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Ein Jahrhundertwinter sorgt für Trubel Hamburg, Dezember 1978: Eigentlich träumen die Matriarchinnen Anna und Sofie davon, die gesamte Großfamilie zu Weihnachten in der Villa am Elbstrand zu versammeln. Doch Sofies Enkelin, Journalistin Isabel, hängt hochschwanger in Argentinien fest. Unterdessen bereitet Annas Enkelin Stella das Firmenjubiläum der nach wie vor familiengeführten Reederei Nieland vor. Dabei stößt sie im Archiv auf ein Geheimnis, das viele Jahre in die Vergangenheit zurückreicht. Und plötzlich befindet sich die Familie in der größten Schneekatastrophe des Jahrhunderts, die alle Pläne durcheinanderwirbelt … Die Fortsetzung der erfolgreichen Familiensaga »Die Villa am Elbstrand« von SPIEGEL-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi mit einem winterlichen Wiedersehen. Folgende Bände der Reihe sind bereits bei Piper erschienen: - Band 1: Die Villa am Elbstrand - Band 2: Sehnsucht nach der Villa am Elbstrand - Band 3: Sturm über der Villa am Elbstrand
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© Piper Verlag GmbH, München 2024
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören, Anna Mechler.
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
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Cover & Impressum
Prolog
Teil 1
Sommer 1978
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil 2
Winter 1978/79
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Figurenübersicht
Sofies Familie
Annas Familie
Im Autohaus Wessels
Sonstige
Danksagung
Quellen und Literaturempfehlungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Dezember 1925
Der Winter hatte Hamburg fest im Griff, die Straßen waren von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die Atemwolken der Passanten bildeten kleine Nebelschwaden in der kalten Luft, in der ein Duft von gerösteten Maronen und Zimt lag. Ein junger Straßenmusiker spielte auf seiner Geige O du fröhliche.
Gnadenbringende Weihnachtszeit … Während Sofie Timmlein im Geist mitsang, dachte sie, dass sie sich genau dies für ihre drei Kinder wünschte. Das zu Ende gehende Jahr 1925 war für die Neunundzwanzigjährige und ihre Familie nicht einfach gewesen. Deshalb hatte Sofie sich am heutigen Mittwoch, dem 23. Dezember, in die Innenstadt begeben, um noch weitere Geschenke für die morgige Bescherung zu besorgen. Die vierjährige Hilde und die dreijährigen Zwillinge Elfie und Julius hatten nach all dem Wirbel der vergangenen Monate doppelte Freude verdient, fand deren Mutter. Hier in der Mönckebergstraße wimmelte es von Kauflustigen in dicken Mänteln und Wollschals. Nach dem Großen Krieg und der Revolution hatte sich besonders in den Städten das Leben der Menschen endlich gebessert. Ab November 1923 war es durch die Einführung der Rentenmark nach der grässlichen Hyperinflation zu einem starken wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland gekommen. Rund um das Karstadt Warenhaus tauchte die Weihnachtsbeleuchtung alles in ein warmes Licht. Die Schaufenster waren festlich dekoriert. Tannenzweige, goldene Kugeln und Lichterketten schmückten die Auslagen. In einem der Fenster stand ein großer Weihnachtsbaum, dessen Äste sich unter dem Gewicht des glänzenden Schmucks bogen. Kinder drückten sich an den Schaufenstern die Näschen platt und stierten sehnsüchtig auf das Spielzeug, das in den Auslagen zu sehen war. Ein kleines Mädchen mit einem roten Wollschal und einer Mütze auf dem Kopf starrte gebannt auf eine Puppe. Wie meine kleine Hilde, dachte Sofie lächelnd. Sie strich sich eine Schneeflocke aus den blonden Locken und sah erneut beeindruckt an dem 1912 erbauten Konsumtempel hinauf. Auf einer Verkaufsfläche von rund zehntausend Quadratmetern gab es bei Karstadt alles, was das Käuferherz begehrte.
Als die junge Frau ihren Blick wieder auf den Weg vor sich richtete, stieß sie um ein Haar mit jemanden zusammen. Sie sah sich einem als Weihnachtsmann verkleideten Mittdreißiger gegenüber, der aus einem Umhängekorb Lebkuchen und Schokolade an Kinder verteilte. Die drängten sich um ihn und flüsterten ihm ihre Weihnachtswünsche ins Ohr. Ein kleiner Junge bat um einen Holzschlitten, ein Mädchen wünschte sich ein Puppenhaus.
Sofie musterte den Verkleideten genauer, da er ihr seltsam bekannt vorkam.
Er bemerkte ihren Blick und lächelte sie erfreut an. »Ja, Sofie, so ein Zufall«, wurde sie von ihm begrüßt.
Sie dachte sich den künstlichen Bart aus Flachs weg und erkannte den Herrn dann schließlich ihrerseits. Es handelte sich um Dr. Ulf Jepsen, den Schiffsarzt des Dampfschiffs Lucie Woermann, auf dem sie vor fünf Jahren als Bordkrankenschwester gedient hatte. Im Sommer 1920 hatte ein Zusammenschluss mehrerer Reeder rund achthundert Seeleute angeheuert und mit besagtem Dampfer sowie einem Segelschiff nach Chile bringen lassen. Dort waren seit dem Kriegsbeginn 1914 mehr als fünfzig deutsche Großsegler in den Häfen festgesetzt gewesen. Diese sollten bemannt werden und dann, mit Salpeter beladen, nach Europa segeln. In den dortigen Zielhäfen mussten sie gemäß des Vertrags von Versailles als Reparationsleistung an die jeweilige Siegermacht übergeben werden. Auf der Überfahrt hatte Sofie seinerzeit ihren späteren Ehemann kennengelernt, den Bordzimmermann Max Timmlein. Und auch ihre Kollegin aus der Zeit auf dem Lazarettschiff Sierra Ventana im Großem Krieg, Bordschwester Heidi, hatte sich auf der Chilefahrt verlobt – mit eben jenem Herrn, der nun als Weihnachtsmann mit Süßigkeiten für Kinder und einer Sammelbüchse für Erwachsene vor Karstadt stand.
»Moin, Ulf«, grüßte ihn Sofie. »Ist Heidi auch in Hamburg?«
»Nein, sie ist heute in der Klinik in Wilhelmshaven unabkömmlich. Wir wollen über die Feiertage zu ihren Eltern ins Schwäbische, dafür braucht sie ihren restlichen Urlaub. Sie kommt morgen her, und dann fahren wir zusammen mit der Eisenbahn bis Stuttgart«, berichtete der verkleidete Mediziner. Daraufhin erklärte er seinen ungewöhnlichen Aufzug: »Ich habe eine Wette gegen meinen Freund Rudolph Karstadt verloren. Deshalb sammle ich heute hier für arme Kinder und verteile Geschenke.«
»Das ist aber lieb von dir«, fand Sofie.
