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1912 rettet die Bauerstochter Sofie Brix die reiche Reederei-Erbin Anna Nieland aus einem brennenden Hotel. Zwei Jahre später darf Sofie als Gesellschafterin in die Hamburger Familienvilla ziehen. Obwohl sie nicht bei allen Familienmitgliedern und Angestellten willkommen ist, erfüllt sich für Sofie ein Traum – insbesondere, da der attraktive Bruder Annas ein Auge auf sie geworfen hat. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wird Sofies Leben jedoch ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt: Als Krankenschwester muss sie auf einem Lazarettschiff über sich hinauswachsen und für ihre Träume kämpfen.
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Übersicht der wichtigsten Personen
TEIL 1
1 – Bisher war es ...
2 – Das Feuerhorn war ...
3 – Die Bahngleise zogen ...
4 – In der geräumigen ...
5 – Sofie kam sich ...
6 – Sofie gähnte, während ...
7 – »Anna, warte auf ...
8 – Am nächsten Abend ...
9 – Um den Chauffeur ...
10 – »Wo ist denn ...
11 – Tags darauf begleitete ...
12 – Nur wenige Wochen ...
13 – Erst nach dem ...
14 – Willy Brix stand ...
15 – »Es gab eine ...
16 – Obwohl das Leiden ...
17 – »Roscheschone« war das ...
18 – In der Küche ...
19 – Heiligabend fiel 1914 ...
20 – Inzwischen verabscheue ich ...
TEIL 2
21 – Der junge Matrose ...
22 – »Der neue Flottenchef ...
23 – »Ich bin sehr ...
24 – »Der vorbereitete Flottenvorstoß ...
25 – Gegen halb acht ...
26 – Kurz nach acht ...
27 – Willy öffnete die ...
28 – Burkhard, Gideon und ...
29 – Willy wusste nicht, ...
30 – Der Seegang der ...
31 – Willy war inzwischen ...
32 – Sofie fand Dr. ...
33 – Sofie konnte nicht ...
34 – »Wo will meine ...
35 – Am Tag des ...
36 – Sofie tigerte nervös ...
37 – Als Edith die ...
38 – »Sie müssen Pauls ...
39 – Anna Meseritz liebte ...
TEIL 3
40 – Bloß nicht erwischen ...
41 – Anna wollte endlich ...
42 – Nachdem sich Anna ...
43 – »Die Zeit der ...
44 – »Wann sagen die ...
45 – Sofie war völlig ...
TEIL 4
46 – Edith saß im ...
47 – Am nächsten Morgen ...
48 – Nach einer anstrengenden ...
49 – Als Sofie am ...
50 – Um zwei Uhr ...
51 – Nach der Erhöhung ...
52 – Was danach passierte, ...
53 – Es regnete in ...
54 – Willy saß, die ...
55 – Edith und Ramiro ...
56 – Capitán Arévalo reagierte ...
57 – Während sich Sofie ...
Epilog
Danksagung
Literaturempfehlungen und Quellen
Familie Brix
Hans-Uwe Brix (* 20. 09. 1872 in Flensburg), Melker
Erna Brix (* 21. 03. 1874 in Tastrup), seine Frau
Wilhelm »Willy« Brix (* 25. 01. 1895 in Rüde bei Glücksburg), deren Sohn
Sofie Luise Brix(* 30. 03. 1896 in Flensburg), deren Tochter
Familie Nieland
Christian Nieland (* 14. 04. 1874 in Wilhelmshaven), Reeder
Burkhard Nieland (* 08. 02. 1892 in Hiddensee), sein Sohn
Edith Henriette Nieland (* 28. 01. 1896 in Hamburg), seine Tochter
Anna Christine Nieland (* 08. 04. 1897 in Hamburg), seine Tochter
Gudrun Konstanze Nieland (* 30. 01. 1853 in Neumünster), seine Mutter
Teresa Nieland, geborene Rocha (* 05. 11. 1872 in Lissabon), seine Schwägerin
Hinnerk Carlos Nieland (* 28. 05. 1895 in Schleswig), sein Neffe
Angestellte
Elfriede Iwersen (* 07. 10. 1856 in Soltau), Hauswirtschafterin
Lina Hedwig Flechsig (* 10. 05. 1868 in Frankfurt am Main), Kammerzofe
Marie Dahlke (* 25. 08. 1870 in Leipzig), Köchin
Ursula »Ursel« Mankiewicz (* 04. 05. 1897 in Hamburg), Dienstmädchen
Paul Wessels (* 01. 05. 1894 in Altona), Chauffeur
Sonstige
Franz Thomsen (* 20. 11. 1895 in Nieby), Hotelpage
Gideon Julius Meseritz (* 01. 04. 1890 in Altona), Vertriebsleiter der Reederei
Capitán Javier Esteban Arévalo (* 27. 11. 1864 in Iquique, Chile), Salpeterbaron
Karl »Kalle« Dieckmann (* 07. 05. 1894 in Kappeln), Offiziersanwärter
Ramiro Marco Torres (* 28. 02. 1891 in Viña del Mar, Chile), Kriegskorrespondent
Karoline »Karo« Iwersen (* 05. 04. 1892 in Pinneberg), Putzfrau und Sängerin
Morten Heger (* 06. 12. 1850 auf Lyngør, Norwegen), Fischer
Hedda Heger (* 11. 08. 1873 in Kristiania, heute: Oslo), seine Schwiegertochter
Emma Wenz (* 30. 03. 1902 in Hamburg), Barmädchen
Wilhelm Pohlig (* 20. 11. 1885 in Werl), Kapitän
Maximilian »Max« Timmlein (* 27. 08. 1895 in Poppenbüttel), Schiffszimmermann
Bisher war es ein sorgloser Sommer gewesen, voller müßiger Stunden am Ostseestrand, voller Kinderlachen und Wärme. Doch während die Kleinen vor Vergnügen quietschend in die Wellen rannten, während man sich auf der Sonnenterrasse des Glücksburger Strandhotels noch kühles Bier und heißen Tee servieren ließ, hatte das Ende der entspannten Stunden bereits begonnen.
Sofie Brix bemerkte die Rauchwolken, die aus dem Dachgeschoss des Südflügels drangen, zunächst nicht. Die milde Brise spielte mit den blonden Locken des sechzehnjährigen Mädchens, als es von der Hotelküche in Richtung der Sonnenterrasse schlenderte.
An diesem Dienstag, den 20. August 1912, hatte der Großbauer Sofie einmal mehr beauftragt, mit ihrem Fahrrad eine zusätzliche Lieferung Wurst, Fleisch, Obst und Eier ins Hotel zu bringen – alles für das Abendessen der fast drei Dutzend fein gekleideten Sommerfrischler, die dort abgestiegen waren. Viele der weit gereisten Damen und Herren, die ihr wie Abenteurer von fernen Gestaden vorkamen, genossen auf der Terrasse des Hotels noch den malerischen Blick auf den Flensburger Ostseefjord in der Abendsonne. Wie gern hätte Sofie selbst die ganze Welt bereist, wie gern die Auslagen in den Geschäften der Alsterarkaden in Hamburg bewundert, wäre über die Champs-Élysées geschlendert oder hätte gar die Freiheitsstatue in New York bestiegen. Doch über die Förderegion war die Melkerstochter bisher noch nicht hinausgekommen.
Am vorletzten Sonntag war das Luftschiff Hansa über Flensburg gekreist, und wie viele andere Schaulustige hatte auch Sofie zusammen mit ihrem ein Jahr älteren Bruder Willy und dessen bestem Freund Kalle bestaunen können, welche Wunder in diesen modernen Zeiten möglich waren. Normalerweise bekamen sie hier, in ihrer verschlafenen Gegend im äußersten Norden des Reiches, natürlich kaum etwas zu Gesicht davon. So blieben ihr nur die Abenteuer aus zweiter Hand. Und genau deshalb verbrachte sie gern ein wenig Zeit in der Nähe der Terrasse, um den für sie fremden Dialekten und Sprachen der Menschen zu lauschen, die über ferne Orte und merkwürdige Zeitgenossen plauderten. Teils heitere, teils ernstere und bisweilen sogar tragische Geschichten waren das, die man sich hier erzählte, doch ein Thema beherrschte die Gespräche nach wie vor besonders häufig: der riesige britische Dampfer, der im April auf der Fahrt nach Amerika im Eismeer gesunken war. Tausende Passagiere waren ertrunken, das wusste Sofie nicht nur durch die Erzählungen der Gäste, sondern auch aus dem Artikel in den Flensburger Nachrichten, den sie ihren Eltern im Frühjahr vorgelesen hatte.
»Ich kenne die Schwester dieser Engländerin sehr gut. Ihre Tochter war nach der Katastrophe verschwunden. Sie hatte gehofft, dass das Kind es in ein anderes Rettungsboot geschafft hat«, erzählte eine Dame, die das »R« rollte, wie es im Frankenland üblich war. »Aber das arme Mädchen muss wohl ertrunken sein.«
Sofie reckte den Hals, um die Frau besser ausmachen zu können. Es war eine braunhaarige Matrone, auf deren Kopf ein lächerlich wirkendes blaues Hütchen saß.
»Die Ärmste!«, rief ihre Gesprächspartnerin, eine dünne Blonde mit verkniffenem Mund und hessischem Dialekt. »Das eigene Kind zu überleben ist ja schlimm genug, aber zu wissen, dass es da unten treibt, im eisigen Grab …«
Sofie erschauderte. Jedes Mal, wenn sie von den schrecklichen Geschichten über die Titanic hörte, bekam ihre sonst so große Abenteuerlust einen Dämpfer.
