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Feinste Backkunst und ein tragisches Schicksal 1940 gleicht Straßburg einer Geisterstadt, die meisten Bewohner sind fortgezogen. Nur die junge Patisseurin Louise Picard ist mit ihrer Großmutter Ida in der heimischen Feinbäckerei geblieben. Als sie sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht ausgerechnet in einen deutschen Soldaten verliebt, riskiert Louise damit das Leben ihrer gesamten Familie, denn Teile der Verwandtschaft sind jüdischer Abstammung. Doch Louise möchte ihre Träume nicht aufgeben und kämpft dafür, dass der Frieden und das süße Leben in ihre Heimatstadt zurückkehren. Hinter dem Pseudonym Charlotte Jacobi verbergen sich die Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht. Sie verfassen seit 2018 gemeinsam historische Romane, die regelmäßig die Bestsellerlisten stürmen: Ihre Hamburger Elbstrand-Saga begeisterte ebenso wie die Familiengeschichte um die Patisserie am Münsterplatz. Zuckersüße Unterhaltung im Elsass vor historischer Kulisse: Lesegenuss für Kopf und Gaumen Das Autorenduo, das als Charlotte Jacobi seine LeserInnen in historische Zeiten entführt, wurde für seine akribischen Recherchen bereits mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. In »Die Patisserie am Münsterplatz« verbindet das Schriftstellerteam historische Einblicke in die Zeit während des Deutsch-Französischen Krieges mit köstlichen Beschreibungen der Backwerkskunst. Spannend, unterhaltsam und gnadenlos verführerisch – der schmackhafteste Dreiteiler des Jahres!
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Originalausgabe
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von shutterstock.com und Richard Jenkins Photography
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Cover & Impressum
Übersicht der wichtigsten Figuren
Ida und Lucien Picards Familie
Weitere Figuren
Prolog
Teil 1
1940
1 – Straßburg war zur …
2 – Am nächsten Tag …
3 – »Eine Ehre ist es …
Ida Picard,geborene Tritschler (* 2. November 1874 in Stuttgart),Patisserieverkäuferin
Lucien Picard (* 9. September 1872 in Straßburg), Biologieprofessor, ihr Ehemann
Marcel Picard (* 19. Mai 1889 in Niederbronn-les-Bains),Adoptivsohn von Ida und Lucien Picard, Patissier
Ruth Picard,geborene Picard (* 1. August 1898 in Straßburg), Marcels zweite Ehefrau
Anne Bernadette (verwitwete) Renaud, geborene Picard (* 28. Februar 1915 in Straßburg),Tochter von Marcel und seiner ersten Frau Odette,Schneiderin
Noée Renaud (* 10. Juni 1934 in Straßburg), Annes Tochter
Louise Picard (* 12. April 1920 in Straßburg), Tochter von Ruth und Marcel Picard
François Picard (* 31. Mai 1925 in Straßburg), Sohn von Ruth und Marcel Picard, Schüler
Paul Tritschler, geborener Picard (* 21. Juni 1894 in Straßburg),Sohn von Ida und Lucien Picard, Jurist, NSDAP-Hauptbefehlsleiter
Klara »Klärle« Tritschler, geborene Teufel (* 27. Mai 1900 in Strümpfelbach), seine Frau, Mutter seiner fünf Kinder
Joséphine Bouvier, geborene Picard (* 22. Februar 1899 in Straßburg),Tochter von Ida und Lucien Picard, Ärztin
Trystan Bouvier (* 3. Juli 1896 in Colmar), Joséphines Ehemann, Bäckermeister
SusetteBouvier (* 23. Januar 1921 in Straßburg), Tochter von Joséphine und Trystan, Krankenschwester
Clément Bouvier(* 7. Mai 1922 in Straßburg), Sohn von Joséphine und Trystan, Schüler
Elise Tritschler, geborene Nägele (* 11. Juli 1853 in Sindelfingen),Idas Mutter, Backwarenverkäuferin
Franz Tritschler (* 7. April 1850 in Stuttgart), Idas Vater, Großbäcker im Ruhestand
Oskar Tritschler (* 23. Februar 1873 in Stuttgart), Idas Bruder, Rechtsanwalt
Claire Tritschler, geborene Goldschmidt, geschiedene Picard (* 29. Juni 1853 in Nantes), Oskar Tritschlers Ehefrau, Ex-Frau des Jacques Picard
Konrad Struve (* 11. September 1900 in Offenburg),Rechtsanwalt
Dr. Claude Favreau (* 30. Mai 1889 in St.-Marie-aux-Mines),Chirurg
Georg Holzinger (* 21. März 1916 in Stuttgart-Heslach),Oberstleutnant der Wehrmacht, Paul Tritschlers Adjutant
Nicolas Rolland (* 26. August 1897 in Metz), Landwirt
Esther Levy (* 30. April 1921 in Colmar), Apothekerstocher,Aushilfe in der Feinbäckerei Tritschler
Marcel Weinum (* 5. Februar 1924 in Brumath), Schüler
Alphonse Adam (* 9. Dezember 1918 in Schiltigheim),Literaturstudent
Eric Thompson (* 30. Mai 1905 in New York), General der U. S. Army
Walter Kupfer (* 28. Februar 1916 in Köln), Steinmetz
Juli 1930
Hm, lecker«, schwärmte die zehnjährige Louise Picard und schloss genießerisch die Augen. »Schmeckt himmlisch nach Orange, die musst du auch probieren.«
Die Bäckerstochter, deren blonde, mit einem Blumenkranz geschmückte Locken in der Julisonne glänzten, reichte die Bonbontüte ihrem zwei Jahre jüngeren Cousin Clément.
Der Knabe mit den leuchtend grünen Augen griff hinein und holte ein gelbes Bonbon in Form einer Fruchtscheibe hervor. »Ich nehm lieber Zitrone, sauer macht lustig«, entgegnete er grinsend. Als er es sich in den Mund geschoben hatte, sah Louise ihn erwartungsvoll an. Er strich sich eine Strähne seines widerspenstigen, immer etwas zu langen schwarzen Haars aus dem Gesicht und nickte anerkennend. »Schmeckt aber auch süß.«
»Irgendwann mache ich selbst Bonbons«, kündigte seine Cousine im Brustton der Überzeugung an und deutete auf den Kranz aus Margeriten in ihrem Haar. »Bonbons, die so aussehen wie Blumen.«
»Und die verkaufen wir dann in unserem Laden. Mit den Kuchen, die ich backe«, schlug der Konditorsohn vor. Er sah hinüber zu dem Baum, unter dem seine Schwester und sein Vater nebeneinandersaßen und sich an der schönen Aussicht auf den Fluss Ill erfreuten. Im Hintergrund war der Turm des Straßburger Münsters zu sehen. Mit gesenkter Stimme ergänzte Clément nun: »Und du bist dann meine Frau.«
Louise nickte errötend. Sie hatte ihren jüngeren Cousin sehr lieb, aber über ihre geheimen Hochzeitspläne in der Anwesenheit anderer zu sprechen war ihr etwas peinlich. Andererseits waren Onkel Trystan und dessen Tochter Susette wohl außer Hörweite. In diesem Moment wandte Susette sich aber zu ihnen um und sah sie eindringlich an.
»Warum beobachtet deine Schwester uns denn so genau?«, erkundigte sich Louise argwöhnisch bei Clément.
»Ach, die passt auf, dass ich nicht ins Wasser falle, hat sie Maman versprochen«, erklärte der Junge abfällig. »Bildet sich was drauf ein, dass sie im Januar schon zehn geworden ist.«
»Das bin ich auch«, entgegnete Louise stolz und versprach fürsorglich: »Ich passe auf dich auf.«
»Das schaffe ich schon selbst«, meinte Clément. »Bin ja bald neun, und schwimmen kann ich besser als ihr alle.«
Eigentlich war ihr Cousin erst im Mai acht geworden, doch Louise wollte seine gute Laune nicht verderben, indem sie ihn darauf hinwies. Stattdessen erinnerte sie ihn daran, dass sein Vater ja heute Geburtstag hatte. »Komm, wir pflücken weiter Blumen für deinen Papa, er hat noch gar keine gekriegt.«
»Dafür ist seine Torte richtig schön«, flüsterte Clément verschwörerisch. »Onkel Marcel hat sie mir schon gezeigt.«
»Ja, ich habe Papa gestern dabei geholfen«, verriet Louise. »Wir haben extra viel Marzipan reingemacht. Das mag Onkel Trystan doch so gern.«
Unter dem Apfelbaum lehnte sich Susette indes zufrieden zurück. Ihr Bruder schien mit ihrer Cousine brav in der Wiese zu bleiben und dem Fluss nicht zu nahe zu kommen.
»Na, alles in Ordnung, Prinzessin?«, fragte Susettes Vater Trystan liebevoll lächelnd.
