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Eine Familiendynastie von Perlenverkäufern
1924: Die junge Luise, genannt Lulu, möchte sich in einem Männerberuf durchsetzen und das Handwerk der Schmuckherstellung erlernen. Im berühmten Juweliergeschäft Thomass am Münchner Marienplatz bekommt sie die Chance, ihren Traum zu verwirklichen. Doch die Spielsucht des neuen Besitzers droht das Unternehmen in den Ruin zu treiben. Inmitten der wilden Aufbruchsstimmung der »Goldenen Zwanziger« findet Lulu Inspiration und besinnt sich auf vergangene Erfolge des Juweliers als »Haus der Perlen« zurück. Doch auch die Konkurrenz schläft nicht. Wird es ihr gelingen, den Traditionsbetrieb zu retten?
Perlen für den bayerischen Königshof
Erzählt nach der Geschichte des Juweliers vom Münchner Marienplatz: Das Geschäft mit der Aufschrift »Carl Thomass – Hofjuwelier und Goldschmiede« im Herzen der Stadt lockt nach wie vor Münchner Bürger:innen und Tourist:innen aus aller Welt an. Sogar Gäste aus Australien, Amerika, Asien oder dem arabischen Raum wollen edelste Tradition mit nach Hause nehmen (weitere Informationen finden Sie unter www.juwelier-carlthomass.de). Wie das Juweliergeschäft zum Lieferanten für den Königshof wurde und dass es in Deutschland Perlenfischer gab, erzählt Spiegel-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi in ihrer Perlen-Saga.
Nach den Erfolgen »Die Villa am Elbstrand«, »Die Douglas-Schwestern« und »Die Patisserie am Münsterplatz« erzählt die SPIEGEL-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi nun die bewegte Geschichte eines Münchner Juweliergeschäfts in drei Generationen und öffnet ein Panorama über zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte.
Die Bände der Reihe:
Band 1: Das Haus der Perlen – Schimmern der Hoffnung (März 2023)
Band 2: Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks (Juni 2023)
Band 3: Das Haus der Perlen – Strahlen der Liebe (August 2023)
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
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Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign
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Cover & Impressum
Teil 1
1924–1925
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Teil 2
1926
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Figurenübersicht
Familie Schmerler
Familie Thomass
Familie Gehrke
In München
In Tokio, Japan
Danksagung
Literatur und Quellen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Seine Hand griff wie eine gierige Klaue nach den Perlen, die im Glanz der Morgensonne sanft schimmerten. Die vierundzwanzigjährige Verkäuferin Luise Anna Marie Schmerler war in Habachtstellung. Der Kunde mit dem wirren braunen Haar, der ihr gegenüber an der Verkaufstheke des Juweliergeschäfts stand, hatte ein sehnsüchtiges Funkeln in den Augen, während er das wertvolle Perlengeschmeide anstarrte, das sie für ihn aus der abschließbaren Vitrine genommen hatte. Durch ihre mittlerweile fünfjährige Arbeit im Schmuckverkauf hatte Luise ein ausgeprägtes Gespür entwickelt für die Menschen, die zu ihnen kamen. Und sie ahnte, dass dieser Mittvierziger den Schmuck nicht wegen dessen Schönheit so genau fixierte, sondern wegen des Geldwerts.
Da wurde sie von einer Stimme an der Tür des Geschäfts abgelenkt. »Eine milde Gabe für einen Vaterlandshelden bitte!«
Ein hochgewachsener Bettler in lumpiger Kleidung und mit weißem Rauschebart war hereingetreten. Als Luise rief, dass Hausieren hier verboten sei und er bitte gehen solle, brüllte er, als habe er den Verstand verloren. Nach dem Großen Krieg waren seelenkranke Männer leider keine Seltenheit. Luise Schmerler machte zwei Schritte auf den Almosensammler zu, um ihn noch einmal nachdrücklicher des Ladens zu verweisen. Dieser Augenblick der Unachtsamkeit hatte sogleich fatale Folgen. Der angebliche Kunde an der Verkaufstheke packte das Perlencollier in seine Manteltasche und rannte an ihr vorbei auf den Marienplatz hinaus. Der »Bettler« folgte ihm auf dem Fuße – vermutlich war er ein Komplize des Diebs. Verdammt! Warum hatte sie den Schmuck nicht erst wieder weggeschlossen?
»Papa!«, rief Luise nach ihrem Vater Jakob, der in der Werkstatt als Goldschmied tätig war.
Durch das Geschrei alarmiert, kam er sofort in den Verkaufsbereich gestürzt. »Was ist los, Lulu?«, verwendete er jenen Spitznamen, mit dem sie bereits seit Kindertagen gerufen wurde.
»Pass auf den Laden auf, ich muss einem Dieb hinterher!«, rief sie noch hastig, da war sie auch schon hinausgestürmt.
Sie erblickte den Fliehenden in der Ferne – er rannte in Richtung der großen Münchener Marienkirche. Lulu nahm die Verfolgung auf, und in der Hoffnung, ein Passant möge ihn aufhalten, schrie sie so laut sie konnte: »Haltet den Dieb!«
Sie hörte Schritte hinter sich und bemerkte ihren blonden Vater, der dank seiner zahlreichen Wanderungen auch mit Mitte fünfzig noch äußerst drahtig und sportlich war. Er hatte wohl das Juweliergeschäft abgeschlossen, um Lulu bei der Jagd auf den Langfinger zu helfen.
Dieser passierte gerade einen schlanken jungen Mann, der ihm unvermittelt ein Bein stellte. Der Flüchtende stürzte daraufhin der Länge nach zu Boden. Bevor er sich fluchend wieder aufrappeln konnte, waren der junge Passant und Lulus Vater bei ihm, um ihn festzuhalten.
Auch der alte Wachtmeister Alois Absmeier hatte ihren Schrei offenbar gehört, denn er kam seinerseits herbeigeeilt, wobei er sich mit seiner schrillen Pfeife Platz verschaffte.
»Was hat er getan?«, verlangte der Schutzmann zu wissen.
»Eine wertvolle Perlenkette gestohlen«, antwortete Lulu außer Atem.
Der Langfinger wand sich unter dem gnadenlosen Griff des jungen Mannes und ihres Vaters am Boden, presste wütend hervor: »Sie lügt.«
Doch die Verkäuferin griff dem Mann beherzt in die Manteltasche und beförderte besagtes Geschmeide zutage.
»Ah, das Corpus Delicti«, erkannte Wachtmeister Absmeier.
Während er dem Dieb Handschellen anlegte, erhob sich der junge Mann, der dem Fliehenden rechtzeitig ein Bein gestellt hatte, und klopfte seinen edlen, modern geschnittenen Lodenmantel ab.
»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Lulu, die im Eifer des Gefechts sein markantes Gesicht und die wachen grüngrauen Augen zunächst gar nicht bemerkt hatte. Sein braunes Haar war etwas zu lang, deshalb fiel ihm jetzt nach dem Handgemenge eine widerspenstige Strähne ins Gesicht.
»Mein Name ist Luise Schmerler, ich arbeite im Juweliergeschäft Thomass dort drüben.«
»Gern geschehen, es ist mir ein Vergnügen, so früh am Tag schon einen Unhold zur Strecke zu bringen, Frau Schmerler«, erwiderte er mit sanfter Ironie.
»Fräulein Schmerler«, beeilte sie sich zu sagen, und zu ihrer Zufriedenheit schien er über diese Richtigstellung recht erfreut, denn sein charmantes Lächeln wurde breiter.
»Angenehm, mein Name ist Tobias Gehrke«, stellte er sich vor, woraufhin sie ein wenig erschrak. Vollends enttäuscht war sie, als er nun ergänzte: »Juniorchef der gleichnamigen Brauerei.«
»Dann sind Sie der Sohn von Rudolf Heinrich Gehrke?«, vergewisserte sie sich.
»Ja, Sie kennen ihn?«
»Die Familie meines Arbeitgebers hat öfters mit ihm … zu tun«, antwortete Lulu diplomatisch und verschwieg dem schönen Tobias, dass sein Vater Rudi Gehrke kein Geringerer als der erklärte Erzfeind der Familie Thomass war. Rudis Meinung nach hatten ihm die Brüder vor fünfunddreißig Jahren die Räumlichkeiten für ihre erfolgreiche Brauerei am Kapuzinerplatz vor der Nase weggeschnappt. Das hatte der einstige Schankbursche den Juwelierssöhnen nie verziehen. Lulu fand die Vorstellung, dass es sich bei Rudolf und Tobias Gehrke um Vater und Sohn handeln sollte, beinah absurd. Der modisch gekleidete Jüngere wirkte auf sie fröhlich, charmant und kultiviert, wohingegen der Ältere das genaue Gegenteil war: Dessen einstige Muskeln waren im Lauf der Jahre einer stattlichen Fettschicht gewichen. Das wirkte bei Rudi Gehrke jedoch alles andere als gemütlich, denn mit seinem stets argwöhnischen Blick erinnerte der Brauerei- und Gasthauskönig Lulu bei jedem Aufeinandertreffen an ein kampfbereites Raubtier. Er war oft unwirsch und hatte keinen Benimm.