Schließlich schlug die Kirchturmuhr in Glücksburg und riss sie aus ihren Gedanken. Es war schon sieben Uhr, höchste Zeit also für den Heimweg. Sofie ging zu ihrem Fahrrad, das sie gegen einen der sorgfältig getrimmten Ginsterbüsche neben der Einfahrt gelehnt hatte. Als sie sich jedoch noch ein letztes Mal zum Strandhotel umblickte, erstarrte sie: Flammen schlugen aus dem Dachstuhl! Schnell rannte sie zurück in die Küche, um das Personal zu informieren.
»Feuer! Das Dach! Es brennt!«
»Ohauehaueha!«, rief die Köchin aufgebracht im Dialekt der hiesigen Region und eilte mit Sofie im Schlepptau hinaus, um sich vom Wahrheitsgehalt der Warnung zu überzeugen.
Auch einige der Gäste auf der Sonnenterrasse hatten bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie erhoben sich von ihren Stühlen und blickten besorgt zum Dach des Hauses hinauf.
Die Köchin wandte sich an einen der Portiers: »Schnell! Ruft die Feuerwehr!« Und mit den Worten »Ich muss die anderen warnen« eilte sie zurück in Richtung Küche.
Sofie wollte ihr gerade folgen, da wurde sie angerempelt. Sie drehte sich um und stand einem schlanken, nobel gekleideten Herrn mit gepflegtem Schnauzbart gegenüber. Doch statt der erwarteten Entschuldigung stieß er nur nervös hervor: »Ich suche meine Tochter. Haben Sie eine junge Frau mit dunklen Haaren gesehen? Etwa in Ihrem Alter?«
Sofie schüttelte hastig den Kopf. Sie wunderte sich, dass der Mann sie siezte. Aber ihr Körper hatte in den letzten Monaten tatsächlich einen großen Entwicklungssprung getan. Beim Blick in den Spiegel war sie oft selbst noch erstaunt, wie fraulich sie geworden war.
»Anna! Anna! Wo bist du?« Die verzweifelten Rufe des Mannes gingen im Aufheulen des Alarmhorns und dem Lärm der anderen Gäste unter.
Ein Koch rannte mit einem großen Topf zum Meer, um Wasser zu holen. Sofie dachte bei sich, dass diese Maßnahme zwar gut gemeint, aber sinnlos war, denn das Feuer breitete sich in dem Holzbau offensichtlich viel zu schnell aus.
Ein Fenster im Dachgeschoss wurde aufgerissen, und ein dunkel gelocktes Mädchen streckte den Kopf heraus. Es schrie aus Leibeskräften um Hilfe.
Der Mann, der noch immer dicht neben Sofie stand, erstarrte. »Anna!«, rief er entsetzt.
Bestürzt blickte Sofie hinauf zu der angsterfüllten jungen Frau und überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Aus dem Augenwinkel sah sie den Hotelbesitzer herbeieilen.
»Herr Nieland!«, rief der Direktor und hielt den hochgestellten Herrn am Ärmel fest, da dieser Anstalten machte, in das brennende Gebäude zu rennen. »Bitte beruhigen Sie sich. Meine Mitarbeiter sind schon dabei, den Gästen zu helfen. Sie selbst sollten hierbleiben und nichts riskieren.«
Doch der Mann hörte ihm nicht zu, sondern riss sich los und stürzte ins Haus.
Nieland? Sofie fragte sich, ob es sich hierbei um die bekannte Reederfamilie aus Hamburg handelte, über die häufiger in der Zeitung berichtet wurde.
Plötzlich war aus dem Hotel ein lautes Poltern zu hören, gefolgt von einem spitzen Schrei. Starr vor Schreck, beobachtete Sofie, wie Teile des Dachs einstürzten. Sie schlug entsetzt die Hände vors Gesicht – auch weil sie das Gebäude, in dem sie vergangenen Sommer als Zimmermädchen ausgeholfen hatte, gut genug kannte, um zu wissen, dass der Fluchtweg des Mädchens nun endgültig abgeschnitten war.
Ein Portier trug den benommenen Herrn Nieland aus dem Haus. Er sei von einem herabfallenden Balken getroffen worden, hieß es. Währenddessen diskutierten zwei weitere Hotelmitarbeiter aufgebracht, was man tun könne, um die Reederstochter zu retten. Denn die Feuerwehr war immer noch nicht eingetroffen, und es gab auch keine Leiter, die bis in den dritten Stock reichte.
Das eigene Kind zu überleben ist ja schlimm genug … Der traurige Satz der hessischen Dame von der Terrasse kam Sofie unvermittelt wieder in den Sinn. Nein, dieses Schicksal sollte der arme Herr Nieland nicht erleiden müssen! Es durfte einfach nicht sein, dass seine Tochter dort oben starb! Sofie kam eine Idee: der Wäscheschacht! Der im Nordflügel des Gebäudes befindliche gemauerte Schacht war einst als zweites Kaminrohr angelegt worden, aber nie als solches zum Einsatz gekommen. Stattdessen hatte das Personal ihn benutzt, um schmutzige Tischdecken, Bettlaken, Bezüge und Handtücher bequem zu den Waschzubern in den Keller zu befördern.
Sofie rannte um das Gebäude herum und öffnete mit zitternden Händen die Kellertür. Sie wollte gerade hineingehen, als jemand sie an der Schulter packte. Erschrocken fuhr sie herum und blickte in das Gesicht des Pagen, der ihr wegen seines hübschen Äußeren schon mehrfach aufgefallen war.
»Franz!«
»Was willst du denn da drin, Sofie? Bist du lebensmüde?« Er starrte sie ängstlich an. »Der ganze Südflügel steht schon in Flammen!«
»Eben! Das Süd-Treppenhaus ist eingestürzt. Das Mädchen verbrennt da oben, ich will durch den Schacht rauf – und dann zu ihr rüberlaufen, um sie zu retten.«
»Kommt nicht infrage«, erklärte Franz. »Ich gehe selbst.«
»Du passt nicht durch, ich aber schon.«
Der Page stellte sich ihr in den Weg. »Ich lasse dich nicht da rein. Das kann ich nicht.«
»Gut.« Sofie blickte ihm entschlossen in die Augen. »Aber dann bist du für den Tod der jungen Frau verantwortlich.« Sie bemerkte sein Zögern und setzte nach. »Ich weiß, was ich tue, Franz. Ich bin diesen Schacht schon zigmal hochgeklettert, wenn sich Wäschestücke darin verhakt haben.«
Widerwillig trat der Page zur Seite. »Bitte pass auf dich auf«, bat er. »Dein Vater kommt bestimmt gleich mit der freiwilligen Feuerwehr. Der lyncht mich, wenn …«
Aber Sofie hörte ihn nicht mehr, sie war schon durch die Kellertür geschlüpft und eilte in die Waschküche. Mit einem Ruck öffnete sie die große Eisenklappe zum Schacht und spähte hinauf. Deutlich nahm sie den Rauchgeruch wahr, der durch alle Ritzen drang.
Ich muss es zumindest versuchen, dachte sie und griff nach einer der kleinen Stahlsprossen, die entlang der inneren Wand des Schachtes angebracht waren und dem Schornsteinfeger wohl als Kletterhilfe hätten dienen sollen. Immer wieder waren Wäschestücke an ihnen hängen geblieben, und Sofie, damals noch die Schlankeste und Kleinste unter dem Personal, hatte hinaufklettern und sie holen müssen. Jetzt war sie dankbar für die Metallbügel, über die sie sich früher so oft geärgert hatte.
Sie holte tief Luft und stieg dann flink den Schacht hinauf, vorbei an den Klappen, die in den ersten und zweiten Stock führten. Unterwegs pflückte sie mit einer Hand ein hängen gebliebenes Leinentuch von einer der Sprossen und legte es sich über die Schulter. Offensichtlich hatte niemand das Wäschestück vermisst.
Endlich war Sofie bei der dritten und obersten Luke angekommen und stieß sie auf. Der Rauch, der ihr mit einem Mal entgegenquoll, brannte ihr stechend in den Augen. Hastig kletterte sie aus dem Schacht und band sich das ergatterte Tuch als Atemschutz vors Gesicht. Dann rannte sie in den Südflügel. Sie fand das Zimmer, in dem das Mädchen verzweifelt rufend am Fenster stand. Die Flammen hatten sie nach einem vergeblichen Fluchtversuch wieder dorthin zurückgetrieben.
»Anna Nieland?«, sagte Sofie eindringlich.
Die zierliche Dunkelhaarige fuhr zu ihr herum.
»Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wir müssen uns beeilen!«
»Oh, Gott sei Dank!«, rief das Mädchen unter Tränen.
»Wir müssen wirklich los«, wiederholte Sofie. »Sonst sterben wir hier drinnen.«
»Aber das Treppenhaus brennt und …«, setzte Anna Nieland schluchzend an, doch ihre Retterin unterbrach sie sofort: »Sie müssen mit mir durch den Schacht im Nordflügel hinunterklettern. Hören Sie? Tun Sie jetzt genau das, was ich Ihnen sage.«
Die Reederstochter sah Sofie mit großen, ängstlichen Augen an und nickte.
»Kommen Sie!« Sofie zog sie hinter sich her und deutete auf die Öffnung des Wäscheschachts.
Anna Nieland zögerte. Es ging steil nach unten, und es war stockdunkel.
»Schnell!«, drängte Sofie hustend. »Da sind Metalltritte in die Mauer eingelassen, die führen bis ganz nach unten. Das schaffen Sie, ist nicht schwer.«
Anna Nieland verlor kein weiteres Wort und stieg durch die Luke hinab in die Dunkelheit.
