Blutgras - Herbert Fahrnholz - E-Book

Blutgras E-Book

Herbert Fahrnholz

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Beschreibung

- Ein geheimnisvoller, charismatischer Fremder besucht einen von Pseudowissenschaften faszinierten Milliardär auf der geheimen, abgeschotteten Insel, die der superreiche Einzelgänger zur Steuerzentrale seines Imperiums ausgebaut hat; - ein privater Ermittler versucht, destruktive archaische Kräfte zu seinem höchst persönlichen Vorteil zu nutzen; - eine zum Tod verurteilte Mörderin, die ihre Hinrichtung überlebt hat, wird zum Opfer eines skrupellosen Spiels; - drei Straßenkünstler mit einem Hang zu ungesetzlichen Handlungen müssen vor der anrückenden Polizei in den riesigen, von allen gemiedenen Stadtwald fliehen; - ein junges Mädchen, das auf der Straße lebt, gerät zufällig ins Fadenkreuz einer mörderischen, als Hundefänger getarnten Bande, die in den Randbezirken der Stadt eine obskure Todesliste abarbeitet. Außergewöhnliche Szenarien, eindrucksvoll geschilderte Schauplätze, überraschende Wendungen und verblüffende Schlusspointen machen die vorliegende Kurzgeschichten-Sammlung zum idealen Lesestoff für alle, die spannende Unterhaltung mit Niveau schätzen.

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Das Buch

Ein geheimnisvoller, charismatischer Fremder besucht einen von Pseudowissenschaften faszinierten Milliardär auf der geheimen, abgeschotteten Insel, die der superreiche Einzelgänger zur Steuerzentrale seines Imperiums ausgebaut hat;

ein privater Ermittler versucht, destruktive archaische Kräfte zu seinem höchst persönlichen Vorteil zu nutzen;

eine zum Tod verurteilte Mörderin, die ihre Hinrichtung überlebt hat, wird zum Opfer eines skrupellosen Spiels;

drei Straßenkünstler mit einem Hang zu ungesetzlichen Handlungen müssen vor der anrückenden Polizei in den riesigen, von allen gemiedenen Stadtwald fliehen;

ein junges Mädchen, das auf der Straße lebt, gerät zufällig ins Fadenkreuz einer mörderischen, als Hundefänger getarnten Bande, die in den Randbezirken der Stadt eine obskure Todesliste abarbeitet.

Außergewöhnliche Szenarien, eindrucksvoll geschilderte Schauplätze, überraschende Wendungen und verblüffende Schlusspointen machen die vorliegende Kurzgeschichten-Sammlung zum idealen Lesestoff für alle, die spannende Unterhaltung mit Niveau schätzen.

Der Autor

Herbert Fahrnholz wurde 1949 in Regensburg geboren und studierte Psychologie in Regensburg und Würzburg. Seit den achtziger Jahren ist er als bildender Künstler in den Bereichen Objektkunst, Druckgrafik, Computergrafik und Fotografie tätig.

Die zwölf Erzählungen der vorliegenden Sammlung entstanden in den Jahren 2015 und 2016.

INHALT

Der Fremde am Strand

Das entropische Prinzip

Die Spanner

Im Gleisdreieck

Der Geist in der Maschine

Narbengeflecht

Blutgras

Sand im Getriebe

Der Kunstleder-Cowboy

Das Fleisch des Waldes

Hundefänger

Das Fass

Der Fremde am Strand

»Wir haben einen Eindringling aufgegriffen, Sir.«

Die militärisch kurze Meldung entsprach ganz dem Aussehen des Mannes, der sie machte: Militärisch die olivgrüne Bekleidung, militärisch die zackigen, präzisen Bewegungen, kurz das Haar, kurz und kräftig der ganze Mann.

Der Adressat des knappen Rapports saß auf der großen Veranda der Villa allein an einem üppig gedeckten Tisch und nahm gerade sein Frühstück zu sich.

Die Luft war warm und trocken und der auflandige Wind blähte leicht die weiße, gestärkte Tischdecke, an deren Ecken Pinienzapfen aus schwarzem Gusseisen baumelten.

Die Sonne näherte sich bereits dem Zenit.

Während er eine Weißbrotscheibe mit Honig bestrich, blickte er kurz auf und musterte den untersetzten Mann im Drillich über den Rand seiner Brille hinweg.