Das Mädchen nickte. »Ja, Papa. Sie pflücken bloß Blumen.«
Dann sah sie ihren Vater in vager Sorge an.
»Meinst du, dein Rücken tut bald noch mehr weh, jetzt, da du so alt bist?«, fragte sie.
Der Patissier lachte auf und strich sich eine dunkle Strähne aus der Stirn. Haar- und Augenfarbe hatte sein Sohn ebenso von ihm geerbt wie bestimmte Gesten. »Na ja, weißt du, ältere Leute wie Oma Ida zum Beispiel würden sagen, dass vierunddreißig noch jung ist.«
»Ja, aber Uropa Franz meint immer, das Alter ist nichts für Feiglinge. Sein Rücken tut oft so weh, dass ihm die Arbeit in der Backstube keinen Spaß mehr macht«, gab Susette zu bedenken.
»Ach, ich glaube, die wird mir immer Spaß machen«, meinte Trystan abwinkend. »Und wenn ich in die Backstube kriechen muss. Aber bis dahin dauert es hoffentlich ganz lang.«
»Und dann bin ich ja groß und Ärztin so wie Mama. Da kann ich deinen Rücken wieder heil machen«, versicherte Susette.
Trystan schmunzelte und ließ sich nach hinten fallen, um den weißen Schäfchenwolken am blauen Sommerhimmel nachzuschauen. »Na, siehst du, dann ist ja alles gut.«
Susette tat es ihrem Vater gleich und seufzte zufrieden. Ja, alles war gut.
Straßburg war zur Geisterstadt geworden. Gespenstisch leer sah die Elsass-Metropole an diesem 17. Juni 1940 aus, so als sei ihre Seele verschwunden, als kümmere sich keine liebende Hand mehr um sie. Hier lachten keine Kinder, keine Paare schlenderten Arm in Arm durch die Straßen und Gässchen. Obwohl der Himmel grau war, lag eine bleierne Hitze über der leeren Stadt. Zwischen den Pflastersteinen vor dem mächtigen Münster wuchs das Gras, manch eine Fensterscheibe der umliegenden Fachwerkhäuser war eingeschlagen. Außer ein paar Tauben schien es kein Leben mehr zu geben, seit die französische Regierung den Großteil der Bewohner wegen der nahenden Front evakuiert hatte.
Doch dann traten zwei Frauen aus der Rue Mercière auf den menschenleeren Münsterplatz: eine rotblonde junge um die zwanzig und eine Mittsechzigerin mit dunklen Locken, durch die sich einige weiße Strähnen zogen. Zwischen sich schleppten sie eine alte Standuhr.
»Zum Glück kam die Postkarte von deiner Mutter durch«, meinte Ida Picard, die Ältere der beiden. »Sonst hätte ich das Ding völlig vergessen, und dann wäre es in nächster Zeit vermutlich kaputtgegangen. Wir können froh sein, dass noch nichts weiter passiert ist.«
Ihre Enkeltochter Louise nickte.
Die französischen Soldaten waren teilweise nicht sonderlich sorgsam mit dem Eigentum der evakuierten Straßburger umgegangen, in deren verlassenen Häusern man sie zur Verteidigung der Stadt einquartiert hatte. Laut Idas Adoptivsohn Marcel, Louises Vater, waren sie in die Patisserie in der Rue Mercière eingedrungen, hatten den Weinkeller geleert und einige Nippsachen gestohlen. Daher waren die Frauen nun hinübergegangen, um die Standuhr ins Haus am Münsterplatz zu holen. Das alte Stück erinnerte die Familie stets an den seligen Großvater Jacques und hatte daher einen hohen ideellen Wert.
Louise hatte den Patissier Jacques Picard nie kennengelernt, er war zwei Jahre vor ihrer Geburt gestorben. Die von ihm geerbte Feinbäckerei in der Rue Mercière hatte die Familie zu Beginn des Krieges aufgegeben. Erstens, weil sie in solch schwierigen Zeiten keine zwei Geschäfte würden halten können, und zweitens, weil das inzwischen geschlossene Geschäft nach einem jüdischen Vorfahren benannt gewesen war: Goldschmidt. Und es stand zu befürchten, dass mit den Deutschen auch deren Judenhass nach Straßburg kommen würde.
Als Louise und ihre Großmutter Ida mit der alten Standuhr ihre zweite Patisserie, direkt gegenüber dem imposanten Straßburger Münster, fast erreicht hatten, bat Ida: »Können wir das Ding kurz abstellen und eine Verschnaufpause einlegen?«
»Natürlich«, erwiderte die Enkelin schuldbewusst. Ida war immer äußerst agil und voller Tatendrang, weshalb Louise bisweilen völlig vergaß, dass ihre Grand-mère inzwischen bereits sechsundsechzig Jahre alt war.
Die Frauen setzten die Uhr vorsichtig ab und sahen zum Eingang ihrer Feinbäckerei und deren leeren Schaufenstern hinüber.
»Eigentlich hab ich davon geträumt, dass wir dieses Jahr umbauen können«, seufzte Louise wehmütig. »Die Fensterrahmen golden streichen und dann eine große Drehtür anbringen – so wie im Grandhotel Rothes Haus am Place Kléber. Als Zeichen dafür, dass auch bei uns alle Welt ein und aus geht. Und unser Sortiment wollte ich um selbst hergestellte Bonbons erweitern. In allen Farben und Formen.«
»Tja, solche Träume werden wir in absehbarer Zeit nicht verwirklichen können«, räumte Ida ein. »Aber wir sollten sie dennoch nicht vergessen. Eines Tages wird vielleicht doch noch etwas daraus.«
Louises Großmutter hatte ihre Träume ja bereits über einen Weltkrieg hinwegretten können, die junge Backwarenverkäuferin selbst war hingegen weniger zuversichtlich. »Im Moment wird bei uns ja nicht mal gebacken.«
»Aber dein Vater und Onkel Trystan werden zurückkehren. Da bin ich mir ganz sicher«, tröstete Ida.
Ihr Adoptivsohn Marcel war mit den Frauen in der Stadt geblieben, als Straßburg im Herbst vergangenen Jahres evakuiert worden war: In ihrer Patisserie Picard hatten Ida und ihre Enkeltochter die französischen Soldaten, die gekommen waren, um die Stadt im Zweifelsfall vor den Deutschen zu verteidigen, mit den von Marcel zubereiteten Backwaren versorgt. Der zweite Bäckermeister der Familie, Idas Schwiegersohn Trystan, war freiwillig in den Kriegsdienst zurückgekehrt, den er 1918 nur knapp überlebt hatte, diesmal allerdings nur als Feldbäcker. Ihm verdankten es Ida und Louise, dass sie auch in dieser Zeit des Mangels genug vitaminreiche Kost bekamen, denn Trystan hatte vor ein paar Jahren im Hinterhof des Patisseriegebäudes mit viel Liebe ein großes Gemüse- und Kräuterbeet angelegt, um das sich die beiden Frauen inzwischen kümmerten. Aus Solidarität war sein Schwager Marcel regelmäßig an die Front gefahren, um die Früchte seiner Arbeit auch den dort stationierten Truppen zu bringen. Nachdem sich im sogenannten Drôle de guerre, dem Sitzkrieg, nichts bewegt hatte, war die anfangs sehr besorgte Ida allmählich ein wenig entspannter geworden, zumal Marcel berichtete, wirklichen Hass auf den Feind gebe es unter den Soldaten selbst an der Front nicht. Vielmehr schienen beide Seiten den Angriffsbefehl alles andere als herbeizusehnen. Bis auf ein paar kleinere Grenzgefechte und Täuschungsmanöver war bisher glücklicherweise noch nichts passiert, so hatte Idas Adoptivsohn berichtet; die Truppen machten es sich hinter der jeweiligen Frontlinie gemütlich, und man sei sich nicht unsympathisch. Ida war froh darüber – allzu oft hatten Kriege zwischen Deutschland und Frankreich und deren Folgen ihre Familie schwer belastet.
Doch dann war die Lage brenzliger geworden: In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni hatten die französischen Truppen die sogenannte Maginot-Linie, ein aus Bunkern bestehendes Verteidigungssystem entlang der Außengrenze Frankreichs, geräumt. Marcel war an jenem Abend nach der Backwarenlieferung nicht nach Hause gekommen! Ida wurde seither von großer Sorge geplagt, glaubte aber fest an die Heimkehr ihres »Jungen«.
»Er wird nach Frankreich geflohen sein«, hatte Louise vermutet. »Er rechnet sicher nicht damit, dass wir hier auf ihn warten.«
Ida hatte den Kopf geschüttelt. »Marcel würde nicht ohne seine Mutter gehen. Ich bleibe. Aber du, du solltest vielleicht wirklich besser …«
Doch die Enkelin war genauso stur wie die Großmutter: »Nein, Grand-mère. Ich weiche nicht von deiner Seite.«
Die beiden Frauen hatten einander beinahe trotzig angesehen und die eigene Entschlossenheit in den Augen der anderen wiedererkannt.
