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Wie die Parfümerie Douglas die Roaring Twenties erlebte
Hamburg, 1920: Zehn Jahre gibt es die Parfümerie Douglas bereits, ein Grund zum Feiern! Weil sie sich darauf konzentrieren möchten, neue internationale Kontakte zu knüpfen, geben die »Douglas-Schwestern« Marie und Anna Carstens das Tagesgeschäft in die Hände ihrer Patentöchter Hertha und Lucie Harders. Doch den jungen Frauen stehen schwierige Zeiten bevor: Die deutsche Wirtschaft leidet unter den Reparationszahlungen, die Inflation lässt die Kundenzahlen sinken. Auf der Suche nach neuen Verkaufsideen lässt sich Lucie in Berlin und New York von den »Roaring Twenties« sowie den außergewöhnlichen Düften inspirieren – und nicht zuletzt von der Liebe.
»Eine Zeitreise in die Vergangenheit der Hansestadt, detailliert und liebevoll erzählt.« Gong über »Die Douglas-Schwestern«
Charlotte Jacobi ist das Pseudonym des Spiegel-Bestseller-Autorenduos Eva-Maria Bast und Jørn Precht. Die Überlinger Journalistin ist Verlegerin und Chefredakteurin, der Stuttgarter Hochschulprofessor ist Drehbuchautor für Kino- und TV-Produktionen. Ihr Roman »Die Douglas-Schwestern« stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste, jetzt setzen sie die Geschichte um die bekannte Parfümerie fort.
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© Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
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Cover & Impressum
Übersicht der wichtigsten Figuren
Familie Harders
Familie Carstens
Familie Schalt
Familie Lambert
Familie Wang
In Berlin
In New York
Weitere Personen
Prolog
1876
Teil 1
1920
1 – Hier wurde die …
2 – Als Erstes entstieg …
3 – Arnold Diestel war …
4 – »Frau Gräfin!« …
5 – Schließlich wurde …
6 – Am Montag, den …
7 – »Ich fahre zu Karstadt …
8 – »Oh«, kam es …
9 – Auf dem Weg aus …
10 – Nebelschwaden zogen …
Teil 2
1922/1923
Winter
11 – Am Morgen des …
12 – »Natürlich ruinieren …
13 – »Lernen wir hier …
14 – »Was sollen wir …
15 – Am Freitagabend …
16 – »Kopfnote Zitrone …
17 – »O nein, du Armer.« …
18 – Was war denn …
19 – Klack, klack, klack, …
20 – Am Freitagmorgen …
21 – Durch Emil von …
22 – Der vierundzwanzig…
23 – Gegen sieben Uhr …
24 – »Das ist Lucie, …
Teil 3
1923
Oktober/November
25 – Knapp ein halbes …
26 – Osdorf bei Altona …
27 – Es würde gleich …
28 – Zu Hause! Sosehr …
Teil 4
1924
August/September
29 – Im Erdgeschoss …
30 – Am Freitag, den …
31 – Zehn Tage nach …
32 – Der Broadway! …
33 – Lucie stand …
34 – »Lucie! Wenn …
35 – Am 1. Oktober …
36 – Als Hertha Harders …
37 – Die Scheiben …
Epilog
Juni 1925
Spuren der Vergangenheit
Danksagung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Catharine Hertha Marie Johanna Harders (* 20. November 1900 in Hamburg), Parfümverkäuferin
Alma Lucie Thea Harders (* 19. Januar 1905 in Hamburg), Parfümverkäuferin, Herthas jüngere Schwester
Johannes Harders (* 10. September 1871 in Kellinghusen, Kreis Steinburg), Kunstmaler
Helene Harders, geborene Franzen (* 23. Februar 1875 in Altona), Salonière
Maria Margarethe »Marie« Carstens (* 1. August 1876 in Kellinghusen), Parfümeriebesitzerin
Anna Dorothea Carstens (* 26. September 1879 in Kellinghusen), Maries Schwester, Parfümeriebesitzerin
Julius Christian Karstadt (* 12. Mai 1885 in Dresden), Prokurist, Annas Verlobter
Odile Carstens, geborene Dubois (* 12. Mai 1861 in Straßburg), Stiefmutter der Carstens-Schwestern
Eugenie Anna Schalt (* 6. Mai 1897 in Danzig), Verkäuferin
Adolf Hermann Schalt (Geburtsdatum und -ort nicht ermittelt), Eugenies Vater, Schuhmacher, wohnhaft in Danzig
Emilie Albertine Schalt, geborene Roesler, (Geburtsdatum und -ort nicht ermittelt), Eugenies Mutter
Pauline Lambert, geborene Dumas (* 28. Juli 1854 in Grasse), pensionierte Parfümeriebesitzerin, Kunstmalerin
Bernadette Dumas, geborene Coquard (* 15. August 1838 in Grasse, † 1. September 1880 in Grasse), Paulines Mutter
Philippe Lambert (* 14. Juli 1872 in Grasse), Buchbinder, Paulines Sohn
Alexandre Lambert (* 7. November 1848 in Grasse), Journalist, Paulines Ex-Mann
Marcel Lambert (* 20. Januar 1864 in Grasse), Neffe von Paulines Ex-Mann
Berta Edith Kolbe, geborene Krekeler (* 26. August 1880 in Höxter), Seifenfabrikantin, Marcels Lebenspartnerin
Jakob Silberstein (* 1. März 1858 in Grasse), Pianist, einstiger Liebhaber von Pauline
Anjing Wang (* 29. Januar 1901 in der Hafenstadt Guangzhou, Provinz Guangdong), Übersetzer bei der HAPAG, Koch
Rulan Wang (* 11. Oktober 1899 in der Hafenstadt Guangzhou, Provinz Guangdong), Masseurin, Anjings Schwester
Xu Li Wang (* 29. November 1855 in der Hafenstadt Guangzhou, Provinz Guangdong), Buchhändler, Anjings Onkel
Elise Charlotte Marie »Liselotte« Nagelschmidt, geborene Peter (* 9. August 1887 in Belgard, Westpreußen), Kosmetikfabrikantin und Schönheitsberaterin bei der Elise Bock GmbH
Elise Bock, geborene Heidecke (* 23. Februar 1866 in Gröningen, Krs. Oschersleben), Gründerin der Moderne Toiletten Kunst Elise Bock
Ludwig Scherk (* 1. Mai 1880), Kaufmann und Drogist
Alice Scherk (* 11. Februar 1888), geborene Carsch, seine Frau, ausgebildete Sängerin
Walter Scherk (* 8. März 1913), ihr älterer Sohn
Fritz Scherk (* 26. Februar 1918), ihr jüngerer Sohn
Marta Ginschor (* 1897), Expedientin in der Firma Scherk
Karl Vollmoeller, eigentlich Karl Gustav Vollmöller (* 7. Mai 1878 in Stuttgart), Autor, Unterstützer von:
Anna May Wong (* 3. Januar 1905 als Wong Liu-tsong, in Los Angeles, Kalifornien), amerikanische Schauspielerin
Josephine Baker (* 3. Juni 1906 als Freda Josephine McDonald in St. Louis, Missouri), Tänzerin
Emma Arévalo, geborene Wenz (* 30. März 1902 in Hamburg), Ehefrau von:
Capitán Javier Esteban Arévalo (* 27. November 1864 in Iquique, Chile), Salpeterbaron
Franz Georg Mülder (* 19. Dezember 1899 in Schüttorf), Buchhalter
Wilhelm »Willi« Baumann (* 4. Dezember 1897 in Altona), Landschaftsgärtner
Elisabeth Henriette »Henny« Henckel (* 18. September 1878 in Billwärder an der Bille), Französischlehrerin
Emil von Seggern (* 7. Oktober 1885 in Oldenburg), Vermieter, in gehobener Position bei »Krupp«
Robert Bethge (* 24. Juni 1898 in Wanne), Polizeiassistent
Knuth Fedder (* 5. September 1875 in Altona), Polizeioberwachtmeister
Uwe Hauer (* 22. Juli 1874 in Wansbeck), Bootsmann
Hinnerk Carlos Nieland (* 28. Mai 1895 in Schleswig), Reeder
Wilhelm »Willy« Brix alias Håkon William Heger (* 25. Januar 1895 in Rüde bei Glücksburg), Hinnerks Prokurist
Eugène Fuchs (* 6. Oktober 1861 in Ecully), Notar
Miklós »Niki« László, geborener Nicholaus Leitner (* 20. Mai 1903 in Budapest), Theaterautor
Fritz von der Höh (* 5. Juni 1896 in Wanne), Reichsbahn-Lokomotivführer-Anwärter
Arnold Friedrich Georg Diestel (* 2. März 1857 in Valparaíso, Chile), Senator und Erster Bürgermeister in Hamburg
Clara Luise Marie Emma Sophie Claudine Mathilde Gräfin zu Castell-Rüdenhausen (* 15. Oktober 1861 in Sutten)
Anna Magdalena »Marlene« Kleinert, geborene Sutor
(* 22. Juli 1878 in Regensburg), Inhaberin Lübecker Detektiv- und Auskunftsbüro
»Orangenduft!«
Das war es, was Pauline Lambert, geborene Dumas, als Erstes wahrnahm. Für die Kopfnote, so wusste die zweiundzwanzigjährige Frau in dem weißen Sommerkleid, nutzte man intensiv duftende Stoffe, die sich allerdings rasch verflüchtigten. Häufig wurden hierfür leichte Zitrusaromen wie Grapefruit und Mandarine, Bergamotte oder aber fruchtig-süße Noten gewählt. Parfüms, so hatte Pauline gelernt, bestanden aus verschiedenen Duftnoten, die ihre Wirkung erst innerhalb eines zeitlichen Ablaufs komplett entfalteten. Jede einzelne Phase setzte sich aus wenigstens fünf Ingredienzen zusammen, somit wies ein Parfüm mindestens fünfzehn Bestandteile auf.