Auf halbem Weg hörten die Mädchen von oben ein entsetzliches Grollen. Erneut drang dicker Qualm in den Schacht herein, glimmende Holzspäne wehten umher und verfehlten sie nur knapp. Anna Nieland schrie auf und kletterte schneller. Sofie folgte ihr, so rasch sie konnte.
Außer Atem kamen die beiden schließlich unten an und hasteten von der Waschküche aus hustend in Richtung Ausgang – da stürzte auch schon krachend ein Teil der Decke ein.
Das Feuerhorn war bereits um kurz nach sieben Uhr abends in Glücksburgs Straßen zu hören gewesen, doch Willy Brix, der um diese Zeit noch auf dem abgelegenen Bauernhof der Petersens beschäftigt war, hatte es nicht mitbekommen. Erst zwei Stunden später fuhr der blonde Siebzehnjährige auf seinem Heimweg mit dem Fahrrad am Glücksburger Wasserschloss vorbei. Im Abendlicht sah das weiße, sich im See spiegelnde Renaissancegebäude mit seinen vier achtseitigen Türmen besonders romantisch aus. Aber Willy, der unterwegs zur Kate seiner Eltern in Rüde war, schenkte dem für ihn alltäglichen Anblick kaum Beachtung. Er trat in die Pedale, denn er hatte Kohldampf. Bratkartoffeln hatte ihm die Mutter zum Abendessen versprochen, und er hoffte auf ein, zwei Spiegeleier. Wenn er ganz viel Glück hatte, würde es sogar ein bisschen Speck dazu geben.
Noch während er den königlichen Rosengarten passierte, rannte plötzlich jemand vor ihm auf die Straße. Willy bremste scharf und unterdrückte einen Fluch. Beinahe hätte er die hochgewachsene, knochige Postbotin Dine Jürgensen wegen ihres unerwarteten Auftauchens umgefahren. Doch der Ärger war schnell vergessen, als die Frau, die nicht umsonst den Spitznamen »Glücksburger Morgenpost« trug, ihm gewohnt sensationslüstern die Botschaft entgegenschleuderte: »Das Strandhotel brennt!«
Willy entgleisten die Gesichtszüge. Sofie! Seine Schwester war von Bauer Petersen vor über zwei Stunden zum Strandhotel geschickt worden. Nicht auszudenken, wenn …
»Das Personal und die Glücksburger Wehr konnten nichts ausrichten«, fuhr die geschwätzige Briefträgerin hastig fort. Die Nachbarbrandwehren aus Bockholm, Rüde, Ringsberg und Fruerlund seien ebenso zu Hilfe geeilt wie die Berufsfeuerwehr Flensburgs. Das Feuer habe sich aber noch vor deren Ankunft auf das gesamte Haus ausgebreitet, weshalb der Schaden verheerend sein musste.
Willy löste seinen Blick vom ausgemergelten Gesicht Dine Jürgensens und schaute in Richtung Küste, von wo tatsächlich dicke Rauchwolken in den Abendhimmel emporstiegen. Ohne ein weiteres Wort schob er sein Rad um die konsternierte Postbotin herum, stieg in die Pedale und raste in Richtung des Strands von Sandwig, wo sich das Hotel befand. Dorthin, wo er seine Schwester vermutete.
Am Ufer angekommen, bot sich Willy ein schrecklicher Anblick: Das ganze Gebäude stand in Flammen, zahllose Menschen rannten aufgeregt umher. In der Ostsee lag das Kriegsschulschiff König Wilhelm vor Anker und schoss aus vier Rohren Wasser auf das brennende Hotel. Feuerwehrmänner bedienten vor dem Gebäude eine Dampfspritze.
Willy schleuderte sein Fahrrad in die Hecke, rannte im Zickzack durch die Menge der Helfer und aufgeregten Gäste – und direkt in die Arme seines besten Freundes Karl Dieckmann, der von Dutzenden seiner Marinekameraden umringt war. Willy packte ihn am Kragen seiner Uniform, was er unter normalen Umständen nie gewagt hätte.
»Kalle!«, rief er besorgt. »Hast du meine Schwester gesehen?«
»Nein«, erwiderte der, während er sich aus dem Griff seines Freundes befreite und zu einer Pumpe ging. »Wir sind gerade erst aus Mürwik angerückt.«
In diesem Moment brach ein weiterer Gebäudeteil zusammen und schleuderte Feuergarben in die Luft. Im auflodernden Schein der Flammen erblickte Willy schließlich eine hagere Gestalt unter den Männern der freiwilligen Feuerwehr: Hans-Uwe Brix.
»Vater! Hast du Sofie gesehen?«
»Das kannst du wohl sagen«, antwortete der vierzigjährige Brix senior mit glasigem Blick. »Die tapfere Deern liegt gleich da hinten am Wasser – auf dem Steg bei der Krankenschwester.«
Während sein Vater pflichtbewusst einige aus dem Hotel gerettete Gepäckstücke außer Reichweite von Rauch und Funken brachte, stürmte Willy aufgeregt los.
»Sofie! Alles in Ordnung?« Er kniete sich neben seiner Schwester nieder, und zu seiner Erleichterung richtete diese sofort den Oberkörper auf. Er wollte sie umarmen, doch Sofie stöhnte vor Schmerz und wehrte seine Berührungen ab.
»Keine Sorge, mir geht es gut«, beteuerte sie und wandte sich an die Krankenschwester: »Frau Jensen, darf ich bitte aufstehen? Danke für die Brandsalbe, aber ich möchte nach Anna Nieland sehen.«
Die rundliche und streng wirkende Pflegerin verzog missbilligend den Mund. Doch Sofie hatte Glück: Ein Marineoffizier mit einer Brandwunde an der rechten Hand kam genau in diesem Moment auf den Steg zu und wollte behandelt werden. Sofie nutzte die Gelegenheit und eilte, dicht gefolgt von ihrem protestierenden Bruder, wieder in Richtung Flammenmeer. Viele Schaulustige standen dort im gespenstisch erhellten Dunkel, um das traurige Ende des Hotels zu erleben. Trompetensignale, gellende Bootsmannspfeifen und laute Kommandorufe konnten das unheimliche Knistern, Prasseln und Knacken vor ihnen kaum übertönen.
»Wer ist denn Anna Nieland?«, fragte Willy seine Schwester.
»Na, die Tochter des bekannten Hamburger Reeders«, erklärte Sofie und musste kurz husten. »Hab sie aus dem Feuer geholt. Der Weg vorne raus war versperrt. Als ich sie durch den Hinterausgang hinausgebracht hatte, ist sie ohnmächtig geworden.« Etwas peinlich berührt, gab sie zu: »Und dann war ich selbst kurz weg.«
Willy glotzte seine Schwester ungläubig an. »Du hast sie aus dem Feuer geholt?«
»Sofie!«, hörten sie plötzlich die scharfe Stimme ihres Vaters. »Was hast du hier zu suchen? Ich hab dir doch gesagt, du sollst …«
»Ich will wissen, was mit Anna Nieland ist!«, insistierte das Mädchen trotzig.
»Ihr Vater ist mit ihr ins Krankenhaus nach Flensburg gefahren«, mischte sich in diesem Moment kein Geringerer als der Hoteldirektor ins Gespräch ein. »Herr Nieland hat eine Platzwunde an der Stirn. Dank dir geht es seiner Tochter aber gut, sie braucht bloß Ruhe.« Er musterte sie wohlwollend. »Genauso wie du, kleine Heldin!«
Sofie war froh, dass man sie im Feuerschein nicht erröten sehen konnte.
»Du hast gehört, was der Herr Direktor sagt«, ermahnte sie ihr Vater mit verdächtig brüchiger Stimme. Rasch flüchtete der gerührte Melker sich daraufhin in einen strengeren Tonfall, mit dem er seinen Sohn anfuhr: »Du bringst sie mir sicher ins Bett, Wilhelm! Sofort!«
Willy salutierte ironisch. »Zu Befehl, Kaptein!«
***
»Sofie, mien Deern, wach auf, du hast Besuch.« Eine vertraute Stimme weckte die Melkerstochter am nächsten Vormittag, nachdem sie lang und tief geschlafen hatte. Sie öffnete die Augen und sah in das wettergegerbte, liebevolle Gesicht ihrer gütigen, stets so tüchtigen Mutter, die ihre kleine Kate immer blitzsauber hielt und es geschafft hatte, aus dem einst schäbigen reetgedeckten Häuschen ein gemütliches Zuhause zu machen. In der Nacht zuvor hatte sie noch darüber geschimpft, dass sich ihre Tochter derart in Gefahr gebracht hatte, mittlerweile überwog allerdings der Stolz über deren heldenhafte Tat.
Nun bemerkte Sofie den riesigen Blumenstrauß, der auf dem Nachtschrank stand.
»Der ist von der jungen Dame, die du gerettet hast«, berichtete Erna Brix. »Sie wartet in der Stube auf dich.«
Das Mädchen fuhr erschrocken auf und unterdrückte dabei einen Schmerzenslaut. »Anna Nieland? Sie ist hier?«, versicherte sie sich aufgebracht. »Ich muss doch furchtbar aussehen!«
»Du siehst aus wie eine Lebensretterin«, kam es von der Tür. Anna Nieland hatte, angelockt durch die Stimmen von Mutter und Tochter, neugierig den Kopf hereingestreckt. »Darf ich eintreten?«
»Natürlich«, erwiderte Sofie etwas überfordert.
»Ich mache dir einen Kakao, meine Lütte«, bot ihre Mutter an und räumte den Stuhl für den vornehm gekleideten Gast.
Kakao an einem Mittwoch? Sie muss ja wirklich sehr erleichtert sein, dachte Sofie, während Fräulein Nieland, die selbst bereits eine dampfende Tasse in Händen hielt, sich zu ihr setzte.
