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Berauschend, glänzend, unnachahmbar – auf der Suche nach den feinsten Perlen der Stadt München, 1844: Die einundzwanzigjährige Marie Thomass hat von ihrer Mutter ein Paar Perlenohrringe geerbt, die ihre Liebe zu Schmuck und Juwelen begründen. Diese Leidenschaft bringt sie in die Dienste des Münchner Juweliers Neustätter – und zu den Perlenfischern im Vogtland, wo sie den attraktiven Moritz kennenlernt. Er verlässt das väterliche Unternehmen, um als bayerischer Perlenfischer einen Neuanfang zu wagen – nicht zuletzt, weil er hier in Maries Nähe sein kann. Doch dann geschieht ein schreckliches Unglück, das auch die gemeinsame Zukunft der beiden zu gefährden droht. Perlen für den bayerischen Königshof Erzählt nach der Geschichte des Juweliers vom Münchner Marienplatz: Das Geschäft mit der Aufschrift »Carl Thomass – Hofjuwelier und Goldschmiede« im Herzen der Stadt lockt nach wie vor Münchner Bürger:innen und Tourist:innen aus aller Welt an. Sogar Gäste aus Australien, Amerika, Asien oder dem arabischen Raum wollen edelste Tradition mit nach Hause nehmen (weitere Informationen finden Sie unter www.juwelier-carlthomass.de). Wie das Juweliergeschäft zum Lieferanten für den Königshof wurde und dass es in Deutschland Perlenfischer gab, erzählt Erfolgsautorin Charlotte Jacobi in ihrer Perlen-Saga. Nach den Erfolgen »Die Villa am Elbstrand«, »Die Douglas-Schwestern« und »Die Patisserie am Münsterplatz« erzählt die SPIEGEL-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi nun die bewegte Geschichte eines Münchner Juweliergeschäfts in drei Generationen und öffnet ein Panorama über zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte. Die Bände der Reihe: Band 1: Das Haus der Perlen – Schimmern der Hoffnung Band 2: Das Haus der Perlen – Glanz des Glücks Band 3: Das Haus der Perlen – Strahlen der Liebe
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Redaktion: Kerstin von Dobschütz
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Cover & Impressum
Teil 1
April/Mai 1844
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil 2
September/Oktober 1844
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Teil 3
September 1847
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Figurenübersicht
Familie Thomass
Familie Schmerler
Familie Neustätter
Familie Holzapfel
Familie Klarner
Familie Roemer
Danksagung
Literaturempfehlungen und Quellen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
April 1844
Das vertraute, sanfte Schimmern der Perlen – Marie Thomass freute sich stets darauf wie auf einen alten Freund. Die Einundzwanzigjährige berührte die weiche Oberfläche der Schatulle und öffnete den Deckel, der wie immer ein klein wenig klemmte. Und dann lagen sie vor ihr, in ihrem nachtblauen Samtbett: die beiden wertvollen, filigran gearbeiteten Ohrringe. Wenn Marie sie betrachtete, war es ihr stets, als könne sie sich tief, ganz tief in die Perlen hineinträumen. Als gebe es in ihrem Inneren eine fremde, wunderbare, märchenhafte Welt – eine bessere Welt, in der sie noch eine Mutter hatte, die ein Leben lang an ihrer Seite stand. Die Ohrringe waren der einzige Luxus gewesen, der Anna Elisabeth Thomass in ihrem Leben je vergönnt gewesen war. Sie hatte die Schmuckstücke von ihren Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen. Und die Perlenohrringe waren das Einzige, was die Säcklergattin ihrer Tochter hinterlassen hatte, als sie im Februar vor zehn Jahren bei einem Kutschenunfall gestorben war. Wenn Marie dereinst heiratete, würde die Mutter zumindest indirekt bei ihr sein, denn es war immer deren Wunsch gewesen, dass die Tochter bei der Zeremonie ihren Schmuck tragen würde. »Das wird dann mein Hochzeitsgeschenk an dich sein. Und wenn du einmal eine Tochter haben wirst, soll auch sie die Ohrringe bei ihrer Heirat bekommen. Und dann wieder deren Tochter. Bis in alle Ewigkeit.«
Marie hatte am heutigen 27. April 1844 wie so oft, wenn sie die Schatulle öffnete, das Gefühl, ihre Mutter würde neben ihr stehen und ihr über die Schulter blicken, sie vielleicht sogar im Arm halten, wie seinerzeit, als sie die Ohrringe zum ersten Mal gemeinsam betrachtet hatten, und sie rief sich die Worte ins Gedächtnis: »Der Glanz der Perlen wird Lüster genannt.«
Dann hatte Elisabeth ihrer Tochter eine der braunen Locken hinter das Ohr gestrichen und erklärt: »Das Geheimnis dieser Perlmuttkugeln liegt darin, dass sie die Haut jeder Frau zum Strahlen bringen.«
Marie erinnerte sich noch genau, dass sie ihre Mutter damals von der Seite angesehen und gedacht hatte, dass deren Haut ohnehin stets strahlte – so wie Anna Thomass selbst. So gut wie nie hatte sie ihre Mutter missmutig gesehen und selten ohne ein Lächeln auf den Lippen. Nach ihrem Tod war im Hause Thomass alle Freude verflogen. Der Vater, ein ohnehin schon eher stiller und zurückhaltender Mann, hatte sein seltenes Schmunzeln verloren und verschwand nach dem Tagesgeschäft oft spurlos. Die einst fröhlichen gemeinsamen Mahlzeiten, auf die Marie sich sonst immer so gefreut hatte, waren seither schweigend abgelaufen und zur reinsten Qual geworden.
Marie war damals elf Jahre alt gewesen, ihre Brüder Carl und Wolfgang acht und sechs, ihre jüngere Schwester Anna erst ein Jahr alt. Das Nesthäkchen war fortan bei einer Tante aufgewachsen, die schwere Zeit hatte die drei übrigen Geschwister eng zusammengeschweißt. Obwohl die beiden keine Ohrringe tragen konnten, hatte die Mutter auch ihre Söhne mit ihrer Perlen-Liebe angesteckt. Beispielsweise hatte sie ihren drei älteren Kindern die Legende von der schönen Kleopatra und ihrer großen Schwäche für Perlen erzählt. Das tragische Ende jener ägyptischen Königin durch Schlangengift hatte Marie und ihre Brüder sehr fasziniert.
Gift war dann acht Monate nach dem Tod ihrer Mutter bei ihnen in Memmingen das wichtigste Stadtgespräch überhaupt geworden: Kurz vor Weihnachten 1834 war nämlich die damals fünfundzwanzigjährige Magd Ursula Brandmüller auf dem Schleiferplatz vor einer riesigen Menschenmenge mit einem Schwert geköpft worden. Sie hatte ihren Ehemann, einen Pflasterer, nachweislich mit Rattengift ermordet. Dazu war sie wohl von einem liebestollen Bauern angestiftet worden, dem sie hörig gewesen war und der sich nach dem fast zeitgleich durchgeführten Giftmord an dessen Ehefrau erhängt hatte.
»Wie kann man seinen eigenen Gatten umbringen – für einen anderen Mann?«, hatte sich Marie damals bei ihrem Vater echauffiert.
