Blütenweiße Träume - Charlotte Jacobi - E-Book
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Charlotte Jacobi

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Beschreibung

Persil. Da weiß man, was man hat. Berlin, 1922: Die Reklamefotografin Lilli arbeitet an einem Projekt, das ihr besonders am Herzen liegt. Schon als Kind sieht sie, wie sich ihre Oma beim Wäschewaschen abmüht. 1907 macht ihr Patenonkel Hugo Henkel dann eine bahnbrechende Entdeckung: »Persil« ist das erste Waschmittel, das ohne Schrubben reinigt. Als junge Frau möchte Lilli selbst alles für den Erfolg »ihres« Persil tun. Sie studiert Grafische Künste und erhält die Chance, an der Markenbewerbung mitzuwirken. Allerdings muss sie dafür mit einem Künstler arbeiten, der für Furore sorgt – und auch Lillis Leben durcheinanderwirbelt. Nach dem SPIEGEL-Bestseller-Erfolg von »Die Douglas-Schwestern« wendet sich die Bestsellerautorin Charlotte Jacobi der Geschichte eines weiteren deutschen Unternehmens zu und begleitet eine junge Reklamefotografin bei der Entstehung der Marke Persil.

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören, Anna Mechler.

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

Covermotiv: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com, Shutterstock.com und Laura Ranftler/arcangel.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Teil 1

Sommer 1907

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2

1915–1918

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Teil 3

1920–1924

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

1926

Wie es weiterging

Nachwort und Danksagung

Personenregister

Familie Frowein und Anhang, fiktiv

Familie Henkel und Anhang(realhistorische Personen und Daten)

Familie Muchow und Anhang(realhistorische Personen und Daten)

Literatur und Quellen:

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Teil 1

Sommer 1907

Kapitel 1

»Immer die Plackerei mit der Wäsche!«

»Oma! Deine Hände sind schon wieder ganz schrumpelig!« Mitleidig betrachtete die achtjährige Charlotte Frowein, genannt Lotte, ihre Großmutter, die mit hochrotem Gesicht über das Waschbrett gebeugt stand. Sie rieb wieder und wieder Lottes helles Sommerkleidchen aus Baumwollstoff darüber, welches sie zuvor mit »Henkel’s Bleich-Soda« eingeweicht hatte.

»Ach, Kind!« Erschöpft richtete sich Agathe Frowein auf und strich sich mit dem Handrücken eine der graublonden Locken aus dem Gesicht. Lotte hatte beobachtet, dass sich jedes Mal Haarsträhnen aus der Hochsteckfrisur ihrer Großmutter lösten, wenn diese am Scheuerbrett zugange war. Nicht nur Agathe Froweins Hände litten unter der Prozedur, Lottes Oma geriet jedes Mal völlig außer Atem, ihre Wangen wurden ganz rot. Es dauerte das Mädchen sehr, dass seine Großmutter immer so viel Arbeit hatte und ihr laut eigenen Angaben regelmäßig alles wehtat nach der Knochenarbeit am Waschbrett. Deshalb gab Lotte sich die allergrößte Mühe, sich beim Spielen nicht schmutzig zu machen. Doch ihre Kleidchen waren auch weniger das Problem als die Hosen und Hemden ihres Vaters Fabian, dem die Großmutter den Haushalt führte. Ihre Mutter Therese hatte Lotte nie kennengelernt, sie war bereits kurz nach ihrer Geburt gestorben, und ihr Vater hatte seitdem nicht wieder geheiratet. Lotte wusste, dass ihre Mutti seine große Liebe gewesen war. Er würde wohl ein Leben lang allein bleiben. Wobei – was hieß allein? Er hatte ja Lotte und seine Mutter, ihre Großmutter.

»Komm, Oma, ich helfe dir«, bot das Mädchen schließlich an und griff nach einem der Hemden ihres Vaters. »Noch habe ich ja Zeit – aber wenn ich im Herbst wieder in die Schule muss, dann kann ich leider nicht mehr so viel im Haushalt machen.«

»Das sollst du auch gar nicht«, wehrte Agathe ab und gab ihrer eifrigen Enkelin einen Kuss auf die Wange. »Genieß du nur das Leben, die Arbeit kommt noch früh genug.«

Doch Lotte hatte der Vierundfünfzigjährigen gar nicht richtig zugehört, sondern plapperte weiter: »Wobei ich ja gar nicht mehr so viel lernen muss, weil ich schon so viel kann. Ich weiß immer alles, bevor es die Lehrerin erklärt hat.«

»Kein Wunder, mein Herr Sohnemann bringt dir schließlich vieles schon vorher bei. Deshalb konntest du schon lange vor der Einschulung lesen und schreiben. Und weil du eine Forschertochter bist, möchtest du eben alles wissen und hörst gut zu«, meinte Agathe mit mildem Lächeln. »Und er kann eben sehr gut erklären. Eigentlich wollte er ja Chemielehrer werden – bevor ihn dein Patenonkel zu Henkel geholt hat.«

»Ich finde das besser so«, meinte Lotte. »Da im Labor ist es immer so spannend.«

»Schule ist doch aber auch spannend«, fand ihre Großmutter.

Lotte seufzte. »Manchmal. Aber auch ein bisschen langweilig, wenn man die Dinge schon weiß. Also kann ich dir vielleicht auch dann noch mit der Wäsche helfen, wenn die Schule wieder angefangen hat. Ich muss nachmittags ja nicht üben. Höchstens den anderen Kindern ein bisschen helfen.«

In diesem Moment wurde die Tür zur Waschküche des kleinen Fachwerkhauses geöffnet, und ein schlanker, hochgewachsener Mann linste herein. »Hier seid ihr«, stellte er lächelnd fest.

»Vati!«, rief Lotte und stürmte auf den dunkelhaarigen Mittzwanziger zu, um sich ein Küsschen und eine Umarmung abzuholen. Seine Narbe auf der Wange gab Dr. Fabian Frowein ein etwas verwegenes Aussehen. Lotte wusste, dass dieses Wundmal etwas mit der gemeinsamen Studienzeit des Vaters mit ihrem Patenonkel Hugo zu tun hatte. Für ganz kurze Zeit hatte sie sogar gedacht, er sei es gewesen, der ihrem Vater die Narbe beigebracht hatte, und sich deshalb ein wenig vor ihm gefürchtet. Richtig vorstellen hatte sie sich das bei dem immer freundlichen und etwas schüchternen Hugo allerdings nicht können. Von ihrem Vater wusste Lotte, dass die beiden Chemiker während ihrer Studienzeit in Stuttgart, wo sie sich auch kennengelernt hatten, Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung gewesen waren, des Corps Stauffia. Erst hatte Lotte aus dem Begriff geschlossen, dass man sich dort schlug, bis man blutete – und verbunden werden musste. Sie hatte daraufhin entschieden, selbst niemals studieren zu wollen, wenn das solche Folgen hatte. Doch wissensdurstig, wie sie war, hatte sie schließlich aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters ein Buch stibitzt, in dem es um solche schlagenden Verbindungen ging, und herausgefunden, dass deren Mitglieder auch den Fechtsport ausübten. Dabei konnte man den jeweiligen Gegner durchaus auch einmal verletzen. Die Narbe ihres Vaters an der Wange nannte er selbst Schmiss. Beigebracht hatte ihm den aber nicht Onkel Hugo, sondern irgendein anderer Student, dem Lotte ob dieser Tatsache sehr grollte, obwohl sie ihn gar nicht kannte.

Fabian Frowein begrüßte nun auch seine Mutter mit einem Küsschen auf die Wange. »Und du bist schon wieder so fleißig. Was würden wir nur ohne dich tun?«

Lotte musste ihrem Vater recht geben: Ohne ihre Oma wären sie ganz schön aufgeschmissen!