»Der Duft der Kopfnote entscheidet meist, ob das Parfüm den eigenen Vorlieben entspricht oder nicht«, zitierte sie die Worte ihres Mentors, des alten Parfümeurs Monsieur Gaillard. Alles, was er ihr im Laufe der Jahre über die Kreation von Parfüms erzählt hatte, befand sich in einem Notizbüchlein, das sich Pauline eigens zu diesem Zweck besorgt hatte.
Heute saß der schlaksige Greis an seinem Marktstand vor der schlanken Frau mit dem flachsblonden Haarknoten, die ihren vierjährigen Sohn Philippe dabeihatte. Wie seit Jahrzehnten verkaufte Gaillard hier seine Seifen und Parfüms aus eigener Herstellung. Auch kunstvoll gestaltete Trockenblumensträuße hatte er im Angebot. Pauline bewunderte ihn schon seit Kindertagen, und nach Erledigung ihrer Einkäufe gönnte sie sich oft noch einen Plausch mit dem Parfümeur, der inzwischen nahezu blind war.
Pauline hatte die Augen freiwillig geschlossen, während er sie an einem roten Flakon schnuppern ließ, der geformt war wie ein gläsernes Schneckenhaus. Im Geiste ging sie den Duftablauf durch, wie er nach Monsieur Gaillards Worten in ihrem Notizbuch festgehalten war. Auf die Kopfnote folgte die Herznote. Diese Mittelnote kam erst zur Geltung, wenn die erste bereits verflogen war. Durch ihren intensiven Duft gab die Herznote dem Parfüm seinen eigentlichen Ausdruck. Dafür wurden oftmals fruchtige Duftstoffe wie etwa Apfel, Himbeere, Pflaume oder Kokos verwendet. Auch blumige Düfte eigneten sich sehr gut für die Kreation der Herznote, so hatte Pauline gelernt. »Düfte sind die Gefühle der Blumen«, so hatte laut Monsieur Gaillard einst ein deutscher Dichter geschrieben. Doch in diesem Fall erkannte sie etwas anderes: »Pfirsich?«
Der Alte nickte zufrieden und hielt Paulines kleinem Sohn Philippe ebenfalls das Fläschchen hin, der aber nur das Näschen krauste und fand: »Das stinkt.«
Seine Mutter war peinlich berührt, doch der Parfümeur lachte und erklärte: »Für Kinder sind diese Düfte zu stark.« Dann fragte er: »Und die Basis?«
Sie wusste, dass die Basisnote den Abschluss des Duftablaufs bildete und auch erhalten blieb, wenn die Kopf- und die Herznote schon verflogen waren. Sie wurde meist von stark duftenden Ölen gebildet. Eine besondere Intensität wiesen zum Beispiel Patschuli und Vanille auf. Doch bei dem Parfüm in dem Schneckenflakon erkannte Pauline eine andere Basis: Jasmin. Die Gewinnung von Duftbausteinen war nicht nur aufwendig, sondern auch überaus teuer. So wurde ein Liter des kostbaren Jasminöls aus einer Tonne Blüten gewonnen. Dies erklärte, warum hochwertige und lang anhaltende Düfte ihren Preis hatten – und warum Pauline sie sich nicht leisten konnte.
Sie bedauerte das zutiefst, nicht nur, weil sie dieses Parfüm auf Anhieb liebte, sondern auch, weil sie dem alten Monsieur Gaillard durch einen Kauf gern gezeigt hätte, wie sehr sie seine neueste Kreation bewunderte.
»Es riecht himmlisch«, schwärmte sie, als sie die Augen öffnete und blinzelnd auf den Marktplatz von Grasse im Licht der Morgensonne sah. Bedauernd musste sie hinzufügen: »Leider hat mein Mann mir verboten, irgendetwas anderes zu kaufen als die nötigsten Nahrungsmittel – und seine Zigarren.«
Tja, ihr strenger Gatte Alexandre. Er war Journalist, schrieb unter anderem für das Wochenblatt Journal de Grasse et de l’arrondissement. Nachdem Paulines Vater vor sechs Jahren im Deutsch-Französischen Krieg gefallen war, hatte sie sehr getrauert. Da war sie froh gewesen, dass der anfangs so galante Alexandre Lambert, der im selben Haus wie ihre Familie im Dachgeschoss wohnte, sie mit seinem Werben von ihrem großen Verlust abgelenkt hatte. Er hatte sich als versierter Verführer entpuppt – irgendwann war Pauline ungewollt schwanger geworden, und sie hatten heiraten müssen. Zu spät erst hatte sie schließlich Alexandres wahren Charakter erkannt. Nach der Hochzeit war sie von ihm gezwungen worden, ihn von früh bis spät zu bedienen. Ihre Mutter, die seit dem Tod des Vaters an Schwermut litt, war mit Paulines sieben jüngeren Geschwistern ohne ihre Hilfe allerdings völlig überfordert. Noch kurz vor dem Ableben ihres Mannes war Bernadette Dumas, geborene Coquard, ein siebtes und letztes Mal schwanger von ihm geworden. Und so kam es, dass Paulines jüngste Geschwister, zwei Zwillingsmädchen, erst fünf Jahre alt waren. Es zehrte oft enorm an Paulines Kräften, Alexandres Forderungen und die Bedürfnisse ihrer großen Familie unter einen Hut zu bringen.
»Maman, gehen wir bald nach Hause?«, maulte nun ihr eigener Sohn Philippe, dem der Markt langweilig zu werden schien.
»Erst muss deine Mutter noch ihr Geschenk in Empfang nehmen«, erwiderte Monsieur Gaillard. Er reichte Pauline erneut den – diesmal geschlossenen – roten Schneckenhausflakon. »Alles Gute zum Geburtstag!«
»Das wissen Sie noch?«, staunte sie.
Ihr Mann Alexandre hatte heute Morgen keine Anstalten gemacht, ihr zu gratulieren. Sie wusste nicht, ob er es vergessen hatte oder einfach nur schlechter Laune war. Die hatte er morgens nämlich häufig – und meist eigentlich auch für den Rest des Tages.
»Die Maman ist jetzt zweiundzwanzig, und ich werde nächstes Jahr schon fünf«, erklärte ihr Sohn dem alten Parfümeur.
Sie strich dem Kleinen liebevoll über den strohblonden Haarschopf. Er war wirklich der einzige Grund, warum sie es noch bei ihrem Mann aushielt.
Sie wandte sich wieder Monsieur Gaillard und dem Fläschchen in ihrer Hand zu, welches rot in der Sonne glänzte. »Das kann ich doch nicht annehmen.«
»Sie müssen, der Duft ist für Sie persönlich zusammengestellt«, entgegnete der Parfümeur. »Letztes Jahr waren Sie gezwungen, sich selbst einen Blumenstrauß zum Geburtstag zu kaufen, ich erinnere mich genau.«
Das hatte auch sie nicht vergessen – schon allein, weil Alexandre abends wegen des Geldes für den Strauß einen furchtbaren Wutanfall bekommen hatte.
»Tausend Dank, Monsieur Gaillard, ich werde mich im November an Ihrem Geburtstag revanchieren«, sagte Pauline gerührt und sah hinüber zu Obsthändler Aubry, wo ihre zwei fünfjährigen Schwestern sowie deren sechsjähriger Bruder mit großen Augen auf die Berge dunkelroter Kirschen starrten.
»Jeanne, Marion, Claude, kommt! Wir müssen die Zigarren für Onkel Alexandre besorgen.«
»Aber die Kirschen sehen so lecker aus«, befand die kleine Marion mit flehendem Blick.
»Die können wir uns nicht leisten«, wiederholte ihr Bruder Claude den Satz, den er zu Hause zu Paulines Bedauern viel zu oft von den Erwachsenen hörte.