Doch dieser hatte gar nicht richtig zugehört. Das traurige Ende seiner Ehe hatte einen anderen Menschen aus Mathias Thomass gemacht.
Die Schatulle hatten die drei Geschwister nach dem Tod der Mutter häufig gemeinsam geöffnet, um sich ihr nahe zu fühlen, und irgendwann hatte Carl dabei verkündet: »Ich will Goldschmied werden. Für sie.«
»Das will ich auch«, hatte Nesthäkchen Wolfgang sogleich hinzugefügt.
Marie war ganz gerührt gewesen. »Wie wunderbar. Das würde Mutter gefallen.«
Heute vermisste sie ihren Bruder Carl schmerzlich, denn ihr Vater war auch zehn Jahre nach dem Unglück noch recht eigenbrötlerisch. Abends verließ er das Haus stundenlang, ohne zu erzählen, wo es ihn hintrieb. Carl war seit drei Jahren bei einem jüdischen Goldschmiedemeister in München in Ausbildung. Und Wolfgang, der bisher dem Vater in der Arbeitsstube geholfen hatte, durfte im kommenden Monat nach Offenburg gehen, um bei einem dortigen Uhrmacher und Goldschmied denselben Beruf zu erlernen wie sein älterer Bruder. Dann würde es noch stiller in dem Haus werden, das Marie mittlerweile führte wie einst ihre Mutter. Sie hoffte, dass Anna Thomass ihr vom Himmel aus zusehen konnte und ein wenig stolz auf sie war. Oft holte sie deren Perlen heraus und erzählte ihnen flüsternd von ihren Sorgen, Wünschen und Träumen. Zuvor vergewisserte sie sich allerdings stets, dass der Vater nicht in der Nähe war. Am Ende würde er sie noch für verrückt erklären, denn wer sprach denn schon mit Schmuckstücken! Andererseits hatte sie auf dem Friedhof schon mehrfach Leute gesehen, die mit dem Grabstein ihrer Liebsten sprachen. Die arme Witwe Gudrun Irslinger aus der Nachbarschaft ging jeden Tag hin, um ihrem verstorbenen Mann zu berichten, was sich am Tag ereignet hatte. Wieso sollte Marie dann nicht mit Mutters Perlen sprechen, die ihr so viel bedeutet hatten?
»Ja Heilandzack!«, riss sie schließlich das Fluchen ihres jüngeren Bruders aus ihren Gedanken. Sie nahm ihren Staubwedel und ging zu ihm in das Arbeitszimmer des Vaters. Dort saß der fünfzehnjährige Wolfgang Thomass über den Geschäftsbüchern und raufte sich die roten Haare. »Ich krieg jedes Mal was anderes raus. Diese vermaledeiten Abrechnungen! Was muss Vater auch ständig verschwinden!«
»Warte!« Marie legte den Lumpen in einem Regal ab und ging zu ihrem Bruder, um die Rechnungen zu überprüfen.
»Hier, du hast diese zwei Posten vergessen«, stellte sie nach einer Weile fest. »Mit denen stimmt es.«
»Kannst du das nicht für mich machen?«, bettelte Wolfgang.
Seufzend nahm sie seinen Platz am Schreibtisch ein und reichte ihm den Staublappen, aufs Regal zeigend.
»Na hör mal!«, rief ihr jüngerer Bruder empört. »Wenn mich jemand mit ’nem Putzlappen sieht!«
Sie verdrehte die Augen und korrigierte mit der Schreibfeder die Zahlen.
»Ihr Frauen habt es einfach gut«, fühlte Wolfgang sich bemüßigt zu sagen, »müsst euch nicht mit Geschäftsbüchern herumschlagen.«
»Dafür dürft ihr Goldschmied werden – oder sogar Kunsthistorik studieren. Davon kann ich nur träumen.«
»Was willst du denn mit einem Studium?«, meinte Wolfgang abfällig. »Nutzt dir doch eh nichts für Haushaltsführung und Kinderaufzucht.«
Marie erhob sich vom Schreibtisch, wobei sie erneut seufzte. Ihr Bruder verstand sie einfach nicht. Sie deutete auf das Geschäftsbuch: »So, jetzt ist alles ordentlich.«
»Danke«, sagte er knapp, »ich muss dann auch los. Meine Freunde warten.«
Als er die Haustür aufriss, wäre er um ein Haar mit dem Postboten zusammengeprallt. Zum Erstaunen der Geschwister überreichte dieser Marie einen an sie adressierten Brief.
»Er ist von Carl!«, freute sie sich, nachdem sie den Briefträger verabschiedet hatten. Der ältere ihrer beiden Brüder war äußerst schreibfaul, obwohl Marie ihm ständig Briefe nach München schickte, griff er nur äußerst selten und unwillig zum Federkiel. Sie befreite sein Schreiben aus dem Umschlag, überflog die Zeilen und konnte nur mit Mühe einen Freudenschrei unterdrücken.
»Was schreibt er?«, drängelte Wolfgang.
»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, flüsterte Marie.
Er schien vor Neugier schier zu platzen und wisperte: »Na klar.«
»Ich auch.«
»Blöde Kuh.«
Nachdem Wolfgang sich murrend verkrümelt hatte, ging Marie erneut zur Schatulle mit den Perlenohrringen und öffnete sie.
»Mutter, stell dir vor, Carl hat mir in seinem Brief endlich das Ersehnte geschrieben«, flüsterte sie aufgeregt. »Ich lese ihn dir vor: Liebes Schwesterchen, mein Meister ist einverstanden, dass Du mich hier in München besuchst, bevor ich im Herbst auf die Walz gehe. Du darfst sogar in einem der leeren Personalzimmer unterm Dachboden schlafen. Überrede Vater und schreib uns dann den Zeitpunkt Deiner Anreise.«
Marie ließ den Brief sinken. Das würde wohl der schwierigste Teil der Verwirklichung ihres Traumes werden, die Bayernmetropole und die Welt der Schmuckherstellung endlich mit eigenen Augen zu sehen. Das alles musste vor Oktober geschehen, denn dann würde ihr Bruder nach alter Goldschmiedetradition für drei Jahre auf Wanderschaft gehen. Sie sprach mit flehender Stimme ins Leere: »Mutter, vielleicht kannst du von da oben ja ein wenig mithelfen, Vater zu überzeugen.«
»Mich wovon überzeugen?«, kam es plötzlich von der Tür.
Marie fuhr herum und sah in das argwöhnische Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes mit einem Backenbart, der langsam weiß wurde: Da stand Mathias Thomass, ihr geliebter fünfundfünfzigjähriger Vater. Wo er wohl wieder gewesen war?
»Carls Meister hat mich für drei Tage nach München eingeladen, damit ich mir alles anschauen kann. Ich dürfte sogar in Herrn Neustätters Haus wohnen.«
»Aha«, sagte der Vater knapp. Marie ahnte, was jetzt kommen würde: Mathias würde bestimmt sagen, es schicke sich für eine unverheiratete junge Frau nicht, allein auf eine derartige Reise zu gehen. Außerdem sei er doch auf ihre Hilfe im Haushalt und in der Säcklerei angewiesen. Und gewiss würde er auch das Argument bemühen, die Reise sei zu kostspielig.