»Himmel und Äd steht im Ofen«, erläuterte Agathe.

»Danke, Muttchen.« Fabian nickte zufrieden.

»Kannst du dem Vati schon mal aufdecken, Lotte?«, bat Agathe. »Ich komm gleich nach.«

»Ja, Oma«, entgegnete die Enkelin beflissen und eilte ihrem Vater voraus in die Küche, wo sie sich zunächst die Hände mit Seife wusch.

Ihr Patenonkel Hugo hatte vor zwei Jahren eine wissenschaftlich begründete »Methode der Handwäsche« entwickelt, die laut Lottes Vater Anerkennung im In- und Ausland gefunden hatte. Das Mädchen war sehr stolz auf Hugos Idee und hielt sich akribisch an seine Anleitung.

Als sie danach ihrem Vater den kleinen Seifenklotz reichte und zum Ofen ging, fiel ihr etwas ein. »Was gab es eigentlich zuerst?«, wollte sie wissen. »Die Seife zum Händewaschen oder die zum Wäschewaschen?«

»Die zum Händewaschen«, erwiderte ihr Vater, während er selbiges tat. »Wobei man die Seife vielseitig benutzte: Schon vor viertausendfünfhundert Jahren schrieben die Sumerer das erste Rezept für eine Seife auf eine Tontafel, die existiert noch heute. Sie haben damals Öl mit Pottasche vermengt und mit dem Gemisch gewaschen.«

»Pottasche?«

»Ja, man hat sie vermutlich durch das Verbrennen von Dattelpalmen oder Nadelbaumzapfen gewonnen.«

Er setzte sich an den Küchentisch, wo er sich an dem von seiner Mutter zubereiteten und von der Tochter servierten Essen gütlich tat. Lotte selbst hatte die rheinische Spezialität aus Äpfeln, Kartoffeln und Leberwurst mit der Großmutter schon eine Stunde zuvor gegessen. Der Vater kam meist erst gegen ein Uhr mittags dazu, seine Pause zu nehmen, und manchmal fiel diese aufgrund von wichtigen Experimenten ganz aus.

»Pottasche nimmt Oma immer zum Backen von Lebkuchen!«, wunderte sich Lotte. »Und damit haben diese … Sumerer gewaschen?«

Sie schenkte sich ein Glas Apfelsaft ein und setzte sich zu ihrem Vater.

»Ja«, bestätigte er. »Pottasche ist vielseitig einsetzbar. Ein richtiges Wundermittel. Auch die alten Ägypter haben sie zur Reinigung verwendet. Weit weniger eklig als das, womit die alten Römer ihre Wäsche gewaschen haben.«

»Die haben etwas Ekliges zum Wäschewaschen verwendet?«, staunte Lotte. »Was denn?«

»Ich sollte das wohl nicht ausgerechnet beim Essen sagen, aber was soll’s? Es war Pipi«, offenbarte Fabian und blickte dabei ein wenig verlegen drein.

»Pipi?«, rief Lotte angewidert. »Oma hat früher immer meine Stoffwindeln gewaschen, damit das Pipi rausgeht. Und die Römer haben ihre Wäsche in Pipi gewaschen? Das muss ja ganz schön gestunken haben!«

»Na ja. Wenn Urin länger steht, verändert er sich und fängt an zu gären, so wie Bier. Es entwickelt sich Ammoniak, das beißt zwar in der Nase, hilft aber bei Schnupfen, und mit dem kann man schon gut reinigen. Die Römer haben den Urin in öffentlichen Latrinen gesammelt, das waren die Toiletten, die wurden nicht nur in Badehäusern, sondern auch an den wichtigsten Straßenkreuzungen aufgestellt. Dort standen Tongefäße, die sahen aus wie sehr große Vasen. In die haben die Männer dann also gepinkelt, und später hat man mit der Flüssigkeit gewaschen.«

Lotte rümpfte die Nase. »Das ist wirklich eklig«, fand sie.

Fabian lachte. »Und obwohl sie den Urin wiederverwenden konnten, haben sie eine Urinsteuer erhoben.«

»Was ist eine Urinsteuer?«, wollte Lotte wissen.

»Na, wer aufs Klo musste, sollte dem Kaiser etwas dafür geben.«

»Das ist ja frech! Vor allem, weil sie das Pipi dann doch zum Waschen benutzt haben.«

»Tja, so ist das mit den Steuergeldern«, meinte ihr Vater lakonisch. »Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Regel hatte der Kaiser Vespasian erlassen. Dessen Sohn war aber vollkommen gegen diese Steuer, er fand sie sehr übertrieben.«

»Stimmt ja auch!«, bekräftigte Lotte. »Ich glaube, ich mag seinen Sohn mehr als den Kaiser.«

»Die beiden haben wegen der Urinsteuer furchtbar viel gestritten. Und dann wurde Vespasian irgendwann wütend, hielt seinem Sohn das Geld unter die Nase und fragte ihn, ob das Geld stinke. Damit wollte Vespasian seinem Sohn auch klarmachen: Es ist egal, wo das Geld herkommt. Hauptsache, man hat es.«

»Den Spruch hab ich schon öfter gehört: Geld stinkt nicht«, erinnerte sich Lotte. »Jetzt mag ich diesen Vespasian noch weniger. Wer hat damals eigentlich die Vasen mit dem Urin ausgeleert?«

»Da gab es sogar einen richtigen eigenen Beruf, die Urinwäscher oder Fullonen. Und die haben nicht nur die Amphoren geleert, sondern mit dem Urin auch Wäschestücke gereinigt, die man ihnen zum Waschen gebracht hat – wie reiche Familien auch heute noch Wäsche außer Haus geben.«

»Da sind mir die Ägypter und die Sumerer mit der Seife aus Pottasche lieber.«

»Allerdings haben die Sumerer ihre Seife damals nicht für die Reinigung der Hände benutzt, sondern als Heilsalbe«, fuhr Fabian zwischen zwei Bissen fort. »Erst im zweiten Jahrhundert nach Christus verwendeten die Römer sie auch zur Körperreinigung. Das kannst du aber auch noch nicht mit der Seife vergleichen, wie wir sie heute kennen: Die entstand erst im siebten Jahrhundert. Zu der Zeit hatten die Perser und die Araber das größte Wissen. Sie haben Öle gemeinsam mit Salz aus Meerwasser oder Salzseen erhitzt, bis eine ätzende Lauge entstanden ist. Die wurde so lange gekocht, bis das Wasser darin zum größten Teil verdampft war. Manchmal mischten sie gebrannten Kalk dazu, um die Seife noch fester zu machen.«

Lotte nickte. »Und die Leute wurden dann gleich gesünder«, mutmaßte sie. »Oma sagt immer, wenn ich mir die Hände nicht wasche, werde ich krank.«

»Stimmt«, bekräftigte ihr Vater. »Wobei die Menschen im Mittelalter sogar mal dachten, vom Händewaschen werde man krank.«

»Warum denn das?«

Inzwischen war die Großmutter hereingekommen und stellte Fabian ein Bier hin.

»Nachdem die Seife durch Reisende auch in Europa bekannt geworden war, konnten sie sich zunächst nur die Reichen und Adeligen leisten«, fuhr er fort. »Doch nach und nach gab es Seife auch in den öffentlichen Badehäusern. Dort konnte sich die ärmere Bevölkerung waschen, die natürlich kein Bad in ihrem Zuhause hatte. Und als dann im vierzehnten Jahrhundert die Pest ausgebrochen war, dachten die Leute, diese schreckliche Krankheit verbreite sich über das Wasser – da war die Reinigung dann eine ganze Weile lang verpönt.«

Lotte rümpfte die Nase. »Das hat dann sicher gestunken«, vermutete sie.