»Sehr lecker«, lobte die Reederstochter, bevor Erna Brix den Raum verließ. Dann sah sie sich in dem winzigen, aber aufgeräumten Kämmerchen, das mit Sofies größten Schätzen – ausgemusterten Büchern aus der Flensburger Bibliothek – gesäumt war, um. »Gemütlich habt ihr es hier.«
Selbst wenn Anna Nieland ihr dieses Kompliment nur aus Höflichkeit gemacht haben sollte, so war Sofie doch dankbar, dass der ungewöhnliche Besuch dadurch etwas weniger peinlich wirkte. »Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sie sich, um von ihren beschämt geröteten Wangen abzulenken.
»Ja, dank dir! Nenn mich doch bitte Anna, ja?«
»Wie haben S… wie hast du mich gefunden?«
»Tja, gewusst, wie!« Anna schmunzelte zufrieden. »Ich habe den Hoteldirektor gefragt. Er konnte mir eure Adresse geben, weil du ja für ihn gearbeitet hast letzten Sommer. Hat übrigens in den höchsten Tönen von dir geschwärmt, der gute Mann.«
»Der Arme«, entfuhr es Sofie. »Sein schönes Hotel komplett in Schutt und Asche.«
»Aber immerhin ist keiner schlimm verletzt. Dank dir. Ich war da oben wirklich verloren. Wenn du nicht gewesen wärst …« Da versagte ihre Stimme, und Sofie begriff, dass unter dem fröhlichen Plappern der Reederstochter immer noch der Schock darüber saß, dass sie gestern um ein Haar bei lebendigem Leib verbrannt wäre.
»Aber ich war ja da.« Instinktiv griff Sofie nach Annas Hand und drückte sie aufmunternd.
»Danke.« Das Mädchen lächelte verlegen und zog ein spitzenbesetztes Tuch aus ihrer Rocktasche, um sich die Augen zu wischen.
»Weiß man denn, wie das Feuer entstanden ist?«, erkundigte sich Sofie.
»Die Brandkommission meint, ein Kurzschluss in der elektrischen Lichtzuführung sei schuld gewesen.«
In diesem Moment klopfte es, und Erna Brix trat erneut ein, um ihrer Tochter den versprochenen Kakao zu bringen.
»Deine Mutter ist wirklich lieb«, meinte Anna, nachdem sich diese wieder zurückgezogen hatte. »Und so stolz auf dich. Dein Bruder Wilhelm auch. Ich hab ihn vorhin getroffen, bevor er zum Großbauern musste. Ein schnittiger junger Mann, dem laufen die Mädchen sicher reihenweise nach, oder?«
Sofie schmunzelte. »Einige ja. Aber er hat nur Bücher über Schiffe und Technik im Kopf.«
»Die Jungs sind eben echte Spätentwickler«, bemerkte Anna belustigt.
Sofie musste glucksen, so hatte sie das noch nie gesehen. »Hast du denn auch Geschwister?«, fragte sie.
Nun erfuhr Sofie, dass das fünfzehnjährige Nesthäkchen der Reederei-Dynastie eine dickköpfige, ein Jahr ältere Schwester hatte, die den schönen Künsten zugeneigt war, und einen patriotischen großen Bruder, der gerade ein Studium der Nationalökonomie begonnen hatte. Annas Mutter war bereits gestorben. Aber es gab noch eine strenge Großmutter. Fasziniert lauschte Sofie auch den Berichten über Annas Bildungsreisen nach Italien, Frankreich, England, ja sogar nach Griechenland.
Im Nu war es Zeit für das Mittagessen, und die Reederei-Erbin musste zurück zu ihrem Vater. Doch sie versprach der Melkerstochter: »Wir sehen uns wieder, Sofie Brix, Ehrenwort!«
Die Bahngleise zogen sich wie ein in der Junisonne schimmerndes Band durch die Wiesen und Felder. Die Landschaft war so flach und weit, dass der blaue Horizont mit den weißen Schäfchenwolken nahezu endlos wirkte.
Die inzwischen achtzehnjährige Sofie Brix war vor einer guten Stunde vom neuen Glücksburger Bahnhof aus losgefahren, aber noch sah alles nach Heimat aus. Ihr Blick schweifte ziellos umher, verharrte gelegentlich auf einem fernen Baum, bis die Eisenbahn an ihm vorübergerattert war, oder auf einer Herde schwarz-weißer Kühe, die denen ähnelten, die ihr Vater täglich für den Großbauern molk. Dann erregte ein Vogel ihre Aufmerksamkeit, der neben dem Zug herglitt. Sofie lächelte. Ob er ihr eine Nachricht von zu Hause überbringen wollte?
»Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß«, summte sie leise. »Hat ein’ Zettel im Schnabel, von der Mutter einen Gruß.« Bei dem mit Kindheitserinnerungen verbundenen Lied wurde sie wehmütig.
Am Morgen hatte sie sich von ihrer Mutter verabschiedet. Erna Brix hatte das Gesicht ihrer Tochter zwischen ihre rauen, roten Hände genommen, mit den Daumen über deren Wangen gestrichen und geflüstert: »Nun wirst du also bei feinen Leuten wohnen. Vergiss deine alten Eltern nicht.«
Der Vater hatte ihr schon am Abend zuvor Lebewohl gesagt. Er musste früh zu seiner Arbeit auf dem Bauernhof aufbrechen und hatte seine Tochter nicht wecken wollen. Gesprochen hatte er kaum etwas – Hans-Uwe Brix war kein Mann großer Worte und zeigte auch nur selten Gefühle. Obwohl Sofie wusste, dass ihr Vater sie über alles liebte, konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals von ihm umarmt worden zu sein. Deshalb war sie umso überraschter darüber gewesen, dass er sie beim Abschied kurz und heftig an sich gezogen hatte. »Mach’s gut, mien Deern«, hatte er gemurmelt und ihr verlegen auf den Rücken geklopft.
Selbst ihr immer betont männlich auftretender Bruder Willy hatte sich zu einer linkischen Umarmung herabgelassen. Sie solle ja nicht auf die Idee kommen, in Hamburg wieder die Heldin zu spielen und ihr Leben zu riskieren, hatte er gemahnt.
Doch auch wenn sie ihre Familie schmerzlich vermissen würde, bereute Sofie ihre Entscheidung nicht. Zwei Jahre war es nun her, dass sie in den Wäscheschacht geklettert war und Anna Nieland aus dem brennenden Hotel geholt hatte. Die beiden Mädchen hatten daraufhin eine Brieffreundschaft begonnen, und seither waren Annas Nachrichten Sofies Fenster zur Welt gewesen. Dass die Nielands viel mehr Geld hatten als ihre eigene Familie, konnte sie freilich nie vergessen – zumal Christian Nieland ihr aus Dankbarkeit für die Rettung seiner Tochter fünfzig Mark hatte zukommen lassen. Sofie musste immer noch den Kopf schütteln, wenn sie an diese Summe dachte. Fünfzig Mark, das war für die Familie Brix ein unermesslicher Reichtum! Das Geld hatte sie buchstäblich davor bewahrt, Hunger zu leiden, denn der Hotelbrand hatte sich als schwerer Schlag für den Glücksburger Fremdenverkehr erwiesen und somit auch für die Landwirte, die ihn belieferten. Großbauer Petersen hatte Hans-Uwe Brix sogar vorübergehend entlassen müssen. Über anderthalb Jahre hatte die Krise gedauert. Die Einwohner Glücksburgs hofften nun darauf, dass das vor einem Monat wiedereröffnete Kurhotel die ersehnten Touristen und Einkünfte zurück in ihre Gegend brachte.
Sofie griff in ihre Rocktasche und zog den inzwischen schon recht zerknitterten Brief hervor, der vor zwei Wochen im Briefkasten gelegen und ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Villa Nieland, 13. Juni 1914
Meine liebe Sofie,
danke für Deine schnelle Antwort. Ich möchte Dich gerne immer um mich haben. Vater meinte, dass Du – nimm mir meine Wortwahl bitte nicht übel – in recht einfachen Verhältnissen lebst und es Dir deshalb verwehrt sei, gewisse Privilegien zu genießen. Vielleicht kann meine Familie – kann ich – Dir dadurch, dass wir Dir diese Privilegien ermöglichen, einen kleinen Teil von dem zurückgeben, was Du für uns getan hast. Ich würde mich sehr freuen, wenn Du als meine Gesellschafterin bei uns in Hamburg in der Villa Nieland leben würdest. Was meinst Du dazu? Lass es mich bald wissen.
Deine Anna
Sosehr sie sich auch über das Angebot freute, hatte Sofie zunächst doch gezögert, ihrer Freundin zu antworten. Konnte sie ihre hart arbeitenden Eltern wirklich im Stich lassen, um selbst ein besseres Leben zu führen? Hatte sie überhaupt das Zeug dazu, sich an Annas Seite in der feinen Gesellschaft zu bewegen, ohne sich und die Nielands bis auf die Knochen zu blamieren? Aber nach einer schlaflosen Nacht hatte sie beschlossen, die Einladung anzunehmen, wenn ihre Eltern es erlauben würden. Schließlich war es schon immer ihr Traum gewesen, ihre Heimat einmal zu verlassen und Abenteuer an entfernten Orten zu erleben – deshalb durfte sie nun, da sie diese Chance endlich bekommen sollte, nicht zaudern. Sie hatte sich klargemacht, dass es ihr in Hamburg auch gewiss an nichts fehlen würde, daher könnte sie jedes zusätzliche Geld ihrer Familie zukommen lassen.