Doch zu ihrer Überraschung knurrte der Vater nur: »Na, wenn du schon deine Mutter um Hilfe bittest, will ich der Einladung nicht im Wege stehen. Tuchwarenfabrikant Joas macht sich nächsten Mittwoch mit seinem Fuhrwerk auf den Weg nach München, nimmt auch ein paar Ledertaschen mit für mich. Er wird dich sicher ans Ziel bringen.«
Marie war sprachlos. Es konnte doch gar nicht sein, dass sich alles so wunderbar fügte. Da musste es doch einen Haken geben!
Anfang Mai 1844 saß Marie auf dem Fuhrwerk des aus Nördlingen stammenden Tuchwarenfabrikanten und Freund ihres Vaters, Herrn Joas. Ein wenig leid hatte ihr Vater ihr beim Abschied doch getan. Während ihrer Reise nach München würde sich ihr jüngerer Bruder Wolfgang dauerhaft verabschieden, um seine Lehrstelle in Offenburg anzutreten. Immerhin würde ja aber sie selbst schon nach einer Woche ins Elternhaus zurückkehren.
Als sie schließlich die Stadtgrenze der Isarmetropole passierten, wurde Marie immer aufgeregter, was Herrn Joas nicht verborgen blieb. »Jetzt kannst du deinen Bruder ja bald in die Arme schließen«, beruhigte er die junge Frau, die neben ihm auf seinem Zweispänner saß. Dieser fuhr nun durch den rechten Bogen des prachtvollen Isartors, und Marie blickte voller Vorfreude die Straße Im Tal hinunter. Sie musste sie, wie Carl ihr geschrieben hatte, nur bis zum Ende gehen, dann wäre sie schon auf dem Schrannenplatz, wo sich das Geschäft von Goldschmiedemeister Jeremias Neustätter befand.
Sie bedankte sich bei Herrn Joas, ließ sich ihre kleine Tasche aushändigen und stieg vom Fuhrwerk.
»Eine schöne Zeit wünsch ich dir, junges Fräulein«, rief er ihr hinterher.
»Vielen Dank!«, erwiderte sie und schenkte ihrem Weggefährten ein flüchtiges Lächeln über die Schultern. Die würde sie haben: eine schöne Zeit! Dann trat sie ihren Weg in Richtung Schrannenplatz an und sah sich beeindruckt und auch ein wenig eingeschüchtert um. Wie viele Kutschen es hier gab! Und wie vornehm alle gekleidet waren! Ihre Blicke folgten zwei Frauen, die in unfassbar eleganten Roben die Straße hinuntergingen. Sie hatten einander untergehakt und plauderten angeregt, in ihren behandschuhten Händen balancierten sie zwei spitzenbesetzte Schirme, mit denen sie sich vermutlich gegen die Sonne schützen wollten. Auch wenn die heute, wie Marie fand, nicht sonderlich stark schien. Sie sah den Damen nach und kam sich in ihrem schlichten Baumwollrock, der hellen Leinenbluse und den einfachen Schnürschuhen unscheinbar und farblos vor. Hoffentlich würde Goldschmiedemeister Neustätter bei ihrem Anblick nicht die Nase rümpfen oder sie gar des Ladens verweisen!
Je näher Marie dem Schrannenplatz kam, desto deutlicher vernahm sie einen ohrenbetäubenden Lärm. Als sie dort angelangt war, stöhnte sie erschrocken auf. Unzählige Männer standen hier, schrien wild durcheinander und schleuderten Steine gegen Häuser. Scheiben zerbarsten, und Marie sah, dass eines der Geschosse eine sehr junge Frau an der Schläfe traf, die daraufhin in sich zusammensank. Keiner beachtete sie, es schien im Gegenteil so, als werde die Menge jeden Moment über die Zusammengebrochene hinwegtrampeln! Marie fühlte sich augenblicklich an ihre Mutter erinnert, der man nach dem Kutschenunglück seinerzeit auch zu spät geholfen hatte. Obwohl sie selbst panische Angst hatte, eilte die junge Memmingerin beherzt in Richtung der am Boden Knienden. Wie befürchtet wurde dabei auch sie angerempelt. Jetzt nur nicht hinfallen, dachte sie und schrie: »He da, aufgepasst! Da liegt jemand!«
Schließlich hatte sie die blonde Frau erreicht und half ihr aufzustehen – wobei sie einige rücksichtslose Männer mit aller Kraft zur Seite stoßen musste.
»Sind Sie verletzt?«, wandte sie sich an die zitternde und kreidebleiche Dame, die aus der Nähe noch jünger und sehr hübsch aussah.
Sie schüttelte benommen den Kopf. »Nein. Ich danke Ihnen, das war sehr mutig.«
Mit diesem Worten humpelte das verängstigte Mädchen in eine sichere Seitenstraße.
Marie wusste jedoch, dass sie selbst diesen umkämpften Platz überqueren musste, wenn sie zu ihrem Bruder wollte, auch wenn das zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich schien. Während sie noch nachdachte, welchen Weg sie einschlagen könnte, wurde sie von hinten erneut angerempelt, stürzte nach vorn und schlug sich das Knie und die Handballen auf, mit denen sie sich abgefangen hatte. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Körper.
»Sie bluten ja«, sagte da eine Stimme neben ihr. Sie blickte auf und sah sich einem schmalen Mann mit dunklem, kaum zu bändigendem Kräuselhaar gegenüber. Er mochte Mitte zwanzig sein und betrachtete sie aus wässrig blauen Augen. Sein wohl maßgeschneiderter Anzug war aus feinstem Zwirn, das Hemd strahlte blütenweiß, ebenso wie das Tüchlein mit den eingestickten Initialen S. N., das er nun hervorzog und ihr reichte. So ein feines Taschentuch hatte Marie noch nie gesehen!
»Aber ich … ich kann doch nicht …«, stammelte sie.
»Unsinn«, sagte der Fremde. »Natürlich können Sie. Dafür sind die Dinger schließlich da. Oder um sich die Nase zu putzen. Aber Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie Schnupfen. Oder haben Sie Schnupfen? Dann können Sie das Taschentuch natürlich auch verwenden, um sich die Nase zu putzen.«
Marie war sich nicht sicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte oder ob er nur äußerst unbeholfen war, doch sein Gesichtsausdruck war durch und durch ernst. Obwohl sie stets akribisch darauf achtete, dass sie sauber und ordentlich angezogen war, kam sie sich angesichts seiner edlen Kleidung ein wenig schäbig vor. Zumal ihr Rock, wie sie erschrocken bemerkte, durch den Sturz auch noch am Knie aufgerissen war. Sie sah bestimmt aus wie eine Bettlerin!
»Bitte zaudern Sie nicht länger«, sagte der Mann und nahm kurz entschlossen Maries rechte Hand, um das Blut darauf abzutupfen.
»Autsch«, zischte sie.