Ulf Jepsen schmunzelte. »Eigentlich dachte ich immer, ich helfe den Kindern am besten, wenn ich als Arzt ihre Krankheiten behandle. Aber Wettschulden sind Ehrenschulden. Wie geht es denn dir und deinem Max? Wir haben uns ja seit unserer Hochzeit vor drei Jahren nicht mehr gesehen.«
»Eigentlich sind alle wohlauf«, antwortete Sofie zögerlich. »Leider hat im Sommer ein Blitz in Max’ Werkstatt in Poppenbüttel eingeschlagen. Alles ist abgebrannt, auch unsere Wohnung darüber.«
»Ach, du lieber Himmel«, rief Ulf betroffen. »Die Gewitter waren wirklich heftig dieses Jahr. Bei uns in Wilhelmshaven gab es da so eine Geschichte von einer Kuh und einer Gemeindeschwester. Die Ärmste ist vor Schreck in Ohnmacht gefallen, weil das Rind direkt neben ihr vom Blitz erschlagen wurde.«
»Das muss auch furchtbar sein«, meinte Sofie.
»Wo seid ihr denn dann untergekommen?«, erkundigte sich Ulf.
»Unsere Freundin Anna Meseritz hat uns die Wohnung über der Remise ihrer Familienvilla in Altona zur Verfügung gestellt«, antwortete Sofie.
»Und wovon lebt ihr ohne die Schreinerei? Deine Hilde ist ja erst vier, und die Zwillinge drei. Da kannst du doch nicht als Krankenschwester arbeiten, oder?«
»Zumindest aushelfen kann ich gelegentlich«, widersprach Sofie. »Annas Tochter Leni ist schon acht und geht zur Schule. Die alte Kinderfrau der Nielands darf sich deshalb um meine Kleinen kümmern, wenn Not an der Frau ist. Außerdem arbeitet Max als Hausmeister in der Villa, seit es seine Schreinerei nicht mehr gibt – der ist auch meistens in Rufweite.«
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein kleiner Mann neben ihnen auf, der Dr. Jepsen dessen Sammelbüchse aus der Hand riss. Der Arzt schrie erschrocken auf, Sofie rannte dem Dieb, der sich seine Kapuze zur Tarnung tief ins Gesicht gezogen hatte, ohne Zögern nach. In wildem Slalom folgte die schlanke Krankenschwester dem untersetzten Mann durch die Menge der Passanten in eine Seitenstraße. »Haltet den Dieb!«, schrie sie wütend. Was war das bloß für ein Mensch, der Almosen stahl, die für arme Kinder bestimmt waren?
Sie befürchtete schon fast, der Übeltäter würde entkommen, da stolperte er über den Handwagen eines Bürstenverkäufers und stürzte zu Boden. Dabei fiel ihm die Spendenbüchse aus der Hand, woraufhin diese über den vereisten Boden schlitterte.
Geistesgegenwärtig schnappte Sofie sich die gut gefüllte Dose, während sich der Dieb rasch aufrichtete. Sofie stellte fest, dass ihm die linke Hand fehlte und sein Gesicht auf dieser Seite verätzt wirkte. Er musste einer jener Kriegsversehrten sein, die der Staat erst mit Ruhmesversprechen an die Front gelockt und später vergessen und in Armut zurückgelassen hatte. Nun bemerkten sie gleichzeitig, dass ein Schutzmann näher kam. Der Dieb verzichtete daher darauf, Sofie die Büchse wieder zu entreißen, und rannte stattdessen ohne Beute davon. Und sie lief ihm nicht weiter hinterher. Dieser Dieb war wie so viele selbst ein Opfer!
»Alles in Ordnung, Mamsell?«, wollte der Polizist wissen.
»Frau Timmlein hat einen Unhold verfolgt, der meine Spendenbüchse stehlen wollte«, meldete sich Ulf Jepsen zu Wort, der sie mittlerweile eingeholt hatte. Mit seinem Umhängekorb voller Süßigkeiten war er natürlich etwas langsamer als Sofie.
»Die Taschendiebe haben bei dem Adventsgedrängel leider Hochsaison«, seufzte der Polizist und wandte sich an Sofie. »Wie gut, dass Sie den Kerl zu Fall bringen konnten.«
Sie blickte in die Gasse, in der er verschwunden war, und sah zu ihrem Erstaunen eine nobel gekleidete, ältere Dame an der Kreuzung. Es handelte sich um Anna Meseritz’ zweiundsiebzigjährige Großmutter Gudrun Nieland, die Matriarchin der bekannten Reederfamilie und Besitzerin der Villa am Elbstrand. Sie war in Begleitung eines nur wenig jüngeren Anzugträgers mit rotweißem Backenbart, den Sofie noch nie zuvor gesehen hatte. Die beiden schlenderten angeregt plaudernd und lachend die Straße entlang, ohne Sofie wahrzunehmen. Die wunderte sich sehr, denn derart ausgelassen hatte sie die sonst so gestrenge Witwe noch nie erlebt. Da waren die beiden auch schon in der Gasse verschwunden. Wer Gudrun Nielands Begleiter wohl sein mochte?
***
»Ein Backenbart? Den Mann habe ich auch schon gesehen«, erklärte Gudrun Nielands achtundzwanzigjährige Enkelin Anna Meseritz, als Sofie ihr am Abend von ihrer Beobachtung in der Mönckebergstraße erzählt hatte. Die Reedereierbin, deren Vater im Großen Krieg im Skagerrak gefallen war, unterhielt sich mit ihrer besten Freundin in der Küche der Elbstrandvilla.
»Weißt du noch, wo das war?«, hakte Sofie neugierig nach.
»Großmutter war im Sommer doch mit mir und der kleinen Leni in England«, rief Anna ihr ins Gedächtnis zurück.
»Ach ja, als dieser bekannte Wirtschaftswissenschaftler die russische Balletttänzerin geheiratet hat«, erinnerte sich Sofie an den Grund jener Reise.