»Etwas genauer bitte«, forderte er und biss in den hellbraun gerösteten Toast.

»Wir haben ihn bewusstlos am Strand gefunden, in der Nähe von Tor 3. Es war weit und breit kein Schiff oder Boot zu sehen, von dem er gekommen sein könnte. Er trug eine Rettungsweste über der Kleidung und außerdem eine bunte Maske.«

»Eine bunte Maske? Wie im Karneval, oder wie?«

»Nein, eher wie eine Sturmhaube, wie sie Spezialeinheiten tragen. Oder Bankräuber. Nur mit bunten Mustern. Recht farbenfroh.«

»Sehr merkwürdig. Schafft ihn auf die Krankenstation und erweckt ihn wieder zum Leben. Wenn er so weit ist, dass er reden kann, will ich ihn sehen.«

»Alles klar, Mr. Marmon, Sir.«

Der stämmige Uniformierte wandte sich zum Gehen und war schon auf der Treppe, die von der Veranda nach unten führte, als ihn ein Zuruf noch einmal stoppte.

»Ach ja, Dekker, ich möchte gern als Erster mit ihm reden und will mich nicht mit einem Kerl mit zerschlagener Visage unterhalten müssen, wenn ´s denn möglich wäre, ja?«

»Zu Befehl, Boss, Sir«, bestätigte Dekker mit einem nur nachlässig versteckten, unverschämten Unterton in der Stimme, der soviel bedeuten mochte wie ›du kannst mich mal‹.

Ob der Mann am Frühstückstisch, der jetzt ein gekochtes Ei schälte, die beiläufige Botschaft verstanden hatte, war nicht so recht auszumachen, jedenfalls zeigte er keine Reaktion darauf.

Er trank einen Schluck Orangensaft und ließ seinen Blick über die üppige tropische Vegetation schweifen, die sich unterhalb der Villa in alle Richtungen ausbreitete.

Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und dem lauten Kreischen der Affen und plötzlich auch mit dem Geruch einer, wie er fand, ordinären und aufdringlichen Duftmischung, die man so ähnlich auch zur Geruchsverbesserung in Toiletten verwendete: Ein Anteil Gewürz, ein Anteil Holz, ein Anteil Blütenduft, aber von allem das Falsche und davon viel zu viel.

»Guten Morgen, Pat«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Gut geschlafen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Musst du denn immer dieses schreckliche Parfüm benutzen, noch dazu gleich literweise?«

Carpathia Cox, achtundzwanzig Jahre jung, brünett und sportlich, ließ sich in den hellen Korbsessel neben ihm fallen.

»Das ist Livingstone von Dormal, sündhaft teuer und exklusiv und grade eben dernier cri, last fashion, verstehst du das, du Geruchsbanause?«, entgegnete sie gereizt. »Was ist das überhaupt für eine Begrüßung, Remy? Und nein, ich habe nicht gut geschlafen.«

»Schön, sehr schön«, antwortete Remy Marmon abwesend und halbierte eine Kiwi.

»Schön? Du findest es schön, dass ich schlecht geschlafen habe?

Hörst du mir überhaupt zu?«

»Entschuldige, Pat, ich war nur gerade etwas abgelenkt. Was hat dich denn nicht schlafen lassen?«

»Unwichtig. Was hat dich denn abgelenkt?«

»Dekker und seine CrossFire-Jungs haben einen Eindringling gefunden. Lag wohl bewusstlos am Strand.«

»Ach du meine Güte, ein Eindringling. Da hat sich mein armer Schatz bestimmt mächtig erschreckt. War er denn bewaffnet?«

»Offenbar nicht. Aber irgendetwas ist seltsam an ihm. Er trug eine bunte Maske oder Sturmhaube.«

»Bunt? Vielleicht ein Facekini, ein Gesichtsbikini. Ist derzeit der letzte Schrei an chinesischen Badestränden. Keiner will dort so braun werden wie die Bauern, die den ganzen Tag auf den Feldern schuften. Die Mode schwappt auch schon zu uns herüber.

Ist der Mann denn Chinese?«

Carpathia Cox goss aus einer großen Isolierkanne Kaffee in einen Keramikbecher, der vor ihr auf dem Tisch stand.