»Es tut mir leid«, sagte er sofort. »Aber wir müssen das säubern. Und dazu reicht eigentlich kein Taschentuch. Vor allem ist aber wichtig, dass wir von der Straße wegkommen. Können Sie aufstehen?«
Sie nickte, und er bot ihr die Hand, die sie zögernd nahm. Doch als sie auftrat, verspürte sie einen derart stechenden Schmerz in ihrem Bein, dass sie fast wieder in sich zusammengesackt wäre. »Aua.«
»Warten Sie«, sagte der Mann. Er bugsierte sie zu einem nahe gelegenen Hauseingang. »Wo müssen Sie denn hin?«, fragte er.
»Zum Juwelier Neustätter«, sagte sie.
Erstaunt hob er eine Augenbraue. Gewiss fragte sich der noble Herr, was, um alles in der Welt, eine doch eher abgerissene Person wie sie beim Schmuckhändler wollte.
»So ein Zufall«, sagte er dann jedoch. »Das Geschäft gehört meinem Onkel. Ich bin bei ihm als Goldschmied tätig, Simon Neustätter mein Name.«
»Wirklich?«, rief sie erleichtert und hatte das Gefühl, endgültig in Sicherheit zu sein. »Mein Bruder arbeitet dort. Ich möchte ihn besuchen.«
Carl hatte ihr in einem seiner seltenen Briefe geschrieben, dass die Neustätters drei kleine Söhne hatten und bei ihnen auch ein Neffe lebte, der früh seine Eltern verloren hatte. Um diesen musste es sich bei ihrem Gegenüber handeln.
Simon Neustätter nickte lächelnd. »Dann sind Sie also das Fräulein Thomass. Sie werden von meinem Onkel schon erwartet. Wie gut, dass ich Sie gefunden habe.«
»Allerdings. Was für ein wunderbarer Zufall.«
»Es gibt keine Zufälle«, sagte er und sah sie eindringlich an. Ihr wurde ein wenig unbehaglich zumute. Was wollte Neustätters Neffe damit andeuten? »Im ersten Augenblick habe ich Sie übrigens für unser Dienstmädchen Vroni Finkenzeller gehalten. Sie sieht Ihnen sehr ähnlich, auch wenn sie freilich nicht ganz so hübsch ist wie Sie.«
Marie war das Kompliment peinlich, daher deutete sie ablenkend auf die Menschenmenge. »Aber wie kommen wir denn jetzt hinüber?«
Der junge Goldschmied furchte die Stirn. »Den direkten Weg sollten wir im Moment wohl vermeiden.«
»Dass ich auch ausgerechnet heute zum ersten Mal nach München kommen muss«, seufzte sie.
Er lächelte gewinnend. »Keine Angst, normalerweise geht es bei uns sehr gesittet zu.«
»Nun, das ist beruhigend. Aber weshalb gehen diese Herren heute aufeinander los, und warum werfen sie mit Krügen und Steinen?«
Er zuckte die Achseln. »Sie streiten um Bier.«
»Um Bier?«, fragte sie verwundert. »Sind die etwa alle … betrunken?«
Er lachte. »Einige von ihnen bestimmt. Aber das ist nicht der Grund, warum sie sich so aufführen. König Ludwig hat den festgesetzten Bierpreis heute um einen Kreuzer erhöht.«
»Also sind die Männer wütend, weil sie mehr für ihr Bier bezahlen müssen?«, kombinierte Marie.
Simon Neustätter nickte. »Zumal es vor Kurzem auch schon eine Brotpreiserhöhung gab. Da haben die Leute zwar gemurrt, es aber noch hingenommen. Doch jetzt auch noch Bier …«
»Und warum hat es der König teurer gemacht?«, erkundigte sich Marie.
»Manche Bürger sagen, das liege an der Hochzeit. Weil der ganze Prunk ja bezahlt werden muss.«
Marie wusste, dass die Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit von Erzherzog Albrecht von Österreich mit Prinzessin Hildegard von Bayern anstanden, und fand es aufregend, ausgerechnet in einer solch wichtigen Zeit nach München gekommen zu sein.
»Und glauben Sie das auch?«, fragte sie.
»Ich denke eher, es liegt daran, dass die Zutaten gerade so knapp sind«, meinte er.
Sie nickte. Das ergab Sinn.
»Der Tumult hat beim Bierbrauer zum Mader im Tal angefangen«, wusste der junge Neustätter. »Dort saßen einige Artilleristen und Fuhrwesens-Soldaten zusammen, und sie weigerten sich standhaft, mehr als fünf Kreuzer für die Maß zu bezahlen. Sie machten Gegenvorschläge, die wollte der Wirt aber nicht akzeptieren, das hat die Soldaten geärgert. Sie fingen an, Bierkrüge zu zerschlagen, und einige Arbeiter am Nachbartisch haben sich ihnen angeschlossen. Fenster und Krüge wurden zerschlagen, Türen aus den Mauern gerissen und die Möbel zertrümmert.«
»Ach, du lieber Himmel«, stieß Marie hervor. »All das wegen ein bisschen Bier.«
Andererseits konnte sie den Ärger verstehen: Es wurde wirklich alles immer teurer! Sie erlebte das ja selbst ständig beim Einholen, dabei hatten sie es in ihrer ländlichen Gegend am Rande von Memmingen noch gut, wie der Vater nicht müde wurde zu beteuern.
»Die aufgeheizte Menge hat beschlossen, gleich zum nächsten Brauhaus zu gehen und ihren Unmut kundzutun. Und so ziehen sie immer weiter, von Wirtshaus zu Wirtshaus«, ließ Neustätter Marie wissen und deutete auf die grölenden Männer, die gerade im Begriff waren, mit einer Wagendeichsel eine massiv aussehende Tür einzurammen, die der Wirt soeben angstvoll verschlossen hatte.
»Und ich habe gedacht, ich komme an einem besonders romantischen Tag nach München«, seufzte Marie und blickte auf ihre verletzten Hände.
»Tut es noch sehr weh?«, erkundigte sich Neustätters Neffe besorgt. »Wir sollten wirklich nach Hause und die Wunde reinigen.«
Dem konnte sie nicht widersprechen. »Nur, wie kommen wir da hinüber?«
»Wir umrunden den Platz weiträumig«, kündigte Simon an. »Es wird Ihnen nichts geschehen, vertrauen Sie mir!«
Moritz Schmerler, der im Januar neunzehn Jahre alt geworden war, wischte sich eine dunkle Strähne aus der Stirn und verzog das Gesicht. Er musste wirklich mal wieder in die Barbierstube! Ständig fiel ihm das Haar in die Augen, dabei brauchte er doch gerade jetzt einen sehr scharfen Blick. Der junge Perlfischer stand barfuß und bis zum Knie im Fluss, der Weißen Elster. An seiner Seite war der hochgewachsene, aber etwas schüchterne neue Lehrbursche Paul Klarner, der bei Schmerler junior dessen Handwerk erlernen wollte. Auf dem Weg hierher hatte Moritz dem Jüngeren verraten, dass sich die Muscheln dort am wohlsten fühlten, wo die Flüsse nicht mehr steil von den Höhen stürzten, sondern zu einem flachen, sacht dahinplätschernden Bach wurden.
»Wo die Forelle aufhört und die Äsche anfängt«, hatte sein Großvater ihm einmal gesagt.