Ihr Vater und dessen Mutter sahen sich an und lachten. »Ein wenig vielleicht«, sagte Fabian.

»Und warum muss ich mir dann heute die Hände waschen?«, erkundigte sich Lotte interessiert. »Wer hat rausgefunden, dass das Händewaschen doch gesund ist? Oder ist es das gar nicht?« Misstrauisch sah sie ihre Großmutter an.

»Doch, das ist es, mein Kind, glaub mir«, sagte sie.

»Das ist dem französischen König Ludwig XIV. zu verdanken«, ergriff Fabian wieder das Wort. »Der fand Seife nämlich ganz wunderbar. Er holte die allerbesten Seifensieder an seinen Hof und erließ Ende des siebzehnten Jahrhunderts ein Reinheitsgebot.«

»Was ist ein Reinheitsgebot?«, fragte Lotte nach.

»Es bestimmt, aus welchen Bestandteilen man Seife sieden darf. Unter Ludwig XIV. musste sie mindestens zweiundsiebzig Prozent reines Öl enthalten. Und als dann der Chemiker Nicolas Leblanc 1791 ein Verfahren zur künstlichen Herstellung von Soda erfunden hatte, konnte man gleich noch viel mehr Seife herstellen. Sie wurde für alle erschwinglich und tauchte in jedem Haushalt auf«, ergänzte Lottes Vater und legte die Gabel nieder. »Schon Ende des siebzehnten Jahrhunderts, also gut hundert Jahre zuvor, hatte ein Mönch herausgefunden, dass man mit der Seife für die Körperpflege auch Kleider säubern kann. Damit hast du dein Waschmittel.« Er rieb sich zufrieden den Bauch. »Mutti, das war wunderbar.«

Agathe lächelte. »Freut mich, Junge.«

»Man hat für die Hände und für die Wäsche die gleiche Seife genommen?«, vergewisserte sich Lotte. »So wie Oma auf besonders schmutzigen Stellen mit Kernseife rubbelt?«

»Fast«, sagte Fabian. »Nur, dass die Seife für die Hände etwas milder war als Kernseife. Und man hat damals auch noch nichts über die chemischen Vorgänge bei der Seifenherstellung gewusst. Das kam dann erst mit Herrn Leblanc.«

»Ach so«, sagte Lotte und kam jetzt der Großmutter zuvor, die das Geschirr des Vaters hatte abräumen wollen, während dieser fortfuhr: »Rund hundert Jahre hat es von da an gedauert, bis man herausgefunden hat, wie man weiche Kaliseife in feste Natronseife verwandelt.«

»Was ist Kaliseife?«, hakte Lotte nach. »Und was Natronseife?«

»Die Kaliseife wird aus Salzen des chemischen Stoffes Kalium hergestellt. Und die Natronseife aus Salzen des Natriums – eines davon kennst du auch.«

»Welches?«

Fabian grinste. »Was gehört deiner Meinung nach auf jedes Frühstücksei?«

»Salz!«, rief Lotte triumphierend.

»Ganz genau. Und ebendieses Salz ist nichts anderes als Natriumchlorid!«

»Aha. Dann esse ich also Chemie zum Frühstück.«

Sie verzog den Mund, und Mutter und Sohn Frowein lachten. Dann fragte Lotte: »Und seit wann gibt es denn richtiges Waschmittel?«

»Noch gar nicht so lang, erst seit knapp vierzig Jahren.«

Lotte staunte. »Dann war Onkel Hugos Vater der Erste, der Waschmittel erfunden hat? Das ist doch ungefähr so lange her.«

»Er war zumindest einer von den Ersten«, präzisierte Fabian. »Fritz Henkel hat seine Firma 1878 gegründet. Nach der Erfindung seines Universal-Waschmittels entwickelte er sein Bleichsoda. Dadurch gab es zwei Pulver für die große Wäsche. Das Waschen ging damit zwar noch nicht von selbst, wurde aber zumindest viel leichter für die Frauen. Sein Bleichsoda dient der Vorwäsche, das eigentliche Waschen mit dem neuen Universal-Waschpulver findet erst in einem zweiten Waschgang statt.«

»An was arbeitest du denn gerade mit Onkel Hugo?«, fragte Lotte neugierig.

»An etwas besonders Spannendem«, sagte Fabian geheimnisvoll. »Es könnte sein, dass wir deiner Großmutter damit das Leben sehr erleichtern.«

»Das möchte ich sehen! Du hast mir doch letzte Woche versprochen, mich endlich mal wieder mit ins Labor zu nehmen.«

Der Vater seufzte. »Na, dann komm von mir aus gleich nach meiner Mittagspause mit. Dein Patenonkel wird gerade sowieso von einem Herrn vom Düsseldorfer Generalanzeiger befragt. Die Zeitung möchte über Henkel berichten. Hugo soll im Anschluss an das Gespräch auch noch fotografiert werden, wir haben das Labor also sicher eine Weile für uns. Dann kann ich dir gleich alles zeigen.«

»Onkel Hugo kommt in die Zeitung?«, staunte Lotte. »Wie aufregend!«

Kapitel 2

Als Lotte an der Seite ihres Vaters von ihrem windschiefen Fachwerkhäuschen beim Park von Schloss Elbroich in Holthausen zu dessen Arbeitgeber unterwegs war, begegnete ihnen Nachbarsjunge Emil Birnbaum. Er war zwei Jahre älter als das Mädchen; sein Haar war braun, doch die Augen leuchtend blau.

»Grüß dich, Lotte.« Er schien sich zu freuen, die Spielkameradin mal wieder zu sehen, in letzter Zeit waren sie sich nicht mehr so häufig begegnet wie früher. Sie hatte ihre gemeinsamen Spiele geliebt, die abenteuerlichsten Geschichten hatten sie sich miteinander ausgedacht. Doch mittlerweile traf sich Emil zu ihrem Leidwesen lieber mit Jungs zum Fußballspielen. Darum war sie angenehm überrascht, als er jetzt fragte: »Hast du Lust, nachher mal wieder Schatzsuche zu spielen?«

»Heute kann ich nicht«, sagte sie bedauernd. »Ich gehe mit meinem Vater ins Labor.«

Die chemische Forschung mit ihren Experimenten hatte Emil schon immer fasziniert. Wenn Lotte ihm davon erzählt hatte, hatte er stets an ihren Lippen gehangen.

»Das wird bestimmt wieder aufregend«, meinte er.

»Ich kann dir ja morgen Bericht erstatten«, bot sie an, erfreut darüber, dass sein Interesse an der Arbeit im Labor nicht verblasst zu sein schien.

»Au ja!«, rief er enthusiastisch.

Lotte war ein wenig stolz, durch ihren Patenonkel Dr. Hugo Henkel und ihren Vater zu dieser aufregenden Welt zu gehören. Das Werk war durch seine riesigen rauchenden Schornsteine schon von Weitem zu sehen. Es gab dort eine Dampfmaschine und Elektrizität, alles war in jeder Hinsicht auf dem allerneuesten Stand.

Wie immer, wenn Lotte das riesige Firmengelände in Holthausen betrat, war sie auch an diesem Tag wieder ganz beeindruckt von dessen Größe. Für die Achtjährige war es ein wenig, wie nach Hause zu kommen: Viele der über dreihundert Werksangehörigen kannten und mochten das Mädchen.