»Wenn ich darf, werde ich vor Pfingsten einmal bei Ihnen im Geschäft vorbeischauen«, schlug Tobias zu Lulus Begeisterung vor. Ihm war also ebenfalls an einem Wiedersehen gelegen! »Meine Mutter hat bald Geburtstag, und ich denke, ich werde ihr ein Amulett schenken.«
»Sehr gern, ich …« Ehe sie ihrer Freude ausführlicher Ausdruck verleihen konnte, wurde sie zu ihrem Leidwesen von Wachtmeister Absmeier unterbrochen.
»Wie genau hat sich der Raub denn abgespielt?«, fragte er, während zwei seiner herbeigeeilten Kollegen den protestierenden Dieb abführten.
»Der Mann hat sich den Schmuck von mir zeigen lassen, da stürmte plötzlich ein Bettler ins Geschäft«, sagte Lulu aus. »Der sollte mich wohl im rechten Augenblick ablenken. Ich nehme an, die beiden stecken unter einer Decke.«
Der Schutzmann nickte mit ernster Miene. »Das steht zu befürchten. Den zweiten Kerl haben Sie danach nicht mehr gesehen?«
Lulu blickte sich auf dem Marienplatz um. »Leider nein. Ich befürchte auch, dass sein weißer Bart nicht echt war, insgesamt hat er zu agil und jung gewirkt. Um das rechte Auge herum sah seine Haut irgendwie verbrannt aus, aber er hatte keine Falten. Im Nachhinein kommt er mir doch eher schlecht verkleidet vor.«
»Na, mal sehen, ob wir seinen Namen aus dem Verhafteten herausbekommen«, meinte Absmeier mit wenig überzeugter Stimme.
»Ich muss leider weiter«, sagte Tobias Gehrke zu Lulus Bedauern. »Mein Kochkurs wartet.«
»Sie lernen kochen?«, hakte Lulu verwundert nach.
»Nicht sehr männlich, ich weiß«, entgegnete er schmunzelnd. »Im Grunde kann ich es bereits ganz gut. Aber jetzt darf ich von einem ganz Großen dazulernen. Zurzeit ist der weltberühmte Koch Auguste Escoffier aus Monte Carlo zu Besuch in unserer Stadt. Er hat sich bereit erklärt, mir ein paar seiner Geheimnisse zu verraten.«
»Oh, über den habe ich schon in der Gartenlaube gelesen. Von ihm zu lernen, ist gewiss sehr spannend«, meinte Lulu begeistert. »Dann will ich Sie keinesfalls länger aufhalten.«
»Ich erzähle Ihnen von Escoffier, wenn ich Sie im Juweliergeschäft besuche«, schlug Tobias vor.
»Das würde mich sehr freuen«, erwiderte sie und sah ihm nach der Verabschiedung noch so lange nach, dass ihr Vater schmunzelte.
»Was grinst du so?«, fragte sie ertappt.
»Ich freue mich nur, dass du endlich mal wieder Begeisterung für einen Mann zeigst«, antwortete Jakob Schmerler lächelnd.
Tatsächlich hatte Lulu sich in die Arbeit gestürzt, seit ihr sechs Jahre älterer Verlobter Paul 1917 im Feld geblieben war. Doch jetzt ausgerechnet an Tobias Gehrke Gefallen zu finden, war gewiss keine gute Idee.
Sie seufzte. »Ach Papa, ich darf mich doch nicht in den Erzfeind unserer Arbeitgeber verlieben.«
»Das lässt sich nicht planen«, entgegnete Jakob Schmerler mit einem verträumten Gesichtsausdruck. »Mein Vater wollte auch nicht, dass ich mit deiner Mutter zusammenkomme. Er hat ihre Familie gehasst. Und schau, wie glücklich wir geworden sind.«
Gemeinsam gingen Vater und Tochter zurück zum Haus der Perlen. Dort verstaute Lulu zufrieden den Schmuck wieder in seiner Vitrine, während ihr Vater die Post durchging, die Briefträger Otto Rübsam brachte.
»O nein!«, rief Jakob plötzlich.
»Was ist los, Papa?«, erkundigte sich Lulu aufgeschreckt.
»Jetzt hat uns auch das zweite deutsche Unternehmen gekündigt, das früher regelmäßig unser australisches Perlmutt abgenommen hat«, erklärte er resigniert.
Lulu wusste, dass ihr Vater von dessen Großonkel Moritz Schmerler eine Firma zur Perlmuttverarbeitung in Broome an der Westküste Australiens geerbt hatte. Vor Ort wurde das Unternehmen von Jakobs bestem Freund Daku Schulz und dessen japanischer Frau Kazumi geleitet.
»Das wird ein harter Schlag für unsere Australier«, befürchtete Jakob. »Zum Glück haben die beiden sechs Kinder, die zum Teil in völlig anderen Bereichen arbeiten. Vielleicht können sie die Folgen für Daku und Kazumi ein wenig abfedern.«
Lulu hoffte es. Sie kannte ihre Geschäftspartner auf der anderen Seite der Erdkugel zwar nicht, sie waren ihr in deren Briefen und den Erzählungen ihrer Eltern aber immer sehr liebenswert vorgekommen.
***
Der dreimastige Logger steuerte durch das aquamarinblaue Wasser des Indischen Ozeans zu den roten Felsen an der Küste der Kimberley-Region zurück. Ayumi Schulz stand an Deck des Perlenfischerbootes und genoss das milde Wetter. Jetzt im Mai begann an der australischen Nordwestküste die Trockenzeit, es gab warme Tage mit klarem blauen Himmel, nachts konnte das Thermometer deutlich unter zwanzig Grad Celsius fallen. Schon als Kind hatte die Halbjapanerin es geliebt, mit den Perlentauchern auf dem Segelboot ihres Vaters hinauszufahren. Wie abenteuerlich und aufregend das gewesen war! Mit fünfzehn hatte sie dann selbst mit Taucheranzug und Kupferhelm hinunterdürfen, um sich die Muschelbänke anzusehen. Mittlerweile war sie einundzwanzig Jahre alt und arbeitete längst mit in der Verwaltung der elterlichen Perlmuttfabrikation. Doch bisweilen liebte Ayumi es noch immer, so wie heute mit den japanischen Tauchern ihres Vaters hinaus aufs Meer zu fahren. Fast alle von ihnen stammten aus der Stadt Taiji, und viele von ihnen hatten Mühe, ihre Schulden zu begleichen, die durch ihre Überfahrt von Japan nach Australien entstanden waren. Da Ayumi viersprachig aufgewachsen war, konnte sie sich unterwegs in deren Landessprache mit den Männern unterhalten. Außer Japanisch, der Sprache ihrer Mutter, beherrschte sie Englisch und – da ihr Vater halb Deutscher, halb Aborigine war – auch Deutsch und Yawuru.
Die größte Einwanderergruppe in Broome waren die Chinesen, außerdem hatte es Sri Lankaner, Aborigines, Torres-Strait-Insulaner, Manilamen und Filipinos dorthin verschlagen, ebenso Malaien, Rotumah-Männer aus Roti, Koepangers aus Timor sowie Amboinesen von den Molukken – und sie alle waren in der Perlenindustrie tätig!
Die kleinen hölzernen Logger hatten weder eine Kochgelegenheit noch eine Toilette. Ayumis Vater Daku Schulz hatte zu ihren erfolgreichsten Zeiten den Kauf eines größeren und besser ausgestatteten Schiffes erwogen, doch aufgrund der Krise, die vor zehn Jahren begonnen hatte, war ihm dies bisher nicht möglich gewesen. Bis 1914 hatte Broome achtzig Prozent der weltweiten Perlmuscheln geliefert, seinerzeit waren es über vierhundert Logger und dreieinhalbtausend Beschäftigte in der Branche gewesen. In jener Blütezeit war die Perlmuschel vierhundert Pfund pro Tonne wert gewesen. Während des Großen Krieges war die Produktion allerdings fast zum Erliegen gekommen. Die Menschen hatten weder Geld für Luxus, noch waren sie in der richtigen Stimmung dafür. Durch den Friedensvertrag von Versailles hatten vor allem die Menschen in Deutschland finanzielle Sorgen gehabt, darum war leider auch der Familie Schulz vor zwei Jahren der Vertrag mit einem der Hauptabnehmer ihres Perlmutts in Deutschland gekündigt worden.
