toraf. Und sie war auch eine Mutterfigur. Beides auf einmal zu verlieren, kann einen vernichten.
Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Denkst du wieder an sie?«
Galen zwingt sich zu einem schwermütigen, gezwungenen Lächeln, das nur eine Sekunde währt, bevor er wieder ein langes Gesicht macht. Rachels Tod hat uns alle getroffen. Wir alle hätten mehr tun können. Wir alle trugen die Verantwortung, uns um sie zu kümmern. Wir alle hätten wachsamer sein müssen. Wir hätten im Auge behalten müssen, wo sie an jenem Tag war, als wir Jagen von den Menschen zurückgeholt haben. Jeder von uns hätte verhindern können, dass sie ertrank. Aber Galen ist wild entschlossen, die Schuld ganz allein auf sich zu nehmen. Aber das werde ich nicht zulassen und ihn dazu bringen, wieder zur Vernunft zu kommen.
Ich habe nur noch nicht herausbekommen, wie ich das anstellen soll.
»Eigentlich«, erwidert er, »habe ich mich gefragt, worüber ihr, also du und Antonis, gestern so lange geredet habt.«
Oh. Das. Ich hatte schon überlegt, ob beziehungsweise wann er fragen würde. »Über nichts Besonderes«, antworte ich. Vielleicht will ich doch nicht reden. Nicht weil ich ein Geheimnis hüte – das tue ich nicht. Nicht wirklich. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, warum Großvater darauf besteht, dass wir ins Herz von Tennessee reisen. Aber ich weiß, dass diese seltsame Schnitzeljagd wichtig für ihn ist, und aus irgendeinem verrückten Grund bin ich bereit, mich darauf einzulassen. Und bis jetzt habe ich geglaubt, das würde auch für Galen gelten. Er hat nicht nachgefragt, als ich gestern unser Ziel im GPS geändert habe. Wir fahren jetzt nicht mehr wie ursprünglich geplant in die Cascade Mountains, sondern zu einem neuen Ziel in den Smoky Mountains.
Galen stellt das Radio leiser. »Was werden wir in diesen Bergen finden, Emma? Warum schickt Antonis uns dahin?«
Ich will automatisch in die Defensive gehen, aber ich weiß, dass Galen angespannt ist. Ein Streit mit ihm ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann. Ich lächele. »Ich bin genauso neugierig wie du. Außerdem hat er uns nicht hierhergeschickt, schon vergessen? Wir hatten gesagt, dass wir die Berge erkunden wollen. Er hat nur einen Vorschlag gemacht, wohin es gehen könnte.« Genauer gesagt hat er den Daumen auf meinem Smartphone in die Mitte des Staates Tennessee gedrückt. Zum Vergleich: Sein Daumenabdruck war auf der Karte ungefähr hundertfünfzig Meilen breit.
Galen macht es sich auf seinem Sitz etwas bequemer und stützt den Ellbogen auf die Armlehne der Tür. »Was genau hat er gesagt?«
»Er hat uns eine gute Reise gewünscht. Und dass er hoffe, ich würde finden, wonach ich suche.« Das ist die Wahrheit und damals klang es nicht annähernd so fragwürdig wie jetzt – sogar in Verbindung mit der ungeheuerlichen Geschichte, die er über die Suche nach meiner Mutter erzählt hat. Ich weiß nicht, ob ich dem, was ich Galen bereits über das Gespräch anvertraut habe, noch etwas Neues hinzufügen kann. Es ist nicht so, als hätte ich ihm etwas vorenthalten – ich habe schon erklärt, warum wir das Ziel geändert haben. Und ich dachte, er hätte das bereits akzeptiert. Aber Galen scheint im Geiste jedes Wort zu sezieren, das mein Großvater seit seiner Geburt gesprochen hat.