Während die Häuser um sie herum höher wurden und sich immer dichter drängten – man eine erste Ahnung von Hamburg, dem »Tor zur Welt«, bekommen konnte –, wich Sofies Unsicherheit zunehmend staunender Begeisterung. Leise stimmte sie die letzte Strophe des Liedes an, das sie vor Stunden begonnen hatte: »Lieber Vogel, flieg weiter, nimm ein’ Kuss mit und ein’ Gruß. Denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hierbleiben muss.«
Der Zug kam mit lautem Quietschen zum Stehen. Aufgeregt griff Sofie nach ihrer kleinen Reisetasche aus abgewetztem Leinen, dann stieß sie die Abteiltür auf und trat auf den Bahnsteig hinaus. Etwas beklommen blickte sie sich um. Man würde sie abholen, hatte Anna telegrafiert. Doch sie konnte im geschäftigen Treiben der Fahrgäste und Bahnbediensteten niemanden ausmachen, der sich für sie interessierte. Unsicher wie jemand, der nach Wochen an Bord eines Schiffes zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen spürt, ging Sofie ein paar wackelige Schritte zwischen den einschüchternd elegant gekleideten Menschen auf dem Bahnsteig.
»Fräulein Brix?« Sie hörte eine ihr unbekannte Stimme hinter sich und wirbelte herum. Da stand ein junger Mann in Chauffeursuniform und grinste sie frech an.
»Ja.« Sofie lächelte zaghaft zurück.
»Ist das Ihr ganzes Gepäck?« Er deutete mit dem Kinn auf Sofies alte Leinentasche. Sie schämte sich und dachte, dass der schmucke Fahrer für gewöhnlich bestimmt die vornehmen, großen Koffer seiner Herrschaft transportierte.
»Ja«, sagte sie erneut und fügte, weil ihr nichts anderes einfiel, hinzu: »Das ist alles.«
»Na, dann wollen wir mal«, rief der junge Mann gut gelaunt. »Ich bin übrigens Paul.«
»Sofie.« Sie folgte ihm durch den Hamburger Durchgangsbahnhof, der, wie sie gelesen hatte, vor gut sieben Jahren in Betrieb genommen worden war.
Es dauerte einige Zeit, bis sie den Ausgang der Halle mit den vielen Gleisen erreichten. Wie gigantisch alles war! Sofie war sich schon mondän vorgekommen, als sie in Glücksburg am neuen, vergleichsweise winzigen Bahnhof gestanden hatte. Vor dem imposanten Gebäude wurde ihr klar, dass Paul sie keineswegs mit der Kutsche, sondern mit einem Automobil abholte. Natürlich mit einem Automobil, sie hätte es wissen müssen! Schon vor dem Strandhotel in ihrer Heimat hatte sie oft die Motorfahrzeuge der Reichen bestaunt. Und nun sollte sie also tatsächlich selbst in einem fahren!
»Du kommst von der Ostsee?«, fragte Paul im Plauderton, während er ihre Tasche verstaute.
»Ja, Glücksburg.«
»Ich war auch schon da oben«, berichtete der Fahrer stolz. »Meine Tante hat einen Dänen geheiratet und ist nach Kolding gezogen. Ganz schön dort.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Sofie. »Aber hier ist es bestimmt aufregender.«
Paul lachte. »Das kann man wohl sagen.«
Während der knapp zehn Kilometer langen Fahrt kam Sofie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie bewunderte die schönen Häuserfassaden der Hamburger Innenstadt, die elegant gekleideten Damen am Straßenrand und die noblen Herren mit ihren Aktentaschen, die alle sehr wichtig aussahen und es ausgesprochen eilig hatten. In Glücksburg war es gemächlicher zugegangen. Elegant gekleidet waren dort nur die Urlauber und allenfalls noch der Hoteldirektor, der Arzt oder der Bestatter.
Paul lenkte das Automobil am südlichen Rand von Altona entlang in Richtung des Vorortes Othmarschen. Auf der Flussseite der prächtigen Elbchaussee befand sich schließlich das Grundstück der Nielands. Es war laut Paul über zweieinhalb Quadratkilometer groß und reichte terrassenförmig bis an den Strand von Övelgönne hinunter. Der Wagen fuhr durch ein schmiedeeisernes Tor auf die bekieste Zufahrt zur Nordseite der Villa, die Sofies neues Zuhause werden sollte. Sie war eingeschüchtert angesichts all der Pracht: Mit seinen Türmchen sah das Gebäude aus wie ein wahrhaftiges Schloss. Die Nielands verbargen ihren Reichtum nicht. Warum sollten sie auch? Sie waren anderen gegenüber schließlich immer sehr großzügig, das hatte Sofie ja am eigenen Leib erfahren.
Rechts und links des Wegs wuchsen Rosen in ordentlich geharkten Beeten. Vor dem Gebäude weitete sich die Zufahrt zu einem Rondell, in dessen Mitte ein Springbrunnen in Form eines steinernen Segelschiffs stand.
»Das ist die Ohle Deern«, erklärte Paul. »Der erste Segler, den die Reederei gebaut hat.«
»Wunderschön.« Sofie fiel auf, dass der junge Chauffeur sehr stolz auf seinen Arbeitgeber zu sein schien. Es war aber auch alles äußerst beeindruckend.
Zu ihrer Enttäuschung parkte Paul den Wagen nicht vor den Stufen, die sich zu dem mächtigen Nordportal erhoben, sondern fuhr um das Gebäude herum und hielt vor einer wesentlich kleineren Tür. Der Personaleingang, wie beim Hotel in Glücksburg, vermutete Sofie. Was hatte sie denn erwartet? Dass die Familie Nieland zu ihrer Begrüßung am Eingang Spalier stehen, sie wie eine verlorene Tochter in Empfang nehmen und ihr anschließend ein reichhaltiges Mahl an einer mit Leinen und Silber gedeckten Tafel servieren würde? Ja, gestand sie sich ein, insgeheim hatte sie genau das gehofft, zumindest aber gedacht, dass Anna sie bei ihrer Ankunft begrüßen würde. Hatte es in ihrem Brief nicht so geklungen, als könne die wohlhabende junge Frau es kaum erwarten, sie zu sehen? Von einer Anstellung als Gesellschafterin war die Rede gewesen. Sofie hatte sich vorgestellt, dass Gesellschafterinnen mit den feinen Herrschaften zu Tisch saßen und mit abgespreiztem kleinen Finger Tee tranken wie die Damen auf der Hotelterrasse. Nun aber wurde sie vom Chauffeur durch den Personaleingang der imposanten Villa hineingebracht – und ein mulmiges Gefühl beschlich sie.
In der geräumigen Küche sah sich Sofie einer streng wirkenden Dame mit einem sehr dünnen Mund gegenüber, die sie abschätzig von oben bis unten beäugte. Paul schien seinerseits Respekt vor der Frau zu haben, denn er ergriff rasch die Flucht.
»So«, konstatierte die Frau, nachdem sie ihre Musterung beendet hatte. Es klang wie ein Vorwurf. »Du bist also das Mädchen von der Küste, das sich Fräulein Anna als Gesellschafterin« – sie betonte das Wort, als handle es sich um etwas Unanständiges – »erwählt hat. Ich bin Fräulein Flechsig, die Zofe der Hausherrin, der gnädigen Frau Nieland. Ich hoffe, du hältst dich nicht für etwas Besseres, nur weil du mit den Herrschaften speisen wirst. Dein Zimmer ist oben unter dem Dach, so wie die Zimmer der anderen Bediensteten auch.«
Das waren viele Neuigkeiten auf einmal. Sie würde also doch mit der Familie Nieland essen, dachte Sofie, und im nächsten Moment: Ich habe doch gar nichts Passendes anzuziehen! Da Fräulein Flechsig offensichtlich auf eine Antwort wartete, versicherte sie: »Selbstverständlich halte ich mich nicht für etwas Besseres. Ich bin ja so dankbar, hier sein zu dürfen.« Schließlich schenkte sie der Kammerzofe ein freundliches Lächeln. Die junge Melkerstochter hatte gelernt, dass man ihr meist freundlicher gegenübertrat, wenn sie ihr Gegenüber gewinnend anstrahlte. Selbst der Vater konnte ihr dann nicht mehr böse sein, und auch Franz Thomsen, der Page aus dem Hotel, hatte immer besonders charmant zurückgegrinst. Sofie tat es leid, dass sie Franz in nächster Zeit nicht mehr sehen würde. Sie wusste nicht, wie es war, verliebt zu sein, aber nach allem, was sie von ihren älteren Freundinnen in der Schule gehört hatte, war es wohl exakt so ein Gefühl.
Leider zeigte Sofies Lächeln bei Fräulein Flechsig nicht die erhoffte Wirkung – im Gegenteil. Täuschte sie sich, oder blickte die Zofe sogar noch verkniffener drein? Verbitterte alte Jungfer, dachte Sofie trotzig. Von dir lasse ich mir meine Ankunft hier nicht verderben!
Eine etwas mollige Dame mit gutmütigem Gesicht und silbernen Locken betrat die Küche und stellte sich sehr freundlich und mit sanfter Stimme als Elfriede Iwersen vor. Sie erinnerte Sofie an ihre eigene Großmutter und war ihr sofort sympathisch.
»Ganz herzlich willkommen hier, mein Kind«, begrüßte die liebenswerte Alte den Neuankömmling. »Du hast Fräulein Anna gerettet, und dafür sind wir dir zu Dank verpflichtet. Alle.«
War das etwa ein Seitenhieb auf die eisig dreinblickende Zofe gewesen?
»Wenn du irgendwelche Fragen hast, kannst du jederzeit zu mir kommen«, bot Frau Iwersen ihr an. »Ich bin die Hauswirtschafterin.«
Damit war also auch Fräulein Flechsig der harmlos wirkenden Grauhaarigen unterstellt, welche nun den Kopf in den Flur hinausstreckte und »Ursel?« rief.