Schließlich kam das Boot, reich mit Muscheln beladen, wieder an der Küste an. Ayumi bedankte sich bei den Arbeitern ihres Vaters und ging von Bord. Sie rannte durch den weißen Sand auf ihr Elternhaus zu. Wahrscheinlich stand das Mittagessen bereits auf dem Tisch. Ayumi war das jüngste von insgesamt sechs Geschwistern. Die Drittälteste von ihnen war die dreißigjährige Kylie, die ihrer Mutter gern im Haus half. Sie hatte angekündigt, heute zu kochen, und da sie das ausnehmend gut konnte, freute Ayumi sich jetzt schon auf das Mahl.
Sie liebte ihre Familie und die Perlenstadt Broome, deren Geschichte so multikulturell war wie ihre eigene. Der Perlenhandel, der blutrote Sand, das türkisblaue Meer – all das würde für immer ihre Heimat bleiben, doch mehr und mehr sehnte Ayumi sich nach Abenteuern in fernen Landen. Da war zum einen das sagenumwobene Deutschland – die Heimat ihres Großvaters Werner reizte sie aufgrund all seiner Erzählungen ganz besonders. Außerdem wollte sie unbedingt irgendwann die Wolkenkratzer im amerikanischen New York sehen. Und äußerst neugierig war sie auch auf Japan, das Geburtsland ihrer Mutter, die dort auch aufgewachsen war.
Das geräumige Strandhaus, das die Familie Schulz von Moritz Schmerler, dem Gründer der Perlmuttverarbeitung Schmerler Pearling, geerbt hatte, war zweistöckig und wurde von einem Turm mit spitzem Dach gekrönt. Es stand auf Stelzen, man musste zunächst eine Holztreppe hinaufsteigen, um auf die Veranda zu gelangen. Einst war das Haus mattgrün gestrichen worden, aber wie vielen Gebäuden in Broome hatte auch diesen Wänden der rote Sand im Laufe der Jahre mehr und mehr zugesetzt.
»Guten Tag, Ayumi!«, rief da ein gedrungener Mann von einem Nachbarbungalow aus.
»Grüß dich, Lymon«, erwiderte sie und ging ihm entgegen.
Der einzige Sohn der Nachbarsfamilie McCullers strahlte die Halbjapanerin an und reichte ihr ein Glas Limonade. Die Begeisterung des Siebzehnjährigen wirkte ein wenig kindlich. Er litt unter dem Syndrom, das der Engländer John Langdon Down entdeckt hatte. In der Bevölkerung gab es bösere Worte für sein Krankheitsbild, das mit einem rundlichen Gesicht und leicht schräg aufwärts gestellten Augen einherging. Ayumi verteidigte ihn bei solchen Lästereien stets wütend, sie liebte den gutmütigen Lymon wie einen Bruder.
»Schmeckt mal wieder ganz wunderbar«, lobte sie seine Limonade, nachdem sie probiert hatte. »Deine ist wirklich die beste der Welt.«
»Da sind nicht bloß Zitronen, Soda und Zucker drin, auch ein bisschen Minze«, erklärte Lymon stolz.
Tatsächlich war er bei der Kreation von Getränken derart begabt, dass Ayumis ältester Bruder, der fünfunddreißigjährige Marius, den Jungen bisweilen in dessen Diner arbeiten ließ.
»Deinem Daddy habe ich vorhin gleich zwei Limos gebracht«, verriet Lymon. »Er kann es brauchen, hat er gesagt, weil er ganz traurig wegen eines bösen Briefs aus Deutschland ist.«
»Oje«, erwiderte Ayumi. »Dann sehe ich wohl besser nach ihm.« Sie trank das Glas leer und gab Lymon eine Münze. »Gute Arbeit muss belohnt werden, das war köstlich und erfrischend.«
»Danke, Ayumi«, sagte er und umarmte sie kindlich-liebevoll.
Im Haus erfuhr sie dann von ihrem Vater, was in dem »bösen Brief aus Deutschland« stand: »Jetzt hat uns auch der zweite deutsche Perlmuttabnehmer gekündigt. Das wird ein harter Schlag für unsere Münchener. Wir können in Krisenzeiten ja immerhin in Marius’ Wirtshäusern mitarbeiten, aber es gehen eben auch immer weniger Prozente an Jakob und Henya.«
»Sie haben zum Glück ja beide noch ihre Arbeit bei Juwelier Thomass. Das wird die Folgen für sie ein wenig abfedern«, erinnerte ihn seine Frau Kazumi. »Und was uns betrifft, wir müssen vielleicht auch nicht in die Gastronomie wechseln. Mein Bruder Kokichi hat mir geschrieben und fragt, wann wir ihn endlich in Tokio besuchen kommen. Er hat viele neue Ideen für den Perlenhandel – und er hofft auf unsere Hilfe.«
Ayumi wusste, dass ihr Onkel Kokichi Mikimoto auf dem Weg war, der berühmteste Perlenzüchter der Welt zu werden. Sie wollte ihre Eltern unbedingt auf dieser Reise begleiten. Hoffentlich gelang es ihr irgendwie, die beiden zu überreden!
Gib sofort die Vase her, du Rindvieh!«
Ein alter Mann, der einen Trachtenjanker trug, stritt auf dem Alten Südlichen Friedhof mit einer dürren alten Witwe um die letzte der dort zur Verfügung gestellten Blumenvasen.
Wie an jedem ersten Sonntag im Monat besuchte Valentin Schmerler auch am 4. Mai 1924 zusammen mit seiner zehn Jahre jüngeren Schwester Lulu den Gottesacker. Wie immer wollten sie dort Blumen auf die Gräber ihrer Pateneltern Marie Thomass und Moritz Schmerler stellen sowie auf das von Valentins einstigem Liebchen. Außerdem würde Marie Rosen am Gedenkstein für die Opfer des Großen Krieges niederlegen, auf dem auch der Name ihres Verlobten Paul Müller eingraviert war.
Valentin war wie einst sein gleichnamiger Großvater Jurist geworden, um menschliche Streitereien mit den Mitteln der Rechtsprechung zu klären. Er hatte schon als kleiner Junge eher das Gezänk seiner Altersgenossen geschlichtet, statt selbst an Prügeleien teilzunehmen.
»Warte kurz, ich beruhige die beiden«, sagte er denn auch heute zu seiner Schwester.
»Liebe Dame, werter Herr!«, rief er mit seiner kräftigen Stimme, die bestens geeignet war, sich in den Gerichtssälen der Welt Gehör zu verschaffen. »Ich bitte herzlich, Ihren gewiss völlig berechtigten Zorn für einen kurzen Augenblick zu zügeln, um mir zuzuhören.«
Tatsächlich hielten die beiden ältlichen Menschen inne und sahen den hochgewachsenen blonden Mittdreißiger mit dem ebenmäßigen Gesicht auf sich zuschreiten.
»Wie ich sehe, sind hier die Vasen ausgegangen?«, stellte er zunächst eine Frage, die beide Streithähne mit Ja beantworten konnten.
»Das ist bedauerlich, denn gewiss hat jeder von Ihnen beiden einen lieben Menschen hier zur letzten Ruhe betten müssen. Jemand, der es verdient hat, regelmäßig mit frischen Blumen geehrt zu werden.«
Wieder waren die beiden gezwungen, ein einhelliges Ja zu sprechen.
»Wenn ich eingangs Ihre werten Namen erfahren dürfte, die Dame vielleicht zuerst?«
»Hochholzer, Creszentia«, entgegnete die hagere Frau mit dem grauen Haarknoten.
»Und der Herr bitte?«
»Xaver Willeuthner«, knurrte der Alte.
»Angenehm, mein Name ist Valentin Schmerler, meines Zeichens Rechtsanwalt in der Kanzlei Doktor Graf von Pestalozza und Partner«, sagte der Jurist und verneigte sich höflich.
»Wir werden klären, ob einer der Trauerfälle schwerer wiegt, und entscheiden, welcher der beiden lieben Verstorbenen der letzten Vase am dringendsten bedarf«, schlug Valentin vor. »Und zwar mit einem Punktesystem. Sie sind beide Richter und müssen nicht nur den eigenen Trauerfall, sondern auch den des jeweils anderen beurteilen. Und zwar gibt es maximal zehn Punkte für sehr schlimme Trauer und einen Punkt für nicht ganz so schlimme Trauer.«
Der Streithahn und die Streithenne sahen ihn gleichermaßen verwirrt an. Beide schienen zwischen Respekt für den Juristen und der Tendenz zu schwanken, ihn für übergriffig und verrückt zu halten.
»Beginnen wir mit Frau Hochholzer. Für wen sind Ihre Blumen – und wann ist die Person verstorben?«
»Ja, also, bei mir geht es um meinen Franz«, begann die Witwe ein wenig verlegen. »Er war hier Polizeioffiziant und ist in Verdun auf dem Feld geblieben. 1916 war das.«
»Ich war auch in Verdun, habe dort viele Kameraden sterben sehen«, berichtete Valentin, plötzlich ganz ernst und mit belegter Stimme. »Schlimm war das. Mein herzliches Beileid zu Ihrem großen Verlust, Frau Hochholzer.«
Aus dem Augenwinkel sah Valentin, wie seine Schwester Lulu sich eine Träne fortwischte, aber auch der zuvor so zornige Xaver Willeuthner wirkte nunmehr ein wenig betreten.