Die Verabschiedung von Monsieur Gaillard musste schneller vonstattengehen als gewünscht, denn ein Blick zur Kirchturmuhr machte Pauline klar, dass sie sich schon viel zu lang auf dem Markt aufgehalten hatten. Und kurz darauf ließ ein weiterer Blick – diesmal auf den Zettel an der Ladentür des Tabakhändlers Fournier – sie befürchten, dass sie noch später nach Hause kommen würden als befürchtet: »Wegen Krankheit geschlossen.«
Sie musste Alexandres Zigarren also woanders besorgen.
»Kommt, Kinder, wir gehen in die Rue Amiral de Grasse.«
In jener Straße gab es ein zweites Rauchwarengeschäft, welches die kubanischen Romeo y Julieta führte, die ihr Mann bevorzugte.
Auf dem Weg dorthin hörte sie plötzlich das seit zehn Jahren beliebte Lied Les temps des cerises. Eine jung klingende Männerstimme sang mit Klavierbegleitung von der Kirschenzeit – ausgerechnet. Das dürfte ihren Geschwistern die verlockend dunkelroten Früchte auf dem Markt wieder ins Gedächtnis zurückrufen.
Das leer stehende kleine Geschäft, aus dessen offener Tür die Musik drang, übte eine seltsame Anziehungskraft auf Pauline aus. In den beiden Schaufenstern hatten einst Musikinstrumente gestanden. Sie wusste, dass der alte Noten- und Instrumentenhändler Monsieur Silberstein um Ostern herum gestorben war; sie hatte die Traueranzeige in der Zeitung gesehen. Wer hier wohl auf seinem Flügel spielte?
»Das Lied von den Kirschen ist schön«, flüsterte Philippe seiner Mutter zu.
Und ehe sie ihm antworten konnte, rannte der Junge einfach hinein in Richtung der Musik.
Er reagierte nicht auf ihr Rufen, sie musste wohl oder übel hinterher. Auf ein Klopfen gegen die offene Ladentür kam keine Antwort, Gesang und Klavier übertönten es offenbar. Zögerlich folgten ihre drei kleinen Geschwister Pauline in die Geschäftsräume.
Da sie aus dem grellen provenzalischen Sonnenlicht kamen, wirkte drinnen alles sehr düster, und es dauerte einen Moment, bis Paulines Augen sich daran gewöhnt hatten.
Sie hörte, wie Klavierspiel und Gesang endeten und die Männerstimme amüsiert fragte: »Na, wer bist du denn, kleiner Mann?«
»Ich bin der Philippe Lambert«, stellte sich ihr Sohn vor – genau in dem Augenblick, als seine Mutter an der einstigen Verkaufstheke vorbei in ein unerwartet geräumiges und lichtdurchflutetes Hinterzimmer gegangen war. Dort stand der blonde Junge vor einem Flügel, an dem ein drahtiger junger Herr in Sandalen, Stoffhosen und weißem Hemd saß. Widerspenstige dunkle Locken fielen ihm in das lächelnde Gesicht, als der Knabe erklärte: »Ich mag dein Lied von den Kirschen.«
Nun bemerkte der Mann Pauline.
»Guten Morgen, entschuldigen Sie bitte«, beeilte sie sich zu sagen und bemerkte dabei, wie fasziniert die dunklen Augen des Pianisten zu ihr aufsahen. »Mein Sohn ist einfach hineingerannt.«
»Das nehme ich als Kompliment«, entgegnete der Herr am Klavier und erhob sich, um ihr die Hand zu reichen. »Er hätte bei meinem Gesang ja auch die Flucht ergreifen können.«
»Mein Name ist Pauline Lambert«, stellte sie sich hastig vor.
»Jakob Silberstein«, entgegnete er.
»Silberstein? Dann war der Instrumentenhändler …?«
»Mein Großvater, ja«, bestätigte er.
»Oh, mein Beileid.«
Nun traten die Zwillingsmädchen und ihr Bruder Claude hinter Pauline in das Zimmer.
Jakob sah die drei Kinder erstaunt an. »Sind das auch Ihre?«
Sie schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, das sind meine Geschwister. Wir sind insgesamt acht.«
Der junge Klavierspieler sah vorsichtig in den einstigen Verkaufsraum hinter ihr. »Kommen die restlichen auch noch?«
Daraufhin konnte sie nicht umhin, aufzulachen. »Nein, keine Angst, wir waren heute nur zu fünft auf dem Markt. Und jetzt müssen wir noch zu Tabakhändler Marais.«
»Oh, wenn ich darf, begleite ich Sie«, meinte er. »Ich wollte mir die Zeitung besorgen, darin hab ich eine Anzeige zum Verkauf des Ladens aufgegeben. Mal sehen, wie sie herauskommt.«
Als sie mit den Kindern das einstige Geschäft verlassen hatten und in Richtung Tabakladen gingen, drehte sich Pauline noch einmal mit einem bedauernden Blick um. »Wie schade um die schönen Räume.«
»Ich werde sie auch vermissen«, gab Jakob zu. »Vor allem, weil ich bei meinen Eltern keinen Platz für den Flügel habe. Das ist natürlich sehr schade. Darauf hat Grand-père mir das Klavierspielen beigebracht. Und heute gebe ich selbst Unterricht.«
»Dann wird das Instrument mitverkauft?«, vergewisserte sich Pauline.
Jakob nickte. »Das hoffe ich doch. Ich würde mir wünschen, dass die Räume an jemanden gehen, der den Flügel zu schätzen weiß – und ihm weiter sein Zuhause gönnt.«
»Bei mir wäre das der Fall«, meinte Pauline. »Ich habe immer davon geträumt, einen eigenen Laden zu haben. Für Parfüms. Selbst kreierte. Aber ich habe nicht mal genug Geld, um den Kindern Kirschen zu schenken.«
»Ich hätte die Räume auch gern behalten«, gab Jakob wehmütig zu. »Solange ich dort Zeit verbringen konnte, war mein Großvater irgendwie noch nicht ganz fort. Aber meine Eltern haben das Geld für den Verkauf schon verplant – eigentlich mehrfach.«
Inzwischen waren sie am Tabakladen angekommen. Beim alten Monsieur Marais erstand Jakob die Zeitung, Pauline die Zigarren für ihren Mann.
Draußen vor dem Geschäft blätterte er zu den Kleinanzeigen und fand schließlich seine eigene Annonce.
Pauline sah ihn fragend an. »Ist alles korrekt?«
Er nickte ernst. »Da steht es nun schwarz auf weiß: eine Erinnerung an meinen Großvater weniger.«
»Vielleicht ist er auch gar nicht dort«, sagte Pauline und deutete auf den leeren Instrumentenladen am Anfang der Gasse, um den Finger dann sanft auf Jakobs linke Brust zu legen, »sondern hier.«
»Sie sind sehr lieb«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich hoffe, wir begegnen uns einmal wieder.«
Sie hatte inzwischen bemerkt, dass Jakob Silberstein unter der Verkaufsanzeige eine weitere Annonce hatte drucken lassen, in der er Klavierstunden anbot.
»Ich wollte immer lernen, wie man spielt«, erzählte sie. »Sobald ich es mir leisten kann, melde ich mich bei Ihnen.«
»Ich könnte Ihnen auch …«, setzte Jakob an, da zerrte Philippe am Arm seiner Mutter. »Maman, wir müssen los, Papa wartet auf seine Zigarren.«
Da hatte er leider recht. Pauline reichte Jakob zum Abschied die Hand, und als er sie drückte, bekam sie trotz der sommerlichen Hitze eine Gänsehaut. Er sah noch jünger aus als sie – und sie war zudem ja auch bereits verheiratet –, aber es ließ sich nicht leugnen, wie sehr er ihr gefiel. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie ihn wohl nie wiedersehen würde.
Als Pauline mit den Kindern vor dem Mietshaus ankam, in dem sie mit ihrer Familie und Alexandre wohnte, wartete ihre Mutter Bernadette sichtlich nervös vor der Tür. Das war kein gutes Zeichen.
Pauline eilte zu ihr und konnte die dunklen Ränder unter den Augen in dem ausgemergelt wirkenden Gesicht erkennen.
»Wo bleibt ihr denn?«, zischte Bernadette.
»Monsieur Fournier hatte wegen Krankheit geschlossen, ich musste Alexandres Romeo y Julieta in der Rue Amiral de Grasse holen«, erklärte Pauline. »Ist er sehr böse?«
»Er tobt.« Bernadette flüsterte, damit es die Kinder nicht hörten. »Soll ich ihm die Dinger lieber hochbringen?«
Doch ihre Tochter schüttelte den Kopf. »Das mache ich schon selbst«, sagte sie und nahm die Zigarren aus dem Korb mit den Markteinkäufen, den sie daraufhin ihrer Mutter reichte.