Anna nickte. »Ja, genau, die Hochzeitsfeier von John Maynard Keynes. Unser alter Freund gehört seit zwanzig Jahren der Bloomsbury Group an. Das ist eine Vereinigung von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern; die Mitglieder sind alle recht einflussreich in der englischen Kulturszene. Und der Mann um die sechzig mit Backenbart gehört ebenfalls dazu. Er war auch bei der Hochzeit, und erstaunlicherweise kannten er und Großmutter sich. Anfangs war sie eher abweisend, so kennen wir sie ja, aber irgendwann ist sie aufgetaut und hat sich angeregt mit ihm unterhalten. Ich glaube wirklich, ich hab noch nie erlebt, dass sie so viel lacht.«
»Genau wie heute Nachmittag«, fand Sofie. »Meinst du, dieser Mann ist ihretwegen in Hamburg?«
»Ich würde es ihr wünschen«, sagte Anna. »Ihren Ehemann hat sie verloren, ihre Schwiegertochter und beide Söhne. Mein Onkel ist ja in Deutsch-Südwestafrika gestorben, mein Vater im Skagerrak – und meine Mutter in Hamburg. Gudrun hätte wirklich ein bisschen Glück verdient.«
In diesem Augenblick betrat Sofies Tochter Hilde an der Hand der Köchin die Küche. »Mutti, Frau Dahlke verrät mir, was sie morgen für die Nielands zu Weihnachten kocht«, verkündete die Vierjährige aufgeregt.
»Wie fändest du es denn, wenn wir morgen alle zusammen in der Villa feiern und du von Frau Dahlkes Essen probieren darfst?«, kam es unvermittelt aus Richtung Küchentür.
Dort stand das Familienoberhaupt der Reedereidynastie Nieland, und Sofie bemerkte die ungewohnt rosigen Wangen.
Gudruns Enkelin Anna nickte so eifrig, dass ihre braunen Locken wogten. »Das ist eine ganz wunderbare Idee, Großmutter. Es sei denn, ihr möchtet lieber unter euch sein, Sofie.«
Die schüttelte den Kopf. Schon einmal hatte sie mit ihrem Bruder Willy und Ehemann Max in der Villa Weihnachten feiern dürfen – vor fünf Jahren, am Tag ihrer Rückkehr aus Chile. Es war ein äußerst harmonisches Fest gewesen, zu dem sogar Sofies Eltern von der Ostseeküste hatten anreisen dürfen.
»Ich glaube, Max wird begeistert sein. Vielen Dank, Frau Nieland.«
Gudrun lächelte zufrieden. »Dann fragen Sie Ihren Gatten rasch, damit Frau Dahlke und Frau Iwersen alles planen können.«
***
Die kleine Hilde sah zufrieden in den Spiegel. »Das ist ein schönes Kleid für Weihnachten«, befand sie. Sofie musste darüber schmunzeln, dass ihr Töchterchen sich schon derart für Mode begeistern konnte, obwohl sie noch nicht mal fünf Jahre alt war. Dieses Interesse hatte sie sich gewiss von ihrer Taufpatin Anna Meseritz abgeschaut, die stets bestens über den neuesten Zeitgeschmack unterrichtet war und sich gern auffällig kleidete.
Schließlich machte sich Sofie mit ihrem Mann Max, der seinen Sonntagsanzug trug, Hildchen sowie den Zwillingen Elfie und Juli auf den Weg von der Wohnung über der Remise zur Villa, die imposant auf dem Elbhang thronte. Die greise Haushälterin Elfriede Iwersen musste am Küchenfenster gewartet haben, denn sie öffnete den Timmleins bereits, bevor diese klopfen oder klingeln konnten.
»Herzlich willkommen!« Sie strahlte die drei Kinder an, die ihr sehr ans Herz gewachsen waren. Dies beruhte auf Gegenseitigkeit, Elfie war ja sogar nach der geliebten Wirtschafterin benannt worden.
Mit leuchtenden Augen betraten die Kinder die zweistöckige Halle mit dem edlen Terrazzoboden, die sich vom Haupteingang bis zur Terrasse erstreckte und von der die oberen Gemächer auf einer Galerie abgingen. Inmitten der Halle stand ein gut drei Meter hoher Christbaum mit festlich leuchtenden Kerzen, in deren Schein bunte Kugeln glänzten.
Nachdem die Kinder die mit Sternen geschmückte Tanne ausgiebig bewundert hatten, trat Sofies dreißigjähriger Bruder aus dem Wohnzimmer heraus.
»Onkel Willy!«, rief Hildchen begeistert und sprang ihm sogleich in die Arme.
»Dacht ich mir’s doch, dass ich euch gehört habe«, sagte der hochgewachsene Blondschopf. »Du hast dich heute aber besonders hübsch gemacht.«
Da er seit fünf Jahren Prokurist in der Reederei Nieland war, hatte die Familie Willy ein Zimmer in der Villa zur Verfügung gestellt. Er hegte zwei große Geheimnisse, von denen nur eine Handvoll Menschen wussten: Erstens lebte er seit neun Jahren unter der Identität eines Norwegers, die er angenommen hatte, nachdem er im Großen Krieg zweimal mit deutschen Militärschiffen versenkt worden war und sich nicht erneut verheizen lassen wollte. Zweitens war er mit dem ebenfalls dreißigjährigen Hinnerk Nieland zusammen, Annas Cousin, der die Firma leitete. Würde diese Verbindung je bekannt werden, so wäre ein gefährlicher Skandal unausweichlich. Selbst Sofie hatte anfangs Schwierigkeiten gehabt, zu akzeptieren, dass ihr geliebter Bruder, der Mädchenschwarm ihres Heimatstädtchens Glücksburg, sich in einen Mann verliebt hatte. Aber Hinnerk war ein gutmütiger und humorvoller Mensch, und sie hatte rasch gemerkt, wie glücklich er Willy machte.
In diesem Augenblick trat der Halbportugiese ebenfalls aus dem Wohnzimmer. Wie schmuck er mal wieder in seinem Anzug aussah, dachte Sofie. Er war kaum größer als sie selbst, aber sehr muskulös. Seine dunklen Locken und die großen grünen Augen hatte er von seiner aus Lissabon stammenden Mutter Teresa, die heute ebenfalls anwesend war.
»Hallo zusammen«, begrüßte er die Timmleins. »Ihr seht unfassbar festlich aus. Und schön pünktlich seid ihr.«
»Na, wenn einen die große Gudrun Nieland höchstpersönlich einlädt, kommt man besser nicht zu spät«, erklärte Max grinsend.