»Tagchen, Lotte, da bist du ja endlich mal wieder«, begrüßte sie denn auch gleich der Pförtner, ein in ihren Augen uralter Mann mit schlohweißem Haar und blitzenden blauen Äuglein. »Ich hab schon gedacht, du hast den alten Herrn Meierloh vergessen! So lang warst du nicht mehr hier.«

Lotte trat an das Fenster der Pförtnerloge heran. »Ich würde Sie nie vergessen, lieber Herr Meierloh«, versicherte sie. »Nicht nach den vielen guten Karamellbonbons, die Sie mir geschenkt haben.«

Herr Meierloh stieß ein wieherndes Lachen aus. »Und jetzt hättest du wohl auch gern ein paar davon, nicht wahr?«

»Stimmt«, gab Lotte zu.

Mit Blick auf den grinsenden Dr. Frowein meinte der Pförtner: »Da musst du aber erst den Vati um Erlaubnis fragen. Du weißt ja, zu viel Süßigkeiten sind …«

»… schädlich für die Zähne«, vollendete Lotte seufzend seinen Satz und sah zu ihrem Vater auf. »Darf ich, Vati?«

»Du darfst.«

Sie beobachtete zufrieden, wie Herr Meierloh sich umdrehte, das große Deckelglas herbeizog und es Lotte auffordernd hinhielt. »Greif nur ordentlich zu! Ich werde mir auch eins gönnen«, sagte er verschwörerisch und schob sich ebenfalls ein Bonbon in den Mund. »Darfst mich aber nicht bei meiner Anneliese verraten.«

»Versprochen.« Kauend und mit vollen Backen nickten sie einander zum Abschied zu.

Lotte kannte und mochte Frau Meierloh ausgesprochen gern, und sie wusste auch, dass die Frau des Pförtners gar nicht so streng war, wie diese immer tat: Auch Anneliese Meierloh hatte Lotte schon häufiger Naschzeug zugesteckt und dabei gemahnt, ihr Mann dürfe nichts davon erfahren.

Als Vater und Tochter Frowein das imposante Foyer des Gebäudes betraten, erblickte Lotte erfreut ihren Taufpaten Dr. Hugo Henkel. Der Sechsundzwanzigjährige war ein immer etwas schüchtern wirkender Hüne mit blauen Augen und Nickelbrille. Sein dunkelblondes Haar trug er mit Pomade streng nach hinten gekämmt. Das betonte sein kantiges Gesicht. Im Augenblick saß er einem rundlichen Herrn mit Notizblock in der Hand gegenüber – das musste der Journalist sein. Auf dem Tischchen vor ihnen standen eine Kanne Tee und zwei gefüllte Tassen.

»Ich muss da ganz kurz zuhören, Vati.« Ohne Fabian Gelegenheit zu geben, dagegen zu protestieren, eilte seine Tochter hinter eine große Topfpflanze, um unbemerkt lauschen zu können.

»Herr Dr. Henkel, Sie sind am 25. April 1905 ins väterliche Unternehmen eingestiegen – nach Ihrer Dissertation an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Ist das korrekt?«, vergewisserte sich der Zeitungsmann.

»Vollkommen«, entgegnete Hugo.

»Verraten Sie unseren Lesern Ihr Thema?«

Der Chemiker zögerte, und Lotte musste an sich halten, nicht zu kichern. Sie wusste schon, dass es jetzt kompliziert werden würde – wie so oft bei Onkel Hugo.

»Es ging um Beiträge zur Kenntnis der physikalisch-chemischen Eigenschaften verdünnter Glyzerinlösungen und zur Analyse derselben.«

Wie erwartet wirkte der Journalist etwas überfordert.

»Und Ihr Vater hat Ihnen dann nach der Promotion hier ein Laboratorium eingerichtet?«

Hugo nickte. »Das war der Beginn der systematischen Forschung bei Henkel. Seither werden bei uns Rohstoffe, chemische Produkte und Fertigfabrikate einer analytischen Kontrolle unterzogen. Aber ich mache das nicht allein. Dass ich gleich nach der Promotion im Familienbetrieb bleibe, war der ausdrückliche Wunsch meines Vaters; ich hätte mir gern noch woanders die Forscherhörner abgestoßen. Wir haben dann einen Handel gemacht: Ich komme direkt in die Firma und darf im Gegenzug meine Studienfreunde Dr. Fabian Frowein und Dr. Hermann Weber als Partner mit ins Labor nehmen. Mein Vater hat sofort zugestimmt, die beiden sind nämlich hervorragende Chemiker und eine unverzichtbare Stütze bei Henkel!«

Lotte wurde durch das Lob für ihren Vater von großem Stolz erfüllt. Der Journalist nippte an seiner Tasse und gab ein anerkennendes Geräusch von sich. »›Henkel’s Thee‹ kann es wirklich mit den besten der Welt aufnehmen.«

Da ihre Oma ihn auch gern trank, wusste Lotte, dass Onkel Hugos Familie nicht nur Waschsoda, sondern auch Deutschlands ersten Markentee verkaufte. Er war in dekorativen Dosen abgepackt, die das Mädchen besonders liebte. Immer wenn eine leer war, bettelte sie diese ihrer Großmutter ab, um darin ihre kleinen Schätze aufzubewahren. Ganze drei Dosen nannte Lotte schon ihr Eigen. Onkel Hugo hatte ihr einmal erklärt, warum diese Art der Verpackung gewählt worden war. Fritz Henkel hatte erkannt, dass der lose Tee häufig ungünstig gelagert wurde und dadurch rasch sein Aroma verlor. Mit den hübschen Dosen hatte er das Problem gelöst. Der Tee war luftdicht verpackt und blieb dadurch aromatisch.

»Sprechen wir ein wenig von Ihrem Herrn Vater, Fritz Henkel«, schlug der Journalist vor.

Lotte hatte großen Respekt vor Hugos Vater, dem hochgewachsenen Patriarchen mit seinem dunklen Bart, dem sie bereits einige Male begegnet war.

»Er hat 1876, also vor über dreißig Jahren, die Firma Henkel & Cie. gegründet, aus der das Unternehmen Henkel entstanden ist – damals noch in der Nähe von Aachen.«

Lotte wusste von Hugo, dass Fritz Henkel seinerzeit zwei Kompagnons gehabt hatte, die beide Otto mit Vornamen hießen. Das Mädchen fand das deshalb so faszinierend, weil man Otto sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen konnte. Die Nachnamen hatte sie längst wieder vergessen, die spielten auch sowieso beide keine Rolle mehr.

Woran sich Lotte aber erinnerte, war, dass die beiden Ottos im Jahr vor der Firmengründung Fritz Henkels in der Nähe von Aachen eine der ersten deutschen Wasserglasfabriken gegründet hatten: die Rheinische Wasserglasfabrik in Herzogenrath. Durch sie hatte Fritz Henkel das Wasserglas bezogen, das er für sein Waschmittel brauchte. Von ihrem Vater wusste Lotte, dass dieser Wirkstoff nichts mit einem Glas Wasser zu tun hatte, sondern eine Chemikalie war, eine farblose Lösung von sogenannten Alkalisilikaten. Sie war sehr stolz, dass sie als Achtjährige sich dieses Wort hatte merken können! Fritz Henkel und seine Mitstreiter hatten die Idee mit Wasserglas als Reinigungswirkstoff in Erzählungen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg aufgeschnappt. In jener Zeit war es bereits als Ersatz für Seife genutzt worden. Man konnte sich damit also vermutlich auch die Hände waschen.