»Gut«, hatte Ida schließlich gesagt, »dann bleiben wir beide.«
Und so waren sie immer noch hier – und gerade im Begriff, die Standuhr zu retten, die sie nun mit vereinten Kräften wieder anhoben, um sie vollends in die Patisserie Picard zu schleppen.
Dort saßen sie kurz darauf am großen Stammtisch und wischten sich den Schweiß von der Stirn.
»Hoffentlich regnet es bald«, seufzte Louise.
Sie stand auf und öffnete die Ladentür.
»Was machst du?«, fragte Ida ängstlich.
»Ich lasse nur ein wenig frische Luft herein«, erklärte Louise beruhigend. »Gerade windet es endlich ein bisschen.«
Tatsächlich wehte den beiden Frauen sogleich ein angenehmer Luftstrom ins Gesicht. »Draußen vor der Stadt grünt und blüht es, als könne der Krieg der Natur nichts anhaben.«
»Kann er ja auch nicht«, sagte Ida. »Die Natur ist stärker als Bomben und Krieg. Stärker als wir Menschen. Sie siegt immer.«
»Und das ist wunderbar«, fand Louise.
»Ja«, entgegnete Ida und lächelte. »Ja, das ist es.«
In diesem Moment krachte eine Bombe in der Ferne, und das Pfeifen von Granaten war zu hören.
Louise zuckte erschrocken zusammen. »Sollen wir lieber in den Keller gehen?«
Ida schüttelte den Kopf. »Sie sind weit weg. Ich glaube, die haben es auf unseren Bahnhof und die Eisenbahnlinie nach Molsheim abgesehen.«
»Nicht auf das Münster?«, vergewisserte sich Louise angstvoll.
»Aber nein!«, rief Ida und warf der ihrem Haus gegenüberstehenden Kathedrale, die ihr schon so viele Jahrzehnte lang Trost und Kraft spendete, einen wehmütigen Blick zu. Solange das Münster stand, würde am Ende doch alles gut werden.
»Wollen wir nach oben gehen?«, fragte Louise schließlich. »Es wird bald dunkel.«
Ida nickte. »Mit Kerzen in der Backstube und im Treppenhaus ist es mir schon etwas unheimlich«, gestand sie.
Seit zwei Tagen gab es in der Stadt kein fließend Wasser, kein Gas und keinen elektrischen Strom mehr, und auch die Telefonleitungen waren tot. Straßburg war vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten.
»Zumindest haben wir genügend Wasser«, tröstete sich Louise, die am Nachmittag Kanne um Kanne von dem Brunnen auf dem Münsterplatz geholt hatte, den die Stadtverwaltung dankenswerterweise noch in die Straße geschlagen hatte.
»Darf ich wieder bei dir schlafen?«, bat sie ihre Großmutter kleinlaut, als sie oben angekommen waren.
Ida lächelte. »Du würdest mir sogar einen Gefallen tun«, versicherte sie. »Ich mag auch nicht allein in meinem Bett liegen in dieser gespenstischen Stadt. Und letzte Nacht haben wir uns ja nicht gestört.«
»Im Gegenteil«, betonte Louise. »Ich habe mich selten so geborgen gefühlt.«
»Das liegt sicher daran, dass du als kleines Mädchen auch oft zu mir und deinem Großvater ins Bett geschlüpft bist, wenn deine Eltern mal wieder frühmorgens in der Backstube zugange waren«, erwiderte Ida. »Es ist doch schön, dass wir füreinander da sind und uns Halt geben.«
»Ja«, sagte Louise. »Und der Gedanke, dass die anderen auch irgendwo zusammen sind, tröstet mich.«
Im Gegensatz zu Ida, Louise, Marcel und Trystan hatte die restliche Familie Straßburg im vergangenen Herbst verlassen, um, wie fast eine halbe Million weiterer Frauen, Kinder und nicht wehrpflichtiger Männer, nach Südwestfrankreich ins Périgord zu gehen. Und das schon, bevor Frankreich Deutschland am 3. September den Krieg erklärt hatte. Auch neunundsiebzig Dörfer und Weiler im Ober- und hundertsieben im Unterelsass waren verlassen, hinzu kamen zweihunderteinunddreißig im Département Moselle in Lothringen. Sie alle lagen zu nahe entlang der Grenze zum Rhein oder zur Maginot-Linie.
Bevor sie ihre Kerzen ausbliesen, küsste Ida wie jeden Abend liebevoll das Bild ihres Mannes Lucien Picard, das auf dem Nachtschränkchen stand. Louise wusste, dass diese Fotografie zwei Jahre alt war, seinen jungenhaften Charme hatte sich ihr inzwischen siebenundsechzigjähriger Großvater bis heute bewahrt.
Lucien befand sich aufgrund seiner jüdischen Mutter Claire Goldschmidt in noch größerer Gefahr als alle anderen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters lehrte er noch immer als Biologieprofessor an der Straßburger Universität, mit deren übrigem Personal er nach Clermont-Ferrand evakuiert worden war. Dieser Ort lag glücklicherweise viele Hundert Kilometer südlich der Front.
»Bleibt nur zu hoffen, dass auch mein Vater inzwischen in Sicherheit ist«, flüsterte Louise, als sie die Augen schloss.
RUMS! Um vier Uhr morgens schraken Louise und ihre Großmutter Ida aus dem großen Doppelbett hoch.
»Was war das?«, fragte Louise voller Angst.
Im nächsten Moment ertönte erneut ein Knall, der so brachial war, dass das ganze Haus zu beben schien.
»Bombardieren sie uns jetzt?«
»Nein.« Ida drückte beruhigend die Hand der jungen Frau. »Bomben klingen ganz anders. Ich vermute, sie sprengen die Brücken am Westausgang der Stadt. Als sie die anderen zerstört haben, klang das ganz genauso.«
»Mitten in der Nacht?«
»Im Krieg spielt die Uhrzeit wohl keine Rolle mehr«, seufzte Ida. »Wir sind nicht in Gefahr, glaub mir.«
»Dann versuche ich noch ein bisschen zu schlafen«, murmelte Louise und kroch wieder unter ihre Decke. »Darf ich mich an dich kuscheln?«
»Aber sicher!« Ida zog die Enkelin beschützend in ihre Arme.
Am nächsten Tag wurden die letzten beiden Bewohnerinnen der Patisserie Picard von Langeweile geplagt. Minute um Minute verging in quälender Behäbigkeit, und immer wenn Ida zur Standuhr sah, schüttelte sie verwundert den Kopf. »Es ist unglaublich, dass der Zeiger so langsam vorankriecht«, sagte sie. »Sonst fliegt die Zeit doch nur so dahin.«
»Das liegt daran, dass wir nichts zu tun haben, als zu warten und uns Sorgen zu machen«, meinte Louise.
Auch heute hatten sie nichts von ihrem Vater Marcel gehört, und die Angst der beiden Frauen wuchs. Außerdem war ihnen bewusst, dass die Lieben in Südfrankreich sicherlich ihrerseits sehr besorgt um sie waren.
Die Stadt lag tot und leer in der warmen Nachmittagssonne. Doch auf einmal störte etwas das stille Bild: Zwei deutsche Soldaten fuhren auf einem Motorrad auf den Münsterplatz, stiegen ab, sahen sich um und warfen dann in einer ausladenden Geste die Arme gen Himmel. Sieg!, sollte das wohl bedeuten.
»Es ist so weit«, flüsterte Louise, »sie sind da.«
Unwillkürlich zog sie ihre Großmutter ein Stückchen vom Fenster weg.
»Keine Angst«, versicherte Ida. »Die können uns nicht sehen. Und selbst wenn, würden sie uns nichts tun. Ich bin Deutsche und du zur Hälfte ja auch.«
Louise war nicht überzeugt, dass diese Tatsache ihnen helfen würde. »Mir ist trotzdem unwohl.«
Die Männer auf dem Platz diskutierten und deuteten immer wieder zum Münster hinauf.
Dann sahen sie sich um. Diskutierten weiter. Und kamen schließlich geradewegs auf die Patisserie zu.
»Woher wissen die, dass wir da sind?«, fragte Louise angstvoll.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Ida ratlos. »Sie können uns nicht gesehen haben. Ich gehe jetzt runter und begrüße sie auf Deutsch. Uns wird nichts geschehen.«
»Ich begleite dich.«
Hocherhobenen Hauptes schritt Ida Picard, geborene Tritschler, hinunter in die Patisserie, die ihr Vater Franz vor fast fünfzig Jahren gegründet hatte. Er war im 1870er-Krieg gegen die Franzosen ins Feld gezogen, hatte dabei zwei Finger verloren – und sich trotzdem in Straßburg verliebt.