»Tja, was Großmutter Gudrun betrifft«, begann Hinnerk zögerlich. »Na ja, sie wird heute nicht mit uns feiern.«
»Oh«, stieß Sofie verblüfft hervor, und sofort kam ihr der Mann mit dem Backenbart in den Sinn. »Verbringt sie den Abend mit jemand anders?«
Doch Hinnerk schüttelte beklommen den Kopf. Er senkte die Stimme: »Sie hat mir und Anna vorhin abgesagt. Es gehe ihr nicht gut. Ich habe sie noch nie so verstört gesehen. Sie hat gesagt, wir sollen unbedingt feiern – schon wegen der Kinder. Sie möchte aber keinesfalls gestört werden.«
Sofie fragte sich, was geschehen sein mochte. Eine solche Unhöflichkeit gegenüber den Eingeladenen würde Gudrun Nieland nur begehen, wenn es dafür einen sehr, sehr ernsten Grund gab. Sie beschloss, bei der nächsten Gelegenheit mit Anna darüber zu sprechen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
»Jo, du kriggst en Franzbröök, aver nu mööt wi eerst noch op uns Gepäck töven.«
Stella Schwarz musste schmunzeln, als die Mutter auf dem Nebensitz das Kind an ihrer Seite mit diesem Satz beruhigte. Plattdeutsch hatte sie lange nicht gehört. Und bei dem Gedanken an ein Franzbrötchen, das bekannte Hamburger Feingebäck, lief auf ihrem Weg durch das Ankunftsterminal auch Stella das Wasser im Mund zusammen. Der Hamburger Flughafen war kleiner und weniger hektisch als der in London Heathrow. Die Architektur wirkte moderner, mit klaren Linien und großen Fenstern, die viel natürliches Licht hereinließen. Stella konnte das geschäftige Treiben auf dem Rollfeld beobachten, während sie durch das Gebäude zum Gepäckband ging. Der Flug hierher war noch vom Schmerz über den Abschied von ihrer Londoner Au-pair-Familie geprägt gewesen, bei der sie für fast anderthalb Jahre ein zweites Zuhause gefunden hatte. Wie sehr sie die beiden Kinder lieb gewonnen hatte! Doch jetzt kribbelte ihr Bauch vor Aufregung, weil sie in wenigen Minuten ihre eigene Familie wiedersehen würde, ihren fünfjährigen Neffen Stuart – und ihren geliebten Hund Petzi. Stella fragte sich, ob in der Villa am Elbstrand noch alles beim Alten war. Wenn etwas Schlimmes geschehen wäre, hätte sie dies gewiss erfahren. Sie war etwas nervös, da im März der Mann ihrer Großmutter stark alkoholisiert in die Alster gefallen und ertrunken war. Da er sich ein anonymes Begräbnis gewünscht hatte, war Stella damals nicht nach Hamburg gereist. Ihr war jedoch klar geworden, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren konnte. Laut dem letzten Brief ihrer Mutter Leni waren aber alle wohlauf, und dies war besonders erfreulich, da die Familien- und Firmenoberhäupter Oma Anna, Willy Heger und Patentante Sofie inzwischen alle jenseits der achtzig waren.
Sie selbst, dachte Stella, hatte sich vielleicht am meisten verändert. Als sie im Februar 1977, kurz nach dem ABBA-Konzert im Hamburger Congress Centrum und dem sechzigsten Geburtstag ihrer Mutter, nach London geflogen war, hatte sie sich noch sehr unsicher und bisweilen verängstigt gefühlt.
Am heutigen Dienstag, dem 30. Mai 1978, kehrte sie als »auslandserprobte« Zweiundzwanzigjährige zurück, das hieß: Sie sprach fließend Englisch, war selbstbewusster und wesentlich modeorientierter gekleidet als vor ihrer Abreise. Oma Anna, die eine Boutique in der Hamburger Innenstadt besaß, würde sich gewiss darüber freuen.
Stella wartete am Laufband, bis ihr roter Lederkoffer zu sehen war, schnappte ihn sich, zeigte am Ausgang ihren Pass vor und trat hinaus in den Ankunftsbereich. Zu ihrer Freude wartete dort nicht nur ihre Mutter Leni, sondern auch die vierunddreißigjährige Isabel Jensen, Tante Sofies Enkeltochter, die mit ihrer braunen Lockenmähne ein wenig an die ABBA-Sängerin Anni-Frid Lyngstad erinnerte.
Während der herzlichen Umarmungen flüsterte Stellas Mutter Leni ihr ins Ohr: »Gut, dass du zurück bist, Kleines.« Es klang seltsam ernst. Wie müde ihre Augen aussahen …
Und wieso war Isabel während der Woche in Hamburg? Sie lebte doch inzwischen mit ihrem Mann Alexander an der Ostseeküste, wo beide beim Flensburger Tageblatt arbeiteten.
»Hast du in der Redaktion freibekommen und besuchst uns Hamburger?«, fragte Stella etwas beunruhigt.
Zu ihrer Erleichterung erklärte die Journalistin: »Nein, ich fliege heute über London nach Argentinien, mein Gepäck hab ich schon aufgegeben. Ich darf vor Ort von der Fußball- WM berichten, mein Alex ist ganz schön neidisch. Ich bin eben zweisprachig aufgewachsen, und mein Spanisch hilft mir da drüben bestimmt sehr.«
»Oh, das wird sicher aufregend«, meinte Stella.
»Na, schauen wir mal, wie sich unsere deutschen Jungs auf dem Spielfeld machen«, schränkte Isabel schmunzelnd ein. »Mit Udo Jürgens und viel Studiotechnik einen Schlager singen ist nicht schwer, gegen die besten Fußballer der Welt zu gewinnen schon eher.«
Stella wusste, dass Isabel auf das Lied Buenos dias, Argentina anspielte, welches der Schlagersänger Udo Jürgens anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft im Auftrag des DFB mit Spielern der deutschen Nationalmannschaft eingesungen und als Single veröffentlicht hatte. Sie hatte es öfter gehört, wenn sie aus Heimweh in London deutsche Radiosender eingeschaltet hatte. Sie fand den Ohrwurm kitschig, sein Text enthielt nur belanglose Klischees über Argentinien, das »schöne Land«. In Wirklichkeit herrschte dort allerdings eine mörderische Diktatur, und deren Image wurde durch das Sportereignis schon genug aufpoliert. Mit einem Putsch hatte das argentinische Militär am 24. März 1976 die Macht an sich gerissen und unter General Jorge Rafael Videla ein widerwärtiges Regime errichtet: Tausende Menschen waren spurlos verschwunden. Vor gut einem Jahr war eine deutsche Studentin als angebliche Terroristin gefoltert und ermordet worden.