Die sah ihr mitleidig nach, als Pauline sich auf den Weg hinauf zu Alexandres winziger Dachgeschosswohnung machte, die sie seit der Hochzeit vor knapp fünf Jahren miteinander teilten.
Wieder einmal fühlte die junge Frau sich wie auf dem Weg zum Schafott. Sie konnte sich die Ohrfeige schon jetzt vorstellen, die Alexandre ihr verpassen würde. Eine von jenen, für die er weit ausholte, die ihr die Tränen in die Augen schießen und die Ohren sirren ließen.
Sie schloss die Tür zur Mansarde auf.
»Alexandre, ich bin zurück«, rief sie.
Er saß an seiner Schreibmaschine. Wie immer war er auch zu Hause adrett gekleidet. Anzug, Krawatte, das rote Haar mit Pomade zurückgekämmt, auch der Schnäuzer bestens gepflegt.
»Monsieur Fournier war krank, da musste ich …«, begann sie, doch er unterbrach sie, indem er ungeduldig neben sich auf den Tisch schlug.
»Sei froh, dass du heute Geburtstag hast«, knurrte er, ohne von seiner Schreibmaschine aufzusehen, während sie mit zitternden Fingern die hölzerne Zigarrenschachtel auf die Stelle der Mahagoniplatte legte, auf die er zuvor seine Faust hatte krachen lassen.
Das war also sein Geburtstagsgeschenk? Sie ausnahmsweise nicht zu schlagen?
Einige Minuten später saß Pauline in der Küche und prostete mit der Kaffeetasse ihrer Spiegelung im Fenster zu. »Alles Gute, Pauline.« Sie musste sich wach halten, es lag noch ein arbeitsreicher Tag vor ihr, zunächst stand die Zubereitung des Mittagessens für neun Personen an. Doch für einen Augenblick wollte sie sich eine winzige Flucht gönnen. Liebevoll strich sie mit den Fingern über Jakobs Annonce für Klavierstunden, die sie in der Zeitung auf dem Küchentisch wiederentdeckt hatte. Und dann öffnete sie Monsieur Gaillards Schneckenhausflakon, schloss die Augen und ließ das Duftgemisch seinen Zauber verbreiten. Pauline Lambert träumte sich in ein neues Leben.
Hier wurde die Nase verwöhnt! Ein Hauch der Wohlgerüche, die am Sonnabend im Verkaufsraum probiert worden waren, lag immer noch als angenehm sanfte Mischung in der Luft. Die einzelnen Parfüms hatten vorgestern natürlich noch intensiver gerochen, als die Verkäuferinnen mit den Kunden versucht hatten, einen Duft – den Duft! – zu finden, der zu ihnen passte. Hertha Harders liebte es, bei diesem Auswahlprozess zu beraten. Die Neunzehnjährige half schon seit Kindertagen in der Parfümerie ihrer Patentanten Marie und Anna Carstens aus. Douglas hieß dieses Paradies der Düfte am Neuen Wall im Zentrum Hamburgs. Der Name war bei der Eröffnung 1910 in der Hansestadt bereits bestens etabliert gewesen, die beiden Besitzerinnen hatten ihn sich von der Firma einer befreundeten Seifenfabrikantin geliehen. Und am heutigen 24. Mai 1920 feierte das Geschäft an der Hamburger Binnenalster sein zehnjähriges Bestehen. Lange hatte es so ausgesehen, als werde die Parfümerie diesen Tag nicht mehr erleben. Durch den Großen Krieg waren Herthas Patinnen ab 1914 nämlich finanziell arg ins Schlingern geraten. In Zeiten des größten Mangels hatten die Douglas-Schwestern, wie sie allenthalben genannt wurden, ihr Geschäft zeitweise sogar schließen müssen. Es war nur der jüngeren von Herthas Patentanten, Anna Carstens, und deren großem Wirtschaftswissen zu verdanken, dass daraus kein Dauerzustand geworden war.
Nach einer etwas bescheidenen Wiedereröffnung im vorigen Jahr sollte die Feier zum Jubiläum der Gründung heute für mehr Furore sorgen. Zufrieden sahen sich Hertha und ihre fünfzehnjährige Schwester Lucie in dem Laden um. Zusammen mit ihren Patinnen und der Ausbilderin Eugenie Schalt hatten sie am gestrigen Sonntag ganze Arbeit geleistet: Die gläsernen Regale und Parfümfläschchen in allen Farben und Formen glitzerten und funkelten miteinander um die Wette, die Stuckdecke war auch von den kleinsten Staubpartikelchen befreit worden und sah aus wie frisch gestrichen.
An den wenigen Wänden, an welchen keine Parfümflakons zur Schau gestellt wurden, befanden sich Gemälde der blumenreichen Landschaften rund um Grasse, der französischen Stadt der Düfte. Marie Carstens hatte die Bilder einst von einer Reise dorthin mitgebracht.
Herthas Schwester Lucie sah besorgt durch das Schaufenster hinaus, während sie sich die rotblonden Locken zurechtrückte, die auf dem Weg von der U-Bahn hierher trotz ihres Regenschirms feucht geworden waren. »Hoffentlich war das der letzte Schauer für heute.«
»Bestimmt, die Sonne kommt ja schon durch«, entgegnete Hertha zuversichtlich und überprüfte in einem verspiegelten Regal ebenfalls den Sitz ihres kinnlangen, in akkuraten Wellen frisierten braunen Haars.
Einmal mehr fiel ihr auf, dass ihre hochmodisch gekleidete Schwester wesentlich älter aussah als fünfzehn. Manche hielten die etwas höher gewachsene, schlanke Lucie sogar für die Ältere.
Da ertönte das vertraute Bimmeln des Glöckchens über der Ladentür, die daraufhin etwas schwerfällig geöffnet wurde. Die beiden Schwestern erblickten eine alte Dame mit weißem Haarknoten. Sie trug einen leichten Sommermantel und stützte sich auf einen hölzernen Gehstock, dessen Griff die Form einer goldenen Rose hatte. Ob dieser Knauf aus echtem Gold war, vermochte Hertha nicht zu sagen. Auch die Kleidung der grazilen Greisin schien derart aus der Zeit gefallen, dass man nicht einschätzen konnte, ob sie einst teuer gewesen war. Doch als Hertha zu ihr eilte, um die Tür aufzuhalten, bemerkte sie, wie gepflegt die Dame duftete. Nach Vanille und einer weiteren, exotischeren Note, welche die Verkäuferin nicht eindeutig auszumachen vermochte. Das wäre ihrer Schwester Lucie gewiss sofort gelungen, denn sie war von ihnen beiden die Duftexpertin, die »Nase«.
»Vielen Dank, Mademoiselle«, sagte die Alte, und das Funkeln ihrer veilchenblauen Augen sowie ein charmantes Lächeln verliehen ihr etwas fast Mädchenhaftes.
Der Akzent war unüberhörbar, daher ahnte Hertha, um wen es sich bei diesem ersten Jubiläumsgast handelte, und sie fragte auf Französisch nach: »Sind Sie Madame Lambert?«
Nun bewährte es sich, dass Marie und Anna Carstens ihren Patentöchtern und deren Ausbilderin Eugenie Schalt einen Sprachkurs bei einer Lehrerin aus Harburg bezahlt hatten. Sie waren der Meinung gewesen, falls Lucie und Hertha eines Tages den Laden übernehmen sollten, wäre es gut, wenn sie mit den zahlreichen Duftlieferanten aus Frankreich in deren Muttersprache verhandeln könnten. Sie selbst waren dank ihrer aus dem Elsass stammenden Stiefmutter ohnehin zweisprachig aufgewachsen. Und zur Übung sprachen sie regelmäßig Französisch mit ihren Verkäuferinnen.
Die alte Dame schien erleichtert, dass Hertha dessen mächtig war, und antwortete ebenfalls in ihrer Muttersprache: »Ja, die bin ich.«
Nun hatte Hertha die Gewissheit, dass es sich um Pauline Lambert handelte, Marie Carstens’ alte Mentorin aus Grasse, der Welthauptstadt des Parfüms. Sie war die Tante des Bankiers Marcel Lambert, dem langjährigen Partner der Geschäftsführerin der Douglas Seifenfabrik, Berta Kolbe. Berta war es gewesen, von der die Carstens-Schwestern vor zehn Jahren die Lizenz erhalten hatten, den etablierten Namen Douglas auch für ihre Parfümerie zu verwenden.
Pauline Lambert erklärte Hertha nun: »Eigentlich wollten mein Neffe und Berta Kolbe mich am Bahnhof abholen, aber der Nachtzug hatte Verspätung, und wir haben uns wohl verpasst, deshalb bin ich mit einer Droschke gekommen. Ich hatte gehofft, die beiden hier anzutreffen.«
»Noch sind sie nicht da«, erklärte Hertha bedauernd.