»Jetzt sind Sie an der Reihe«, wandte der Jurist sich an den Alten.
»Ja, also, bei mir ist meine Frau gestorben. Sie war sehr fleißig und handwerklich begabt, hat mein Schuhmachergeschäft ganz allein geleitet, als ich als Feldschuster an die Westfront kam. 1918 bin ich endlich heim nach München. Und dann hat die Amalie die Spanische Grippe bekommen – und dann ist sie gestorben. So lange waren wir getrennt … und dann für immer.« Seine Stimme versagte.
Wegen seines eigenen ganz ähnlichen Schicksals konnte jedoch auch Valentin selbst kaum sprechen. Er drückte dem Schuster die Hand und murmelte kaum hörbar: »Mein Beileid, Herr Willeuthner.«
Dann räusperte er sich. »So, nun sagen Sie mir bitte, wie viele Punkte der jeweils andere Trauerfall verdient hat …«
Doch Creszentia Hochholzer unterbrach ihn. »Unfug, die Frau vom Herrn Willeuthner soll ihre Blumen haben. Das hätte mein Franz so gewollt, er hat doch immer angepackt, wenn Not am Mann war. Kommen Sie, ich helfe Ihnen mit den Blumen.«
»Danke, aber was wird denn aus Ihren Rosen?«, gab Xaver schuldbewusst zu bedenken.
»Die bekommt Ihre Amalie dazu«, schlug die Witwe vor. »Und nächstes Mal helfen Sie mir.«
Bewegt sah Valentin den beiden Alten nach, die eine Plauderei begonnen hatten. Warum konnte es vor Gericht nie so einfach sein wie hier?
»Das hast du wunderbar gemacht. Ich bin immer wieder stolz auf meinen großen Bruder«, sagte Lulu und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Valentin liebevoll auf die Wange zu küssen.
Sie waren fast an der Gedenkmauer für Münchener Opfer des Großen Krieges angekommen. Valentin folgte dem konsternierten Blick seiner Schwester auf eine halb nackte Soldatenstatue mit Helm auf dem Kopf.
»Diese Skulpturen auf Kriegerdenkmälern wirken immer so übermenschlich«, kommentierte Lulu. »Sie strahlen eine morbide Erotik aus. Vollendet geformte Gesichter – die versteinerte Schönheit der Jugend. Perfekte Muskeln, so als wäre der Krieg die beste Leibesübung. Ihre Waffen als gigantische Phallussymbole.«
Auweia, dachte Valentin, seine Schwester schien wirklich zu viel Sigmund Freud gelesen zu haben.
Lulu fuhr unbeirrt fort, sich über die Statuen zu mokieren: »Irgendwie sehen sie aus wie Steinriesen, für immer als Wächter an Orte gebunden, wo man um ihre realen Kameraden trauert. Als ich jünger war, habe ich mich gefragt, ob die nachts lebendig werden und mit ihren Füßen aus Stein, Kupfer oder Eisen über den Friedhof marschieren.«
»Du hast ja gruselige Vorstellungen.« Valentin lächelte schwach, dann verdunkelte sich sein Gesichtsausdruck. »Zum Glück hat mich der Krieg nicht zum Muskel-Steinriesen gemacht.«
»Dich nicht, aber Paul«, flüsterte Lulu resigniert.
»Der war kein Riese«, widersprach Valentin voller Bitterkeit in der Stimme. »Den Paul hat der verfluchte Krieg nur klein gemacht, ganz klein, bis erst die Hoffnung verschwunden war und dann der ganze Mensch.«
Als im Sommer 1914 der Krieg begonnen hatte, war Valentin fünfundzwanzig Jahre alt gewesen – und bis über beide Ohren verliebt in die schöne Käthe Niederberger aus dem Nachbarhaus, die er schon von Kindesbeinen an kannte. Sie hatten sich verlobt und heiraten wollen, sobald er seinen Abschluss in Rechtswissenschaften haben würde. Doch zu dieser Eheschließung war es nie gekommen: Valentin war einer der Ersten gewesen, die in den Krieg zogen. Ausgerechnet er, der von Kindesbeinen an jeden Streit hatte schlichten wollen, war freiwillig gegangen wie so viele, hatte es als seine Pflicht angesehen. Schäbig wäre er sich vorgekommen, wenn er nicht mitgezogen wäre, während seine Kommilitonen auf dem Schlachtfeld ihr Leben fürs Vaterland riskierten. Wie schnell hatte er das bereut! Im Rückblick hätte er sich lieber einen Feigling schimpfen lassen als diese Hölle zu durchleben! Für Gerechtigkeit war im Krieg zu keiner Zeit gesorgt worden.
In Verdun war es am schlimmsten gewesen, ein unvorstellbares Gemetzel. Lulus Verlobten Paul Müller, der auch Valentins bester Freund gewesen war, hatte es neben ihm im Kugelhagel erwischt, er war regelrecht durchsiebt worden. Das hatte sein Leben jedoch nicht sofort beendet. Zitternd hatte er Valentin die Hand entgegengestreckt und ihn angefleht, ihn nicht allein zu lassen und Lulu seine Liebe auszurichten. Valentin war klar gewesen, dass Pauls Verwundungen ihn töten würden. Eigentlich hatte er keine Wahl gehabt, als den Kameraden liegen zu lassen und um sein eigenes Leben zu rennen, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Doch die strahlend blauen Augen des Freundes hatten ihn zurückgehalten. Wie oft hatten sie ihn früher schelmisch angeblickt – wenn sie wieder einmal einen Streich ausgeheckt hatten als dumme junge Schulbuben! Als sie das erste Mal zusammen Bier getrunken hatten. Doch an jenem Tag hatte Paul nur noch Todesangst im Blick gehabt. Valentin war geblieben – und deshalb in Gefangenschaft geraten. Er wusste heute nicht mehr, wie lange er damals dagesessen hatte, inmitten des blutgetränkten Ackers, die Hand seines Freundes haltend – auch als Paul längst von dieser Welt geschieden war und mit leerem Blick in den trüben Himmel gestarrt hatte. Seinem Freund die Augen zu schließen, das hatte er nicht über sich gebracht, aber für einen Moment war in ihm der Wunsch aufgekeimt, an dessen Stelle zu sein. Um dieses Grauen nicht mehr erleben zu müssen. Irgendwann hatte ein französischer Offizier vor ihm gestanden, das Gewehr auf ihn gerichtet. Doch dessen Blick war voller Mitleid gewesen. Er hatte Pauls Augen geschlossen und dann die Hand des Toten sacht aus Valentins gelöst.
»Kommen Sie!«, war es danach auf Französisch vom Feindesoffizier gekommen. »Sie wissen, dass ich Sie in Gefangenschaft nehmen muss.«
Valentin hatte genickt. Es war ihm egal gewesen. Alles war egal, hatte er gedacht. Oder doch nicht? Die Tatsache, dass ihn der französische Offizier nicht einfach erschossen und seinen toten Kameraden mit Respekt behandelt hatte, war der menschlichste Moment in all dem Grauen gewesen.
Am Leben gehalten hatte Valentin seine Sehnsucht nach den Liebsten daheim, vor allem nach seiner Verlobten. Käthe mit ihren eigenwilligen blonden Locken. Und Henya, seine Mutter. Jakob, sein Vater. Lulu … die kleine Schwester Lulu. Die durfte er nicht mit der Trauer um ihren Verlobten allein lassen. Der Gedanke an die Lieben zu Hause hatte ihm Kraft und Durchhaltewillen gegeben, in den langen Stunden voller körperlich harter Arbeit hatte er sich seine Zukunft ausgemalt, Käthe vor sich gesehen, wie sie an ihrer Hochzeit neben ihn an den Altar trat, in einem wunderschönen Kleid, das ihre zarte Figur zur Geltung brachte. Es war über und über mit Spitze besetzt und – natürlich – mit Perlen. Auch in ihren wilden blonden Locken, die sie stets hochgesteckt trug, hatten in seiner Vorstellung wertvolle Perlmuttkügelchen geschimmert. Das nächste Traumbild: Käthe, wie sie ihr Kind in den Armen hielt, ein kleines Mädchen, das genau die gleichen wilden Locken und die gleichen strahlend blauen Augen hatte wie ihre Mutter.