Louise folgte ihrer Großmutter. Sie kamen zeitgleich mit den beiden Soldaten bei der Ladentür an.
»Bonjour, Madame«, sagte der ältere der beiden verblüfft und tippte sich an die Stirn. »Ich hätte nicht erwartet, hier jemanden anzutreffen.« Er nickte Louise zu, die hinter ihrer Großmutter stehen geblieben war.
»Nicht?«, fragte Ida in akzentfreiem Deutsch. Die gebürtige Stuttgarterin hatte fast ein halbes Jahrhundert in Straßburg gelebt und fühlte sich daher viel mehr als Elsässerin denn als Schwäbin, doch ihre Muttersprache hatte sie nicht verlernt. »Warum sind Sie denn dann so zielstrebig auf unser Haus zumarschiert?«
»Sie sind Deutsche?«, stellte der Soldat eine Gegenfrage.
»Ja«, bestätigte sie. »Meine Eltern sind 1893 eingewandert und haben die Bäckerei gegründet.«
Er nickte. »Verstehe.«
»Was wollten Sie denn nun in unserem Haus?«
»Na ja, da es in dieser Bäckerei offenbar auch ein Café gibt, hatten wir gehofft, hier eine Tischdecke zu finden.«
»Und da wollten Sie sich einfach bedienen?«, platzte Louise heraus – ebenfalls in gutem, wenn auch nicht ganz akzentfreiem Deutsch. Ihre Großmutter sah sie warnend an.
Doch der Wehrmachtsoffizier schien ihr die Frage nicht übel zu nehmen.
»Sie haben recht«, sagte er. »Wenn Sie nicht da gewesen wären, hätten wir uns … nun ja … Zutritt verschafft.«
Gewaltsam, fügte Louise im Geist hinzu.
»Aber da wir Sie nun angetroffen haben, wollten wir höflich anfragen, ob Sie uns eine Tischdecke borgen können«, bat der jüngere.
»Aber sicher«, sagte Ida und trat einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie herein.«
Erst als die Männer an ihnen vorbeigingen, bemerkte Louise, dass der jüngere sehr gut aussehend war. Groß, muskulös, blond, blauäugig und, wie sie schätzte, etwa Mitte zwanzig. Er sah sie auf so seltsam eindringliche Weise an, dass sie eine Gänsehaut bekam. Ob dieses Gefühl ein angenehmes war, konnte die junge Frau noch nicht festmachen. Auf jeden Fall war sie erstaunt, dass der Soldat so höflich, ja, fast schüchtern wirkte. Eigentlich eilte der Wehrmacht ein anderer Ruf voraus.
»Darf ich wissen, wofür Sie die benötigen?« Ida überreichte den Herren eine der typischen karierten elsässischen Tischdecken.
Die beiden sahen sich skeptisch an. »Haben Sie vielleicht eine weiße?«, erkundigte sich der ältere Soldat, ohne ihre Frage zu beantworten.
Ida nickte und kramte ein säuberlich gefaltetes und gebügeltes Leinentuch mit Hohlsaumstickerei aus dem Schrank.
Sie seufzte beim Anblick des Familienstücks, die Großmutter ihres Mannes hatte es ihnen vor über zwei Jahrzehnten geschenkt. Liebevoll strich sie darüber.
»Die ist perfekt«, unterbrach der ältere der beiden Soldaten Idas Gedanken an die 1928 kurz nach ihrem hundertsten Geburtstag verstorbene Bernadette. Er nahm ihr die Decke aus der Hand. »Haben Sie zufällig ein Stück Kohle?«
»Sicher«, antwortete Ida überfordert und zum Unwillen ihrer Enkelin. »Aber was …?«
»Ich geh schon«, sagte Louise rasch und drängte sich an den anderen vorbei, um in den Keller zu eilen und die gewünschte Kohle zu holen, bevor einer der Männer auf die Idee kam, sie zu begleiten. Sie war froh, den eindringlichen Blicken des jungen Soldaten für einen Moment zu entkommen.
Unten im Keller schob sie das Regal mit den leeren Einmachgläsern beiseite und holte die Kohle aus dem dahinterliegenden Hohlraum. Dort hatte sie ihre Schätze im letzten Winter besorgt versteckt, nachdem sie gesehen hatte, dass die französischen Soldaten Türen und Fensterläden der leer stehenden Häuser zu Brennholz verarbeiteten. Sie wusste genau, wie viel Kohle sich noch in der Nische befand. Der Haufen war mächtig geschrumpft. Seufzend schloss sie ihre Finger um ein Stück und nahm es mit nach oben.
»Bitte schön«, sagte sie und fügte leicht vorwurfsvoll hinzu: »Wir haben so gut wie keine mehr.«
»Nun schauen Sie nicht so streng, Fräulein«, grinste der ältere Soldat. »Sie bekommen es zurück. Zumindest den größten Teil.«
Louise sah ihn fragend an. Was um alles in der Welt hatte der Mann vor?
»Sie erlauben?« Der Deutsche breitete das Tischtuch mit einer weit ausholenden Bewegung über dem einstigen Stammtisch aus.
Dann nahm er das Stück Kohle und malte ein riesiges Kreuz auf die Tischdecke. Ida zuckte ob dieser Behandlung des Familienerbstücks schmerzvoll zusammen. Als er an jedem der vier Enden weitere Linien hinzufügte, wurde den beiden Frauen klar, dass vor ihren Augen ein Hakenkreuz entstand.
»Aber Sie können doch nicht einfach …«, setzte Ida an zu protestieren.
»Kohle geht wieder raus«, sagte der jüngere Soldat entschuldigend, was Louise, die innerlich vor Wut kochte, ein wenig beschwichtigte. »Ich würde es Ihnen allerdings nicht empfehlen. Sie sollten das gute Stück als Andenken behalten, wenn wir es Ihnen wieder zurückgeben.«
»Aber was haben Sie denn damit vor?«, fragte Ida wieder.
»Dieses Tischtuch«, verkündete der ältere deutsche Soldat feierlich, »dieses Tischtuch ist eine Fahne. Die erste Hakenkreuzfahne, die statt des Gallischen Hahns vom Münster wehen wird. Habe die Ehre.«
Sprach’s und war, gefolgt von seinem blonden Untergebenen, der Louise beim Gehen noch ein vieldeutiges Lächeln schenkte, zur Tür hinaus. Verwundert sahen Louise und Ida den beiden nach, wie sie, das tritschlersche Tischtuch zwischen sich tragend, auf das Münster zusteuerten.
»Zum Glück muss die alte Bernadette das nicht mehr erleben«, meinte Ida resigniert.
Schweigend standen die beiden Frauen nebeneinander und warteten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sahen, wie die Fahne mit dem Gallischen Hahn verschwand und kurz darauf die durch das Hakenkreuz entweihte Tischdecke im Wind wehte.
Keine fünf Minuten später waren die beiden Wehrmachtssoldaten wieder unten auf dem Münsterplatz angekommen und überzeugten sich davon, dass die Hakenkreuzfahne gut zu sehen war. Dann kamen sie wieder auf die Patisserie zu.
»Nochmals vielen Dank für die großzügige Leihgabe«, sagte der ältere Soldat, und der jüngere fügte hinzu: »Morgen werden unsere Truppen einmarschieren und eine richtige Fahne aufhängen. Dann sorge ich persönlich dafür, dass Sie Ihr Tischtuch zurückerhalten.« Dabei sah er Louise an, die nur kühl nickte.
»Also dann: Heil Hitler!«, verabschiedeten sich die Männer, doch weder die ältere noch die jüngere Frau erwiderten den Gruß. Sie blickten nur zum Münster hinauf, auf dem nun ihre Tischdecke flatterte.
»Jetzt kommen sie alle.«
Am späten Vormittag des 19. Juni standen Ida und ihre Enkeltochter wieder nebeneinander am Fenster der Patisserie Picard, die früher, als Straßburg noch deutsch gewesen war, Tritschler geheißen hatte. Sie sahen hinaus auf den Münsterplatz: Drei Motorräder mit je zwei Deutschen darauf fuhren auf die Kathedrale zu. Bei einem der hinteren Männer handelte es sich, wie Louise erkennen konnte, um einen General, der eine Hakenkreuzfahne unter dem Arm hielt.