Pauline Lambert sah sie fragend an. »Und Marie Carstens?«
»Sie müsste jeden Augenblick hier sein«, beruhigte Hertha die Französin, von der ihre Arbeitgeberin erzählt hatte, dass sie in Grasse einst eine eigene, wunderschön eingerichtete Parfümerie betrieben hatte. »Wo haben Sie denn Ihr Gepäck?«
»Das hat der Fahrer freundlicherweise schon in das Haus meiner Schwiegertochter an der Elbchaussee gebracht«, antwortete Madame Lambert und betrachtete mit mildem Lächeln einige besonders ungewöhnlich geformte Flakons sowie die auf den Gemälden an den Wänden wiedergegebene Blütenpracht – eine wahre Farbexplosion.
»Die alten Parfümfläschchen und Bilder stammen von Ihnen, nicht wahr?«, erinnerte Hertha sich an die Erzählungen ihrer Arbeitgeberin Marie.
»Ja, sie hingen in meiner eigenen Parfümerie in Grasse, und die alten Flakons hatten sich im Lauf der Jahre dort angesammelt«, erzählte Pauline Lambert. »Als ich mich vor einigen Jahren zur Ruhe setzen wollte, habe ich vieles Mademoiselle Marie vermacht. In meiner kleinen Wohnung war kein Platz für das alles. Und inzwischen habe ich ja noch mehr Zeit zum Malen, da platzen die Räume sowieso aus allen Nähten.«
»Ich liebe Ihre Bilder schon, seit Marie sie vor dem Krieg mitgebracht hat«, erzählte Hertha. »Besonders im grauen Winter kann man sich so richtig in sie hineinflüchten. Damals habe ich selbst angefangen zu malen, aber es ist mir nie gelungen, etwas so Wirkungsvolles herzustellen.«
Madame Lambert sah sie neugierig an. »Malen Sie heute auch noch?«
»Ich versuche es zumindest«, antwortete Hertha schüchtern. »Wenn ich die Zeit und die Muße dazu finde. Dann lässt mich mein Vater sein Atelier benutzen. Er ist auch Kunstmaler – und ein großzügiger und lieber Mensch. Wie Sie.«
»Oh, danke, Ihre Bilder würde ich gern einmal sehen«, meinte die betagte Künstlerin.
»Zwei von Herthas Werken hängen da hinten an der Tür zum Lager«, verriet Lucie, die dem Gespräch bisher nur zugehört hatte. »Meine Schwester ist sehr bescheiden, was ihre Malerei betrifft, aber die Fräulein Carstens wollten sie zumindest dort aufhängen dürfen.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon im Hinterzimmer, und Lucie eilte los, um das Gespräch anzunehmen.
Pauline Lambert machte sich indes auf den Weg zur Lagertür und bewunderte daneben zwei kleine gerahmte Bilder, beides Stillleben von Blumensträußen in Porzellanvasen. Die Farben der Blüten wirkten besonders strahlend, da Hertha den Hintergrund nahezu völlig schwarz gehalten hatte.
»Sehr ausdrucksstark, ein raffinierter Kontrast«, lobte Pauline. »Sie sollten das mit dem Malen weiterverfolgen. Die Verwirklichung dieses Traums muss Ihrer Arbeit in der Parfümerie nicht widersprechen. Es soll zumindest schon Menschen gegeben haben, die beides unter einen Hut gebracht haben«, spielte sie verschmitzt lächelnd auf sich selbst an.
Da kam Lucie aus dem Hinterzimmer zurück. Am besorgten Gesichtsausdruck ihrer Schwester bemerkte Hertha sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Das war Ihr Neffe, Madame«, wandte Lucie sich an Pauline Lambert, ihrerseits auf Französisch. »Er und Berta Kolbe hatten einen Unfall.«
***
Eugenie Schalt freute sich über die Sonne, die nach dem morgendlichen Regenschauer zwischen den Wolken hervorblinzelte. Die dreiundzwanzigjährige Verkäuferin warf einen letzten Blick auf die malerische Alster und den Pavillon an deren Ufer, strich sich eine Strähne ihres flachsblonden Haars aus dem Gesicht und überquerte dann den Neuen Wall, um auf den Eingang der Parfümerie zuzueilen.
Sie schüttelte vor der Glastür ihren Regenschirm aus, als sie hinter sich eine rauchige Stimme hörte, die ihr vage bekannt vorkam. »Guten Morgen, Fräulein Schalt.«
Sie drehte sich um und erblickte Oberwachtmeister Knuth Fedder in Begleitung eines jüngeren Kollegen, den sie noch nie gesehen hatte. Er war sehr hochgewachsen, bestimmt über einen Meter neunzig, hatte kurzes braunes Haar und ein Paar faszinierende dunkle Augen, die eine gewisse Unsicherheit ausstrahlten. Diese verlieh ihm trotz seiner Größe und der muskulösen Brust etwas Zerbrechliches. Eugenie fand den Mann derart anziehend, dass sie befürchtete, sie würde ihn anstarren. Rasch wandte sie sich daher an den wesentlich kleineren Mittvierziger neben ihm: »Guten Morgen, Herr Oberwachtmeister. Wie geht es dem Rücken?«
Fedder rieb sich seinen Oberlippenbart und lächelte. »Bestens, der Hexenschuss ist besiegt.« Er deutete auf den schönen Hünen an seiner Seite. »Das hier ist mein neuer Kollege Polizeiassistent Bethge, kam aus dem Ruhrgebiet zu uns.«
»Freut mich«, sagte der Uniformierte mit tiefer, aber unerwartet leiser Stimme.
»Ebenso«, erwiderte Eugenie aufrichtig.
Der junge Polizeiassistent sah die Verkäuferin so seltsam bestürzt an, dass sie nervös wurde und den Blick senkte.
»Wie man hört, gibt es bei Ihnen heute ein großes Jubiläum zu feiern?«, wandte sich Fedder wieder an sie.
»Ja, zehn Jahre haben die Fräulein Carstens jetzt durchgehalten«, versetzte Eugenie nicht ohne Stolz.
»Nun, da … dann ist es vielleicht gut, dass ich Sie zuerst treffe«, sagte der Oberwachtmeister ein wenig stockend. »Ich habe nämlich leider keine allzu guten Nachrichten.«
Eugenie wurde augenblicklich von vager Sorge erfasst. »Worum geht es denn?«
»Erinnern Sie sich an Uwe Hauer?«
»Natürlich.« Eugenie erschauderte. Bei der Erwähnung des Namens kam ihr augenblicklich das Zeitungsfoto eines hageren, kahl geschorenen Matrosen mit tief liegenden Augen in den Sinn. »Das ist der Einbrecher, den Fräulein Anna im Hinterzimmer einsperren konnte.«
Der Dieb hatte seinerzeit schon zwei weitere Läden ausgeraubt, unter anderem jenes Herrenausstattungsgeschäft, das damals noch Anna Carstens’ Verlobter im Nachbarhaus ihrer Parfümerie betrieben hatte. Ihm hatte Anna das Leben gerettet, indem sie den Räuber ausgetrickst und ins Hinterzimmer eingeschlossen hatte. Hauer hatte ihr bei seiner Verhaftung durch die Polizei Rache geschworen.
»Genau der«, versicherte Fedder. »Da er sich vor sechs Jahren freiwillig an die Front gemeldet hat, wurde er vorzeitig aus dem Kittchen entlassen.«
Eugenie erinnerte sich noch daran, dass vor knapp einem Jahr ein kahl geschorener Mann erst vor der Parfümerie und dann bei der Beerdigung des Vaters der Carstens-Schwestern aufgetaucht war. Damals hatten sie bereits gefürchtet, Hauer sei zurückgekehrt, um sich an Anna zu rächen. Doch schließlich war zu ihrer aller Freude herausgekommen, dass es sich bei dem Mann nicht um den diebischen Matrosen gehandelt hatte, sondern um Annas tot geglaubten Verlobten: Julius Karstadt. Er war über ein halbes Jahr nach Kriegsende endlich aus einem französischen Lazarett entlassen worden und hatte sich der Familie zunächst vorsichtig genähert. Aber nun trieb also doch der einstige Einbrecher Uwe Hauer wieder sein Unwesen.
»Ist er denn noch auf freiem Fuß – oder wurde er wieder straffällig?«, erkundigte Eugenie sich beunruhigt.
»Nun ja, in gewisser Weise beides«, meinte Fedder, und sein jüngerer Kollege ergänzte: »Ein Tabakhändler hat den Kerl 1911 als Erster bei uns angezeigt. Und der wurde gestern von hinten niedergeschlagen, seine Tageseinnahmen ließ der Täter mitgehen. Allerdings hat Hauer für die Zeit ein Alibi.«
»War in einer Hafenspelunke am Saufen«, präzisierte der Oberwachtmeister. »Dafür hat er jede Menge Zeugen.«
»Natürlich weiß er, dass wir ihn auf dem Kieker haben, und würde einen solchen Raubüberfall nicht selbst wagen«, sagte der junge Bethge.