»Hast du Angst wegen der politischen Situation da drüben?«, fragte Stella.
Isabels verzögerte Antwort ließ erahnen, dass diese in der Tat beunruhigt war. Doch sie versuchte, zuversichtlich zu wirken, und sagte: »Ich denke, während der WM werden die uns Journalisten in Ruhe lassen.«
»Wie bei Hitlers Olympiade damals«, entgegnete Leni abfällig. »Und nach der Veranstaltung wird bestimmt alles noch schlimmer für die Bevölkerung.«
Stella wusste, dass ihre Mutter allen Grund zur Bitterkeit hatte. Sie war vor vierzig Jahren gezwungen gewesen, mit ihrem Vater Gideon auf einem Schiff um die halbe Welt vor den Nazis zu fliehen. Während Leni schließlich mit ihrem Mann Moshe nach London entkommen war, hatten die Deutschen in Belgien ihren Vater erschossen – zusammen mit der jüdischen Lehrerin Stella Heymann und deren Familie. Nach jener Stella hatte Leni ihre Tochter benannt.
»Ich freue mich, dass ich meine Großmutter Edith treffen kann«, erklärte Isabel. »Sie und Ramiro leben ja wieder in seinem Geburtsort in Chile. Ab dem zweiten WM-Match spielt die deutsche Mannschaft im argentinischen Córdoba. Edith und ich haben ausgemacht, dass wir uns dort treffen, weil es genau in der Mitte des Kontinents liegt.«
Stella mochte Isabels Großmutter Edith. Die alte Dame und deren Mann hatten von 1964 bis 1969 im Nachbarhaus der Elbstrandvilla gelebt. »Grüß sie schön von mir.«
»Das mache ich gern, jetzt muss ich aber zum Abfluggate«, sagte Isabel mit Blick auf ihre Armbanduhr. »Schön, dass ich dich noch getroffen habe! Wir sehen uns dann Ende Juni.« Sie drückte Stella erneut an sich.
»Ich freu mich schon. Pass auf dich auf!«, erwiderte sie und sah der eleganten Frau kurz nach. Dann wandte sie sich an Leni. »Du wirkst so ernst, Mutti. Machst du dir Sorgen um Isabel?«
Leni schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Lass uns im Auto sprechen.«
»Dein Vater und ich werden uns scheiden lassen.«
Der Satz hallte im Kopf der schockierten Stella wider, nachdem ihre Mutter Leni ihn auf der Autofahrt vom Flughafen in Fuhlsbüttel zur Elbstrandvilla in Othmarschen ausgesprochen hatte.
»Was?«, brachte Stella mit belegter Stimme hervor. »Warum das denn?«
»Er hat sich in jemand anders verliebt.«
»Wer … in wen denn?«
»Eine seiner Klientinnen, er hat sie bei ihrer Scheidung vertreten. Karin Larsen, die Tochter der Apothekerin von Finkenwerder.«
Stella konnte es nicht fassen. Bei ihrem Besuch an Weihnachten hatte alles noch harmonisch gewirkt. »Aber Vati hat doch erst neulich gesagt, ihr habt in vierzig Jahren so viel zusammen durchgestanden, dass man das nicht so einfach wegwirft.«
Leni seufzte. »Dein Vater hat Angst, plötzlich über sechzig zu sein. Und Karin ist zwanzig Jahre jünger, vielleicht fühlt es sich für ihn an, als könnte er so das Rad der Zeit zurückdrehen.«
»Aber was tut er dir damit an?«, empörte sich Stella. »Du hast immer wieder deine Karriere zurückgestellt, damit du Timon und mich großziehen konntest. Und jetzt hättet ihr endlich Zeit füreinander – da lässt er dich sitzen?«
»Ich kann es nicht ändern«, meinte Leni resigniert. »Ich habe schon länger gespürt, dass er möglichst wenig zu Hause ist und Ausreden sucht, damit er nichts mit mir unternehmen muss. Und natürlich bin ich dann irgendwann auch wütend und unausstehlich geworden.«
»An Weihnachten hat es gar nicht so gewirkt«, sprach Stella ihre Gedanken aus.
»Wir haben uns zusammengerissen, damit du dir keine Sorgen machst, wenn du zurück in England bist«, gab ihre Mutter zu. »Aber am 1. März ist Moshe dann zu seiner Karin gezogen. Es lief wohl schon länger, ein Jahr oder so. Sie haben versucht, es zu beenden, es dann jedoch nicht lange ohne einander ausgehalten.«
»Wo wohnt sie?«
»Über ihrer Tierarztpraxis in Finkenwerder. Sie lebt da mit ihrem neunzehnjährigen Sohn aus erster Ehe.«
Dass auch aufseiten der Geliebten ein Sohn betroffen war, ließ Stella ein wenig Mitleid für diesen empfinden. Anderseits machte es sie eifersüchtig, dass ihr Vater mit der neuen Partnerin gleich auch eine neue Familie bekommen hatte.
Schließlich lenkte Leni ihren himmelblauen VW Käfer durch das Tor an der Elbchaussee über den blumengesäumten Kiesweg auf die Nordseite der Villa Nieland. Diese war von Gründerzeit- und Jugendstilelementen geprägt. Vor dem Gebäude plätscherte der Brunnen mit dem Steinmodell des ersten Segelschiffs der Reederei Nieland: die Ohle Deern. Fünfundsiebzig Jahre war deren Stapellauf nächstes Jahr her, dann würde die Firma ihr Jubiläum feiern. Stella dachte daran, dass der Familienwohnsitz auf der Südseite zur Elbe hin ganz anders aussah. Die dortigen neoklassizistischen weißen Säulen in Kombination mit dem Türmchen auf dem roten Dach sorgten dafür, dass die Villa im Volksmund »Elbschlösschen« genannt wurde. Zu Hause, dachte Stella.
Als Leni und ihre Tochter mit deren Koffern die zweistöckige Empfangshalle betraten, kamen ihnen freudig Stellas immer noch modische einundachtzigjährige Oma Anna und deren ein Jahr ältere beste Freundin, die graublonde, pensionierte Zahnärztin Sofie, entgegen. Anna war es irgendwann müde gewesen, ihr mittlerweile weißes Haar zu färben, daher trug sie recht voluminöse braune Perücken. Ihre individuelle und außergewöhnliche Kleidung sowie die auffälligen Accessoires machten sie zu einer Stilikone. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters – wo Anna Nieland entlangstolzierte, wurde die Welt zum Laufsteg!