»Ja, in Aachen hat mein Vater eine Fabrik mit angrenzendem Wohngebäude erworben und dort mit der Herstellung seines Universal-Waschmittels begonnen«, bestätigte Hugo. »Er hat es in 200-Gramm-Paketen zu je zehn Pfennig verkauft. Schon kurz darauf hatte er sein Bleichsoda entwickelt und war so erfolgreich damit, dass ihm die Räumlichkeiten in Aachen nicht mehr ausgereicht haben. Deshalb ist er mit seinem Unternehmen nach Düsseldorf gezogen.«

Der Journalist sah lächelnd von seinem Notizbuch auf, in das er geschrieben hatte. »Eine gute Wahl«, meinte er. »Die ehemals kurfürstliche Residenzstadt ist ja nicht nur repräsentativ, sie hat vor allem auch einen Rheinhafen und einen Eisenbahnknotenpunkt.«

Hugo bejahte schmunzelnd. Er hatte Lotte hinter der Pflanze entdeckt und zwinkerte ihr zu. Dem Mann vom Generalanzeiger erklärte er: »Aber auch in Düsseldorf war der Platz schnell zu klein geworden, deshalb hat er vor sieben Jahren das Grundstück hier in Holthausen gekauft. Nach und nach sind dann die Wasserglasfabrik, die Bleichsodaproduktion, ein Kessel- und Maschinenhaus und ein Bürogebäude entstanden.«

»Und dann gibt es da ja noch die prachtvolle Villa, in der Ihre werte Familie lebt«, ergänzte der Journalist mit wissendem Grinsen.

Lotte war schon einmal dort gewesen, und es war derart fein zugegangen, dass die sonst so aufgeweckte und selbstbewusste Chemikertochter vollkommen eingeschüchtert gewesen war.

In diesem Augenblick bemerkte sie den Fotografen, der seine Aufnahmen von Dr. Hugo Henkel vorbereitete. Neugierig verließ sie ihr Versteck, um sich den Fotoapparat etwas näher anzusehen. Sie selbst war noch nie fotografiert worden, aber sie war völlig fasziniert von dieser Kunst, die den Augenblick festhalten konnte.

Da hörte sie hinter sich die Stimme ihres Vaters. »Komm jetzt, Kleines, genug gelauscht. Ich will dir zeigen, wie wir Omas Leben und das aller anderen Hausfrauen revolutionieren werden.«

Während sie neben ihrem Vater in Richtung Labor ging, meinte Lotte: »Ich fände es wunderbar, wenn Oma in Zukunft nicht mehr so viel Mühe mit der Wäsche hätte. Ist das neue Wundermittel denn schon fertig?«

»Wir arbeiten noch daran. Aber Hugo ist auch auf eine Maschine gestoßen, die die Wäscherei sehr erleichtern könnte.«

»Und wie sieht die aus?«

»Schau her, das ist sie«, sagte ihr Vater, als sie in diesem Moment sein Labor betraten. Er deutete auf ein seltsames Gebilde mit einer Kurbel an der Seite.

»Was ist das?«, erkundigte sich Lotte fasziniert.

»Eine Hilfswaschmaschine. Die Hausfrau kocht die Wäsche wie gehabt in einem großen Kessel, unter dem ein Feuer brennt, und lädt sie dann in diese Maschine hier um.« Er zeigte auf das Holzgestell. »Und dann setzt man die Wäsche in der Trommel mit der Kurbel in Bewegung.«

Er machte es dem Mädchen vor, und Lotte staunte.

»Darf ich auch mal?«, fragte sie.

Ihr Vater nickte. »Jetzt kannst du sie auch noch bewegen; wenn allerdings erst mal die Wäsche und die Lauge drin sind, dann ist es natürlich viel schwerer.«

»Aber was hat Oma denn dann davon?«, fragte Lotte ratlos. »Das ist doch dann mindestens genauso anstrengend wie das Rubbeln auf dem Waschbrett.«

»Na, ich hoffe schon, dass es die Arbeit erleichtert«, sagte Fabian. »Die Maschine haben wir auch gar nicht selbst erfunden. Wir kümmern uns lieber um das Waschpulver.«

Lotte hatte inzwischen eines der kleinen braunen Tütchen entdeckt, wie es auch bei ihnen zu Hause im Regal stand. »Henkel’s Bleich-Soda«, las sie vor. »Spart bedeutend Seife, macht die Wäsche blendend weiß.« Sie schaute sich genau an, was da gedruckt war, und kam dann zu der Stelle, an der stand: »Greift Hände und Wäsche nicht an. Löst sich in Wasser sehr rasch, sollte deshalb in keiner Haushaltung fehlen.«

»Du kannst wirklich schon sehr gut lesen«, lobte Fabian.

»Aber Omas Hände sind immer schrumpelig, wenn sie die Wäsche macht. Stimmt das denn nicht, was hier steht?«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte ihr Vater lachend. »Die Oma benutzt das Bleichsoda wahrscheinlich nur, um die weiße Wäsche vorzubehandeln. Das hübsche Kleidchen, das du da heute trägst, hat ja ein Muster. Und das würde dann auch mit ausbleichen.«

Plötzlich hörten sie ein Geräusch aus einem Nebenraum des Laboratoriums.

»Hermann, bist du das?«, rief Fabian nach seinem Kollegen.

Dann ging alles furchtbar schnell, und Lotte erschrak auf das Heftigste. Ein dürrer rothaariger Mann mit Mütze und in einem abgetragenen Anzug versuchte, an ihnen vorbei zur Bürotür zu stürmen. Lottes Vater reagierte blitzschnell und packte den Schlaksigen fest am Arm, sodass ihm Dutzende von vollgeschriebenen Papierblättern zu Boden fielen.

»Walter!«, erkannte Fabian wütend. »Du hast Hausverbot, verdammt!«

Lotte bemerkte, dass der Mann, der vergebens versuchte, sich aus dem eisernen Griff ihres Vaters zu befreien, Sommersprossen und verschiedenfarbige Augen hatte: Das linke war grün, das rechte braun. Er sah verschwitzt und verzweifelt aus, auf seinem kupferfarbenen Haar saß etwas schief eine Schiffermütze, auf der eine kleine Schweizer Fahne prangte. Als Fabian entdeckte, was auf den Papieren stand, die da über den Boden verteilt lagen, wurde er noch wütender. »Das darf ja wohl nicht wahr sein! Du wolltest unsere Forschungsnotizen stehlen!«

»Unsinn«, sagte Walter.

Lotte spürte, dass dieser Mann log.

»Du verschwindest jetzt und lässt dich nie mehr hier blicken«, erwiderte ihr Vater streng. »Beim nächsten Mal rufe ich die Polizei, das schwöre ich dir.«

»Ihr habt mein Leben ruiniert!«, rief der Schlaksige, und als er an Lotte vorbeiging, um das Labor zu verlassen, nahm sie Alkoholgeruch wahr.

»War das der Mann, den Onkel Hugo rauswerfen musste, weil der ständig betrunken war?«, fiel ihr in diesem Augenblick etwas wieder ein, das ihr Vater der Großmutter neulich beim Abendessen erzählt hatte.

»Ja«, bestätigte der Vater seufzend, während er die Blätter vom Boden aufsammelte. »Das war Walter Sevelog. Er kam kurz nach Hermann und mir als vierter Chemiker ins Haus. Leider trinkt er so viel, dass Onkel Hugo ihn nach mehreren Ermahnungen entlassen musste.«

»Warum hatte der Mann eine Schiffermütze auf?«, wunderte sich Lotte. »Und wieso war die Schweizer Fahne drauf? Kommt er von da?«

»Das nicht, aber angeblich hat er als Kind seine schönsten Ferien auf der Schweizer Seite des Bodensees verbracht«, antwortete ihr Vater. »Die Mütze passt irgendwie zu dem schrägen Vogel.«

»Guten Tag, du kleine Lauscherin«, erklang in diesem Augenblick eine angenehme Männerstimme aus Richtung Labortür.