»Hoffentlich halten sie Wort, und wir bekommen Grand-mère Bernadettes Tischtuch zurück«, murmelte Ida mit wankender Stimme. Dann sah sie ihrer Enkelin beschwörend in die Augen: »Du musst vorsichtiger sein, wenn du mit diesen Männern sprichst.«
»Oma«, sagte Louise mitleidsvoll und legte den Arm um ihre bleiche Großmutter. »Hast du solche Angst vor den Deutschen? Du bist doch ihre Landsmännin!«
»Ich glaube, die Deutschen sind nicht das, was sie einmal waren«, meinte Ida bang. »Die da draußen«, sie deutete auf den Münsterplatz, wo nun auch ein Panzer einrollte, »die da draußen kann man nicht mit den Männern der Kaiserzeit vergleichen. Diesmal könnten sie auch Südfrankreich erreichen. Nach allem, was man so über sie hört … Ich habe Angst um deinen Großvater.«
Louise wusste nichts Tröstliches darauf zu erwidern. Tatsächlich schien nichts und niemand Hitlers Truppen aufhalten zu können. Und als Halbjude war Idas Gatte Lucien in besonderer Gefahr. Zum Glück musste man sich wenigstens nicht um dessen Mutter Claire Goldschmidt sorgen: Die war trotz ihres biblischen Alters von siebenundachtzig Jahren mit ihrem wesentlich jüngeren Mann längst in die neutrale Schweiz geflohen.
Eine Viertelstunde später sahen sie, dass das tritschlersche Tischtuch verschwand. Kurz darauf wurde auf der Spitze des Turms die rot-weiß-schwarze Hakenkreuzfahne entrollt.
Stumm beobachteten die beiden Frauen das Treiben der Männer draußen vor der Tür. Es tickte deutlich hörbar. War das Geräusch lauter als sonst? Ida wandte sich zu der großen Standuhr um, die neben der Ladentheke an der hinteren Wand des Geschäfts ihren Platz gefunden hatte.
Nachdenklich erzählte sie: »Vor zweiundzwanzig Jahren habe ich etwas ganz Ähnliches erlebt. Damals zogen die Deutschen ab, und die Franzosen kamen. Dein Urgroßvater Jacques Picard war ein überzeugter Nationalist, hatte 1871 im Krieg gegen die Preußen seinen Arm verloren. Er konnte sich nie mit der deutschen Herrschaft abfinden. Und das Erste, was er tat, als 1918 die Franzosen einmarschiert sind, war, die Uhr auf französische Zeit umzustellen.«
Sie sah wieder aus dem Fenster, als wolle sie sich an der Uhr am Münsterturm überzeugen, ob diese noch französisch oder schon deutsch tickte, da rief sie erstaunt: »Paul!« Louise blinzelte. Tatsächlich. Da stiefelte ihr Onkel Paul, an den sie sich kaum noch erinnern konnte, von dem aber eine Fotografie jüngeren Datums auf der Anrichte im Wohnzimmer stand, über den Platz. Grand-mère Ida hatte erzählt, dass er bei der NSDAP inzwischen zum Hauptbefehlsleiter aufgestiegen war. Sein leicht humpelnder Gang zeugte von einer Prothese. Louise wusste, dass Paul im letzten Krieg auf deutscher Seite gegen Frankreich gekämpft und sein linkes Bein verloren hatte. Danach war sein Hass auf die Franzosen so groß gewesen, dass er das Elsass nach deren Einmarsch vor zweiundzwanzig Jahren verlassen und den deutschen Mädchennamen seiner Mutter angenommen hatte.
Und nun war er also wieder da. Neben ihm ging – Louise musste noch mal blinzeln – der gut aussehende Soldat, der gestern in der Patisserie gewesen war, um das Tischtuch zu holen.
»Paul!« Ida hatte Tränen in den Augen. »Mein Junge!«
Louise war gerührt. Kaum jemand sprach je von Onkel Paul, der mit seiner französischen Familie gebrochen hatte, was Ida und Lucien, wie ihre Mutter ihr einmal erzählt hatte, fast das Herz zerriss. Und nun marschierte er ganz selbstverständlich auf sein Elternhaus zu.
Ida fiel ihm um dem Hals.
Paul war diese Zuneigungsbekundung offenbar peinlich, er stand steif wie ein Stock und klopfte der tief bewegten Ida nur verlegen auf den Rücken. »Ist ja schon gut, Mutter.«
Louise sah derweil den Offizier an, der ihr die notdürftig zusammengelegte Tischdecke mit einer feierlichen Geste überreichte.
»Bitte schön. Wie versprochen bringe ich Ihnen hier das Symbol unseres Sieges zurück.«
»Danke«, antwortete sie knapp.
»Das ist übrigens Oberstleutnant Georg Holzinger, mein Adjutant«, erklärte Paul. »Ihr habt ihn ja bereits kennengelernt.«
»Kommen Sie doch mit herein«, bot Ida an.
Sie ließ Paul los und hielt ihm, seinem jungen Kameraden und Louise die Tür zur Patisserie auf.
»Ach, Paulchen«, sagte Ida, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte. Sie konnte ihre Augen gar nicht von dem schmalen Mittvierziger lassen, dessen Uniform etwas zu groß für ihn geraten schien. »Mein Paulchen.«
Louise beobachtete, wie es um die Mundwinkel seines hünenhaften Begleiters zuckte, und Paul schien die verniedlichende Ansprache seiner Mutter ziemlich peinlich zu sein, passte sie doch so gar nicht zu einer hochrangigen Respektsperson der NSDAP.
Als Ida ihrem Sohn nun auch noch sacht über die Wange streicheln wollte, wischte er ihre Hand mit einer unwirschen Geste weg.
»Lass das doch, Mutter!«, zischte er, und sie wich erschrocken zurück.
Louise sah Ida an, wie verletzt sie war. Grober Kerl, dachte sie.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte sie, um ihrer Großmutter eine Verschnaufpause zu gönnen.
Paul schien seine Nichte erst jetzt zu bemerken. »Wer bist du denn?«, fragte er, und es klang unhöflich.
Sie runzelte die Stirn. »Louise«, sagte sie. »Die Tochter von Ruth und deinem Bruder Marcel.«
»Sieh an, sieh an. Da hat die hübsche Ruth ein noch hübscheres Töchterlein bekommen«, sagte er versonnen und musterte Louise anzüglich von oben bis unten. Seine Blicke waren ihr furchtbar unangenehm. Ihre Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass Paul ihr nachgestellt und zunächst durch eine Intrige verhindert hatte, dass sie und sein Adoptivbruder Marcel zusammengekommen waren. Zum Glück hatte sich dann nach dem Großen Krieg alles geklärt und in Wohlgefallen aufgelöst.
»Du hast ja vielleicht mitbekommen, dass unsere Wehrmacht in Straßburg einmarschiert ist, liebe Louise«, schickte sich Paul voll beißender Ironie an, ihre Frage zu beantworten. »Ich werde hier die rechte Hand von Robert Wagner sein, dem neuen Gauleiter des Elsass.«
Nun nahm er wieder seine Mutter ins Visier. »Weißt du noch, was ich dir geschworen habe, als ich damals von hier fort bin? Ich werde dafür sorgen, dass das Elsass wieder deutsch wird, sagte ich. Und wie du siehst, habe ich mein Versprechen gehalten, Mutter.«
»Ja, das hast du wohl«, entgegnete Ida knapp, und Louise konnte ihrer Großmutter ansehen, dass sie, nun, da die erste Wiedersehensfreude vorbei war, alles andere als begeistert war.
Paul warf sich in die Brust. »Der Führer wird in zehn Tagen ebenfalls hier eintreffen.«
»Adolf Hitler kommt nach Straßburg?«, vergewisserte sich Louise entsetzt.
»Ja, was für eine Ehre, nicht wahr?«, meinte Paul und verkündete stolz: »Ich soll ihn durchs Münster führen.«
»Glückwunsch«, sagte Ida nur, und Louise musterte sie mitleidsvoll. Ihre Großmutter war der herzlichste und gutmütigste Mensch, den sie kannte. Dass sie nun so einsilbig und zurückhaltend war, zeigte, wie sehr ihr Sohn Paul sie mit seiner Zurückweisung verletzt haben musste.
Sie beschloss, später mit Ida darüber zu sprechen, doch nun richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Onkel, der ankündigte: »Selbstverständlich werden auch mein Klärle und die drei kleinen von unseren fünf Kindern hierherkommen. Ich denke, du freust dich, wenn du deine Enkelkinder wiedersiehst?«
»Das … ja …«, Ida blinzelte heftig, »natürlich.«
Louise wusste, wie sehr Ida und ihr Mann Lucien darunter gelitten hatten, dass der Kontakt zu Paul und seiner Familie so locker gewesen war. Anfangs war sie noch viermal im Jahr nach Stuttgart gereist, dann war es immer weniger geworden. Sie sei dort nicht willkommen, hatte sie nach ihrer Rückkehr nur kurz angebunden erzählt. Sie hatte ohnehin nie direkt bei Paul und seiner Familie gewohnt, sondern anfangs bei dessen Schwiegervater Kurt Teufel, einem ehemaligen Lehrling der Tritschlers, und später bei ihren eigenen Eltern, die inzwischen beide über neunzig waren und in ihrer schwäbischen Heimat den wohlverdienten Ruhestand verbrachten.