Die beiden alten Damen umarmten Stella herzlich. »Du musst uns nachher beim Abendessen alles über London erzählen«, meinte Anna voller Vorfreude.
»Das mache ich gern«, versprach Stella lächelnd. So sehr sie sich freute, ihre Großmutter und Patentante Sofie wiederzusehen, am meisten hatte sie ihren älteren Bruder vermisst, der seit zehn Jahren der Geschäftsführer der Reederei Nieland war. »Ist Timon da?«
»Er ist mit Beryl und dem kleinen Stu bei eurer Strandhütte unten«, erklärte Sofie.
Nun freute Stella sich noch mehr auf ihren Bruder und dessen Frau. Deren süßen fünfjährigen Sohn vergötterte sie nämlich. Sie ließ ihr Gepäck vorerst in der Halle stehen, öffnete eine der hohen Terrassentüren im Salon und machte sich auf den Weg zu den Treppen zum Elbufer hinunter.
In der Strandhütte hatte Stella in ihrer Kindheit häufig gespielt, die Innenwände waren immer noch mit inzwischen vergilbten Comicstrips aus dem Hamburger Abendblatt vollgehängt. Sie handelten vom Seefahrer-Bärchen Petzi, nach dem Stellas Mischlingshund benannt war. Mittlerweile gab es in dem Häuschen Strom, eine Toilette und einen kleinen Kohleofen.
Vor der Hütte erblickte Stella in einem Liegestuhl ihren sechsunddreißigjährigen Bruder Timon, der die früher kurzen braunen Haare inzwischen so wellig trug wie der US-Schauspieler John Travolta. Er hatte ein Feierabendbier in der Hand. Neben ihm saß seine zwei Jahre jüngere Frau, die talentierte Buchillustratorin Beryl, einen Skizzenblock auf dem Schoß. Sie hatte sich in dem Holzhäuschen ein kleines Atelier eingerichtet. Ihre stark gekrausten, nach allen Seiten abstehenden Locken glänzten in der Sonne. Stella wusste, dass diese Frisur ihre Ursprünge unter anderem in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung hatte. Dunkelhäutige Menschen wollten ihr Haupthaar nicht länger dem Geschmack der weißen Mehrheitsbevölkerung anpassen müssen. Früher hatten sie eher versucht, ihr Haar zu glätten. Doch seit Ende der Sechzigerjahre hatte sich dies durch das offensive und stolze Zur-Schau-Tragen der natürlichen Haarpracht geändert.
Prominente wie die Bürgerrechtlerin Angela Davis und die Sängerin Diana Ross trugen den sogenannten Afrolook mit Stolz und setzten ein Zeichen für die Schönheit der natürlichen Haare. In den Londoner Straßen hatte Stella auch Männer mit dieser Frisur gesehen.
Und in Deutschland trugen beispielsweise Bobby Farrell, der Tänzer der erfolgreichen Discogruppe Boney M., und der Fußballspieler Paul Breitner ihre Haare im Afrostil.
Als Timon und Beryl Stella bemerkten, sprangen sie begeistert von ihren Liegestühlen auf, um sie in die Arme zu schließen. Auch ihr Mischlingshund Petzi hatte sie bemerkt und hüpfte winselnd an ihr hoch.
Zu ihrer großen Freude wurde sie auch von ihrem Neffen Stu erkannt, einem süßen Wirbelwind mit strubbeligen Haaren. »Hallo, Tante Stella.«
»Moin, Stu, du erinnerst dich ja noch an mich, wie schön.«
Der Kleine nickte eifrig. »Du bist an Weihnachten aus London gekommen, das weiß ich noch. Und ich hab ein schönes Geschenk gekriegt von dir.«
»Nächstes Weihnachten bin ich auch da, dann bekommst du wieder was.«
»Super«, fand Stu und fügte mit einem frechen Grinsen hinzu: »Vielleicht krieg ich ja schon früher eins. Im Oktober hab ich nämlich Geburtstag, da werde ich sechs.«
Stella erwiderte sein Lächeln. »Ich denke, das lässt sich arrangieren.«
Der Junge warf einen Ball für Petzi, der am Strand entlangtollte und fröhlich bellte.
Stella setzte sich neben Timon und Beryl in den Sand.
»Wie war London?«, erkundigte sich ihre Schwägerin und einstige Babysitterin.
»Sehr schön. Oma Anna will, dass ich nachher beim Abendessen euch allen ganz genau Bericht erstatte«, erzählte Stella. »Weniger schön war es, hier gleich nach der Ankunft zu erfahren, dass unser Vater seine Ehe zerstört hat – wegen einer anderen Frau.«
Timon zog die Augenbrauen hoch. »Das ist jetzt schon ein wenig verkürzt zusammengefasst, oder?«
»Mir tut Mama so leid«, betonte Stella. »Wehe, wenn ich Papa zwischen die Finger kriege!«
Beryl legte ihre Hand auf den Arm ihrer Schwägerin. »Gefühle kann man nicht erzwingen oder verhindern. Und immerhin war er am Ende ehrlich zu Leni. Viele Männer betrügen ihre Frauen ja jahrelang.«
Timon gab einen zustimmenden Laut von sich. »Moshe ist nicht perfekt, aber er ist immer noch unser Vater.«
Stella starrte auf die Elbe hinaus. Die beiden mochten ja recht haben, doch zumindest im Augenblick war ihr dieser Standpunkt zu erwachsen. Sie wollte sich ganz kindisch über ihren untreuen Vater empören. Und es gab einen Menschen, mit dem sie genau darüber ein Gespräch führen konnte: ihre beste Freundin Bine.
***
Anna Nieland saß mit ihrer alten Freundin Sofie auf der Terrasse der Villa, die einen schönen Ausblick auf die malerische Elbe bot. Die sanften Wellen des Flusses und das satte Grün der Bäume bildeten eine idyllische Kulisse, die Abendsonne warf ein warmes Licht auf die verwitterten Holzdielen, während die Blätter der alten Bäume im Wind raschelten. Anna faltete ihre Hände im Schoß und atmete tief durch.