»Er könnte aber einem Komplizen den Auftrag gegeben haben, meinen Sie?«, führte Eugenie seinen Gedanken zu Ende.
Der Polizeiassistent nickte. »Ist vielleicht folgendermaßen gelaufen: Hauer liefert das Wissen über den Tabakladen. Findet raus, wann für seinen Kumpan der beste Zeitpunkt zum Zuschlagen ist, und später machen die beiden Vögel bei der Beute halbe-halbe.«
»Das wäre natürlich möglich«, stimmte sein älterer Kollege zu. »Und weil er auf Ihre Chefin hier ja auch noch ziemlich sauer sein dürfte, dachte ich, wir warnen Sie lieber vor. Immerhin verdankt Hauer Anna Carstens seine längste Zeit im Gefängnis.«
»Vorsicht wäre also angebracht«, betonte Bethge. »Der Dreckskerl scheint nachtragend zu sein wie ein Elefant. Den hat selbst die Front nicht geläutert.«
Eugenie nickte ernst. »Verstanden. Aber wenn Sie erlauben, sage ich es Anna erst heute Abend. Ich möchte ihr den Jubiläumstag nicht ruinieren.«
»Natürlich«, entgegnete der Oberwachtmeister, »wenn hier heute Nachmittag so viel los ist, werden sich Hauer und sein Komplize sowieso nichts trauen.«
Die Verkäuferin nickte. »Das denke ich auch.«
Sie sah durchs Schaufenster ins Innere der Parfümerie, wo ihre jüngere Kollegin Hertha und Lehrmädchen Lucie mit einer alten Dame sprachen. Im Augenblick waren sie hoffentlich wirklich noch nicht in Gefahr.
Bethge räusperte sich. »Also, ähm, bis zur Feier heute Nachmittag ist Ihre Parfümerie ja geschlossen, habe ich gelesen. Morgen ist aber wieder regulär geöffnet?«
Eugenie sah fragend zu ihm auf. »Ja, brauchen Sie etwas?«
»Na ja, meine Verlobte hat am Mittwoch Geburtstag«, berichtete er, und die Verkäuferin war ein wenig enttäuscht. Aber dass solch ein Bild von einem Mann vergeben war, davon hätte sie ja eigentlich ausgehen müssen. Was sie wohl für eine Frau war, Bethges Verlobte?
»Ich hatte mir überlegt, sie mit einem Parfüm zu überraschen.«
Eugenie schluckte ihren Anflug von Eifersucht hinunter und sagte freundlich: »Wenn Sie wollen, kommen Sie doch jetzt einfach schnell mit hinein. Da Sie schon mal hier sind. Die Fräulein Carstens haben gewiss nichts dagegen, im Grunde haben wir gestern schon alles für die Feier vorbereitet.«
Zunächst blitzte ein erfreutes Lächeln in seinem schmalen Gesicht auf, dann sah er jedoch etwas verschüchtert in Richtung seines Vorgesetzten. »Ja, ähm …«
Fedder musste seinen Arm etwas strecken, um dem riesigen jungen Mann jovial auf die Schulter zu klopfen. »Machen Sie nur, Bethge. Was Sie haben, das haben Sie. Ich warte drüben am Kiosk, brauche sowieso erst mal meinen Kaffee und die Zeitung.«
Nun strahlte der junge Polizeiassistent Eugenie an, und sie bemerkte niedliche Lachfalten und Grübchen in seinem Gesicht.
»Na, dann kommen Sie mal mit hinein, Herr Bethge«, bot sie an, sein Lächeln erwidernd.
Da deutete Oberwachtmeister Fedder auf eine schwarze Limousine, die gerade am Neuen Wall zum Stehen kam.
»Oh, sehen Sie, da kommt Herr Karstadt junior mit den Douglas-Schwestern.«
Zu Eugenies Erstaunen saß auf dem Beifahrersitz neben Annas Verlobtem deren sonst so menschenscheue Stiefmutter. Würde die Patriarchin Odile Carstens sich etwa durchringen, zum Jubiläum erstmals die Parfümerie zu besuchen?
Als Erstes entstieg der Fahrer, Annas Verlobter Julius, dem Wagen. Er winkte Eugenie und dem jungen Polizeiassistenten zu, während er um das Automobil herumging, um auf der Beifahrerseite die Tür zu öffnen. Wie schnittig der Mittdreißiger in seinem edlen Anzug, mit dem zurückgekämmten hellbraunen Haar und seinen braungrünen Augen aussah, dachte Eugenie.
»Guten Morgen, Fräulein Schalt«, rief er in ihre Richtung und nickte dem Polizisten zu.
»Willkommen, Herr Karstadt«, erwiderte sie.
Nun stieg Odile aus, die zerbrechlich wirkende Stiefmutter der Douglas-Schwestern. Sie trug heute ein äußerst elegantes Kleid aus waldgrüner Seide. Ihr Gesicht schien dezent geschminkt – die Neunundfünfzigjährige sah ganz anders aus als im vorigen Jahr auf der Beerdigung ihres Mannes, bei der Eugenie die Dame das erste Mal getroffen hatte. Und lag da nicht ein Hauch Lippenstift auf ihrem Mund?
»Bonjour, Madame Carstens«, grüßte sie, während Odiles Stieftöchter Marie und Anna aus dem Fond stiegen. »Sie sehen blendend aus.«
»Maman, das ist unsere wunderbare Eugenie Schalt«, stellte Marie ihre Mitarbeiterin vor.
Odile nickte und lächelte scheu. »Bonjour, Mademoiselle, ich habe schon viel von Ihrem Verkaufstalent gehört«, sagte sie und sah dann bewundernd auf die Ladenfront mit den vielen Flakons hinter den Schaufensterscheiben. »Was für eine hübsche Fassade!«
»Das daneben war mal mein Herrenausstattungsladen«, erläuterte Julius Karstadt mit leicht wehmütigem Blick auf das Nachbargebäude, in dem sich inzwischen ein Hutgeschäft befand. »Bevor ich bei meinem Onkel in der Kaufhausverwaltung begonnen habe.«
Anna, die etwas molligere der beiden Carstens-Schwestern, legte tröstend den Arm um ihren Verlobten. »Du warst unser Nachbar, und dadurch haben wir uns kennengelernt. Dein Laden hat seinen Zweck also vollkommen erfüllt.«
Julius lächelte und küsste sie liebevoll auf die Wange.
In diesem Augenblick kam Hertha Harders aus der Parfümerie geeilt und wandte sich aufgeregt an Annas ältere Schwester: »Marie, Marie, Madame Lambert ist schon hier und wartet drinnen. Sie hat eine Droschke genommen. Ihr Neffe und Berta Kolbe – ein Lastwagen hat sie vor dem Bahnhof angefahren.«
»Um Himmels willen!«, rief Anna entsetzt, während Odile die Hand vor den Mund schlug und Marie sich bang erkundigte:
»Schlimm?«
Zu ihrer aller Erleichterung schüttelte Hertha den Kopf. »Berta hat sich das rechte Handgelenk gebrochen und Monsieur Lambert den linken Fuß. Er konnte selbst anrufen. Sie wollen rechtzeitig zur Eröffnung heute Nachmittag hier sein – aber wenn sie Gipsverbände bekommen, müssen die ja erst mal trocknen.«
»Gott, die Armen«, kommentierte Marie mitleidsvoll.
Odile sprach mit der für sie so typischen fatalistischen Grabesstimme: »Man ist nirgendwo sicher.«
»In der Parfümerie Douglas schon«, widersprach Marie und hakte ihre Stiefmutter unter. »Komm, Maman, Anna und ich zeigen dir endlich alles.«
Eugenie wusste, weshalb die gebürtige Straßburgerin Odile Carstens derart ängstlich war. Wie Anna ihr einst anvertraut hatte, war deren Stiefmutter als Kind von ihrem deutschen Onkel missbraucht worden. Erst seit Kurzem war die Dame dank einer modernen Therapie bei einem Psychologen überhaupt in der Lage, die Wohnung der Familie am malerischen Isebekkanal zu verlassen. Eugenie fröstelte bei dem Gedanken daran, was manche Männer Mädchen und Frauen antaten. Da fiel ihr der junge Polizeiassistent wieder ein, der etwas hilflos neben ihr stand. Dieser Mann, so schien es, konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.
»Sollen wir dann auch, Herr Bethge? Ich bin mir sicher, wir finden einen passenden Duft für Ihre Verlobte.«
Der Polizist nickte dankbar und ließ sich von ihr in den Laden führen.