Schon seit den frühen Morgenstunden nahmen die beiden jungen Männer die Perlmuschelbänke in Augenschein. Deren Zustand musste regelmäßig überprüft werden – sollten die Bänke Gefahr laufen, abgetrieben zu werden, mussten sie wieder befestigt werden. Die Fischer notierten die Fundstellen der Muscheln und hielten nach Perlen Ausschau. Moritz liebte diese Suche nach der Nadel im Heuhaufen! Jetzt hob er den Fuß und zog damit eine weitere Muschel aus dem Fluss, die er zwischen den großen und den nebenliegenden Zeh geklemmt hatte. Dann setzte er das spezielle Perleisen an, das aus einem Holzgriff mit zwei Zinken bestand. Er öffnete das Gehäuse äußerst behutsam und nur ein winziges Stückchen. Muschel für Muschel hatten die beiden jungen Männer heute schon auf diese Weise untersucht, bisher jedoch noch keine einzige Perle gefunden.
»Beim Hineinschauen ist größte Vorsicht geboten. Wenn man die Schale zu weit öffnet, stirbt das Tierchen darin«, erklärte Moritz dem schlaksigen Oelsnitzer mit dem semmelblonden Haar und den grünen Augen. »Zeitweise müssen wir die Muscheltiere sogar völlig in Ruhe lassen.«
»Wenn sie laichen, gelt?«, sagte Paul stolz.
Sein Lehrmeister nickte anerkennend. »Genau, das tun sie zweimal kurz hintereinander. Wenn man sie in dieser Phase stört, werfen sie ihre Brut sofort ab – auch wenn sie noch unreif ist. Weißt du übrigens, wo die frisch geschlüpften Muscheltierchen dann ihre ersten Lebenstage verbringen?«
Paul sah ihn hilflos an. »Im Wasser?«
»In den Kiemen von Fischen«, präzisierte Moritz. »Anfangs sind sie Parasiten. Erst nach einer Weile lassen die Muschelkinder los und sinken zum Grund des Gewässers.«
»Wovon ernähren diese Tierchen sich eigentlich?«, fragte der Lehrling.
»Das ist schwer zu sagen, weil in den ganz klaren Bächen gar keine Nahrung vorhanden zu sein scheint. Es sind wohl organische Teilchen, die sie aus dem Schlamm ziehen. Dafür strecken sie beständig ihr Röhrenende heraus«, belehrte ihn Moritz und spähte in das Innere der Schale.
»Und?«, fragte Paul ungeduldig. »Haben wir diesmal eine Perle gefunden?«
»Sieh selbst!«, forderte ihn Moritz auf.
Der Jüngere tat, wie ihm geheißen. »Ich sehe leider keine.«
»Richtig.« Moritz befestigte die Muschel wieder vorsichtig am Flussgrund.
Die Enttäuschung im Gesicht des Lehrlings blieb ihm nicht verborgen. »Aber es wäre auch ein großer Zufall gewesen, wenn wir so schnell fündig geworden wären, nur in etwa jeder tausendsten Muschel befindet sich eine Perle.«
Erschrocken blickte ihn Paul an. »Nur in jeder tausendsten? Das würde ja bedeuten, dass wir heute vielleicht gar keine finden.«
»Ja, manchmal sogar tagelang nicht«, ergänzte Moritz und bemerkte, dass die Zähne des Lehrlings klapperten. Wie er selbst musste Paul inzwischen völlig durchgefroren sein.
»Lass uns eine Pause machen und etwas essen«, schlug Moritz daher vor.
Sie wateten an Land, wo er flussaufwärts einen verschließbaren Bastkorb und eine Decke in einem Gebüsch versteckt hatte. Diese breitete er auf der Wiese voller gelb blühendem Löwenzahn aus, machte es sich gemütlich und begann den Korb auszupacken. Er bot Paul einen Platz neben sich an, indem er zur Seite rutschte.
»Vielen Dank, Herr Schmerler«, murmelte der Lehrjunge, der immer noch ein wenig verschüchtert war.
»Moritz«, forderte ihn der Perlfischer auf. »Wenn wir hier am Fluss sind, nenn mich bitte beim Vornamen, und lass das Sie weg, sonst denke ich immer, mein Vater steht hinter mir und du sprichst mit ihm.«
»Mach ich«, versprach Paul. Schelmisch schmunzelnd fügte er hinzu: »Vielen Dank, Moritz.«
»Schon besser«, lobte der. »Lang zu, unsere Großmutter Agathe meint es immer sehr gut mit uns.«
Es gab hart gekochte Eier, Käse, eine Tonschale mit Butter, Brot, Essiggurken, kalten Braten und zwei Flaschen Bier. Gierig nahm Moritz den ersten Bissen und spülte diesen mit einem kräftigen Schluck des Gerstensaftes herunter.
»Was hat dich denn dazu bewogen, Perlenfischer zu werden?«, fragte er seinen Lehrling, der sich eine dicke Scheibe Brot mit Butter bestrich.
»Ich finde es romantisch.« Paul lächelte etwas verlegen.
Moritz hob erstaunt eine Augenbraue. »Romantisch?«
»Mein Liebchen hat mir von einer alten vogtländischen Tradition erzählt – dass der Jüngling seiner Versprochenen früher Perlen gesucht hat. Ich dachte mir: Wie schön muss es sein, diese Suche zum Beruf zu machen.«
»Und für jede Perle, die du findest, ein neues Liebchen, was?«, entgegnete Moritz mit ironischem Grinsen.
Paul schüttelte lachend den Kopf. »Nein, nein, die eine reicht mir völlig aus.«
»Demnach hast du also schon einiges über die Geschichte der Perlfischerei mitbekommen?«, sagte Moritz etwas ernster.
»Also, ich habe jedenfalls gehört, dass es sie hier im Vogtland schon seit dem frühen Mittelalter gibt«, antwortete Paul.
»Das ist richtig. Durch unsere Heimat hier führte eine uralte Handelsstraße. Kaufleute aus Venedig haben ihre Waren aus den wärmeren Gefilden bei uns getauscht – gegen allerlei Metalle, Erze und eben Perlen. In der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg gab es hier Prunk- und Gewinnsucht. Dadurch wurden die stillen Umfriedungen der Schalentiere gestört. Eigentlich sind die sehr langlebig, aber damals wurden manche Bäche völlig ausgeraubt – und viele Muschelbänke vernichtet.«
»Was für eine Schweinerei!«, erboste sich Paul.
»Perlen zu tragen war zu der Zeit damals eine wahre Modesucht«, erzählte Moritz, was er einst von seinem Vater gelernt hatte. »Das hat diesen Vandalismus genährt. Zum Glück ist damals ein Tuchmacher aus Oelsnitz eingeschritten – dessen Vorfahren waren schon seit langer Zeit des Perlenfischens kundig. Er hieß Moritz Schmirler.«
»Oh!« Paul ließ seine Brotscheibe sinken und sah ihn erstaunt an. »Das klingt ja wie Ihr … dein Name.«
»Ja, er war ein Vorfahr von uns, auch wenn man den Nachnamen damals noch anders geschrieben hat«, bestätigte Moritz die Vermutung seines Lehrbuschen. »Jener Moritz hat Anzeige bei der Regierung erstattet. Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen ließ das Muschelvorkommen dann durch Gelehrte aus Dresden überprüfen. Zu guter Letzt hat er ein sogenanntes Regal dafür erlassen.«
»Ein Regal?«, wiederholte Paul verwirrt.