»Sofie«, begann sie leise, »ich muss dir etwas gestehen.« Ihre Augen suchten die ihrer alten Freundin, die sie seit über fünfundsechzig Jahren kannte. »Es geht um Franz.«
Annas zweiter Ehemann, Franz Thomsen, war ein Jugendfreund Sofies gewesen. Er hatte einst in ihrem Heimatort, Glücksburg an der Ostsee, im dortigen Strandhotel als Page gearbeitet. Wegen seines guten Aussehens war er sehr beliebt bei den Mädchen gewesen. Im Zweiten Weltkrieg hatte Anna ihn dann ebenfalls kennengelernt. Damals hatten beide ihren Ehepartner verloren und ein erfolgreiches Modegeschäft geführt – zunächst waren sie also Konkurrenten gewesen, hatten sich dann aber ineinander verliebt. Von Anna war ihre Tochter Leni in die Ehe mitgebracht worden, von Franz sein Sohn Kasimir. Dreißig glückliche Ehejahre waren den beiden beschieden gewesen. Dann hatte Franz sich aber immer mehr verändert. Er blieb häufiger über Nacht weg, räumte mehrfach ohne Rücksprache Annas Konten, versetzte ihren Schmuck. Zu Hause in der Villa hatte er öfter betrunken herumproletet. Kurz vor Weihnachten war seine Leiche in der Elbe gefunden worden, der Obduktion zufolge musste er stark alkoholisiert in den Fluss gefallen sein.
»Er hat mir einen unglaublichen Schuldenberg hinterlassen.«
Sofie zog die Augenbrauen hoch. »Seine Spielsucht?«
Anna nickte seufzend. »Er hat es geschafft, seine Schulden so zu verstricken, dass sie erst Stück für Stück ans Tageslicht gekommen sind. Und jetzt ist es zu spät für mich, das Erbe abzulehnen. Ich muss für all diese Unsummen geradestehen.«
Bestürzt nahm Sofie die Hand ihrer alten Freundin.
»Die Villa, sie ist unser Zuhause, aber die laufenden Kosten für den Erhalt sind enorm«, fuhr Anna fort. »Und die anstehenden Sanierungen – ich weiß nicht, wie ich das alles stemmen soll. Ich werde mein Modegeschäft verkaufen müssen. Eigentlich wollte ich es ja deiner Hilde vermachen, aber es ist die einzige Möglichkeit, die Villa zu retten.«
»Sie wird es verstehen. Die beiden können gut von Josés Professorenpension leben«, sagte Sofie. Sie versuchte, zuversichtlich zu klingen, sah aber beklommen auf die Elbe hinab. Was, wenn das Geld trotzdem nicht reichen würde?
Die Villa am Elbstrand zu verlieren, würde die Familien Nieland und Timmlein wohl völlig auseinanderreißen.
Stellas beste Freundin Bine lebte in Finkenwerder auf der anderen Seite der Elbe über einem Autohaus, das inzwischen ihrem Stiefvater Sharif Dabbagh gehörte. Auf dem Hof der angeschlossenen Werkstatt traf sie auf den sechzehnjährigen Vince, der hier seine Lehre zum Automechaniker absolvierte. Als er sie erkannte, war ihm seine Freude über ihren Anblick deutlich anzumerken.
»Hey, Stella, du bist wieder da«, stellte er mit einem etwas verlegenen Grinsen fest. »London war bestimmt cool, oder?«
»Das war es«, stimmte sie zu. »Aber es ist auch schön, wieder zu Hause am Elbstrand zu sein. Wie geht es dir denn so?«
Vincent Hinnerk Lüttgens, ein Enkel Sofie Timmleins, war von dessen Mutter Elfie nach Anna Nielands im Zweiten Weltkrieg verstorbenem Bruder Hinnerk benannt worden – und nach dem Sturm Vincinette, der Hamburg vor sechzehn Jahren die schlimme Flut gebracht hatte, während der er geboren wurde.
»Es gibt ganz schön viel zu tun«, beantwortete er Stellas Frage. »Albin ist mit seinem Willy den Sommer über in Norwegen, Sharif leitet das Autohaus allein, und ich kümmere mich um die Werkstatt.«
»Na, da muss der Albin ja echt viel Vertrauen in dich haben«, sagte Stella, und sie merkte, mit wie viel Stolz Vince dieses Lob erfüllte. Er war von Kindesbeinen an begeistert von Albin Wessels gewesen, dem Partner seines Großonkels Willy. Von ihm hatte er alles über Automobile gelernt. Inzwischen kannte er sich besser aus als Albin selbst. Stella war nicht verborgen geblieben, dass Vince ein wenig für sie schwärmte. Doch obwohl er mittlerweile ein durchaus hübscher junger Mann geworden war, so war er doch über drei Jahre jünger als sie, und sie sah in ihm weiterhin den pickligen Jungen im Stimmbruch, der er kurz vor ihrer Abreise nach London noch gewesen war.
»Und was hast du heute noch vor?«, fragte sie.
»Ich geh ins Kino«, antwortete er.
»Was gibt es denn?«
»Krieg der Sterne.«
»Hast du den nicht schon gesehen?«, wunderte sie sich.
Aus einem Brief von ihrer Freundin Bine wusste sie, dass Vince den Weltraumpiloten Han Solo verehrte und ein Poster von ihm in der Werkstatt aufgehängt hatte.
»Doch, klar, aber ich finde, bei dem Film gibt es immer wieder was Neues zu entdecken«, meinte er. »Möchtest du vielleicht mitkommen?«
Stella schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich habe ihn in London auf Englisch gesehen, das reicht mir. Außerdem wollte ich nach der langen Pause endlich mal wieder mit Bine quatschen. Weißt du, ob sie zu Hause ist?«
Er nickte. »Sie hat sich vorhin mit einem Buch in den Garten verzogen.«
»Danke, viel Spaß im Kino, Vince«, verabschiedete sich Stella und ging zwischen Werkstatt und Autohaus zu dem dahinter befindlichen Gärtchen.
Dort saß ihre sechzehnjährige Freundin Bine in einem Liegestuhl in der Abendsonne und blätterte in einem Buch über Seeverkehrswirtschaft. Ihr kastanienbraunes Haar schimmerte leicht rötlich in der Abendsonne.
Als sie Stella erblickte, stieß sie einen begeisterten Kiekser aus, sprang auf, rannte auf sie zu und fiel ihr um den Hals.
»Endlich, endlich«, sagte sie mit feuchten Augen. »Es tut mir so leid, die Sache mit deinen Eltern«, kam die beste Freundin instinktiv auf das zu sprechen, was Stella am meisten umtrieb.
»Du weißt es schon?«, wunderte die sich.