Fast augenblicklich erschien ein dralles Mädchen mit rosigen Wangen und zu einem Kranz geflochtenen blonden Zöpfen.
»Sei so lieb und zeige der neuen Gesellschafterin von Fräulein Anna ihr Zimmer.«
Ursel nickte beflissen und wandte sich an Sofie. »Komm, hier entlang!« Sie strich sich die weiße Schürze glatt und stieg die schmale Holztreppe empor, die hinter der Küche in die oberen Stockwerke führte. Sofie folgte ihr.
»Lass dich von der Flechsig nicht einschüchtern«, flüsterte das Dienstmädchen verschwörerisch, als sie außer Hörweite waren. »Die ist ein schrecklicher Drache. Und sie ist eifersüchtig auf dich. Sie findet es unerhört, dass ein Bauernmädchen …« Ursel sah Sofie entschuldigend an. »Na ja, dass ein Bauernmädchen mit den Herrschaften speisen darf. Das widerspricht der ›natürlichen Ordnung‹, sagt sie.«
»Aber Frau Iwersen ist nett, nicht wahr?«, vergewisserte sich Sofie.
»Oh, ja, sie ist ein Engel«, schwärmte Ursel. »Außerdem kann sie prima rechnen und ist wahnsinnig klug. Bevor sie hier als Kindermädchen angefangen hat, war sie sogar mal Mathematiklehrerin. Als Fräulein Anna groß genug war, hat sie dann die alte Haushälterin ersetzt – die hat angeblich im Garten der Schlag getroffen. Dann gibt es noch unsere Köchin Frau Dahlke, die ist klein und quirlig, aber genauso lieb. Der Gärtner und der Butler reden nicht viel mit uns Frauen, sie wohnen aber auch gar nicht hier in der Villa, sondern haben ihre Zimmer wie unser lieber Fahrer Paul über der Remise drüben.«
Sofie wusste wieder nicht, was sie antworten sollte. Aber sie war erleichtert, dass die schwatzhafte Ursel so freundlich zu ihr war.
»Du hast also Fräulein Anna das Leben gerettet«, sagte die nun bewundernd. »Das ist ja so unglaublich mutig! Ich muss jetzt gleich wieder hinunter, aber später erzählst du mir, wie du das gemacht hast, ja?« Ihre Wangen hatten sich vor Aufregung noch mehr gerötet und leuchteten wie kleine Feuermale durch das dämmerige Treppenhaus.
»Gern«, antwortete Sofie. »Später kann ich dir alles genauer erzählen.«
»Wir teilen uns eine Kammer, weißt du?«, plapperte Ursel weiter. »Da haben wir die ganze Nacht zum Plaudern.« Sie kicherte. »Na ja, vielleicht nicht die ganze Nacht, ich muss schließlich morgens früh raus, um das Frühstück für die Herrschaften vorzubereiten – und für dich.« Sie schenkte Sofie einen flüchtigen Blick. »Schon komisch, irgendwie. Wir teilen uns eine Kammer, und trotzdem mache ich für dich Frühstück.«
Sofie erschrak. Sollte etwa auch Ursel neidisch sein?
Das Stubenmädchen aber schien die Situation eher amüsant zu finden, denn nun kicherte sie erneut. »Mit den Herrschaften sollst du speisen, aber du bekommst ein Zimmer im Dienstbotentrakt, zusammen mit der Dienstmagd. Ich habe gehört, wie sich die Nielands deswegen gestritten haben.« Sie schlug sich auf den Mund. »Oje, das hätte ich nicht sagen dürfen, entschuldige!«
»Doch«, bat Sofie. »Das zu wissen ist wichtig für mich, bitte.«
Ursel senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Na gut, aber erst, wenn wir in unserer Kammer sind.«
Die Mädchen waren unter dem Dach angekommen und liefen durch einen langen, schmalen Flur, von dem mehrere einfache Holztüren abgingen.
»Hier ist es.« Ursel öffnete eine davon, und die beiden Frauen traten ein.
Die Kammer war klein und eng, aber sauber. Auf beiden Seiten des Dachfensters stand je ein schmales Feldbett mit einem Nachtkästchen, in der Mitte befanden sich ein Holztisch und ein Stuhl.
Ursel deutete auf den Schrank neben der Tür. »Den teilen wir uns: du die rechte Hälfte, ich die linke.«
Sofie nickte. »Ich habe gar nichts Schickliches anzuziehen«, bekannte sie beklommen. »Dabei soll ich doch nachher mit den Herrschaften zu Abend essen.«
»Fräulein Anna hat ein Kleid für dich rauslegen lassen.« Ursel deutete auf eines der beiden Betten.
Sofie hielt den Atem an. Das Kleid, das darauf lag, war aus schimmernder, himmelblauer Seide, es hatte genau die Farbe ihrer Augen. Andächtig nahm sie es in die Hände. So etwas Schönes hatte sie noch nie getragen. Das Mieder war mit winzigen Perlen bestickt, der Rock fiel weit und weich bis zu den Knöcheln. Deshalb also hatte sich Anna im vorletzten Brief nach ihrer Kleidergröße erkundigt! Sie presste den Stoff an die Brust und drehte sich zu Ursel um.
»Erzählst du mir jetzt, warum die Herrschaften wegen mir gestritten haben?«
»Na ja.« Ursel war verlegen. »Es waren vor allem Fräulein Anna und Herr Nieland, die sich dafür eingesetzt haben, dass du kommst. Annas Großmutter meinte, dass du – wenn überhaupt – als zweites Hausmädchen arbeiten solltest. Fräulein Anna fand das unmöglich. Sie hat Frau Nieland richtig angefaucht. ›So wenig ist dir also das Leben deiner Enkelin wert!‹, hat sie geschimpft. Tja, und dann hat die gnädige Frau schließlich nachgegeben.«
»Oh«, seufzte Sofie und hatte mit einem Mal schreckliche Sehnsucht nach ihrem Zuhause.
Ursel zuckte die Achseln. »Jedenfalls hat Fräulein Anna durchgesetzt, dass du mit den Herrschaften isst. Die gnädige Frau wiederum hat darauf beharrt, dass du dann wenigstens hier bei den Dienstboten schläfst.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Sofie.
»Also«, wand sich Ursel, »nicht, dass du denkst, ich lausche! Es ist eher so, dass die Herrschaften unsereins gar nicht bemerken. Wenn ich in der Nähe Staub wische, dann ist das für sie manchmal so, als gehöre ich zur Einrichtung. Dabei höre ich manchmal eben auch die Gespräche der Herrschaften. So, nun muss ich aber rasch los, sonst schimpft Fräulein Flechsig. Um sieben gibt es im Salon unten Abendessen. Sei lieber pünktlich!« Damit war sie aus dem Zimmer geeilt und hatte die Tür hinter sich zugezogen.
Sofie hingegen blieb allein in ihrer Dachkammer zurück. Mit einem himmelblauen Seidenkleid in der Hand, von dem sie keine Ahnung hatte, wie um alles in der Welt sie es anziehen sollte.
Kurz darauf klopfte es.
»Herein?«, rief sie unsicher.
Die Tür flog auf – und Anna Nieland eilte ihr mit ausgestreckten Armen entgegen. Ein großer Stein fiel Sofie vom Herzen, und ihre Laune besserte sich augenblicklich.
Die Reederstochter war ihrerseits aufrichtig erfreut. »Meine Liebste! Wie wunderbar, dass du endlich da bist! Gut siehst du aus, du bist richtig erwachsen geworden!«
»Du auch«, erwiderte Sofie leise und blickte die Brieffreundin bewundernd an. »Und so schön!«
Anna wirkte in der Tat nicht mehr wie das Mädchen, das sie einst aus den Flammen gerettet hatte. Sie nahm Sofie das Kleid aus der Hand und hielt es prüfend vor deren Körper. »Trifft es deinen Geschmack?«
»Natürlich. Aber darf ich es wirklich leihen?«
»Nein, nicht leihen, das ist doch ein Geschenk.« Anna duldete keinen Widerspruch und bot zu Sofies Erleichterung an, ihr beim Anziehen behilflich zu sein. »Aber vorher muss ich dir noch unbedingt meinen Lieblingsort zeigen.«
»Das Turmzimmer, wo du immer hingehst, wenn du nachdenken willst?«, wusste Sofie aus den Briefen ihrer Freundin.
Die Reederstochter strahlte. »Genau. Es ist etwas seltsam, dass jemand so viel über einen weiß, den man erst zum dritten Mal trifft. Aber irgendwie auch schön!«
»Das finde ich auch«, stimmte Sofie zu.
Wenig später saßen die beiden jungen Frauen zusammen auf dem winzigen Balkon des Turmzimmers der Villa Nieland. Die Aussicht auf die in der Abendsonne glitzernde Elbe war noch beeindruckender, als Sofie es sich vorgestellt hatte.
»Ich hatte so gehofft, dass es dir gefällt«, sagte Anna und wies mit dem Finger auf das gegenüberliegende Ufer. »Das da drüben ist die Halbinsel Waltershof, da wird der Hafen erweitert, und das daneben ist Finkenwärder.«
»Eure Villa ist wirklich wunderschön.«
»Mein Großvater hat das Grundstück vor über dreißig Jahren gekauft«, erzählte Anna. »Vater ließ das Haus dann vor zehn Jahren umbauen und erweitern.«
»Hast du deinen Großvater noch kennengelernt?«, fragte Sofie.
Anna schüttelte den Kopf. »Er ist wenige Tage nach meiner Geburt im Griechisch-Türkischen Krieg gefallen. Damals war er auf Kreta, als Berater für die türkische Militärführung. Dann haben die Griechen die Insel überfallen. Mehr weiß ich leider nicht, Großmutter spricht nicht gern über diese Zeit.«
Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr zweimal.