Doch als er dann nach Kriegsende endlich aus der Gefangenschaft heimgekehrt war – ausgerechnet am Abend seines neunundzwanzigsten Geburtstags –, war seine in Gedanken so mühsam gekittete und zusammengehaltene Welt dann endgültig in tausend Scherben zerbrochen: Käthe, seine große Liebe, war der Spanischen Grippe erlegen, die 1918 im ganzen Reich gewütet und auch vor München nicht haltgemacht hatte. Ihm war es also genau gleich ergangen wie dem Schuster Willeuthner mit seiner Gattin. Damals war es Valentin unfassbar schwergefallen, wieder ins Leben zurückzufinden. Wie sollte er jemals all die Bilder im Kopf loswerden, die ihn nachts hochschrecken ließen, schweißgebadet und schreiend, die tagsüber dazu führten, dass er plötzlich unkontrolliert zu zittern begann und gar nicht mehr damit aufhören konnte?
Lulu war in diesen Nächten ihrer Trauer um den gefallenen Verlobten zu ihrem älteren Bruder ins Bett gekrochen, hatte sich an ihn geschmiegt wie ein kleines Kätzchen, ihm Lieder aus ihrer Kindheit vorgesungen. Suse, liebe Suse. Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder. Trarira, der Sommer der ist da. »Wir müssen es schaffen«, hatte Lulu geflüstert. »Wir bezwingen die Dämonen. Für Mama und Papa.«
Ohne seine Schwester, dessen war sich Valentin sicher, hätte er diese Zeit nicht überstanden. Seither hingen sie noch mehr aneinander, und bei dem Gedanken, dass er bald ausziehen und ihr nicht mehr so nah sein würde, war ihm ein wenig mulmig zumute.
Lulu blieb sein starrer Blick auf Käthes Grab nicht verborgen. Sie versuchte, seine Gedanken auf die wesentlich erfreulichere Gegenwart zu lenken, indem sie fragte: »Siehst du Gesa nach dem Wählen noch?«
Bei der Vorstellung lächelte er. »Ja, ich bin bei ihr und ihrem Vater in Bogenhausen zum Abendessen eingeladen.«
Lange war er nicht in der Lage gewesen, sich auf eine andere Frau einzulassen, doch vor einem halben Jahr hatte er sein Herz endlich wieder geöffnet. Gesa hieß sie und war Rechtsanwaltsgehilfin in der Kanzlei des gut zehn Jahre älteren Dr. Anton Graf von Pestalozza, in die Valentin 1919 als Partner eingestiegen war. Die hübsche junge Frau erwiderte seine Gefühle, und als er kurz vor Ostern um ihre Hand angehalten hatte, war von ihr sofort ein begeistertes »Ja« gekommen. Sie wollte allerdings unbedingt an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag Ende Januar heiraten, ihre Verlobungszeit würde folglich noch eine Weile andauern. Dann aber wollten sie einander das Jawort geben und ihren eigenen Hausstand gründen. Valentin freute sich darauf, allerdings musste er sich eingestehen, dass er Gesa nicht so liebte wie Käthe damals: nicht mit der gleichen glühenden Leidenschaft, nicht mit der absoluten Hingabe und nicht mit dem Gefühl, ganz im anderen aufzugehen. Doch irgendwann musste er heiraten, er konnte ja schlecht sein ganzes Leben lang allein bleiben! Und Gesa war hübsch, liebevoll und fröhlich – eigentlich alles, was man sich an einer Frau nur wünschen konnte.
»Komm, lass uns jetzt wählen gehen«, schlug seine Schwester schließlich vor. »Nicht, dass dieser Hitler und seine Nationalisten noch mehr Macht bekommen.«
Vor dem Wahllokal im Rathaus herrschte großes Gedränge. Für Lulu war es jedes Mal ein Triumph, an diesem wichtigen demokratischen Prozess teilzunehmen. Wie lange hatten viele ihrer Geschlechtsgenossinnen für das Frauenwahlrecht kämpfen müssen, bis dieser Traum vor gut fünf Jahren endlich Wahrheit geworden war! Lulu sah sich in der Menge um – und plötzlich fuhr es ihr vor Freude heftig in den Magen. An der Seite seines Vaters Rudolf Gehrke hatte sie auf der anderen Seite der Menschenmasse ihren Schwarm Tobias entdeckt. Selbst aus der Ferne hatte sie den Eindruck, bei ihrem Anblick sei ein erfreutes Lächeln in seinem schönen Gesicht zu erkennen. Gerade schien es, als wollte er sich durch das Gewimmel quetschen, um sie zu begrüßen, da packte ihn sein Vater bei der Schulter und raunte ihm etwas ins Ohr. Augenblicklich verschwand das Strahlen aus Tobias’ Gesicht, und er sah entsetzlich verletzt und traurig aus. Was Gehrke senior seinem Sohn wohl zugeflüstert hatte, das dessen Laune so ruiniert hatte? Lulu beschloss, sich durch die Menge zu drängen, um ihm Hilfe anzubieten, doch als sie sich zu der Stelle vorgekämpft hatte, wo Vater und Sohn Gehrke gerade noch gestanden hatten, waren diese spurlos verschwunden.
Über ein halbes Jahr nach der letzten Begegnung mit Tobias Gehrke hatte Lulu die Hoffnung aufgegeben, dass er sein Versprechen noch halten und das Juweliergeschäft Thomass aufsuchen würde. Seit dem Wahltag im Mai hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und im Nachhinein fragte sie sich, ob sie sich das Ganze nur eingebildet hatte. Zu allem Übel hatte »ihre« Partei, die SPD, damals herbe Verluste hinnehmen müssen, während die republikfeindlichen Rechten und die Kommunistische Partei Deutschlands gestärkt aus der Wahl hervorgegangen waren.
Jetzt in der Vorweihnachtszeit hatte Lulu im Geschäft genug Ablenkung, um nicht weiter an Tobias Gehrke zu denken. Am heutigen dritten Adventssamstag des Jahres 1924 erwarteten die Schmerlers nämlich viele Kunden. Doch der Erste, der an diesem Morgen den Laden betrat, kaum dass Lulu die Tür geöffnet hatte, war der Besitzer, Friedrich Gottlob Thomass, genannt Fritz. Der neunundfünfzigjährige Juwelier mit dem grauen Oberlippenbart lächelte gewohnt charmant, als er seine Verkäuferin begrüßte.
»Guten Morgen, liebe Lulu«, sagte er herzlich, aber seine Stimme klang derart verwaschen, dass sie befürchtete, er sei die ganze Nacht auf Kneipentour gewesen. Dass er seinen Kummer bisweilen ein wenig ertränken wollte, konnte Lulu sogar verstehen. Am Neujahrsmorgen 1920 war nämlich überraschend seine dritte Tochter Ella im Alter von nur zwanzig Jahren gestorben, im selben Jahr hatte er dann auch seinen Bruder Carli verloren, der ihm das Juweliergeschäft vermacht hatte. Und wenige Monate später war sein neunzehnjähriger Sohn Günter den Folgen einer Kriegsverletzung erlegen.
Kein Wunder also, dass Fritz im Nachtleben ein wenig Vergessen suchte – sehr zum Leidwesen seiner zweiten Ehefrau, der Freiin von Süßkind, mit der er einen erst siebenjährigen Sohn hatte.
Lulu hatte von ihrer Mutter erfahren, dass Fritz Thomass früher auch dem Glücksspiel gefrönt hatte. Sie hoffte, dass er diesem Laster nicht erneut erliegen würde, denn sie waren ja alle von seiner Geschäftsführung abhängig. Fritz hatte einst selbst das Goldschmiedehandwerk gelernt, Lulu hielt ihn jedoch für weit weniger talentiert, als es sein verstorbener älterer Bruder Carli gewesen war.
»Ich hau mich mal aufs Ohr«, kündigte der Juwelier an. »Bei dir und deiner Mutter weiß ich das Geschäft ja in besten Händen.«
Mit diesen Worten verschwand Fritz im Stiegenhaus, das zu den Wohnungen in den oberen vier Stockwerken führte.
Lulu sah durch das Schaufenster. Draußen auf dem verschneiten Marienplatz herrschte geschäftiges Treiben, es schien, als sei die ganze Stadt auf den Beinen, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Kein Wunder, dank der neuen Währung hatten die Menschen nach der zermürbenden Zeit der Hyperinflation endlich wieder ein bisschen mehr Geld; man gönnte sich etwas, dürstete nach dem Leben, nach ein wenig Luxus. Und wie selbstbewusst die Frauen geworden waren! Lulu erfreute sich am Anblick der feinen Damen, die Tag für Tag das Schmuckgeschäft betraten. Vorbei schien die Zeit der wallenden bodenlangen Kleider und des kunstvoll hochgesteckten Haares. Im München der 1920er-Jahre präsentierte sich die Dame von Welt mit Bubikopf, auf dem keck ein Glockenhut saß, dazu trug sie gerade fallende Hemdblusenkleider und sportliche Jacketts. Zu gerne hätte sich Lulu ebenfalls eine solche Kurzhaarfrisur schneiden lassen, und sie ahnte, dass ihr diese ganz hervorragend stehen würde. Ein Blick in den für Kunden bereitstehenden Spiegel zeigte ihr, dass sie mit ihrem dunkelblonden, welligen Haar und den großen braunen Augen zwar hübsch aussah – aber eben auch etwas langweilig. Wie viel moderner wäre es, wenn sie ihr Äußeres im sogenannten Garçonne-Stil gestalten dürfte! Lulu wusste, dass der Begriff Garçonne sich aus dem Französischen ableitete, Garçon bedeutete ja Knabe, und mit der Verweiblichung des Begriffs hatten sich die Männer von Paris über den neuen Frauentyp lustig gemacht – bis »Garçonne« zum geflügelten Wort avanciert war. Durch die kurz geschnittenen Haare käme natürlich auch der Schmuck – besonders Ohrgehänge aus Perlen – besser zur Geltung, überlegte Lulu, schob sich probehalber das Haar ein Stück nach oben und hielt sich einen langen tropfenförmigen Perlenohrring hin.