Was in mir leise Zweifel an Großvaters Motiven weckt. Hat er vorhergesehen, dass Galen Fragen stellen würde? Und hat er mir deshalb ganz bewusst keine handfesten Antworten gegeben? Und wenn ja, warum?
Galen sieht mich von der Seite an, bevor er den Blick wieder auf die Straße richtet. »Sonst hat er nichts gesagt? Irgendetwas Doppeldeutiges?«
»Fragst du das jetzt? Oder Grom?«
Galen verzieht das Gesicht. »Grom hat mich tatsächlich danach gefragt. Aber ich muss zugeben, ich bin neugierig. Wenn du genau wiederholst, was er gesagt hat, könnte ich dir vielleicht dabei helfen herauszufinden, was er im Schilde führt.«
Ich frage mich, ob Grom und Großvater das Kriegsbeil jemals begraben werden. Und ich bin nicht begeistert davon, dass Grom Galen offensichtlich beeinflusst. »Er sagte: ›Süßwasserfische sind fad.‹« Ich schnappe nach Luft. Widerlich. Dramatisch. Geblähte Nüstern und alles, was dazugehört. »Meinst du, das ist ein Code für ›Ich habe ein Raumschiff gesehen‹? Oder vielleicht: ›Ich bin in Wirklichkeit ein sowjetischer Androide‹? Wir sollten umdrehen, heimfahren und die Antworten aus ihm herausprügeln.«
Daraufhin lässt Galen ein Grinsen aufblitzen, bei dem mir das Herz aufgeht. »Weißt du eigentlich, wie zauberhaft du bist, wenn du …«
Aber seine Grübchen haben mein Vokabular bereits auf »Ähm« beschränkt. Und ich schwebe in ernster Gefahr, in meine alte Angewohnheit zu erröten zurückzufallen.
Er deutet mit dem Kopf auf die Straße vor uns. »Tut mir leid, dass ich so mürrisch bin. Lass uns diese Abfahrt nehmen. Ich habe keine Lust mehr zu fahren. Vertreten wir uns doch ein Weilchen die Beine.« Mit Beine vertreten meint Galen das Entfesseln seiner gewaltigen Flosse. Ich muss zugeben, es würde Spaß machen, die Quellen hier zu erkunden. Wenn man Google glaubt, gibt es in diesem Gebiet jede Menge davon.
»Ich habe meinen Badeanzug im Koffer«, erwidere ich. »Ich werde mir einen Platz suchen müssen, wo ich mich umziehen kann. Vielleicht eine Damentoilette?«
»Wegen mir brauchst du keinen Badeanzug anziehen.«
Ja klar. Ich laufe tomatenrot an und mein Mund wird trocken. Mein Inneres hat sich in Mus verwandelt, und ich stelle mir unfreiwillig einen Galen vor, der nichts anhat. Ohmeingott!
Anscheinend ist Galen Opfer seiner eigenen Courage geworden. Sein Grinsen ist längst verschwunden. An seine Stelle ist etwas getreten, das ich Hunger nennen würde. Er leckt sich die Lippen, dann runzelt er die Stirn und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Entschuldige. Das ist mir so rausgerutscht.«
Galen rutscht nur selten so etwas heraus. Manchmal kann ich den Schalk, der ihm im Nacken sitzt, förmlich sehen – spielerisch, harmlos und kokett. Aber er kennt die Grenzen. Grenzen wie das Gesetz und sein Gewissen. Grenzen, die ihn bisher immer daran gehindert haben, so etwas zu sagen.
»Du hast dich noch nie zuvor bei mir entschuldigt, weil du mich aufgezogen hast«, überlege ich laut.
»Dich aufgezogen? Denkst du, dass ich das tue?«
»Willst du etwa abstreiten, dass du so etwas sagst, damit ich rot werde?«
Ein Grinsen zieht seine Mundwinkel nach oben. »Natürlich nicht. Aber ich habe mich entschuldigt, weil ich dich dieses Mal nicht aufgezogen habe.«