»Halb sieben«, rief Anna unternehmungslustig. »Lass uns in dein Zimmer gehen und dich einkleiden.«
Sofie atmete tief durch. Nun war es also so weit: Sie würde erstmals Annas gesamter Familie gegenübertreten.
Sofie kam sich in ihrem teuren neuen Kleid ein wenig wie eine Hochstaplerin vor, als sie an Annas Seite die Treppe hinabschritt. Dabei warf sie der zierlichen Reederstochter aus den Augenwinkeln einen bewundernden Blick zu. Anna hatte sich ebenfalls noch schnell für das Abendessen umgezogen. Mit ihrem hochgesteckten Haar, dem dunkelroten Kleid, dessen besticktes Oberteil eng geschnitten war und sich in der Taille zu einem glockenförmigen Rock weitete, sowie dem dazu passenden Schmuck sah ihre Freundin atemberaubend schön aus.
Sie betraten den Salon der Villa, und Sofie war vollkommen überwältigt von all der Pracht, die sich ihr darbot: Der von funkelnden Kronleuchtern erhellte, holzvertäfelte Raum war geschmückt mit aufwendig gewobenen Gobelins, üppiger Auslegeware in leuchtenden Farben und mehreren Ölgemälden, die Schifffahrtsmotive zeigten. Noch mehr schüchterte sie allerdings die äußerst elegante ältere Dame ein, die in einem riesigen Ohrensessel saß wie eine Königin auf ihrem Thron. Sofie schluckte. Das konnte nur Annas sechzigjährige Großmutter Gudrun Nieland sein – jene Frau, die sich laut Dienstmädchen Ursel dagegen ausgesprochen hatte, sie als Gesellschafterin aufzunehmen.
»Komm, ich stelle dich vor«, kündigte Anna da auch schon an und zog ihre Lebensretterin hinter sich her.
Sofie versuchte sich nervös an einem Knicks, nicht wissend, was man von ihr an Begrüßungsformalitäten erwartete. Die ältere Dame mit den wachen Augen schien jedoch nur wenig begeistert. Sie nickte Sofie kühl zu, als Anna feierlich verkündete: »Großmutter, das ist sie: meine Lebensretterin!«
»Willkommen, Fräulein Brix«, sagte die Hausherrin und ließ sich zu einem dünnen Lächeln herab. »Wir sind alle sehr dankbar für das, was Sie für uns getan haben.« Sie brachte das in einem Tonfall hervor, in dem man ein Kind lobte, das ein hübsches Bild gemalt hatte. »Und nun profitieren Sie ja selbst davon, indem Sie bei uns leben dürfen und lernen, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hat.« Sie wandte selbstgerecht den Blick ab und murmelte dann: »Mit etwas Glück.«
Sofie öffnete den Mund, um etwas auf diesen Vorwurf zu erwidern. Als hätte sie Anna nur deshalb aus den Flammen gerettet, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen!
Anna warf ihrer Großmutter einen wütenden Blick zu und setzte ihrerseits an, etwas zu sagen. Doch Sofie, die einen weiteren Streit um ihre Person verhindern wollte, erwiderte ergeben: »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, gnädige Frau.«
Anna funkelte ihre Großmutter noch einmal verstimmt an und zog ihre Freundin dann weiter zum Kamin, wo ein etwas älterer Herr in einem Ohrensessel zwei jungen Männern auf einem Sofa gegenübersaß. Sofie erkannte in ihm den Reeder Christian Nieland wieder.
Als der sie erblickte, sprang er auf und eilte ihr die wenigen Schritte, die sie noch trennten, entgegen. »Sofie!«, rief er. »Wie schön, dass Sie hier sind!«
Schüchtern schüttelte sie seine ausgestreckte Hand.
»Sie sind ja eine richtig hübsche junge Frau geworden«, staunte der Reeder und wandte sich dann zu den zwei Männern um, die sich ebenfalls vom Sofa erhoben hatten. »Darf ich Ihnen meinen Sohn Burkhard vorstellen?«
Der ältere der beiden, ein gut aussehender, hochgewachsener Zweiundzwanzigjähriger mit etwas zu langen braunen Haaren, braunen Augen und einem provokanten Grinsen deutete eine Verbeugung an.
Sofie errötete. Ihre Knie wurden weich, als sich ihre Blicke trafen. Glücklicherweise lenkte Christian Nieland ihre Aufmerksamkeit aber sogleich auf den anderen jungen Herrn.
»Und das ist mein Neffe Hinnerk.«
Hinnerk Nieland lächelte Sofie freundlich an. Er hatte große grüne Augen und pechschwarzes Haar, das ihm in widerspenstigen Strähnen ins Gesicht fiel, als er ihre Hand ergriff.
»Mit seinen neunzehn Jahren ist Hinnerk der wohl jüngste kaufmännische Leiter in ganz Hamburg«, erklärte Anna und zwinkerte ihrem Cousin schmunzelnd zu.
Noch weniger, als Hinnerks Alter mit seiner hohen Position in der Reederei vereinbar schien, passte sein nordischer Name zu seinem südländischen Aussehen, fand Sofie. Und wie ein Büromensch sah er auch nicht aus, eher wie ein Sportler. Von Anna wusste sie aber, dass der freundliche junge Mann sich besonders für Musik und Kunst interessierte. »Feingeistig und sehr intelligent« hatte die Brieffreundin ihren Cousin und besten Freund genannt.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Sofie. Ich habe natürlich schon viel von Ihrer Heldentat gehört«, sagte Hinnerk herzlich und wandte sich schließlich in ernsterem Tonfall erneut an seinen Onkel: »Wenn diese Sache nun auch so glimpflich ausgeht wie der Hotelbrand damals, können wir uns glücklich schätzen.«
»Ich fürchte, das wird nicht der Fall sein«, murmelte der Reeder. »Die Lage ist durchaus prekär. Das wird eher ein Flächenbrand.«
Die drei Herren waren nun wieder ganz in ihr Gespräch vertieft und schenkten den beiden jungen Frauen keine weitere Beachtung mehr.
»Mach dir nichts draus, bei Politik vergessen sie alles um sich herum – vor allem, wenn es um so etwas Heikles wie ein Attentat geht«, raunte Anna Sofie zu. »In Sarajevo hat jemand den Thronfolger des Kaisers von Österreich ermordet. Vater ist schon den ganzen Tag völlig aus dem Häuschen.«
»Du meine Güte, wie schrecklich«, flüsterte Sofie. »Wo ist das denn, Sarajevo?« Im selben Moment hätte sie sich auf die Zunge beißen wollen. Sie musste ihre Unwissenheit ja nicht gleich allzu deutlich kundtun und hätte es stattdessen später irgendwann nachlesen können.
Zu ihrer Erleichterung zuckte Anna mit den Schultern. »Irgendwo in Österreich-Ungarn«, antwortete sie leise. »Da war ich auch noch nie.«
»Und warum ist dein Vater so aufgeregt? Kannte er den Thronfolger?« In Sofies Vorstellung standen die Nielands mit allen Monarchen der Welt auf Du und Du.
Doch Anna winkte ab. »Natürlich nicht.« Sie zog ihre Freundin ein Stückchen zur Seite, außer Hörweite der Männer. »Aber Vater ist sich sicher, dass das Attentat zu einem Krieg führen wird.«
Sofie erschrak. Krieg? Allein das Wort weckte in ihr das gleiche angstvolle Gefühl wie seinerzeit die Erzählungen über die Titanic.
Anna bemerkte Sofies Unbehagen. »Mach dir keine Sorgen. Ich glaube, die brauchen nur etwas, worüber sie politisieren können.«
»Wir müssten ja von allen guten Geistern verlassen sein, wenn wir einen Krieg gegen die Russen oder gar die Engländer riskieren würden!«, warf Hinnerk in der Diskussion mit seinem Onkel und seinem Vetter gerade lautstark ein, und Sofie stimmte ihm innerlich zu.
»Na, na, nun mal sachte«, mahnte ihn Burkhard, der Sofie so faszinierte. »Dass es früher oder später mal zu einer Klopperei kommen muss, das ist doch sonnenklar wie ein blank geputztes Bullauge.«
»Das wäre heller Wahnsinn«, beharrte Hinnerk. »Wer gewinnt denn dabei? Wir können den Engländern nichts, und sie uns genauso wenig. Wir würden uns nur gegenseitig die Kriegsflotten zerstören – und den Handel.«
Burkhard gab seinem Cousin einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. »Du Friedensapostel!«
»Jawohl, und stolz darauf«, erwiderte Hinnerk grinsend, und obgleich er ein gutes Stück kleiner war als sein Vetter, drehte er ihm mit erstaunlicher Kraft spielerisch den Arm auf den Rücken.
Gudrun Nieland räusperte sich mit einem rügenden Blick. Sofie ging davon aus, dass die strenge Dame ein derart gewaltsames Geplänkel allenfalls in einer Burschenschaft akzeptabel gefunden hätte, nicht aber vor dem Abendessen im Salon.