Moritz lachte. »Keins, in das man etwas hineinstellen kann. Ein Regal ist ein Hoheitsrecht – dadurch gehörten alle Perlen, die dort gefunden wurden, dem Kurfürsten. Im Gegenzug verlieh der meinem Urahnen am 8. Juli 1621 das Amt des herrschaftlichen Perlenfischers. Und wenn die schimmernden Kügelchen auch dem Kurfürsten gehörten, so hat mein Vorfahr durch den Posten doch ganz gut Geld verdient. Seither wird das Amt innerhalb unserer Familie von einem Menschenalter zum nächsten weitergegeben.«
»Das sind ja mehr als zweihundertzwanzig Jahre«, staunte Paul und schob sich noch ein Stück Käse in den Mund.
»Ja, in der langen Zeit ging es mit der Perlenfischerei mal bergauf, mal bergab«, berichtete Moritz, während er genüsslich in den letzten Brocken Brot biss. »Ein großer Feind der Muscheln war beispielsweise die Holzflößerei. Früher gab es noch ausgedehntere, urwüchsige Waldungen im Vogtland, hauptsächlich Edeltannen und Buchen. Man schnitt die Stämme in Klötze, markierte sie und warf sie in die Elster, die sie dann talwärts bis nach Leipzig trieb. Dadurch sind natürlich die Muscheltiere aus ihren stillen Plätzchen in dem seichten, kiesigen Untergrund herausgestoßen und beschädigt worden. Tausende und Abertausende von alten Tieren gingen elendig zugrunde.«
Der Lehrling nickte ernst. »Meine Großmutter Hildegard hat erzählt, dass auch die vielen Hochwasser und starke Eisgänge Muscheln getötet haben.«
»Da hat die alte Dame recht. Zum Glück hat die Königlich Sächsische Krone allen Krisen zum Trotz das alte Regal nie aufgegeben. Man muss bei der Zucht der Perlenmuschel mindestens mit halben Jahrhunderten rechnen, das seltsame Schalentier kann nämlich weit über hundert Jahre alt werden. Fünfzehn bis zwanzig Jahre sind das Durchschnittsalter für eine mittelgroße Perle.«
Mit diesen Worten sprang er auf, klopfte sich die Krümel ab und sagte zu Paul: »Komm, lass uns weitermachen!«
Gleich darauf standen die Männer wieder nebeneinander im Fluss und öffneten erneut eine Muschel nach der anderen. Während ihrer Suche erzählte Moritz seinem Lehrling, dass der lateinische Name der Muscheltiere Mya margaritifera lautete.
Schließlich rief Paul begeistert: »Da ist eine drin.«
Er reichte sie Moritz, der seinerseits einen prüfenden Blick hineinwarf. »Tatsächlich. Allerdings ist sie noch zu klein.«
Er zückte ein Messer und ritzte zwei Vieren in die Schale.
»In so einem Fall markieren wir die Muschel mit der Jahreszahl und legen sie wieder zurück.«
Als er das enttäuschte Gesicht des Lehrburschen bemerkte, schmunzelte er. »Tja, in unserem Beruf lernt man Geduld.«
***
»Hier sind wir schon«, sagte Simon Neustätter, nachdem er und Marie Thomass den Schrannenplatz erfolgreich und sicher umrundet hatten und auf dessen anderer Seite angelangt waren. Er deutete auf das edel wirkende Ladengeschäft. Juwelier und Goldschmiedemeister Jeremias Neustätter, stand dortam Schaufenster geschrieben. Und: bestens assortiertes Lager von Juwelen, Goldwaren, Korallen, Granaten, Perlen, Silber und anderes mehr. Ehrfürchtig blieb Marie stehen, während hinter ihrem Rücken inzwischen die Gendarmerie eintraf, um gegen die Aufständischen vorzugehen.
Sie war also tatsächlich angekommen – an dem Ort, an dem ihr Bruder arbeitete, um der Liebe seiner Mutter zu edlem Geschmeide ein Denkmal zu setzen. Zwar wusste Marie aus Carls Briefen, dass Neustätter nur selten mit Perlen zu tun hatte, aber die Mutter hatte ja nicht nur diese geliebt, sondern Schmuck ganz allgemein, auch wenn sie sich keinen weiteren hatte leisten können. Und an den Ohrgehängen hatte sie stets die filigrane Goldschmiedekunst bewundert.
»Juwelier«, las Marie vor. »Ein ganz neumodisches Wort.«
»Als Unterscheidung gilt, dass ein Juwelier in erster Linie verkauft, der Goldschmied hingegen als Handwerker den Schmuck selbst herstellt und repariert«, erklärte Simon. »Wir Neustätters können beides.«
Er stieß die Ladentür auf. Ein Glöckchen bimmelte darüber.
»Bitte schön«, sagte er und ließ sie zuerst eintreten. Drinnen schnappte Marie überwältigt nach Luft. Um sie herum blitzte und funkelte es, dass es die reinste Freude war. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, auf dem verschiedene Glaskästen angebracht waren. Darin lagen kostbare Ringe, prachtvolle Colliers, Broschen, Tiaren und traumhafte Ohrgehänge. Auch an den Wänden entdeckte Marie Vitrinen voller kostbarer Steine und hinreißendem Geschmeide.
»Unglaublich schön«, hauchte sie und war wie geblendet, als ein fein gekleideter, dunkelhaariger Herr um die vierzig auf sie zutrat.
»Simon«, sagte er erleichtert. »Gut, dass du heil zurück bist. Deine Tante und ich haben uns schon Sorgen gemacht.«
»Wo ist sie denn?«, fragte der Neffe und sah sich suchend um, während Marie etwas verloren neben ihm stand und nach ihrem Bruder Ausschau hielt. Wo war Carl nur?
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und eine wunderschöne Dame stürmte herein. Sie trug ein weites, aber elegantes Kleid, hatte ihr schwarzes Haar hochgesteckt und sah, wie Marie fand, einfach atemberaubend aus. Obschon sie, wie Maries Bruder Carl bereits geschrieben hatte, im siebten Monat schwanger war, wirkte sie äußerst agil. Sie fiel Simon Neustätter erleichtert um den Hals.
»Bub«, rief sie. »Zum Glück bist du zurück. Ich hatte wirklich Angst um dich.«
Marie staunte: War das etwa Simons Tante, Lea Luisa Neustätter? Die Dame war laut Carl dreißig Jahre alt, wirkte aber äußerst mädchenhaft.
»Es ist alles gut, Tanterl«, sagte Simon, während er sich aus ihrer Umarmung befreite. »Und unterwegs habe ich auch gleich noch das Fräulein Thomass eingesammelt – Carls Schwester.«
Beide Eheleute Neustätter richteten sogleich ihren Blick auf Marie, die spürte, wie ihr wegen des zerrissenen Kleides die Röte ins Gesicht stieg.
»Ach, das Fräulein Thomass!«, rief Jeremias Neustätter freundlich und schüttelte ihr die Hand. »Bitte entschuldigen Sie, dass wir Sie in all der Aufregung um das Wiedersehen mit unserem Neffen gar nicht richtig begrüßt haben.«
Herrn Neustätters Händedruck war so fest und schmerzte derart an ihren Schürfwunden, dass sie das Gesicht verzog.