»Platz dürfte wohl genug sein«, fuhr Paul fort. »Die anderen sind ja ohnehin nicht da, und dann kannst du Klärle ein bisschen mit den Kindern helfen.«
Louise war sprachlos. Wie dreist er war! Erst meldete er sich zwei Jahrzehnte lang kaum bei seiner Mutter, behandelte sie bei deren Besuchen zudem reichlich abwertend, und dann verfügte er ganz selbstverständlich über sie und ihr Haus. Dass er nun auch noch verlangte, Ida solle seiner Frau zur Hand gehen, schlug dem Fass den Boden aus.
Ida starrte ihren Sohn nur stumm an. Doch Paul schien gar keine Antwort zu erwarten. Es war für ihn wohl auch keine Frage gewesen, sondern ein Befehl.
Dann fiel sein Blick auf die Standuhr, und er durchmaß mit großen Schritten den Raum, um die Zeiger eine Stunde nach vorn zu drehen. »Nun herrscht hier wieder deutsche Zeit«, sagte er zufrieden. »Darauf habe ich mehr als zwanzig Jahre gewartet.«
»Das kann ich mir vorstellen«, ertönte in diesem Augenblick eine abfällige Stimme vom Eingang, die Ida und ihre Enkelin sofort erkannten. Sie fuhren herum und sahen zur Ladentür. Dort stand ein muskulöser, braunhaariger Mann, dem man seine einundfünfzig Jahre nicht ansah.
»Papa!«
»Geht es dir gut?«, fragte Louise, nachdem ihr Vater sie und seine Adoptivmutter mit all der Herzlichkeit in die Arme geschlossen hatte, zu der Paul nicht in der Lage gewesen war.
»Bestens, tut mir leid, dass ihr euch sorgen musstet, aber der Lieferwagen war defekt und ich habe kein Ersatzteil bekommen«, erklärte Marcel und wandte sich dann Paul zu. Der schien alles andere als erfreut, seinen Adoptivbruder zu sehen. Für Louise war die alte Rivalität der beiden sofort spürbar.
»Salut, Paul«, sagte er. »Maman hat berichtet, dass du ein hohes Tier geworden bist.«
»Dafür hast du eine schöne Tochter. Kommt ganz nach ihrer Mutter«, erwiderte Paul anzüglich. »Wo ist die eigentlich?«
»In Sicherheit«, sagte Marcel mit versteinertem Gesichtsausdruck.
Ida, die einen Streit befürchtete, erzählte rasch: »Paul ist jetzt die rechte Hand des neuen Gouverneurs, er hat gefragt, ob er mit seiner Familie hier einziehen kann.«
»Das ist doch …«, setzte Marcel an, doch Ida fiel ihm mit flehendem Blick ins Wort: »Wir haben genug Platz, für die Goldschmidt drüben ist ja noch kein Käufer gefunden.«
»Es wäre mir recht, wenn ich hier wohnen könnte, in meinem Elternhaus«, verkündete Paul. »In meiner Position sollte ich wohl kaum in das Haus eines französischen Juden abgeschoben werden.«
Louise bemerkte, wie sich die Hand ihres Vaters zur Faust verkrampfte, als er knurrte: »Wir haben kein Problem damit, dort zu wohnen. Allerdings werden wir hier backen und verkaufen.«
»Ach, meine Familie und meine Männer haben gewiss nichts dagegen, ein bisschen von euch verwöhnt zu werden«, entgegnete Paul grinsend.
Louise bekam wegen der judenfeindlichen Worte ihres Onkels eine Gänsehaut. Sie dachte an die Anschläge vom November 1938 zurück, als in ganz Deutschland die Synagogen gebrannt hatten. Wenn dieser Geist bald auch in Straßburg wehte, wäre es wohl besser, das Schild »Patisserie Goldschmidt« am Haus in der Rue Mercière so rasch wie möglich zu entfernen.
»Eine Ehre ist es dem Mann, dem Streit fernzubleiben; aber die gerne streiten, sind allzumal Toren.«
Louise nickte zustimmend bei dem Bibelspruch, den der katholische Priester im Liebfrauenmünster in seiner Predigt soeben zitiert hatte. Der Geistliche gab der Hoffnung auf baldigen Frieden Ausdruck, und zum Glück sah es ja gerade so aus, als sei die Besetzung Straßburgs ohne allzu großes Blutvergießen vonstattengegangen. Früher hatte der Kirchgang Louise eher gelangweilt, doch seit dem Kriegsausbruch im letzten Herbst betete sie immer öfter für die Lieben in der Ferne.
Da fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, der sich, von ihr unbemerkt, am anderen Ende der Bankreihe niedergelassen hatte. Sofort ging ihr Puls schneller. Das war Georg Holzinger, der Adjutant ihres Onkels! Er wirkte ganz anders als sonst, zum einen, da er heute statt der Uniform ein weißes Hemd und eine graue Stoffhose trug, zum anderen, weil er, so tief ins Gebet versunken, auf einmal seltsam zerbrechlich aussah.
Louise war hingerissen und konnte den Blick gar nicht von ihm lassen, doch schließlich schien er zu bemerken, dass er beobachtet wurde, und sah zu ihr hinüber. Auch er erkannte sie und strahlte so hocherfreut, dass sich die Geschwindigkeit ihres Pulses gleich noch mal steigerte.
Als Louise nach der Messe mit der recht überschaubaren Anzahl der Kirchgänger die Kathedrale verlassen hatte, schlenderte Holzinger auf sie zu.
»Guten Morgen, Fräulein Tritschler, so eine freudige Überraschung«, grüßte er lächelnd.
Sie dachte an die Warnung ihrer Großmutter und korrigierte ihn nicht. Dass Onkel Paul eigentlich Picard mit Nachnamen hieß – und sie eben auch –, war im Augenblick vielleicht ja nicht so wichtig. Und so sagte sie nur: »Tag, Herr Holzinger.«
»Sie sehen heute noch schöner aus als sonst.« Anerkennend ließ er seinen Blick über sie gleiten, musterte das in großen Wellen frisierte rotblonde Haar und das figurbetonte petrolfarbene Sommerkleid, dem man sein Alter zum Glück nicht ansah. Louise war froh, sich am Morgen solche Mühe mit ihrem Aussehen gegeben zu haben, was mit den bescheidenen Mitteln, die ihr derzeit zur Verfügung standen, gar nicht so einfach war. Sein Kompliment machte die junge Backwarenverkäuferin verlegen, sie sann nach einem anderen Gesprächsthema. »Ich war erstaunt, Sie hier zu treffen. Ich dachte, in Schwaben herrscht das Evangelische vor«, sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.
»In Stuttgart und Umgebung haben wir auch mehrere katholische Kirchen«, erklärte der Deutsche. »Was haben Sie denn heute Schönes vor?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ach, nicht viel, ich werde meiner Großmutter und meinem Vater vielleicht ein wenig bei der Vorbereitung für morgen zur Hand gehen, da beginnt ja der Back- und Verkaufsbetrieb wieder. Und Sie?«
»Es ist so angenehm warm heute, ich wollte ein wenig ins Grüne radeln und in der Ill schwimmen gehen«, antwortete er.
»Oh, wie schön«, platzte es spontan aus Louise heraus; sie musste daran denken, dass sie mit ihren Geschwistern und Cousin Clément vor den Toren Straßburgs viele herrliche Sommertage am Flussufer verbracht hatte, mit Bonbons, Erdbeeren und Kirschen und wilden Wasserschlachten. »Da war ich viel zu lange nicht mehr.«
»Dann begleiten Sie mich doch!«, schlug Georg Holzinger zu ihrer Überraschung vor.
Louise zögerte. Es war gewiss nicht schicklich, als junge Elsässerin allein mit einem deutschen Oberstleutnant schwimmen zu gehen. Und ihr Vater würde es nie erlauben, denn es war ja zurzeit auch wirklich nicht ungefährlich.
Ehe sie absagen konnte, wurde Georg von einem Kügelchen an der Wange getroffen, beide erschraken über die unerwartete Attacke. Sie fuhren herum und sahen einen etwa zehnjährigen Jungen mit einem Röhrchen davonlaufen. Doch der Kleine hatte die Rechnung ohne seinen Vater gemacht, einem hageren Mann in zu großem Sonntagsanzug. Mit zwei großen Schritten hatte er den Knaben erreicht und grob am Arm gepackt.
»Bist du verrückt geworden? Dein Blasrohr mit in die Kirche zu nehmen!«, schnauzte er und verpasste dem Kind eine derart schallende Ohrfeige, dass es zur Seite stolperte.
Louise wurde augenblicklich von heftigem Mitleid erfasst, als dem Kleinen die Tränen in die Augen schossen und er in Erwartung eines weiteren Schlags schützend seine Hände vors Gesicht hob.
Zu ihrer Erleichterung war Georg blitzschnell bei dem Vater angelangt und hielt ihn am Arm fest, als dieser zu einer erneuten Ohrfeige ausholte.