»Na, dein Bruder ist doch mein Chef in der Reederei. Er hat es mir erzählt«, erklärte Bine, die bei Nieland Shipping eine Ausbildung zum Reedereikaufmann absolvierte. Dann fügte sie mitleidsvoll hinzu: »Es tut bestimmt weh, dass deine Eltern nicht mehr zusammen sind.«
Genau das hatte Stella hören wollen. Obwohl Bine im Juli erst siebzehn werden würde, fand sie die Freundin klüger und einfühlsamer als die meisten Erwachsenen. »Ja, natürlich kann man Liebe nicht erzwingen, aber mir tut Mama so leid.«
»Zum Glück ist es erst jetzt passiert«, meinte Bine und klappte einen zweiten Liegestuhl für die Freundin auf. »Für Kinder ist es wirklich blöd, wenn sie nichts über ihren leiblichen Vater wissen.«
Stella war klar, dass ihre Freundin auf sich selbst anspielte. Deren leiblicher Vater Gunnar Wahn hatte ihre Mutter, die heutige Zahnärztin Marlies, kurz vor ihrer Geburt sitzen lassen und war wieder zur See gefahren. Mit Marlies’ heutigem Ehemann Sharif Dabbagh, der sie und Säugling Bine während der großen Sturmflut gerettet hatte, war laut Bines Aussage zwar »der beste Stiefvater der Welt« in ihr Leben getreten. Das Gefühl der Ablehnung durch ihren Erzeuger schien dennoch an ihr zu nagen.
»Ja, du hast natürlich recht«, räumte Stella ein. »Eine Mutter mit Kind sitzen zu lassen, ist wirklich noch gemeiner.«
»Ich wollte ihn ja immer fragen, warum er das getan hat«, verriet Bine. »Und jetzt habe ich plötzlich eine Spur von ihm.«
»Was?«, staunte Stella. »Davon hast du ja noch gar nichts geschrieben.«
»Es kam auch erst vor zwei Wochen raus«, berichtete ihre Freundin. »Einer in meiner Klasse in der Berufsschule macht seine Ausbildung bei Hapag-Lloyd. Er hat erzählt, dass er dort mit einem Matrosen namens Gunnar Wahn zu tun hat.«
Stella runzelte die Stirn. »Das ist ja wirklich ein seltener Name. Du denkst also, es könnte dein Vater sein?«
Bine nickte. »Ja. Er ist zurzeit mit einem Containerschiff unterwegs. Im September kommt er wohl zurück nach Hamburg. Und dann will ich ihn treffen. Er soll mir endlich ins Gesicht sagen, warum er keinerlei Interesse an mir hatte.«
Stella spürte die Verletzung ihrer Freundin. »Bine, sei vorsichtig! Nicht, dass er dir noch mal wehtut.«
Bine lächelte ein wenig verlegen. »Deshalb möchte ich, dass du dabei bist. Zur Sicherheit. Du kennst mich am besten.«
***
Die junge Mutter in der Sitzreihe vor ihr hielt ihr zufrieden glucksendes Baby empor, und Isabel wurde ein wenig wehmütig. Seit der Hochzeit mit ihrem Alex vor vierzehn Jahren hatte sie selbst vergeblich versucht, schwanger zu werden. Unzählige medizinische Untersuchungen hatte sie über sich ergehen lassen, um mögliche Fruchtbarkeitsprobleme zu identifizieren, ihren Menstruationszyklus überwacht, um den optimalen Zeitpunkt für den Geschlechtsverkehr zu bestimmen. Sogar assistierte Reproduktionstechniken hatten Alex und sie in ihrer Verzweiflung in Betracht gezogen. Gemeinsam hatten sie auf ihre Ernährung geachtet, Bewegung und die allgemeine Gesundheit, auf Rauchen und Alkohol und Stress verzichtet – vergeblich.
Der Humorist Loriot hatte in einem neuen Fernsehsketch betont, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, das, in zehntausend Metern Höhe dahinrasend, einen Lunch zu sich nehmen könne. Eigentlich sollte man auf Flügen Sardinenbüchsen servieren, dachte Isabel. Das wäre schön symbolisch für die Situation der eingepferchten Fluggäste. Sie sah, wie sich der freundlich lächelnde, bärtige Mittfünfziger neben ihr beim Essen abmühte, nicht zu sehr in ihren Raum einzudringen.
»Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht!«, bot sie an. »Es ist doch sowieso zu eng, und Sie sind ja größer als ich.«
»Sehr freundlich«, sagte er. »Ich fühle mich wie in diesem Loriot-Sketch.«
»Ach, den haben Sie auch gesehen?«, staunte Isabel. »Der kam mir auch grad in den Sinn.«
»Ich muss die Nase meiner Ollen an jeder Grenze neu verzollen«, zitierte der Sitznachbar, und sie konnte nicht anders als aufzulachen.
Er reichte ihr über das Essen hinweg die Rechte. »Ich darf mich vorstellen? Zalman Shogol, Journalist aus Tel Aviv. Meine Freunde nennen mich Zali.«
»Ach, so ein Zufall.« Sie ergriff kurz die Hand. »Isabel Jensen. Ich bin für das Flensburger Tageblatt auf dem Weg zur WM.«
»Dann haben wir das gleiche Ziel«, stellte Zali fest. »Ich steige auch in London um. Ich hoffe, ich komme einigermaßen durch in Argentinien, mein Spanisch ist miserabel.«
»Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Chile«, erklärte Isabel. »Vielleicht kann ich Sie ein bisschen unterstützen.«
»Das wäre ganz zauberhaft von Ihnen, liebe Isabel«, meinte Zali.
»Ich glaube ja, dass ich bloß wegen der Sprache hindarf«, meinte sie. »Normalerweise macht beim Tageblatt jemand anders den Sport.«
»Ich war früher beim Feuilleton«, erzählte der Israeli. »Ausgerechnet bei der Olympiade in München hab ich vor sechs Jahren beim Sport Ressort angefangen.«
»Oh, das war bestimmt schlimm«, sagte Isabel zögerlich.
Zali nickte. »Ich bin am 5. September zum Frühstück gekommen und habe mich gewundert, warum die Stimmung unter den Pressekollegen so komisch war. Kaum einer hat geredet.«
Isabel hatte es damals fassungslos direkt aus dem Fernschreiber erfahren: An jenem Morgen hatte ein Anschlag der palästinensischen Terrororganisation »Schwarzer September« auf die israelische Mannschaft stattgefunden. Am frühen Morgen war deren Wohnquartier im olympischen Dorf überfallen worden; die Verbrecher hatten zwei Sportler ermordet und neun weitere als Geiseln genommen.
»Dann habe ich natürlich erfahren, was meinen Landsleuten passiert ist«, sagte Zali leise.
»Die deutschen Behörden waren so schlecht vorbereitet«, wusste Isabel aus ihrer Recherche.