Die Gattin des Juweliers bemerkte dies. »Aber was ist denn, meine Liebe?«, sagte sie statt einer Begrüßung.
»Sie hat sich verletzt«, erklärte Simon und blickte auf die verschlungenen Hände Maries und seines Vaters. »Dein Händedruck tut ihr sicherlich sehr weh, Onkel.«
»Oh«, kam es erschrocken vom Juweliermeister, und er ließ ihre Hand sofort los. »Bitte entschuldigen Sie. Das tut mir wirklich leid!«
»Nicht schlimm«, versicherte Marie, die immer verlegener wurde. »Das konnten Sie ja nicht wissen!«
Mit einem verstohlenen Blick auf ihre Hand bemerkte sie erleichtert, dass diese zumindest nicht wieder zu bluten begonnen hatte. Nicht auszudenken, wenn sie Herrn Neustätters Rechte mit ihrem Blut befleckt hätte.
»Was ist denn geschehen?«, fragte seine Frau besorgt und betrachtete Marie genauer. »Ihr Rock ist ja auch zerrissen!«
Carl, wo bleibst du nur, rief Marie im Stillen nach ihrem Bruder und war dankbar, dass Simon Neustätter ihr die Erklärung abnahm: »Ich habe sie sozusagen gerettet.« Er deutete zum Fenster, durch das zu erkennen war, wie die Aufständischen draußen auf dem Schrannenplatz von Soldaten auseinandergetrieben wurden. »Man hat sie gestoßen, und sie ist gefallen.«
»O nein«, rief Luisa Neustätter bestürzt. »Das ist ja furchtbar. Haben Sie große Schmerzen?«
Marie schüttelte hastig den Kopf. »Nicht der Rede wert. Die Schürfungen tun ein bisschen weh, und auch mein rechtes Bein beim Auftreten, aber mehr Beschwerden habe ich nicht.«
»Na, das sind ja auch schon genug«, entgegnete die Dame des Hauses. »Ich bringe Sie jetzt nach oben. Simon, du nimmst ihr Gepäck.« Sie deutete auf die kleine Tasche, die Marie bei sich hatte, ein weiterer Grund, verlegen zu sein. Es handelte sich um einen alten Lederbeutel aus der Produktion ihres Vaters, und er machte nicht viel her.
Carl hatte ihr und dem Vater gegenüber in Briefen sowie bei seinen seltenen Besuchen zwar erwähnt, wie freundlich sein Meister sei und wie gut er es mit diesem getroffen habe, doch dass dieser derart zuvorkommend sein würde, damit hätte sie nicht gerechnet. Aber wo blieb Carl denn nur? Wieder sah sie sich etwas hilflos um.
Juwelier Neustätter deutete ihren Blick richtig: »Ihr Bruder hatte noch einen Botengang zu erledigen. Er ist bestimmt gleich zurück. «
»Hoffentlich ist ihm nichts geschehen«, sagte Marie ein wenig bang, doch Neustätter schüttelte den Kopf. »Im Gegensatz zu meinem Neffen ist er genau in die andere Richtung unterwegs. Dort ist es bisher ruhig.«
»Hoffentlich bleibt das so«, murmelte Marie.
Hatte der junge Herr Neustätter nicht gesagt, dass die erbosten Männer von Wirtshaus zu Wirtshaus zogen?
»So«, sagte Luisa Neustätter kurz darauf und stieß eine mit Intarsien verzierte Eichentür auf. »Hier, in der Beletage, befinden sich die Wohnräume unserer Familie, die Küche und das Dienstbotenzimmer. Ein Stockwerk darüber sind die Schlafgemächer, und unter dem Dach die Räumlichkeiten für die Dienstboten. Dort werden auch Sie schlafen.«
»Danke«, sagte Marie und blickte in einen weitläufigen Flur, von dem hohe Flügeltüren abgingen. Die Wohnung war äußerst edel eingerichtet, die Möbel, Gobelins, Vitrinen, Porzellanfiguren und die Stofftapeten hätten auch in ein Schlösschen gepasst!
In diesem Augenblick kamen drei Kinder aus dem Spielzimmer, alles Jungen, wie Marie feststellte.
»Wer bist du?«, fragte der Älteste.
»Das heißt guten Tag, gnädiges Fräulein, mein Name ist Julius Neustätter«, belehrte ihn seine Mutter. »Die junge Dame hier ist Marie Thomass, sie …«
»Die Schwester von Carli«, unterbrach sie Julius. »Er hat gesagt, du kommst bald.«
»Tja, Julius merkt sich so was, er ist ein ganz Schlauer«, erklärte Luisa mit sanfter Ironie, aber dennoch liebevoll.
»Ich werde bald sieben und komme in vier Wochen in die Schule«, betonte Julius.
»Falls Sie es vergessen sollten, er wird nicht müde, Sie daran zu erinnern«, raunte seine Mutter Marie verschwörerisch zu. »Der kleine Rebell neben ihm ist Albrecht, fünf Jahre, und der Goldschatz dahinter Heinrich, anderthalb.«
Carl hatte Marie von den Buben bereits geschrieben, auch dass Luisa Neustätter bei ihrer diesmaligen Schwangerschaft auf ein Mädchen hoffte.
»Freut mich sehr, euch kennenzulernen«, sagte Marie.
In diesem Moment kam ein Dienstmädchen mit Schürze und Häubchen auf sie zugeeilt. Das musste Vroni Finkenzeller sein, von der Simon vorhin gesprochen hatte. Bei deren Anblick fand auch Marie selbst, dass die junge Frau ihr tatsächlich recht ähnlich sah. Allerdings wiesen deren Haare eine helleren Rotton auf, und sie hatte ein paar Sommersprossen im Gesicht.
»Gnädige Frau«, sagte sie schüchtern. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Luisa nickte. »Vroni, das ist Marie Thomass. Carls Schwester.«
Aus den Briefen ihres Bruders wusste Marie, dass Vroni die ein Jahr ältere Schwester des Familienkutschers Leonhard war.
»Unser Gast ist vorhin beim Aufstand draußen verletzt worden«, berichtete Luisa.
Sie deutete auf Maries Hand.
»Aber das ist ja schrecklich«, rief Vroni, und da fiel Marie wieder ein, dass Carl behauptet hatte, das Dienstmädchen lisple sehr auffällig – nun, er hatte nicht übertrieben. »Was für Rüpel sind das nur da draußen? Haben Sie schlimme Schmerzen?«
»Nein, nein«, winkte Marie ab, der all das Aufhebens, das man um sie machte, weiterhin recht peinlich war. Sie sah aber auch einen Hauch von Sensationslust in den Augen der anderen. Die schien es spannend zu finden, mehr über die Bierkrawalle zu erfahren.
»Sie bringen Marie jetzt erst mal zu Frau Kreutner«, wies Luisa das Mädchen an und wandte sich dann lächelnd an Marie. »Die Gute kocht nicht nur wunderbar, sie kennt sich auch bestens mit Verletzungen aus. Sie wird Sie verarzten. Anschließend zeigt Vroni Ihnen Ihr Zimmer, und dann ist sicherlich auch schon Ihr Bruder wieder zurück.«
»Vielen herzlichen Dank«, sagte Marie. Und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in München lächelte sie.