»Lassen Sie das, bitte! Mir ist doch nichts passiert, es war ein harmloser kleiner Streich. Das kennen Sie bestimmt aus Ihrer eigenen Kindheit«, sagte er eindringlich, ohne den eisernen Griff um das Handgelenk des Kirchgängers zu lockern. »So, wie Sie ihn schlagen, kann dem Buben das Trommelfell platzen.«
Der Mann sah ihn mit schwindendem Zorn an und blickte dann fast bestürzt auf seinen Sohn, der ihn mit großen ängstlichen Augen ansah.
Georg ließ den Vater los, und statt eines weiteren Schlags nahm dieser die Hand des Knaben, um mit ihm, nach einem kurzen Nicken in Georgs Richtung, den Münsterplatz zu verlassen.
Louise sah den jungen Offizier gerührt an. Es war wirklich sehr lieb von ihm gewesen, das Kind zu schützen.
Als sie bei der Patisserie Picard ankam, wurde Louise das Gefühl nicht los, den Mund zu voll genommen zu haben. Nachdem er so heldenhaft für den Knaben in die Bresche gesprungen war, hatte sie Georg Holzinger nämlich spontan zugesagt, ihn zu begleiten: Er könne sie um zwei Uhr nachmittags abholen, sie würde das Vélo ihres Bruders leihen und mit zum Baden kommen. Papa und Grand-mère bekommst du schon überredet, hatte eine kecke innere Stimme leichtfertig behauptet. Doch je näher sie dem Fachwerkgebäude kam, desto mehr verschwand diese zuversichtliche Stimmung und machte berechtigten Zweifeln Platz.
Sie wollte gerade die Tür zum Treppenhaus aufschließen, als sie von einem Jungen gerufen wurde: »Louise!«
Sie drehte sich um und sah einen adrett gekleideten Sechzehnjährigen mit braunem Haar und Nickelbrille auf sich zukommen.
»Marci«, erkannte sie Marcel Weinum, einen Klassenkameraden ihres jüngeren Bruders François. Da dieser denselben Vornamen hatte wie der Vater der Picard-Geschwister, gestattete der junge Weinum den beiden, ihn zur besseren Unterscheidung »Marci« zu nennen.
»Was führt dich her?«, fragte Louise. »François ist noch nicht aus dem Périgord zurück.«
»Ich weiß«, erklärte der Mitschüler, »ich bin hier, weil ich dich um etwas bitten möchte.«
»Aha«, kam es verdutzt von der Schwester seines besten Freundes, »um was denn?«
»François hat in seinem Schatzkästchen doch noch den Schlüssel zum Münster«, begann Marci.
Louise nickte. Ja, der Schlüssel zum Turmaufgang war ein Relikt aus dem Nachlass von Professeur Max Fouché, einem alten Freund ihrer Großeltern, der einst mit dem Küster des Gotteshauses zusammengewohnt hatte. 1922 war der Bibliothekar hochbetagt gestorben, und in seiner Wohnung hatten Louises Großeltern, die seine Alleinerben waren, unter anderem den alten Schlüssel gefunden. Sie hatten ihn im Lauf der Jahre vergessen – nicht so ihre Enkelkinder. Louise wusste, dass François und seine Freunde mithilfe dieses geheimen »Sesam, öffne dich« nachts des Öfteren als Mutprobe ins Münster geschlichen waren. Sie selbst hatten die Jungs zu ihrem Leidwesen nie mitgenommen. »Das ist nichts für Mädchen«, war stets die Antwort ihres Bruders auf ihre Überredungsversuche gewesen.
»Ich wollte fragen, ob ich ihn mir am Donnerstagabend ausleihen darf«, sagte Marcel Weinum nun mit gesenkter Stimme, wobei er sich nervös umsah.
»Wozu denn?«, wollte Louise wissen.
»Am Freitag kommt doch der Adolf Hitler zur Besichtigung ins Münster«, flüsterte Marci. »Ich wollte mich ganz frühmorgens dort verstecken – und mir dieses Ungeheuer dann von der Empore aus anschauen.«
Den »Führer« insgeheim von oben beobachten – was für eine verrückte Idee!
»Also gut, unter einer Bedingung«, sagte sie nach kurzem Zögern.
Marci Weinum sah sie über den Rand seiner Nickelbrille hinweg fragend an.
Louise holte tief Luft und erklärte dann: »Du nimmst mich mit!«
Wie gut es tat, am Ufer der Ill in der Natur zu liegen und die angenehme Wärme dieses Junisonntags zu genießen! Doch Louise hatte einen Grund dafür, bei dem Sonnenbad nicht wie sonst die Augen zu schließen. Vielmehr ließ sie das rechte möglichst unauffällig einen Spaltbreit offen, um den neben ihr auf seiner Decke liegenden Georg Holzinger zu bewundern. Der hochgewachsene Oberstleutnant machte mit seinem gestählten nackten Oberkörper eine ausgesprochen gute Figur. Die Wassertropfen auf seiner Haut glitzerten im Sonnenlicht.
Louise bereute es nicht, ihrem Vater und Grand-mère Ida nur die halbe Wahrheit gesagt zu haben. Als sie gebeten hatte, sich am Ufer der Ill sonnen zu dürfen, war von ihrer Großmutter sofort die bange Frage gekommen: »Allein?«
»Natürlich nicht. Ich bin in Begleitung«, hatte die Enkelin geantwortet, »ich bin mit Marci Weinum verabredet.«
Da sie François’ sechzehnjährigen Schulfreund gut kannten, waren Marcel und Ida beruhigt. Louise brauchte ihnen ja nicht auf die Nase zu binden, dass ihre Aussagen zwar beide der Wahrheit entsprachen, aber streng genommen nicht das Geringste miteinander zu tun hatten.
Sie wurde wirklich begleitet – allerdings nicht von Weinum, sondern von einem Wehrmachtsoffizier. Und es stimmte ebenfalls, dass sie mit Marci verabredet war – allerdings nicht für heute zum Baden, sondern am Freitag, um heimlich Adolf Hitler im Münster zu beobachten. Mit den Teilwahrheiten machte sie ihrem Vater und Ida jedenfalls keine Sorgen, und unter Georgs Schutz fühlte Louise sich auch wirklich vollkommen sicher.
»Gehen Sie oft in die Kirche?«, erkundigte sie sich nun.
»Ich habe meiner Mutter versprochen, immer für unser Wiedersehen zu beten, das tut sie daheim auch«, erwiderte er etwas verlegen.
Louise war gerührt, dass ein solches Bild von einem Mann sich derart zartfühlend zeigte.
»Natürlich stand in letzter Zeit nicht immer eine Kirche zur Verfügung«, fuhr Georg fort. »Aber oft hat dafür der Feldgeistliche sonntags eine schöne Predigt gehalten.«
»Sie vermissen Ihre Familie bestimmt sehr«, vermutete Louise.
»Ja, zumindest meine Mutter und meine drei kleinen Schwestern. Mein Vater hat uns schon vor fünf Jahren sitzen lassen. Aber er fehlt uns nicht, im Gegenteil. Als er ausgezogen ist, haben wir gefeiert.«
Louise kam ein Verdacht. Ihr war aufgefallen, dass Georg manchmal den Kopf drehte, als höre er auf einem Ohr schlecht. Dass einem Kind durch Schläge das Trommelfell platzen konnte – wusste er das vielleicht, weil sein Vater ihm in der Kindheit ebenfalls eine folgenschwere Backpfeife verpasst hatte?
»Wir fünf wohnen in einem winzigen Haus in Heslach im Süden von Stuttgart«, fuhr er fort. »Sehr eng, aber gemütlich. Ihr Onkel Paul meinte, bei Ihnen ist es normalerweise auch voller?«
Louise lächelte bei der Erinnerung an die fröhlichen Tage, als beide Häuser von Leben erfüllt gewesen waren.
»Ja, früher habe ich nicht nur mit meinen Eltern, Großeltern und beiden Geschwistern in unserem Haus am Münsterplatz gewohnt. Bis vor zehn Jahren waren sogar meine Urgroßeltern noch bei uns, die sind dann aber zurück in ihre Stuttgarter Heimat, da hatten sie früher auch zwei Bäckereien«, erklärte sie. »In der Rue Mercière lebten meine Tante Joséphine und ihr Mann Trystan mit ihren beiden Kindern.«
»Und wo ist der Rest Ihrer Familie jetzt?«, erkundigte sich Georg.
Es schmeichelte Louise, dass er sich so für ihr Leben interessierte, sie holte ein kleines Familienfoto aus ihrem Portemonnaie. Die Aufnahme hatten sie einst beim Fotografen machen lassen, um sie Urgroßvater Franz zum neunzigsten Geburtstag zu schenken.