»Wundervoll!«, flüsterte sie verträumt.
»Das finde ich auch«, riss sie in diesem Moment eine männliche Stimme aus ihren Gedanken. Lulu fuhr erschrocken hoch, wobei sie den Perlenschmuck fallen ließ, der mit einem leisen Klirren auf den Boden fiel. So vertieft war sie in ihren Anblick gewesen, dass sie das Glöckchen über der Ladentür gar nicht wahrgenommen hatte. Und jetzt stand er vor ihr und grinste sie frech an. Tobias Gehrke! Ausgerechnet!
Er bückte sich nach dem Perlenschmuck und gab ihn ihr. Verdammt, den hätte sie selbst aufheben müssen, doch sie hatte stattdessen nur den Brauerei-Erben angeglotzt!
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.
»Alles bestens«, sagte sie und bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck. »Schön, dass Sie es doch noch hergeschafft haben.«
»Ja, es war einfach immer zu viel los«, erklärte er und sah sie seltsam wehmütig an.
»Womit kann ich behilflich sein?«, erkundigte sie sich. Zum Glück gab ihr die fast zehnjährige Erfahrung als Verkäuferin ein wenig Sicherheit. Dieser Mann machte sie definitiv nervös!
Seine nächsten Worte sorgten jedoch für eine herbe Enttäuschung: »Ich suche ein Weihnachtsgeschenk für eine Dame, der ich … na ja … sehr zugetan bin.«
Es versetzte Lulu einen so heftigen Stich, dass sie zusammenzuckte. Rasch fasste sie sich aber wieder und sagte: »Wie schön. Was haben Sie sich denn vorgestellt?«
Etwas hilflos sah er sie an. »Ohrhänger vielleicht – wie diese da«, er deutete auf den Perlenschmuck auf der Glasplatte.
Lulu erstarrte. Ausgerechnet der Schmuck, mit dem sie selbst geliebäugelt hatte, sollte künftig die Ohren der Fremden zieren, die Tobias mittlerweile am Herzen lag? Zu ihrer Erleichterung bekam sie sich nach wenigen Sekunden wieder in den Griff. Geschult im Verkauf, lächelte sie ihn an. »Um das passende Schmuckstück heraussuchen zu können, müssten Sie mir noch etwas über die Dame erzählen. Wie trägt sie ihr Haar? Wie kleidet sie sich? In welcher Gesellschaft bewegt sie sich? Welche Farbe haben ihre Augen?«
Obwohl all diese Dinge in der Tat hilfreich sein würden, um Gehrke junior gut beraten zu können, kam Lulu sich so vor, als würde sie ihn über dessen Liebchen ausfragen. Er schien jedoch nur zu gern zu antworten: »Oh, Sie kennen Sie sicherlich.« Das Leuchten in seinen Augen versetzte Lulu einen erneuten Stich. »Sie ist eine Berühmtheit.«
Ratlos sah Lulu ihn an.
»Es handelt sich um die Gura«, verriet er.
»Tut mir leid, ich …«
»Sie kennen sie nicht?«, wunderte sich Tobias und wirkte fast ein wenig gekränkt. »Sascha Gura. Die bekannte Schauspielerin.«
»Ach so«, erwiderte Lulu, vor deren innerem Auge jetzt tatsächlich ein Bild entstand. Sie hatte es in einer Illustrierten gelesen: Sascha Gura entstammte der gleichnamigen Sänger- und Schauspielerfamilie, hatte eine Ausbildung an der Königlichen Hochschule für Musik erfahren, an Berlins Komischer Oper Erfolge gefeiert. Lulu hatte sie im einen oder anderen Film gesehen, sie spielte hauptsächlich in Dramen und Abenteuergeschichten mit. Und sie war eine Geschiedene: Zwei Jahre lang war sie mit einem gewissen Herrn von Oppen verheiratet gewesen. War sie nicht schon dreißig? Auf jeden Fall war sie viel zu alt für Tobias, der höchstens wie Anfang zwanzig aussah!
Da bemerkte sie, dass er auf eine Erklärung zu warten schien.
»Ich konnte sie nur im ersten Moment nicht zuordnen«, erläuterte sie hastig.
»Das macht doch nichts«, versicherte Tobias rasch. Dann beugte er sich vertrauensvoll über den Tresen. »Ich kann es selbst kaum glauben, dass sie ausgerechnet mir wirklich Beachtung schenkt. Aber eines Tages stand sie mit ein paar Kollegen einfach bei uns in der Brauerei. Können Sie sich das vorstellen?«
»Ich … äh …«, setzte Lulu an, die fürchtete, Tobias werde sein ganzes Liebesleben vor ihr ausbreiten, und die auf der anderen Seite wiederum genau das erhoffte. Selbst wenn es wehtat: Sie wollte unbedingt alles wissen!
Tobias schien allerdings ebenfalls zu bemerken, dass es vielleicht unpassend wäre, noch mehr auszuplaudern. Daher sagte er nur: »Jedenfalls sind wir jetzt ein Paar, und da möchte ich Sascha zum Weihnachtsfest natürlich auch entsprechend überraschen. Diese Ohrringe«, er deutete wieder auf die Schmuckstücke, »würden sich zu ihrem dunklen Haar und den dunklen Augen doch hervorragend machen.«
»Nein!« Hastig legte Lulu ihre Hand auf den Ohrring.
Überrascht sah Tobias sie an. »Nein?«
Lulu rang um Worte, die ihre heftige Reaktion erklärten. »Frau Gura ist so glamourös. Sie braucht etwas … Mondäneres.«
»Aber Perlen sind doch sehr mondän?«, wunderte sich Tobias.
»Mag wohl sein«, haspelte Lulu, die merkte, dass sie sich um Kopf um Kragen redete. Zumal Tobias recht hatte: Perlen waren en vogue und würden tatsächlich hervorragend zu Sascha Gura passen. Aber nicht ausgerechnet diese Ohrringe!
»Ich schlage eher das Modell hier vor.« Sie wandte sich der Glasvitrine zu, um ein Paar Perlenohrringe hervorzuholen, die von kleinen Diamanten umkränzt waren. Sie selbst mochte diese Stücke gar nicht. Ladenbesitzer Fritz Thomass hatte sie gefertigt – und der hatte für die Goldschmiedekunst nun mal kein großes Talent. Seine Kreationen waren zumindest nicht nach Lulus Geschmack, sie hatte immer das Gefühl, dass sie nicht dem Charakter des jeweiligen Steins gerecht wurden. Insofern war es vielleicht ein klein wenig bösartig, wenn sie ausgerechnet die von ihr so ungeliebten Stücke an Tobias verkaufen wollte, doch sie hätte sich keine Gedanken machen müssen. Der junge Bierbrauer strahlte sie begeistert an. »Sie haben recht. Das sind genau die richtigen Ohrringe für meine Sascha. Sie wird sich sehr freuen.«
Treuherzig sah er Lulu an. »Und Sie, Fräulein Schmerler, sind wirklich eine erstklassige Verkäuferin. Ich werde mich dann wieder an Sie wenden, wenn es ums Aussuchen des Verlobungsrings geht.«
Na wunderbar!
***
»Himmelherrgott noch mal!«, fluchte Jakob Schmerler und faltete die Zeitung ärgerlich zusammen.
»Was ist denn passiert?«, fragte seine Frau Henya, während Lulu und ihr Bruder Valentin einen konsternierten Blick wechselten. Keiner der beiden konnte sich erinnern, wann der sonst so sanftmütige Vater das letzte Mal derart geflucht hatte.
Wie fast jeden Abend saß die Familie bei einem Glas Wermut im Wohnzimmer zusammen, bevor sie nach nebenan ins Speisezimmer gingen. Valentin liebte diese abendliche halbe Stunde, wenn jeder in irgendeine Handarbeit oder Lektüre vertieft war. Seine Schwester blätterte wie so oft in einem deutsch-italienischen Wörterbuch, und seine Mutter arbeitete mal wieder an kleinen Muschelkettchen, von denen die Töchter der Thomass-Brüder stets völlig begeistert waren. Es ging nicht darum, was jeder tat, sondern dass sie beisammen waren, in trauter Viersamkeit.