***
Eigentlich hatte Moritz Schmerler seinen Lehrling an dessen erstem Arbeitstag die Geduld lehren wollen, die für ihren Beruf nötig war. Aber als Paul am Spätnachmittag doch noch eine Perle fand, war dieser derart außer sich vor Begeisterung und Stolz, dass Moritz nicht umhinkonnte, sich mit ihm zu freuen.
»Dann machen wir für heute Schluss«, schlug Schmerler junior vor. »Ich wollte sowieso zeitig nach Hause, meine Schwester hat sich für heute Abend mit ihrer Familie angekündigt. Komm doch noch kurz mit zu uns, deinen Fund müssen wir meinem Vater zeigen. Du scheinst uns Glück zu bringen, das soll er ruhig wissen.«
Am Morgen war Friedrich Schmerler nicht mit ihnen zum Fischen gekommen, wie er das sonst häufig tat. Er hatte Moritz erklärt, dass er sich gemeinsam mit seinem älteren Sohn Cornelius den Büchern widmen und außerdem sein Arbeitszimmer etwas aufräumen wolle.
»Das ist dringend nötig«, hatte er geseufzt. »Deine Mutter besteht darauf, sie sagt, man könne gar nicht mehr reinemachen, weil überall Papierberge liegen.«
»Womit sie nicht unrecht hat«, hatte Moritz grinsend kommentiert. Und Friedrich Schmerler, der nicht nur aussah wie eine ältere Version seines jüngeren Sohnes, sondern sich ebenso wie er am liebsten draußen in der Natur aufhielt, hatte sich in sein Schicksal gefügt.
Seite an Seite gingen Moritz und Paul nun auf das kleine Fachwerkhaus zu, das am Ufer der Weißen Elster stand und von dem Fluss, der ihnen allen ihr Einkommen sicherte, durch einen großen Garten und eine niedrige Steinmauer getrennt war. Als Kind hatten es Moritz und sein Bruder Cornelius, den er Conni nannte, geliebt, darauf zu balancieren.
»Paul!«, rief in diesem Augenblick eine aufgeregte Kinderstimme hinter den beiden jungen Männern, und sie drehten sich um.
»Albin«, erkannte der Lehrling den etwa sechsjährigen Jungen, der ihn gerufen hatte und auf sie zugerannt kam.
»Habt ihr eine Perle gefunden?«, fragte der Kleine.
»Ja, meine erste«, entgegnete Paul stolz.
»Bringst du meinem großen Bruder das Perlenfischen bei? Bist du der Herr Schmerler?«, verlangte Albin von Moritz zu wissen.
Der wusste, dass der Kleine und Paul vor fünf Jahren ihren Vater durch einen Unfall bei Baumfällarbeiten verloren hatten. Danach war die junge Witwe mit ihren beiden Söhnen bei ihrem Schwager untergekommen, der am Marktplatz von Oelsnitz ein Gasthaus mit Herberge betrieb.
Moritz antwortete dem Nesthäkchen schmunzelnd: »Der bin ich, ganz genau. Und ich hoffe doch, dass dein Bruder etwas bei mir lernt.«
»Ich will auch Perlenfischer werden«, offenbarte der Junge. »Aber der Paul will mich nicht mitnehmen. Und Mama sagt auch, dass es zu gefährlich ist.«
»Das stimmt leider«, bestätigte Moritz. »Das Wasser ist noch zu tief für dich, du musst erst noch ein bisschen wachsen.«
Als er Albins enttäuschten Blick sah, deutete Schmerler junior auf das Mäuerchen. »Schau mal, sobald du größer bist als unser Schutzwall, darfst du mit zum Perlenfischen.«
»Versprochen?«, fragte der Kleine und stellte sich probeweise an die Steinmauer. Da fehlte zwar noch einiges, doch Albin schien auf schnelles Wachstum seinerseits zu vertrauen; er strahlte nämlich bis über beide Ohren, als Moritz sagte: »Versprochen!«
»Und jetzt ab nach Hause mit dir!«, befahl Paul. »Sonst macht sich Mutter noch Sorgen um dich.«
»Ich erzähle ihr, dass ich noch wachsen muss«, kündigte Albin an und lief los.
»Das mit dem Mäuerchen war eine gute Idee«, lobte Paul seinen Ausbilder. »Lehrt ihn Geduld.«
»Hat mein Vater mir damals auch so erklärt«, verriet Moritz lächelnd. »Komm, wir zeigen ihm deine erste Trophäe.«
Sie betraten das Haus durch die Hintertür und stiegen die schmale Treppe nach oben. Das Arbeitszimmer Friedrich Schmerlers befand sich im ersten Stock. Als sie vor der verschlossenen Tür angekommen waren, wechselten Perlenfischer und Lehrjunge einen Blick und nickten einander zu. Dann hob Moritz die freie Hand, um anzuklopfen.
»Herein«, klang es von innen.
Moritz musste lächeln, als er die Tür öffnete und den Raum betrat, der einen hinreißenden Blick auf den Garten und die Elster bot. Seinem Vater war deutlich anzumerken, dass ihm die Unterbrechung, welcher Art sie auch immer sein mochte, höchst willkommen war. Alles war dem leidenschaftlichen Perlenfischer lieber, als in seinem Arbeitszimmer eingesperrt zu sein, auch wenn er, wie Moritz wusste, ein sehr fähiger Buchhalter war und es auch schätzte, die Funde in seinen großen, schweren Kladden sorgsam aufzulisten. Aber Buchhaltung machen war eben nicht das Gleiche, wie an der frischen Luft zu sein. Und Aufräumen mochte Friedrich Schmerler schon gar nicht.
»Ah, Moritz«, begrüßte Friedrich seinen Sohn strahlend und strich sich, ebenso wie dieser das ständig zu tun pflegte, eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann erblickte er den Lehrjungen. »Und Paul«, fügte er freundlich hinzu. »Kommt herein. Ich freue mich über die Ablenkung. Auch wenn ich gerade etwas Spannendes entdeckt habe.«
»Unser Goldjunge hat gleich am ersten Tag im Fluss eine Perle gefunden«, unterbrach ihn Moritz und freute sich, mit wie viel Stolz dies den schlaksigen Hünen zu erfüllen schien.
»Donnerwetter, da gratuliere ich aber«, lobte Schmerler senior und reckte sich etwas, um Paul auf die Schulter zu klopfen. »Du passt also bestens zu unserer traditionsreichen Familie. Wie es der Zufall will, haben wir just heute einen Gruß von einem unserer Vorfahren erhalten.«
Moritz sah seinen Vater verwirrt an. »Was meinst du?«
»Interessanterweise habe ich gerade beim Aufräumen einen Brief gefunden, den ein gewisser Amtsvorsteher Müller im April 1734 an einen gewissen Herrn Schmirler geschrieben hat.«
Er zog ein vergilbtes Blatt hervor und legte es mit feierlicher Geste neben die Muschel, sodass Moritz es lesen konnte.
»Lies laut vor!«, forderte er seinen Sohn auf.