Sie deutete zuerst auf eine hübsche dunkelhaarige Frau Anfang vierzig, die neben ihrem Vater Marcel stand, den Georg ja bereits kannte. »Das ist meine Maman Ruth, sie ist letztes Jahr nach Südwestfrankreich ins Périgord evakuiert worden.«
Als Nächstes zeigte Louise auf eine Mittzwanzigerin mit braunem Pagenkopf. »Das ist meine Halbschwester Anne und das auf ihrem Arm ihr Töchterchen Noée, die ist inzwischen schon sechs Jahre alt. Die beiden wohnen in der Pariser Wohnung meiner Urgroßmutter.«
»Und der Junge neben Ihnen?«, erkundigte sich Georg, und Louise bildete sich ein, dass es ein wenig eifersüchtig klang. Aber das war gewiss nur Wunschdenken!
»Das ist mein kleiner Bruder François, der ist heute fünfzehn und will unbedingt Bäcker werden. Auf dem Foto war er noch vierzehn.«
»Sieht älter aus«, stellte Georg fest. »Ist er noch mit Ihrer Mutter im Périgord?«
»Ja, er geht da zur Schule, hat aber geschrieben, dass er seine Klassenkameraden hier vermisst«, berichtete Louise.
»Bald wird er zurückkommen können«, kommentierte Georg derart überzeugt, dass Louise erstaunt aufhorchte.
»Sind Sie sicher?«
Der Deutsche nickte. »Das neue, endlich wieder deutsche Straßburg wird die Elsässer mit offenen Armen empfangen, das ist alles fest geplant. Der Führer will doch keine leeren Städte, er will, dass die Menschen seines großen Reichs gut und in Frieden leben können. Sie werden es sehen, wenn er am Freitag kommt.«
Louise konnte das nicht so recht glauben, wollte aber nicht streiten und fuhr daher mit dem Exkurs durch ihre große Familie fort, der ihm Spaß zu machen schien: Sie zeigte auf eine blond gelockte Frau um die vierzig, die auf dem Foto neben Großmutter Ida und deren Mann Lucien stand.
»Das ist meine Tante Joséphine Bouvier, sie arbeitet als Ärztin am Universitätskrankenhaus in Clermont-Ferrand. Ihr Vater ist auch in dieser Stadt. Mein Opa Lucien ist mit seinen siebenundsechzig Jahren noch Ehrenprofessor an der Straßburger Universität. Der gesamte Hochschulbetrieb mitsamt Personal ist nach Clermont-Ferrand evakuiert worden. Der Dunkelhaarige neben Joséphine ist ihr Mann Trystan.«
Louise verschwieg Georg Holzinger, dass ihr Onkel seit letztem Herbst Feldbäcker in der französischen Armee war. Es wäre ihr eigenartig vorgekommen, dem deutschen Offizier davon zu erzählen.
»Und die Frau, die vor ihnen sitzt?«, hakte er nach. »Sie sieht aus wie eine jüngere Version Ihrer Tante.«
»Ja«, bestätigte Louise lächelnd. »Das ist meine Cousine Susette. Sie lässt sich gerade zur Rotkreuzkrankenschwester ausbilden. Und nach dem Krieg will sie Medizin studieren – wie ihre Mutter früher.«
Auch hier verschwieg sie wieder einen Teil der Wahrheit – nämlich dass Susette derzeit an der Front war, um französische Soldaten zu versorgen.
Ein Familienmitglied auf dem Foto hatte Louise bei ihrer Aufzählung ganz bewusst ausgelassen: einen hübschen jungen Mann mit widerspenstigem dunklem Haar, der inzwischen achtzehn Jahre alt war. Auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme war es nicht zu sehen, aber er hatte ebenso schöne grüne Augen wie sein Vater Trystan. Clément Bouvier! Kurz bevor man ihn mit seiner Familie evakuiert hatte, war zwischen ihm und seiner Cousine Louise die Hoffnung auf etwas mehr als Freundschaft aufgekeimt. Er hatte ihr zum Abschied eine selbst gemachte Marzipanrose geschenkt und sie ihm ihren Glücksbringer: ein Medaillon mit einem Foto ihrer gemeinsamen Urgroßmutter Bernadette Picard.
Leider war Georg Louises Zögern nicht verborgen geblieben. Er legte seinen Zeigefinger auf Cléments Gesicht. »Und dieser junge Mann?«
Louise spürte, wie sie errötete. »Das ist mein Cousin. Der arbeitet im Périgord als Aushilfsbäcker, meine Mutter hat ihn dorthin mitgenommen, weil Tante Joséphine als Ärztin kaum Zeit für die Familie hat. Es wäre so schön, wenn sie wirklich alle bald zurückkehren dürften. Es passt nicht zu dieser Stadt, dass sie so menschenleer ist.«
»Bekomme ich von Ihnen mal eine Führung?«, bat Georg sie, »durch Straßburg, wie Sie es lieben?«
Louise lächelte. »Gern.«
Adolf Hitler! Wie angekündigt betrat er inmitten einer Entourage von Männern in langen Mänteln aus Stoff oder Leder das Straßburger Münster, dessen wertvolle Fenster vor der nahenden Front in Sicherheit gebracht worden waren. Hitlers Einfluss hatte das Gotteshaus also schon beschädigt, bevor er Straßburg überhaupt betreten hatte. Zunächst konnten Louise und Marci von ihrem Versteck in einer Kanzel aus nicht genau verstehen, was die Nazigrößen miteinander sprachen. Der Führer schien aber bestens gelaunt, sein Lachen war deutlich zu vernehmen. Schließlich kamen die Männer am Altar an und konnten von den beiden heimlichen Zeugen besser belauscht werden.
»Das ist ein großartiger Bau«, hörte Louise Hitler sagen. »Ich werde ihn zum Nationalheiligtum des deutschen Volkes machen.«
»Aber was ist dann mit den Gottesdiensten?«, gab einer der Männer in seiner Begleitung zu bedenken.
»Die werden wir natürlich verbieten«, entgegnete Hitler gereizt. Dieses Gotteshaus entreißen wir den Katholiken!«
Marci und Louise wechselten einen empörten Blick.
Als Nächstes ließen sich der Reichskanzler und seine Gefolgschaft fotografieren. Ihren Onkel Paul suchte Louise in der Reihe vergeblich, offenbar war er doch nicht ganz so bedeutend, wie er es dargestellt hatte.
»Der Führer im Münster zu Straßburg«, schwärmte der beflissene Fotograf. »Das können wir als Postkarte herausbringen.«
Als die Männer die Kathedrale verlassen hatten und draußen Jubel und Applaus aufbrandeten, machte Marci Weinum seinem Ärger Luft: »Dieses Schwein schreckt wirklich vor gar nichts zurück. Macht aus einer uralten Kirche ein Denkmal für sich selbst. Die Nazis müssen rigoros bekämpft werden.«
»Aber was können wir schon tun?«, fragte Louise resigniert. »Wir sind doch viel zu jung und ohne jede Macht.«
Weinum widersprach: »Wenn man entschlossen genug ist, kann jeder etwas bewirken.«
»Sie kommen! Sie kommen tatsächlich zurück!«, rief Ida und ließ den Brief sinken, den der Postbote gerade gebracht hatte.
Louise ahnte bereits, worum es ging, und eilte zu ihrer Großmutter. Sie stand am Fenstertisch in der Patisserie, die inzwischen wieder »Tritschler« hieß. Nachdem Paul vor nunmehr einem Monat die Uhr neben der Ladentheke auf die deutsche Zeit gestellt hatte, war seine zweite Amtshandlung gewesen, das in der Backstube hängende alte Schild mit der Aufschrift »Patisserie Tritschler« zu begutachten. Natürlich müsse die Patisserie Picard nun wieder Tritschler heißen, unter diesem Namen sei sie schließlich von seinem Großvater gegründet worden, bevor die Franzosen sie gezwungen hatten, einen französischen Namen zu wählen. Eigentlich hatte er das alte Schild wieder aufhängen wollen, doch er störte sich an dem Begriff »Patisserie«.
»Feinbäckerei Tritschler muss das heißen«, hatte er schnaubend erklärt und Georg, seinen schmucken Adjutanten, angewiesen, ein Schild in Auftrag zu geben, auf dem genau das stand.
Und in ebenjener Feinbäckerei gingen inzwischen die Wehrmachtssoldaten ein und aus, während von der einstigen Straßburger Bevölkerung herzlich wenig zu sehen war. Doch nun hatten tatsächlich Louises Familienmitglieder ihre Rückkehr aus dem Périgord angekündigt.
»Kommen sie alle wieder?«, fragte sie aufgeregt.
Ida schüttelte den Kopf. »Susette ist ja mit dem Roten Kreuz irgendwo an der Front, und Lucien und Joséphine bleiben natürlich auch in Clermont-Ferrand. Vorerst kommt deine Maman Ruth mit eurem François und Clément.«
Ende der Leseprobe