»Die Zugspitzbahn soll jetzt doch realisiert werden«, knurrte Jakob Schmerler und schlug die Zeitung zu, die er allabendlich studierte. »Sie haben schon ein bekanntes Leipziger Unternehmen für Drahtseilbahnen mit der Ausführung beauftragt.«
»Oh, Liebling, das tut mir leid.« Henya legte ihr Muschelkettchen zur Seite und nahm tröstend die Hand ihres Mannes. »Ihr habt so tapfer dagegen gekämpft.«
»Und das werden wir auch noch weiter tun, das kannst du mir glauben. Wir lassen nicht zu, dass die Berge industrialisiert werden.«
Patriarch Jakob liebte die Natur, vor allem unberührte Gegenden, in denen Tiere und Pflanzen ungestört gedeihen konnten. Er mochte es, Flora und Fauna zu zeichnen und zu malen, das war neben der Juwelierskunst seine große Leidenschaft. Sogar Ausstellungen mit seinen Werken hatten bereits stattgefunden. Jakobs vor über dreißig Jahren verstorbener Vater war Tuchhändler gewesen – und ein Städter durch und durch. Seinem einzigen Sohn jedoch hatten es von jeher die weiten Landschaften angetan. Wann immer es seine Zeit zuließ, ging er wandern. Planungen zum Bau einer Bergbahn auf die Zugspitze, die mit zweitausendneunhundertzweiundsechzig Metern Deutschlands höchster Berg war, gab es schon seit 1900, bisher waren sie allerdings stets an der Finanzierung gescheitert. Als er erfahren hatte, dass die Pläne konkreter wurden, hatte Jakob sich vor Empörung kaum halten können. Damit war er nicht allein gewesen. Schnell hatte sich ein Verein gegründet, der den Bau der Zugspitzbahn verhindern wollte. Vergebens, wie sich jetzt zeigte.
»Was habt ihr vor?«, fragte Henya.
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Jakob grimmig. »Aber uns wird schon was einfallen. Darauf kannst du dich verlassen.«
Nachdenklich betrachtete Valentin Schmerler seine jüngere Schwester wenig später beim Essen über den Tisch hinweg. Die ganze letzte Woche war die sonst so fröhliche junge Frau schon ungewohnt trübsinnig gewesen, und auch vorhin hatte sie zur Verwunderung ihres Vaters kaum ein Wort gesagt. Im Geschäft hatte sie sich nichts anmerken lassen. Wie ihre Mutter war Lulu eine sehr gute Verkäuferin, und natürlich war ihr klar, von welch großer Bedeutung das Weihnachtsgeschäft für die Familie war. Eigentlich hatte seine Schwester immer davon geträumt, selbst das Handwerk eines Goldschmieds zu erlernen und wie ihr Vater eigenhändig Schmuck herzustellen, doch natürlich war dies für eine Frau nicht möglich.
Als Anwalt und Vertrauter seines Vaters Jakob wusste Valentin, dass es mit dem altehrwürdigen Juweliergeschäft Thomass ganz und gar nicht zum Besten stand. Er erinnerte sich zu gut an die Zeiten vor dem Krieg, als Deutschland noch ein Kaiserreich gewesen war. Da war es ihnen als offiziellen Hoflieferanten noch bestens gegangen. Doch mit dem Untergang der Monarchie hatte ihr Prädikat seine Bedeutung verloren, und ihnen waren wichtige Kunden ausgeblieben. Die Kriegs- und dann Nachkriegsarmut sowie die Inflation hatten ein Übriges getan. Wer konnte sich schon Schmuck leisten in solch mageren Zeiten? Allmählich hatte sich die Situation gebessert, und das gab Anlass zu neuer Hoffnung. Das Juweliergeschäft Thomass war allerdings weiterhin auf jeden Kunden angewiesen. Selbstverständlich war dies seiner Schwester auch bewusst, und sie zeigte sich deshalb im Geschäft von ihrer besten Seite. Ach was, korrigierte sich Valentin. Seine kleine Lulu hätte sich immer von ihrer besten Seite gezeigt. Aus Liebe zu ihrer Arbeit und aus Respekt vor den Kunden! Aber bei den abendlichen Mahlzeiten mit ihren Eltern vermochte sie ihre Fassade offenbar nicht mehr aufrechtzuerhalten, sie wirkte geistesabwesend und still.
Dies blieb auch ihrer Mutter Henya nicht verborgen. »Was ist mit dir, Liebes?«, fragte die dreiundfünfzigjährige Schmuckverkäuferin und legte anteilnehmend ihre Hand auf die ihrer Tochter.
»Ach, es ist nichts«, behauptete Lulu. »Ich bin einfach nur müde.«
Henya warf ihr zwar einen zweifelnden Blick zu, beschloss dann aber wohl, nicht weiter nachzubohren. »Und das ist kein Wunder, Liebes. Das Weihnachtsgeschäft ist immer sehr anstrengend.«
Als Lulu sich nach dem Essen in ihr Zimmer mit Blick auf den Marienplatz zurückzog, entschloss sich Valentin, ihr zu folgen. Er wollte wissen, was sie so bedrückte, schließlich war er doch ihr großer Bruder, ihr Beschützer.
Er klopfte beherzt an ihre Zimmertür, lang – kurz – kurz – lang, ihr Signal seit Kindertagen, dann trat er ein. Seine Schwester lag auf dem Bett und starrte an die Decke.
»Lululein«, sagte er und setzte sich zu ihr. »Was ist denn nur los mit dir in letzter Zeit?«
»Ach«, sagte sie. »Es ist eigentlich zu albern, als dass ich darüber sprechen könnte. Sprechen wollte.«
»Nichts ist albern, was einem Kummer bereitet.«
»Aber im Vergleich zu allem, was im Krieg und kurz danach passiert ist …«
Er unterbrach sie. »Wenn wir uns wieder über Alltäglicheres aufregen dürfen, bedeutet es doch, dass wir endlich wieder einen Alltag haben. Dass der Krieg vorbei ist. Und Käthe und Paul würden es uns von Herzen gönnen, sich für uns freuen.«
»Darüber, dass ich Liebeskummer wegen eines anderen habe?«, platzte seine Schwester heraus.
»Dass du wieder Gefühle zulässt, darüber würde Paul sich in der Tat freuen, das weiß ich«, bestätigte ihr Bruder.
»Mag sein, nur werden diese Gefühle leider nicht erwidert.«
»Nun erzähl doch einfach mal in Ruhe«, sagte Valentin. »Ich nehme an, es geht um Tobias?«
Überrascht sah sie ihn an. »Woher weißt du das?«
Er lächelte. »Vater hat gepetzt. Also, was hat Gehrke junior angestellt?«
»Er liebt eine andere«, sagte sie. »Für die hat er heute Ohrringe gekauft.«
»Oh«, kam es von Valentin. »Das tut weh. Wer ist denn seine Angebetete?«
»Sascha Gura.«
»Ausgerechnet«, schnaubte Valentin abfällig. »Ich denke nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Das wird nichts von Dauer sein.«
»Wie kommst du darauf?«
»Na, ihre erste Ehe hat ja auch nur knapp zwei Jahre gehalten.«
Nachdenklich blickte Lulu auf das Gemälde über ihrem Bett. Es zeigte eine Perlenfischerhütte an einem Bach im Bayerischen Wald und war ein Erbstück von Lulus Großtante Marie, die im vorigen Sommer im Alter von unglaublichen hundertundein Jahren im Schlaf gestorben war. Sie hatte bis zuletzt ein sonniges Gemüt gehabt und Lulu stets geraten, niemals aufzugeben. »Ich dachte vor langer Zeit auch, ich hätte meinen geliebten Perlenfischer verloren, doch dann ist er wie durch ein Wunder aus Australien zurückgekehrt.«
Lulu wusste, dass ihr Vater Jakob dessen Tante und deren Mann, den Perlenunternehmer Moritz, vor fünfunddreißig Jahren im australischen Broome besucht hatte und mit ihnen zurück nach München gereist war. Damals hatte er nämlich erfahren, dass seine Verlobte Henya von ihm schwanger war. Mit Valentin! Lulu wünschte sich, sie besäße die Zuversicht ihrer Großtante, doch der Verlust ihres Verlobten Paul hatte ihr Vertrauen ins Leben nahezu zerstört.
»Wann hast du denn deine nächste Italienischstunde?«, versuchte Valentin, ihre Gedanken auf etwas zu lenken, das ihr Freude bereitete.