Kurz darauf war die Parfümerie Douglas von wildem Stimmengewirr erfüllt. Anna und Marie zeigten ihrer Stiefmutter Odile und der alten Madame Lambert das Ladeninnere, dazu erzählten sie einige Anekdoten. Begleitet wurden sie von Lucie Harders, die von der alten Pauline ausgesprochen fasziniert war.
Besonders interessiert zeigte sich die Französin an einem kleinen gekachelten Bereich mit Waschbecken, der sich hinter einem hohen Regal verbarg. Dort lagen einige frische Blüten, es gab Fläschchen und Phiolen mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten darin.
»Ihr stellt jetzt auch selbst Parfüms her?«, erkundigte sich Pauline erfreut.
»Ich habe es früher öfter probiert, aber es war einfach zu viel Tagesgeschäft zu erledigen«, seufzte Marie. »Die neuen Versuche sind von unserer jungen Lucie hier, sie ist mit ihren fünfzehn Jahren schon eine echte Nase.«
Lucie lächelte. »Bisher ist aber nichts entstanden, mit dem ich zufrieden war.«
»Das wird bestimmt noch kommen«, entgegnete Madame Lambert im Brustton der Überzeugung. »Wichtig ist, auch exotische Bestandteile zu verwenden, nicht nur die altvertrauten Düfte.«
»Wir halten Ihr Handbuch in Ehren.« Lucie deutete auf ein kleines Notizheftchen im Ledereinband. Sie nahm es von der Arbeitsplatte und reichte es der alten Dame, die es letztes Jahr Marie Carstens geschenkt hatte. »Das ist mir bei meinen Versuchen eine große Hilfe.«
Madame Lambert blätterte lächelnd durch die Seiten mit getippten Texten sowie handgefertigten Zeichnungen.
»Alles Wissen meines alten Mentors Monsieur Gaillard … Das Original war sogar handschriftlich«, erinnerte sich Pauline. »Das Gekrakel hätten Sie kaum lesen können. Außerdem ist das alte Büchlein nach der langen Zeit ganz zerfleddert – fast ein halbes Jahrhundert hat es auf dem Buckel.«
Als sie zurück in den Verkaufsbereich kamen, war Eugenie Schalt bereits dabei, den überfordert wirkenden Herrn Bethge zu beraten.
»Haben Sie ein Foto Ihrer Verlobten?«, erkundigte sie sich. »Dann kann ich mir besser vorstellen, was für ein Typ Frau sie ist.«
»Natürlich.« Bethge kramte nervös eine winzige Fotografie aus seinem Portemonnaie und reichte sie der Verkäuferin.
Blutjung war sie, die Auserwählte des schmucken Polizeiassistenten, gewiss noch nicht mal zwanzig. Doch ihr Blick hatte etwas Beifall heischendes, die Pose wirkte fast lasziv.
»Sehr hübsch«, sagte Eugenie höflich und griff nach einem kleinen Flakon. »Ein blumiger Klassiker könnte zu ihr passen. Das ist Quelques Fleurs aus dem Hause Houbigant. Das ursprüngliche Geschäft wurde schon 1775 gegründet. Jean-François Houbigant hat sogar Königin Marie-Antoinette von Frankreich beliefert.«
»Und er kam aus Grasse«, ergänzte Madame Lambert lächelnd, während der junge Polizist skeptisch an dem Flakon schnüffelte.
Eugenie sah ihn fragend an. »Sie wirken nicht begeistert?«
»Hm, ja«, sagte Bethge stockend, »vielleicht ist es doch etwas zu blumig für meine Emma.«
»Verstehe«, entgegnete die Verkäuferin und griff erneut ins Regal. »Dann vielleicht ein eher süß-würziger Duft.«
Sie reichte ihm ein schmales, tropfenförmiges Fläschchen mit platinfarbener Flüssigkeit darin.
»Das ist L’Or von Coty«, ergänzte sie und bemerkte aus dem Augenwinkel erstaunt, wie sich Pauline Lamberts Gesichtsausdruck verdunkelte.
Der Polizeiassistent hingegen begann zu strahlen, als er an dem Fläschchen roch. »O ja, das kann ich mir sehr gut an ihr vorstellen.«
Nun mischte sich auch Ladenbesitzerin Marie Carstens ins Gespräch: »François Coty habe ich vor zehn Jahren auf der Weltausstellung in Brüssel sogar persönlich kennengelernt. Ein meisterhafter Parfümeur.«
»Er ist genial, das stimmt. Und die Mitarbeiter seiner Firma sind liebe Menschen«, räumte Pauline Lambert reserviert ein, »aber er selbst hat inzwischen leider eine grässlich faschistische Einstellung.«
Marie sah ihre alte Mentorin bestürzt an. »Kennen Sie Monsieur Coty denn auch persönlich?«
Pauline nickte und sagte bitter: »O ja, er ist ein guter Freund meines Mannes. Sie teilen dieselben politischen Ansichten. Und sie hassen beide die Juden.«
Hertha, Marie und Eugenie sahen einander besorgt an. Alle drei hatten bemerkt, dass die alte Parfümeurin und Künstlerin ungewohnt betrübt wirkte. Ob es am Unfall ihres Neffen und Berta Kolbes lag oder an unangenehmen Erinnerungen an ihren Ehemann und François Coty?
In diesem Augenblick wurde es recht hektisch im Geschäft, denn Anna begrüßte den Assistenten von Arnold Diestel. Letzterer war seit Februar Erster Bürgermeister Hamburgs und hatte zugesagt, heute zum Jubiläum der Douglas-Parfümerie eine kleine Rede zu halten. Seine rechte Hand, Peter Keller, ein Stadtrat mit Glatze und spitzer Nase, war von fast zwanghaft wirkender Akribie. Sein Gespräch mit Anna und Lucie zur Planung von Diestels Auftritt drohte zäh und langwierig zu werden. Eugenie plauderte beim Verpacken das Parfüms zudem angeregt mit Polizeiassistent Bethge – der Geräuschpegel stieg, daher bot Hertha an: »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Madame Lambert?«
Nachdem Pauline bejaht hatte, schlug Marie vor: »Möchten Sie uns dazu in unser Hinterzimmer begleiten? Dort ist es etwas ruhiger. Und es gibt eine bequeme Sitzecke, wo Sie in Ruhe auf Berta und Ihren Neffen warten können.«
Wenig später schenkte Hertha Madame Lambert, Marie und Odile Carstens, die sie gern ins ruhige Hinterzimmer begleitet hatte, Kaffee ein.
»Hatten Sie eine angenehme Reise, Pauline?«, erkundigte sich Marie.
Die Parfümeurin nickte und nippte an ihrem Kaffee. »O ja, im Nachtzug konnte ich sogar ein wenig schlafen.«
Da wurde die Bürotür geöffnet, und zur Freude der Anwesenden humpelte mit eingegipstem linkem Fuß ein hochgewachsener Mittfünfziger herein.
»Marcel!«, erkannte Pauline erleichtert ihren Neffen, der wie immer, passend zu seinem Beruf als Bankier, einen äußerst schmucken Anzug trug.
Während die alte Dame erstaunlich flink aufsprang und dem nach Kölnisch Wasser duftenden Herrn um den Hals fiel, betrat seine Partnerin, die adrett gekleidete Berta Kolbe, ebenfalls den Raum. Die Seifenfabrikantin wiederum trug den rechten Arm in einer Schlinge.
»Ihr Bedauernswerten, tut es sehr weh?«, fragte Marie mitleidsvoll, nachdem sie ihre beste Freundin herzlich, aber behutsam umarmt hatte.
»Der Doktor hat uns was gegen die Schmerzen gegeben, das geht jetzt wieder einigermaßen«, beruhigte Marcel Lambert.
»Nur im Haushalt wird es schwierig werden«, befürchtete Berta. »Unser Mädchen ist ja im Seehüsli in Zürich und kümmert sich dort um alles.«
Hertha wusste von ihrer Patentante Marie, dass Berta und der französische Bankier Marcel sich vor einigen Jahren in Paris ineinander verliebt hatten. Da er nach Ausbruch des Großen Krieges nicht in Deutschland hätte leben können und sie nicht in Frankreich, war das Paar in die neutrale Schweiz gezogen. Die Villa ihres Mannes an der Elbchaussee hatte Berta bisher jedoch nicht verkauft.
»Dann unterstütze eben ich euch im Haus«, bot Pauline an. »Ich habe in Grasse ja keine Verpflichtungen mehr, seit ich meinen Laden an den Bäcker verkauft habe. Deshalb kann ich so lange bleiben, bis ihr völlig wiederhergestellt seid. Wenn es euch recht ist.«
»Und wie uns das recht ist«, betonte Berta und küsste die Tante ihres langjährigen Partners auf die Wange. »Vielen Dank.«
In diesem Moment wurde erneut die Tür zum Hinterzimmer geöffnet, und Anna Carstens linste mit ihrer Patentochter Lucie herein. »Ihr könnt wieder herauskommen, er ist fort. Dieser Peter Keller ist wahnsinnig anstrengend.«
»Außerdem verwendet er ein grässliches Rasierwasser – und raucht einen ganz ekligen Pfeifentabak«, ergänzte Lucie.