Hinnerk ließ Burkhard los und meinte dann etwas leiser: »Man muss sich von dem Gedanken freimachen, dass der Krieg irgendeinen Selbstzweck hat. Wiedergeburt der Nation oder irgend so ein Unfug.«
»Willst du bestreiten, dass ein Krieg zur Auffrischung des Blutes nützlich ist?«, fragte Burkhard kämpferisch. »Wohin kommen wir denn ohne ihn? Wo führt die innere Unzufriedenheit hin, die ewige Nörgelei im Reich? Sollen wir weiter alle Unverschämtheiten einstecken? Uns unseren Platz an der Sonne streitig machen lassen? Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Wir müssen expandieren. Auch der deutsche Arbeiter möchte in Lohn und Brot stehen. Willst du, dass wir uns im Mauseloch verkriechen, während die Engländer sich zu den Herren der Welt ausrufen?«
»Blöde Chauvinisten-Schlagworte!«, kommentierte Hinnerk. »Du hast deine Weisheit wohl aus der Allgemeinen Rundschau oder ähnlichen nationalistischen Schrei- und Radaublättern, Vetterchen. ›Auffrischung des Blutes?‹ Ist unser Volk denn so entartet? Wir brauchen keinen Krieg, wir sind doch auch so recht unternehmungslustig und gesund.«
Sofie waren Burkhards Argumente schon öfter zu Ohren gekommen, sie hatte auch in ihrem Heimatdorf an der Ostsee eine zunehmende Deutschtümelei und immer mehr Hass auf andere Nationen gespürt. Doch gerade weil sie schon im Strandhotel die Erfahrung gemacht hatte, dass es unter allen Nationalitäten sowohl nette als auch grässliche Menschen gab, konnte Sofie ausgrenzendes Hochhalten des eigenen Volkes nicht nachvollziehen. Sie träumte schließlich davon, viele Länder zu bereisen und die Menschen dort kennenzulernen. Doch nun musste sie es erst mal durch das Abendessen schaffen, das in diesem Moment mit einem Glöckchen angekündigt wurde.
Anna führte ihre neue Gesellschafterin zu einem Stuhl an dem großen Esstisch, der sich glücklicherweise direkt neben ihrem eigenen und weit entfernt von Gudrun Nielands Platz an der Stirnseite des Tisches befand.
Wie sich herausstellte, wurde das erste Abendmahl in der Villa Nieland für Sofie gleich in mehrfacher Hinsicht zu einer Herausforderung – angefangen damit, nach dem richtigen Besteck zu greifen und es korrekt zu halten. Zum Glück stand ihr Anna auch hierbei hilfreich zur Seite.
»Du musst es der Reihenfolge nach von außen nach innen nehmen, für jeden Gang gibt es neues Besteck«, flüsterte sie ihr zu.
Trotz dieser hilfreichen Erinnerung ihrer Freundin blieb das Essen eine Feuerprobe für die frischgebackene Gesellschafterin. Ständig wurden neue, ihr bislang unbekannte Speisen aufgetragen. Zudem war es ihr auch höchst unangenehm, von Ursel bedient zu werden, die den alten Butler beim Servieren unterstützte. Am schwersten fiel es ihr aber, nicht dauernd zu Burkhard Nieland hinüberzusehen, der ihr direkt gegenübersaß. Sie bemerkte, dass auch er häufig über den Tisch zu ihr linste, und das verunsicherte sie zutiefst. Dreimal hatten sich ihre Blicke schon ineinander verhakt, zwar nur für Sekunden, doch die hatten schon ausgereicht, um Sofies Herz zum Rasen zu bringen. So hatte sich das beim Hotelpagen Franz nicht angefühlt.
Was sie ebenfalls beunruhigte, war das Wort »Krieg«, das gleich mehrfach während der Tischgespräche fiel. Es klang hart und kalt, es schmeckte regelrecht nach Grauen und Blut. Zumindest für Sofie. Mochte der Begriff für den Großteil der Bevölkerung auch nur schöne Uniformen, Ruhm und fliehende Feinde bedeuten, so hatte sie selbst von ihrem Großvater anderes gehört. Der hatte vor seiner Tätigkeit als Leuchtturmwärter von Holnis den linken Arm im Deutsch-Dänischen Krieg verloren. Von der Entscheidungsschlacht an den Düppeler Schanzen hatte er furchtbare Geschichten erzählt. Oft hatte Sofie ihn zum Flensburger Friedhof begleitet, um mit ihm Blumen für seine gefallenen Kameraden auf deren Gedenkgräber zu legen. Noch fünfzig Jahre danach litt der mittlerweile pensionierte alte Mann unter den Folgen seiner Kriegserlebnisse.
Sofie erschauderte. In der Hoffnung, dass niemand ihr kurzes Zittern bemerkt hatte, blickte sie auf – direkt in Burkhards dunkle Augen.
Sofie gähnte, während sie mit müden Augen aus dem Fenster des Automobils blickte und den geschäftigen Morgenverkehr in der Hamburger Innenstadt beobachtete, durch den Chauffeur Paul sie und Anna gekonnt kutschierte.
Ursel hatte ihr Versprechen vom Vortag wahr gemacht und bis in den frühen Morgen hinein mit ihr »geplaudert«. Anfangs war Sofie froh darüber gewesen. Denn nach dem Abendessen mit den Nielands war sie viel zu aufgewühlt, um an Schlaf auch nur denken zu können. Vor allem Burkhards Blicke waren noch Stunden später in ihrem Kopf herumgegeistert. Doch irgendwann hatte das muntere Plappern ihrer Zimmergenossin einschläfernd auf sie gewirkt, und schließlich war sie wie durch ein Wiegenlied sanft in einen Traum hinübergeglitten. Am Morgen, als Sofie wieder aufgewacht war, hatte Ursel das Zimmer längst verlassen. Sie hoffte, dass das Dienstmädchen es ihr nicht übel genommen hatte, dass sie während ihres Gesprächs weggedämmert war.
Am Jungfernstieg wandte sich Anna an Paul und bat ihn, anzuhalten. »Den Rest gehen wir zu Fuß, da sind wir schneller.«
Der Fahrer ließ die beiden jungen Frauen aussteigen und lächelte wie schon am Tag zuvor, als er Sofie am Bahnhof abgeholt hatte. Das Mädchen fragte sich, ob der Chauffeur aus Unsicherheit grinste oder ob er sich einfach nur permanent darüber freute, einen solch noblen Wagen lenken zu dürfen.
Anna eilte los, sie wollte Sofie die Reederei und vor allem ihren Schwarm Gideon Meseritz zeigen.
»Er ist der kreative Kopf des Unternehmens«, erklärte Anna, »und außerdem ein ganz famoser Mensch!«
»Wohnt seine Familie auch in Hamburg?«, fragte Sofie, während sie auf dem Weg zum Rathausmarkt an den Alsterarkaden, dem wunderschönen überdachten Verbindungsgang mit weißen Säulen, vorbeigingen.
»Nein, Gideons Eltern sind leider vor vierzehn Jahren bei einem Zugunglück gestorben«, erklärte die Nieland-Tochter. »Der Arme war damals erst zehn. Das verbindet uns natürlich ein bisschen, ich habe meine Mutter ja auch verloren, als ich noch klein war.«
»War er dann im Waisenhaus?«, erkundigte sich Sofie voller Mitleid.
»Zum Glück nicht. Seine Tante hat ihn zu sich nach Schlesien in ihre Familie geholt. Ihr Mann ist Rabbiner. Mit siebzehn ist Gideon dann zur Ausbildung in unsere Reederei gekommen.«
»Rabbiner …«, wiederholte Sofie. »Ist Gideon denn auch Jude?«
»Ja, das ist er. Interessant, nicht wahr?«, meinte Anna verliebt. »Wie ein Rabbi sieht er allerdings nicht aus, eher wie ein Wikinger.«
Gerade wollte Sofie etwas entgegnen, als der Anblick eines imposanten Sandsteingebäudes mit grünem Kupferdach und einem über hundert Meter hohen Turm ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Das Rathaus«, staunte sie leise und erinnerte sich an die Abbildungen des Gebäudes, die sie in einem Reiseführer über Hamburg gesehen hatte. Fasziniert wollte sie stehen bleiben, um die reich geschmückte Fassade zu bewundern, doch ihre Freundin zog sie ungeduldig weiter.
»Komm, das besichtigen wir an einem anderen Tag ganz ausführlich, versprochen. Jetzt wartet Gideon schon auf uns!«
Wenig später erreichten Anna und Sofie das herrschaftliche Gebäude an der Rolandsbrücke, in dem sich der Hauptsitz der Reederei befand.
Der alte Pförtner freute sich augenscheinlich sehr, die Reederstochter zu sehen. »Moin, Fräulein Nieland«, rief er strahlend, und Anna erwiderte den Gruß. Auch andere Mitarbeiter, denen die beiden auf ihrem Weg durch das Foyer begegneten, nickten ihnen freundlich zu.
»Alle hier wissen, dass ich schon seit Kindertagen davon träume, in der Reederei zu arbeiten«, erzählte die Nieland-Tochter auf ihrem Weg durch das prachtvolle Treppenhaus, an dessen Wänden imposante Gemälde von Transportsegelschiffen und Konstruktionspläne moderner Dampfer hingen. »Und alle finden es gut. Bis auf meinen Vater.«
»Weil du eine Frau bist?«, mutmaßte Sofie.
Anna nickte frustriert. »Natürlich soll Burkhard einmal alles übernehmen. Dabei interessiert ihn die Reederei gar nicht! Der würde viel lieber Kriegsflotten führen als eine Firma. Deshalb ist er ja auch zur Marine gegangen, bevor er mit dem Studium begonnen hat.«
Sie waren vor dem Büro des Vertriebsleiters angekommen, und Anna klopfte kurz an. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ein. Sofie folgte ihr zögernd.
Ein Mann Mitte zwanzig saß am Schreibtisch und blickte auf. Sofie verstand augenblicklich, wie es ihm gelungen war, Anna derart den Kopf zu verdrehen. Gideon Meseritz war hochgewachsen und blond, sein von sinnlichen Lippen umrahmtes Lächeln wirkte charmant, und sein Blick für Anna strahlte Wärme und Liebe aus.
»Gideon, das ist meine Brieffreundin, Sofie Brix.«