»Onkel Hugo!«, erkannte Lotte strahlend und lief zu ihrem Patenonkel. »Endlich sehen wir uns mal wieder.«

Hugo beugte sich vor und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe jeden Tag darauf gewartet, dass du deinen Vater und mich mal wieder im Labor besuchst. Schön, dass es endlich geklappt hat.«

»Wir haben gerade den Unglücksraben Sevelog erwischt, wie er unsere Labornotizen mopsen wollte«, berichtete Fabian seinem Arbeitgeber.

»Was? Wie ist der denn hier reingekommen?«, erboste sich Hugo. »Da werde ich mal ein ernstes Wörtchen mit dem alten Meierloh reden müssen und ihn an Sevelogs Hausverbot erinnern.«

»Ich denke, der Meierloh kann gar nichts dafür«, mutmaßte zu Lottes Erleichterung ihr Vater. »Walter wird sich mit den ganzen Zeitungsleuten reingeschlichen haben.«

Um weiter von den Vorwürfen gegen ihren lieben Herrn Meierloh abzulenken, fragte das Mädchen hastig: »Wie war es mit dem Fotografen, Onkel Hugo?«

»Kurz und schmerzlos. Er hatte wahrscheinlich schon schönere Motive vor der Linse.«

»Vati hat mir gerade erzählt, dass du ein Pulver erfinden willst, mit dem meine Oma auch Kleidchen mit Muster waschen kann – ohne dass ihre Hände schrumpelig werden.«

Hugo lachte. »Ganz genau. Und ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir es wirklich haben.«

Lotte fand das unfassbar aufregend. »Was ist es denn?«

»Das ist etwas kompliziert zu erklären«, sagte Hugo.

»Ich bin doch nicht dumm!«, beeilte sich Lotte zu betonen. »Vati ist ja auch Chemiker, der hat mir viel beigebracht.«

»Das weiß ich doch.« Hugo schmunzelte seinem Freund zu. »Und dumm bist du ganz gewiss nicht. Wir zeigen es dir.«

Er führte sie durch eine weitere Tür in einen Raum, wo ein Chemiker an einem Mikroskop saß. Lotte kannte den Achtundzwanzigjährigen bereits. »Guten Tag, Herr Dr. Weber!«

Der Forscher hob den Kopf und wandte sich ihr lächelnd zu. »Lotte! Das ist aber eine schöne Überraschung!«

Das Mädchen nickte ernst. »Onkel Hugo hat mir erzählt, dass ihr an etwas forscht, das meiner Oma beim Waschen hilft. Damit sie nicht mehr so schrumpelige Hände hat.«

Dr. Weber lachte. »Das hoffe ich doch.«

»Und was ist das?«

»Es heißt Natriumperborat«, antwortete der Kollege ihres Vaters bereitwillig. »Zusammen mit dem Natriumsilikat, das ist das Wasserglas, das Fritz Henkel senior früher verkauft und damit seine Firma gegründet hat, sowie Soda und Seife entsteht eine Mischung, die dafür sorgt, dass die Wäsche ganz von selbst sauber wird. Ohne dass deine Oma sie auf dem Waschbrett reiben muss.«

Lotte machte große Augen. »Und das funktioniert wirklich?«

»Wir hoffen es sehr«, sagte ihr Patenonkel. »Wenn deine Oma die Wäsche kocht, wird durch das Perborat Sauerstoff frei, der sie reinigt.«

»Und wofür ist das Wasserglas dann gut?«

»Das Silikat sorgt dafür, dass das Perborat nicht zu schnell, sondern langsam abgegeben wird. Dadurch wird die Wäsche geschont.«

»Das muss ich Oma erzählen«, freute sich Lotte. »Sie ist bestimmt begeistert.«

Kapitel 3

Emmy Lüps, geborene Henkel, entschied sich spontan, einen kleinen Umweg zu machen. Die Zweiundzwanzigjährige war nach Düsseldorf gefahren, um die Kunsthalle zu besuchen und einige Einkäufe zu erledigen. Nun bat sie den Chauffeur – ihr technikbegeisterter Vater Fritz besaß mehrere Automobile –, sie in die Gerresheimer Straße zu kutschieren, wo sich ein großer Teil ihrer Kindheit abgespielt hatte. Die Fabrik hatte sich hier befunden, bevor das Unternehmen 1899 nach Holthausen umgezogen war, das damals rund sechshundert Einwohner hatte. In jener Zeit hatte Emmys Mutter noch gelebt und mit ihren drei Kindern häufig ihren Mann bei der Arbeit besucht.

Als der Chauffeur vor den leer stehenden Firmengebäuden hielt, stutzte Emmy. War das nicht ihr Vater, der da vorne direkt hinter dem Eingangstor stand und an der Fassade emporblickte? Tatsächlich! Der dunkle Vollbart, der Gehrock, der Zylinder, das war unverkennbar Firmengründer Fritz Henkel. Er war offenbar tief in Gedanken versunken und bemerkte nicht, dass seine Tochter zu ihm trat. Und so zuckte er erschrocken zusammen, als sie ihm von hinten die Hand auf die Schulter legte. »Papa!«

Erstaunt sah er sie an. »Emmy! Was machst du denn hier?«

Sie lächelte. »Ein wenig in Erinnerungen schwelgen. Und du?«

»Genau das Gleiche«, gestand er. »Ich komme manchmal hierher – um darüber nachzudenken, wie alles angefangen hat. Und was wir seitdem erreicht haben.«

»Aber hier hat doch eigentlich nicht alles begonnen, sondern in Aachen?«, korrigierte Emmy ihren Vater lächelnd. »Wenn, dann begannen hier die Düsseldorfer Jahre.«

»Nicht einmal das.« Der Patriarch legte den Arm um seine Tochter. »Bevor wir dieses Werk hier gebaut haben, waren wir in Flingern draußen.«

»Wirklich? Davon wusste ich ja gar nichts.«

»Wirklich. In der Schützenstraße.«

»Und warum ist die Firma dort nicht geblieben?«, fragte Emmy, hob aber gleich darauf die Hand und sagte: »Halt, lass mich raten. Es war der gleiche Grund wie für alle bisherigen Umzüge: zu klein.«

»Richtig. Das Grundstück hatte nicht einmal tausend Quadratmeter. Und wie in Aachen gab es auch hier keine Anbindung an die Eisenbahn, das hat den Transport der Ware sehr mühsam gemacht. Und ja. Dort habe ich mit der Herstellung des Bleichsodas aus Wasserglas und Soda begonnen. Zu zehn Pfennig das halbe Kilo hab ich es verkauft, und was soll ich sagen: Es war gleich ein voller Erfolg, weil …«

»… weil sich damit Vergilbungen der Wäsche entfernen lassen, die durch den Eisengehalt des Brauchwassers auftreten, ich weiß«, fiel ihm Emmy lächelnd ins Wort. Diese Geschichte hatte sie sicherlich schon hundertmal gehört. »Und der Berner Gemischtwarenhändler Franz Rudolf Maurer hat im selben Jahr mit zweihundert Pfund Universal-Waschmittel und zweihundert Paketen Henkel’s Bleich-Soda die erste richtig große Bestellung aufgegeben. Aber ich dachte eben, all das habe sich hier ereignet.«

»Nein«, erwiderte ihr Vater. »Hierher sind wir erst 1880 gekommen.«

»Vier Jahre vor meiner Geburt«, stellte Emmy fest. »Kein Wunder, dass ich von dem anderen Standort nichts wusste.«

»Er hat ja auch wirklich keine Rolle mehr gespielt. Im Vergleich zu diesem Gelände mit seinen erst dreitausendfünfhundert und dann sechstausendsiebenhundertdreißig Quadratmetern ist es wirklich winzig gewesen.«

»Und dann wurde auch das zu klein«, sagte Emmy versonnen. »Du warst wirklich immer sehr wagemutig.«

»Danke, mein Mädchen«, entgegnete Fritz Henkel. »Es hat sich stets eines aus dem anderen ergeben. Und dann habe ich natürlich auch das Glück, dass deine beiden Brüder in meine Fußstapfen treten. Dass Hugo sogar Chemiker geworden ist …«

»Es ist schon unglaublich, dass du als Nicht-Chemiker mit der Erfindung von Waschmitteln derart erfolgreich sein kannst«, fand seine Tochter. »Und ich weiß auch, weshalb.«

»Jetzt bin ich gespannt.« Fragend sah Fritz Henkel seine Tochter an.