Wie ihr Vater Jakob liebte Lulu die bildende Kunst und träumte seit Langem davon, einmal nach Florenz zu reisen, um die Uffizien zu besuchen. Auch die Sixtinische Kapelle in Rom oder den Dom von Mailand hätte sie zu gern besichtigt. Deshalb nahm sie schon seit Kindertagen Italienischstunden bei einer befreundeten Bedienung aus ihrem Lieblingscafé Luitpold. Sie hieß Carlotta Bertani und stammte aus der Nähe von Turin.
»Morgen kommt sie nach Geschäftsschluss vorbei«, erklärte Lulu, und tatsächlich vertrieb die Vorfreude darauf ihre trüben Gedanken.
Was für eine Stadt! Über zwei Millionen Menschen lebten hier in Tokio. Ayumi Schulz sah sich fasziniert in dem Gewimmel um, durch das sie und ihre Eltern von zwei kräftigen Männern auf einer Bambussänfte befördert wurden. Ihr Onkel Kokichi Mikimoto lebte trotz seines Wohlstands recht bescheiden, seine Gäste hertragen zu lassen, war der einzige Luxus, den er sich gönnte. Es gab zwischen zahlreichen Baustellen jedoch auch noch einige Gebäudeschäden in der japanischen Metropole, und manche Häuser waren zu Ruinen geworden. Den Grund dafür hatten sie sogar in Australien erfahren: Am 1. September 1923 war der Großraum Tokio-Yokohama gegen Mittag von einem schweren Erdbeben erschüttert worden. Die Zahl der Todesopfer wurde auf über hundertvierzigtausend geschätzt. Mehr als die Hälfte der Backsteinbauten und ein Zehntel der Stahlbetonbauten in der Region waren eingestürzt oder in durch das Beben ausgelösten Feuern ausgebrannt, hatte Ayumi in der Zeitung gelesen. Doch heute, knapp anderthalb Jahre später, herrschte Wiederaufbau- und Aufbruchstimmung in der japanischen Metropole.
»Bist du aufgeregt?« Liebevoll lächelte ihr Vater Daku Schulz Ayumi an.
Sie nickte. »Ein wenig schon. Schließlich habe ich Australien bisher noch nie verlassen. Und das, obwohl ich ja eigentlich Halbjapanerin bin. Ich freue mich sehr darauf, unsere Verwandten kennenzulernen. Offen gestanden, habe ich so viel Ehrfurcht vor Onkel Kokichi, dass ich wahrscheinlich kein Wort herausbringe.«
Ihr Vater lachte. »Das kann ich verstehen, schließlich ist er eine Berühmtheit. Aber du wirst sehen, er ist einfach nur ein ganz lieber Mensch.«
»Eigentlich eine Schande, dass ich zweiundzwanzig Jahre alt werden musste, um meine Verwandten kennenzulernen«, meinte Ayumi.
»Wenn man auf unterschiedlichen Kontinenten lebt, lässt sich das wohl nicht anders einrichten«, wurde sie von ihrer Mutter Kazumi getröstet. »Und dann will so eine Reise natürlich ganz genau geplant sein.«
Als die Eltern während der mehrmonatigen Reisevorbereitungen für den Besuch beim berühmten Bruder ihrer Mutter in Japan verkündet hatten, dass Ayumi sie Ende November als einziges ihrer insgesamt sechs Kinder begleiten durfte, war die junge Frau außer sich vor Freude gewesen.
Schließlich erreichten Vater, Mutter und Tochter Schulz das berühmte Ginza-Viertel, das seit der Edo-Zeit des siebzehnten Jahrhunderts ein wichtiges Handelsquartier war.
»Ginza bedeutet Ort des Silbers«, erklärte Kazumi ihrem Mann.
»Ja, Gin heißt Silber und Za Ort«, bestätigte ihre viersprachig aufgewachsene Tochter.
Ihre Mutter fuhr fort: »Als mein Bruder und seine Frau Ume hier angefangen haben, gab es in Ginza einen großen Wandel. Wenige Jahre zuvor, 1872, war dieses Stadtviertel vollständig niedergebrannt und musste komplett wieder aufgebaut werden. Die Schäden waren noch schlimmer als bei dem Erdbeben letztes Jahr. Es waren übrigens britische Architekten, die damals den Wiederaufbau geleitet haben. Sie haben sich an den Flaniermeilen in Paris und London orientiert und die Straßen hier von zwölf auf siebenundzwanzig Meter verbreitert – das hat für viel Aufsehen gesorgt.«
»Wirklich sehr beeindruckend!«, befand Ayumi. »Man kann sich gar nicht vorstellen, dass diese Straße hier einmal weniger als halb so breit war.«
Daku nickte. »Die ausladenden Bürgersteige sind schon sehr schön. Und durch die Gaslaternen ist ein abendlicher Bummel bestimmt sehr romantisch.«
»Das hier ist die erste Flaniermeile in ganz Japan«, sagte seine Frau. »Da die Mieten sehr hoch sind, können es sich nur die erfolgreichsten Geschäftsleute leisten, in diesem Viertel einen Betrieb zu unterhalten.« Dann streckte sie die Hand aus und deutete auf ein zweigeschossiges weißes Gebäude mit Balkon, das westlicher aussah als die umliegenden Häuser an der Ginza Chuo Street.
»Darf ich vorstellen? Die Mikimoto Pearls Company. Die Leute nennen das Haus perlenfarbener Laden.«
Ayumi spürte ein Kribbeln im Bauch. Endlich war es so weit! Sie würde ihren Onkel kennenlernen – den wohl berühmtesten Perlenunternehmer der Welt.
***
»È un’opera strana.«
Wie nach jeder Italienischstunde für die Verkäuferin Lulu Schmerler saß deren vierzigjährige Sprachlehrerin Carlotta Bertani noch mit ihrer Schülerin im geschlossenen Juweliergeschäft Thomass bei Kakao und Kuchen beisammen und plauderte ein wenig zu Übungszwecken mit ihr. Nach fast fünfzehn Jahren Unterricht war Lulu, die stets fleißig ihre Vokabeln lernte, in der Lage, auch komplizierte Gespräche zu Kunst, Kultur und Politik auf Italienisch zu bestreiten. Carlotta berichtete an diesem Abend von einer Oper namens Nerone, deren Premiere sie im vergangenen Mai während eines Besuches bei ihrem Vater Vittorio in Mailand beigewohnt habe. Das Werk sei erst nach dem Tod des Komponisten vollendet worden, berichtete sie.
»Wer hat die Oper denn geschrieben?«, hakte Lulu neugierig nach, während sie genüsslich ein Stück des von Carlotta gebackenen Panettone-Kuchens verzehrte.
»Arrigo Boito, er war neben dem Komponieren auch ein Schriftsteller und der beste Freund meines Vaters«, antwortete die modern gekleidete Italienerin mit den auf Kinnlänge geschnittenen dunklen Locken. »1912 wurde er zum Senator ernannt, drei Jahre später hat er für Italiens Eintritt in den Großen Krieg gestimmt – an der Seite der Alliierten.«
Lulu erinnerte sich noch daran, dass Carlotta als Italienerin in München einigen Anfeindungen ausgesetzt gewesen war, als sich ihr Heimatland 1915 der Entente gegen Deutschland angeschlossen hatte. Die Servierkraft war schon drauf und dran gewesen, ihre Arbeitsstelle im Café Luitpold zu kündigen und in die Schweiz zu gehen, doch der Besitzer hatte zu ihr gehalten. Die damals sechzehnjährige Lulu war froh gewesen, ihre lieb gewonnene Sprachlehrerin nicht zu verlieren.
Diese fuhr mit ihrer Erzählung über den Komponisten der Oper fort: »Gegen Ende des Krieges hat Signore Boito eine schwere Angina bekommen. Nach einem Besuch an der Front wurde die noch heftiger, im Juni 1918 ist er dann gestorben.«
»Wer hat die Oper nach seinem Tod vollendet?«, fragte Lulu, ihrerseits auf Italienisch, und nippte an ihrem Kakao.
»Der Dirigent Arturo Toscanini zusammen mit zwei befreundeten Komponisten«, berichtete Carlotta. »Die Premiere war dann am 1. Mai an der Mailänder Scala. Zweiundsechzig Jahre, nachdem Boito mit der Arbeit daran begonnen hat!«
»Oh, es heißt ja, gut Ding will Weile haben. Aber das ist schon eine sehr lange Weile«, kam es erstaunt von Lulu. »Worum geht es denn in dem Stück? Den römischen Kaiser Nero?«
»Ja – und um die Spannungen mit dem neuen Christentum«, erzählte Carlotta, während ihre Schülerin Kakao nachschenkte. »Im vierten Akt zündet der verrückte Nero dann Rom an. Das Stück passt leider sehr gut zu unserer Zeit – da ziehen die Brandstifter ja auch wieder in Richtung Rom.«
Lulu verstand die Anspielung ihrer Sprachlehrerin sofort. »Du meinst Mussolini.«
Ende der Leseprobe