Hertha lächelte amüsiert. Es war typisch für ihre jüngere Schwester, riechen zu können, was jemand geraucht hatte, auch wenn dies ein paar Stunden zurückliegen mochte.
»Aber wir sind uns einig geworden«, betonte Anna. »Bürgermeister Diestel wird um sechzehn Uhr eine dreiminütige Laudatio halten und dann umgehend zu seinem nächsten Termin verschwinden. Wir sollen alle dafür sorgen, dass ihn niemand anspricht.«
Als Berta Kolbe, ihr Marcel und dessen Tante Pauline das Hinterzimmer verlassen hatten, bekam Hertha mit, wie Odile Carstens sich mit gesenkter Stimme an ihre Stieftochter Marie wandte. »Madame Lamberts Mann muss der Armen sehr wehgetan haben. Das merkt man ihr an.«
Hertha hatte Pauline Lambert während ihres Gesprächs bereits recht lieb gewonnen, sie verstand Maries Begeisterung für die alte Dame mittlerweile nur zu gut. Ein Ehemann mit einer faschistischen und antisemitischen Einstellung passte nicht zu ihr.
»Weißt du etwas über ihren Gatten?«, erkundigte Hertha sich bei ihrer Vorgesetzten und Patentante.
»Sie hat mal erwähnt, dass sie einen erwachsenen Sohn in Straßburg hat. Am Ende von dessen Schulzeit hat Pauline sich von ihrem Mann getrennt«, erinnerte sich Marie. »Laut Marcel lebt sein Onkel nach einem Schlaganfall sehr zurückgezogen in Grasse.«
Als sie mit Marie und deren Stiefmutter ebenfalls das Hinterzimmer verlassen hatte, sah Hertha mitleidsvoll zu Madame Lambert. Die Vorstellung, dass diese liebenswerte Frau jahrelang in einer schlimmen Ehe gefangen gewesen war, behagte ihr überhaupt nicht. Hertha erinnerte sich daran, was ihr Vater einmal gesagt hatte: »Jeder Mensch kämpft einen Kampf, von dem du nichts weißt. Also sei nett zu allen.«
Eine halbe Stunde vor dem für drei Uhr nachmittags anberaumten offiziellen Öffnungstermin standen draußen auf dem Neuen Wall bereits einige Gäste und plauderten miteinander im Sonnenlicht. Zum Glück hatte sich das Wetter gehalten. Das Rednerpult hatten die Parfümfrauen und ihre männlichen Helfer bereits um die Mittagszeit vor dem Geschäft aufgestellt. »Wenn der Bürgermeister seine Rede draußen hält, ist das noch werbewirksamer für uns«, hatte die stets geschäftstüchtige Anna augenzwinkernd erklärt. »Dann bekommen nicht nur die geladenen Gäste mit, dass wir seit zehn Jahren für Qualität stehen, sondern auch Passanten und die Gäste vom Alsterpavillon drüben.«
Auch im Ladeninneren wurde in aufgeregter Vorfreude geklönt. Schließlich nickten sich die Douglas-Schwestern in stummem Einverständnis zu und kamen mit todernster Miene auf Hertha und ihre Verkaufskolleginnen Lucie und Eugenie zu.
»Wir müssten euch drei noch kurz sprechen, bevor hier gleich alles losgeht«, sagte Marie entschlossen, als sie bei ihnen angekommen waren, und Anna ergänzte: »Wir haben zusammen einen Entschluss gefasst. Den möchten wir nachher öffentlich bekannt geben. Aber dazu müssen wir euch erst mal befragen.«
Wie ungewohnt ernst die beiden sind, dachte Hertha besorgt. In diesen Nachkriegstagen herrschte allenthalben großer Mangel, und allzu viele der Männer, die ihre Kundinnen einst mit den Wohlgerüchen aus der Parfümerie hatten betören wollen, waren inzwischen tot. Die aktuellen Umsätze waren daher noch immer nicht mit der Zeit vor dem fatalen Sommer 1914 vergleichbar. Würden Marie und Anna nun einer oder gar mehreren von ihren drei Verkäuferinnen die Kündigung aussprechen müssen?
Als Anna die Tür des Hinterzimmers hinter ihnen geschlossen hatte, räusperte sich ihre Schwester Marie.
»Wie ihr wisst, sind die Zeiten nicht einfach«, begann sie, und Hertha wurde noch unruhiger. Dieser Einstieg klang nicht gut. Marie fuhr fort: »Aber Anna meint, früher oder später wird sich auch unsere Wirtschaft erholen.«
»Damit wir in der modernen Welt bestehen können, müssen wir allerdings mit der Zeit gehen, Innovationen aus aller Welt aufgreifen«, wandte Anna ein.
Ihre Schwester nickte. »Wir wollen deshalb noch mehr nationale und internationale Kontakte für die Firma knüpfen.«
Hertha erinnerte sich, dass Anna Carstens ihr schon in der vorigen Woche anvertraut hatte, sie werde ihren Verlobten Julius in Bälde nach Amerika begleiten, wo dieser Expansionsmöglichkeiten für die Kaufhauskette seines Onkels Rudolph Karstadt überprüfen sollte. Sie selbst wolle dort neue Ideen und Partner für ihre Parfümerie finden. Und Annas Schwester, das wusste Hertha ebenfalls, liebäugelte schon eine ganze Weile mit einer längeren Rückkehr nach Frankreich, wo sie schon öfter großartige Inspirationen für ihr Hamburger Geschäft hatte sammeln können.
»Dafür werden wir uns zunehmend aus dem Tagesgeschäft im Laden zurückziehen müssen«, verkündete Marie nun.
»Hertha, Lucie, ihr unterstützt uns schon seit euren Kindertagen«, sagte Anna feierlich. »Ihr seid so viel mehr als nur unsere Patentöchter. Ihr seid zu Säulen der Parfümerie Douglas geworden. Und wir möchten, dass ihr künftig auch in unserer Abwesenheit Entscheidungen treffen könnt. Deshalb wollen wir euch Prokura erteilen. Dir, Hertha, sofort, und dir, Lucie, sobald du volljährig bist. Allerdings machen wir dich schon jetzt zur vollwertigen Verkäuferin.«
Die Harders-Schwestern sahen einander verblüfft an. Hertha konnte es nicht fassen. Gerade erst erwachsen geworden, sollte sie nun zeichnungsberechtigt sein für eine international agierende Parfümerie?
»Selbstverständlich nur, wenn ihr damit einverstanden seid«, meinte Marie, nunmehr lächelnd.
»Natürlich sind wir das«, beeilte sich Hertha zu sagen, und Lucie fügte hinzu: »Aber das ist so eine große Ehre!«
»Wir beobachten es schon länger mit großer Freude«, berichtete Marie. »Du, liebe Hertha, teilst meine Liebe zu Kunst und schönen Formen. Und du, Lucie, bist eine Nase, du kannst Düfte perfekt analysieren. Wir sind uns sicher, dass du eines Tages selbst Parfüms entwickeln wirst.«
Lucie schluckte gerührt. Ihre Patentante hatte in Frankreich berühmte Parfümeure wie Ernest Daltroff kennengelernt. Eine solche Aussage von ihr war ein unfassbares Kompliment.
»Außerdem kannst du mit Zahlen schon fast besser umgehen als ich, auch in der Hinsicht ist unsere Zukunft also gesichert«, scherzte Anna und wandte sich dann an ihre erste Verkäuferin Fräulein Schalt: »Und nun zu dir, liebe Eugenie. Als du uns damals mit sechzehn im größten Weihnachtstrubel vor dem Krieg spontan eine so großartige Hilfe warst, hast du uns überzeugt. Das wird unser neues Lehrmädchen, da waren wir uns einig.«
»Und wir haben unsere Entscheidung nie bereut«, fügte Marie hinzu. »Selbst in den schweren Kriegstagen hast du unseren Kunden bewusst gemacht, dass man das Schöne nie vergessen darf. Trotz deiner Jugend hast du unsere Patentöchter ebenfalls zu guten Verkäuferinnen ausgebildet. Und seit der Wiedereröffnung letztes Jahr wart ihr Tag und Nacht fleißig, damit uns der Neuanfang gelingt. Wir möchten dich deshalb zur Verkaufsleiterin ernennen.«
»Natürlich geht damit für euch alle drei eine Lohnerhöhung um fünfzig Mark einher«, erklärte Finanzexpertin Anna schmunzelnd. »Jetzt gibt es in unserer Parfümerie also eine neue Generation von Douglas-Schwestern.«
Hertha schluckte gerührt und eingeschüchtert zugleich. Was für eine große Herausforderung!