»Du wusstest von Anfang an, wie wichtig Reklame ist«, sagte Emmy. »Genial war ja, dass du die Waschmittel verpackt und nicht lose angeboten hast. Und die Werbung dann gleich auf den Verpackungen gedruckt haben wolltest. Der Löwenkopf und unser Name …«

»Ja, das war keine ganz schlechte Idee«, räumte Fritz Henkel schmunzelnd ein. »Und das Schöne ist, dass dies alles weiter bestehen wird, wenn ich eines Tages nicht mehr bin.«

Emmy hasste es, wenn ihr agiler Vater davon sprach, dass er irgendwann nicht mehr unter ihnen weilen würde. Sie wusste ja, wie schmerzhaft es war, einen Elternteil zu verlieren, ihre Mutter war bei deren Tod erst zweiundfünfzig Jahre alt gewesen. Andererseits verstand sie, dass Fritz Henkel senior dafür Sorge tragen wollte, dass sein Lebenswerk auch über sein Ableben hinaus gedeihen würde.

»Das wird dank deiner Brüder gelingen«, präzisierte der Patriarch nun. »Hugo ist Chemiker geworden und lebt damit meinen Jugendtraum. Und Fritz hat mein kaufmännisches Talent und meinen Sinn für die Reklame geerbt.«

Es versetzte Emmy einen leichten Stich, dass ihr Vater wieder einmal nur seine Söhne erwähnte. War sie denn niemand? Sie war sein Augapfel, gewiss, aber eben auch »nur« eine Frau.

»Vati, du hast nicht nur Söhne, sondern auch eine Tochter.«

»Wie?« Verwirrt sah er sie von der Seite an. »Aber das weiß ich doch.«

»Ich würde auch gern in der Firma mitarbeiten«, platzte Emmy heraus. »Und ich finde es ungerecht, dass Fritz und Hugo das dürfen, ich aber nicht. Gerade weil die Reklame so wichtig ist. Du weißt, wie sehr ich mich dafür interessiere.«

»Aber mein liebes Kind!« Fritz Henkel wandte sich ihr zu und strich ihr sacht über die Wange. »Mit all dem musst du dich nicht auch noch belasten. Du hast doch deinen Mann und die beiden Kinder.«

Emmy liebte ihre zweieinhalbjährige Ellen und den kleinen Werner, der im Mai des vorangegangenen Jahres das Licht der Welt erblickt hatte. Doch warum sollte sie nicht Familie und Beruf haben können?

»Fritz hat auch Frau und Kind, und wenn Hugo diese Bildhauertochter heiratet, hat er sicher ebenfalls bald Nachwuchs«, argumentierte sie. »Die dürfen trotzdem in der Firma mitwirken. Außerdem gibt es viele Frauen bei Henkel. Und damit meine ich nicht nur die Arbeiterinnen in den Abfüllanlagen. Ich weiß genau, dass schon vor zwölf Jahren eine Bürodame bei uns eingestellt wurde. Ihr habt immer erzählt, wie aufgeregt sie war, weil wir einen der ersten Fernsprecher hatten.«

»Richtig!« Fritz Henkel griff das Thema Telefon gerne auf, wohl in der Hoffnung, seine Tochter damit von der leidigen Diskussion um ihre Mitarbeit in der Firma ablenken zu können. »1884 haben wir durch einen Vertrag mit der Kaiserlichen Oberpostdirektion zu Düsseldorf einen Anschluss an das Düsseldorfer Fernsprechnetz bekommen. Nummer zweiundsiebzig. Und heute haben wir gleich mehrere.«

Emmy ließ nicht locker. »Das gilt nicht nur für die Telefonapparate, sondern auch für die Bürodamen.«

»Was meinst du?«, fragte Fritz Henkel irritiert.

»Dass wir mehrere haben«, präzisierte Emmy.

Verblüfft sah Fritz Henkel seine Tochter an. »Du willst als Schreibkraft bei uns anfangen? Aber das ist doch wirklich unter deinem Stand.«

»Nein, Vater, ich will nicht als Schreibkraft anfangen. Im Übrigen haben wir nicht nur weibliche Schreibkräfte, sondern auch weibliche Meisterinnen. Aber wie ich schon sagte, interessiere ich mich sehr für die Reklame. Ich könnte Fritz unterstützen. Und wie du weißt, spreche ich fließend Englisch und Französisch. Das kann von Nutzen sein, weil wir doch seit zehn Jahren auch in London eine Verkaufsniederlassung haben.«

Emmy liebte die englische Hauptstadt, in der sie vor vier Jahren nach ihrem besonderen Wunsch auf Hochzeitsreise gewesen war – vor allem, weil es dort eine Gruppe von Engländerinnen gab, die sich sehr für die Rechte der Frauen einsetzten. Auch sie fand, dass genau dies dringend nötig war. Frauen sollten frei über ihr Leben entscheiden dürfen!

Ihr Vater seufzte. »Also gut, ich denk mal darüber nach. Aber ich muss dringend in die Firma, da gibt es viel zu tun.«

Emmy lächelte. »Meine Rede.«

***

Wie von Lotte erwartet war ihre Großmutter begeistert, als sie die neue Erfindung aus dem Hause Henkel einige Wochen später erstmals ausprobieren durfte.

»So sauber war meine Wäsche noch nie!«, fand sie und betrachtete beglückt Lottes weißes Sommerkleidchen, das in der Sonne auf der Wäscheleine hing. »Es hatte ja schon einen richtigen Grauschleier bekommen, den ich auch mit dem Bleichsoda und ganz viel Rubbeln nicht wegbekommen habe. Und jetzt ist es wieder …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »blütenweiß! Es ist ein Traum.«

»Ein blütenweißer Traum«, fasste Lotte lächelnd zusammen.

Agathe Frowein nickte begeistert. »Außerdem ist es so viel schonender für die Wäsche. Das viele Reiben auf dem Scheuerbrett hat dem empfindlichen Stoff des Kleidchens gar nicht gutgetan.«

Sie lächelte ihre Enkelin an. »Das Bleichen in der Sonne kann trotzdem nicht schaden. Mit dieser Tradition werde ich nicht brechen. Schon als dein Vater noch klein war, habe ich im Fluss gewaschen und die Wäschestücke dann zum Bleichen in die Sonne gelegt. Das war herrlich! Meine Freundinnen haben auch an diesen Tagen gewaschen, und alle haben ihre Kinder mitgebracht. Und jede hatte etwas Leckeres zum Essen dabei. Das haben wir dann geteilt, während die Wäsche in der Sonne trocknete und die Kinder miteinander gespielt haben.«

Lotte lachte. »Dann habt ihr blaugemacht, und die Wäsche ist weiß geworden.«

»So ähnlich ist die Redewendung blaumachen auch wirklich entstanden«, behauptete ihre Großmutter. »Blaue Stoffe wurden mit Färberwaid eingefärbt, das wurde seit dem neunten Jahrhundert vor allem im heutigen Thüringen angebaut. Nach der Ernte hat man die Waidblätter gereinigt, getrocknet und gemahlen. In der Waidmühle war ein von Zugtieren gedrehtes Mühlrad. Da ist eine breiartige Masse entstanden, die haben die Frauen und Kinder dann zu faustgroßen Bällen geformt.«

»Die Kinder mussten mitarbeiten?«, hakte Lotte nach.

»Ja. Das ist in vielen Familien auch heute noch so. Dass Kinder zur Schule gehen, ist ganz und gar nicht selbstverständlich.«

Lotte hatte Mitleid mit den Kindern, die keinen Unterricht bekamen.

»Und was haben die Kugeln mit dem Blaumachen zu tun?«, fragte sie.

»Na ja, blaumachen durften dann nicht die Kinder und auch nicht die Frauen, sondern die Männer. Die hatten nämlich die Aufgabe, die Stoffe blau einzufärben. Es war aber nicht genug, den Stoff einfach mit Farbkugeln ins Wasser zu legen, weil sich der Farbstoff nämlich gar nicht von allein im Wasser auflöst. Um einen blauen Stoff zu erhalten, brauchte es noch weitere Zutaten: Sonne, Alkohol und Zeit. Und«, die Großmutter räusperte sich und nuschelte dann: »Und Pipi.«

»Schon wieder?«, seufzte ihre Enkelin.

»Ja, aber es gibt einen Unterschied: Für das Blaufärben der Stoffe brauchte man möglichst alkoholhaltigen Urin, während sich alkoholhaltiger Urin zum Waschen eher nicht eignete.«

»Warum denn das?«, fragte Lotte.

Agathe zuckte die Achseln. »Das weiß ich leider nicht, da musst du deinen Vater fragen.«

»Ist ja auch nicht so wichtig«, sagte Lotte. »Viel interessanter finde ich immer noch die Frage, wie der Spruch mit dem Blaumachen entstanden ist. Denn Pause gemacht haben die Männer ja nicht.«

»Doch«, widersprach ihre Großmutter. »Wenn die Männer die Stoffe aus der Brühe holten, waren sie einfach nur braun. Erst wenn sie eine Weile in der Sonne hingen, färbten sie sich blau, weil durch den Sauerstoff in der Luft eine chemische Reaktion einsetzte. Und damit das passierte, mussten sie warten.«

»Jetzt verstehe ich das!«, freute sich Lotte. »Und während sie warteten, konnten sie nichts tun und haben blaugemacht.«

»Ganz genau«, bekräftigte Agathe.

»Wenn es nur ums Warten geht, hätte das Sprichwort doch auch Weißmachen sein können«, meinte Lotte. »Dann würde es auf die Frauen zurückgehen. Ich finde, wenn wir Zeit haben, sagen wir in Zukunft immer Weißmachen.«

Die Großmutter lachte auf. »Wenn du magst.«

»Können wir auch mal ein Kleid von mir blau färben?«, fragte Lotte. »Mit meinem Pipi? Ich ekle mich zwar bestimmt, aber wenn es mein Pipi ist, ist es vielleicht nicht so schlimm, und es ist auf jeden Fall sehr spannend.«

Ihre Großmutter lachte erneut, schüttelte aber den Kopf. »Na, ich hoffe doch, dass dein Pipi keinen Alkohol enthält. Und den braucht man nun mal, damit die Stoffe wirklich blau werden.«

»Man könnte Vatis Pipi nehmen, wenn er vorher einen Wein getrunken hat. Aber ich glaube, das fände ich auch eklig. Außerdem hast du gesagt, dass es noch einen anderen Grund gibt?«

»Ja. Die Blaufärberei auf diese Weise war bereits ein Handwerk im Mittelalter. Ende des siebzehnten oder Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gelang es, die Indigopflanze hierherzubringen. Die kam schon in vorchristlicher Zeit in Indien, Ostasien und Ägypten vor – und ihr Farbgehalt war viel intensiver als der von den Waidpflanzen.«

»Weil sie so viel intensiver ist, hat man nur noch damit gefärbt?«, vermutete Lotte.

Ihre Großmutter nickte. »Ganz genau. Die Waidbauern konnten dadurch ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Und inzwischen wird dieses Indigo auch künstlich hergestellt. Ein Chemiker namens Adolf von Baeyer hat das geschafft.«

»Was du alles weißt …«, staunte Lotte.

Ihre Großmutter lächelte liebevoll. »Das bleibt nicht aus, wenn man einen Sohn hat, an dem ein Chemielehrer verloren gegangen ist. Er bewundert Adolf von Baeyer sehr.«

»Das verstehe ich«, sagte Lotte.

Sie fragte sich, ob das neue Waschmittel aus dem Labor ihres Patenonkels es wirklich schaffen würde, die Farben der Wäsche zu schonen.

Kapitel 4

Nicht nur Agathe Frowein war begeistert: Alle, die das neue Waschpulver ausprobierten, waren völlig aus dem Häuschen.

»Ich denke, das wird unser Durchbruch«, sagte Hugo, als er sich nach getaner Arbeit seinen Kittel auszog. »Der endgültige Durchbruch, meine ich.«

»Das glaube ich auch«, bekräftigte Fabian zufrieden. »Wie wäre es noch mit einem Feierabendbier? Oder bist du mit Gerda verabredet?«

Hugo machte seit einigen Monaten der Bildhauertochter Gerda Janssen den Hof, die er noch aus der Schule kannte. Nachdem er sich zunächst nicht einmal getraut hatte, seinem besten Freund von seiner Verliebtheit zu erzählen, hatte dieser ihm so lange gut zugeredet, bis Hugo es gewagt hatte, die lebhafte Schwarzhaarige zu einem Abendessen einzuladen. Und da hatte sie ihm gestanden, dass sie schon seit einer Weile für ihn schwärme. Der überglückliche Hugo hatte gar nicht gewusst, wie ihm geschah, und ging seither wie auf Wolken. Und schließlich hatte er ihr die Frage aller Fragen gestellt.

Jetzt schüttelte er lächelnd den Kopf. »Nein. Gerda kann heute Abend nicht.«

»Oha, und warum nicht? Oder besser: Warum freust du dich darüber so?«

»Sie möchte ihre beste Freundin besuchen. Die ist Schneiderin.« Hugo errötete. »Die beiden wollen über ihr Brautkleid sprechen.«

»Donnerwetter!«, entfuhr es Fabian. »Heißt das …?«

Hugo lächelte verlegen. »Ich habe sie gestern Abend gebeten, meine Frau zu werden, und sie hat Ja gesagt.«

»Mensch, Hugo!«, rief Fabian und fiel seinem Freund um den Hals. »Wie wundervoll! Ich freue mich so für dich! Und wann wolltest du mir das sagen?«

»Jetzt«, lachte Hugo und fügte dann schnell hinzu: »Wir waren ja vorher keinen Augenblick allein.«

»Schon gut!« Fabian klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Dann haben wir ja noch mehr Grund für das Feierabendbier.«

»Aber sag noch niemandem etwas«, bat Hugo. »Ich muss ja auch noch bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken.«

»Ich schweige wie ein Grab«, gelobte Fabian. »Und das bei ihrem alten Herrn kriegst du schon hin.«

»Danke«, sagte Hugo und fragte dann etwas schüchtern: »Würdest du mein Trauzeuge sein?«

»Es ist mir eine Ehre und Freude.«

»Darauf müssen wir wirklich anstoßen«, bekräftigte Hugo. »Aber lass uns zu dir nach Hause gehen. Mir steht im Moment weder der Sinn nach der Werkskantine noch nach der Villa Henkel.«

Fragend sah Fabian ihn an. »Darf man erfahren, warum?«

»Zu viele Menschen«, sagte Hugo.