»Keine Ahnung. Davon hat Dekker nichts gesagt.«

Marmon wirkte beunruhigt.

»Ein Chinese. Was hätte ein Chinese hier verloren?«

Carpathia lachte ein helles Lachen, das von einem leichten Glucksen unterspült war.

»Chinese oder nicht Chinese, was hat hier einer überhaupt verloren? Das ist es doch, was dich in Wirklichkeit quält, oder?

Wahrscheinlich ist das alles ganz harmlos und der Sorge nicht wert.«

»Ich hoffe, du hast recht. Dein Optimismus in Ehren, aber ich halte es eher mit Churchill, der meinte, Optimismus sei nur ein Mangel an Information. Jedenfalls werde ich mir den Kerl mal vornehmen, wenn er wieder etwas bei Kräften ist.«

Carpathia lachte wieder ihr glucksendes Lachen.

»Nicht jeder Aphorismus ist von Churchill oder Oscar Wilde, mein Süßer. Dieser stammt von einem deutschen Dramatiker.«

»Wenn schon. Auf den Inhalt kommt es an. Ich mag es nicht, wenn du damit angibst, dass du gebildeter bist als ich. Das steht dir gar nicht gut. Es wirkt arrogant und eingebildet.«

»Oho, Ihro Impertinenz Remigius Marmon der Zweite sind wohl schlecht gelaunt, weil ihm die Wellen einen seltsamen Fremden an den Strand gespült haben? Als kleinen Happen, um damit Ihro Gnaden Paranoia etwas anzufüttern, wie?«

»Hör auf, mir Salz in die Wunden zu reiben, Pat. Was ist nur los mit dir?«

Carpathia runzelte die Stirn und nippte am Kaffee.

»Was los ist? Mir ist langweilig hier. Sterbenslangweilig. Hier gibt es nichts als Urwald und Strand. Und Mauern natürlich.

Bewacht von diesen gruseligen Typen, die Dekker da kommandiert. Und Dekker selber ist mir fast noch unheimlicher. Wie der mich immer ansieht, lüstern und aggressiv. Allein möchte ich dem nicht im Mondlicht begegnen.«

Marmon schien überrascht und verärgert.

»Ach ja, tut er das? Habe ich noch gar nicht bemerkt.«

»Du merkst ja nie etwas. Verdammt, Remy, noch bin ich jung und ich möchte etwas erleben! Nicht auf einer Insel versauern, die in Wirklichkeit nur ein Gefängnis ist. Du sitzt hier im Knast und merkst es nicht einmal.«

Marmons Gesicht war rot angelaufen.

Zornig knallte er sein Glas so heftig auf den Tisch, dass das Fünfminuten-Ei aus dem silbernen Becher sprang, über die Tischkante kullerte und auf den polierten, weißen Marmorfliesen auschlug.

»Du übertreibst wie immer. Ich bin nun einmal sehr gefährdet, wie du genau weißt. Und wieso langweilst du dich? Es gibt hier jede Menge Möglichkeiten, sich zu amüsieren. Tennisplätze, Achtzehnloch-Golfplatz, vier Pools, Kino, Kartbahn, Wakeboard- und Wasserskianlage in der Lagune, Startplatz für Gleitschirme oben am Berg und und und. Und warst du nicht vor Kurzem erst ein paar Tage bei dir zuhause? Also, zum Teufel, was willst du eigentlich?«

Jetzt war Carpathia Cox wirklich ernsthaft verschnupft.

»Was ich will fragst du? Mann, Remy, vielleicht etwas Gesellschaft? Weil, wenn ich hier bin, sitze ich immer alleine in einem leeren Kino, Kart fahre ich gegen die Uhr und Wasserski fahre ich, während mich ein paar CrossFire-Nasen bewachen, die mich anglotzen und darauf warten, dass ich ins Wasser falle, damit sie lachen und applaudieren können. Beim Golf ist noch nicht einmal ein Caddy dabei und Tennis spiele ich die meiste Zeit gegen die Ballwurfmaschine. Und das alles, während du den ganzen Tag damit beschäftigt bist, noch reicher zu werden, als du ohnehin schon bist. Soviel zu deinen Möglichkeiten, sich hier zu amüsieren.«

Wütend versetzte Carpathia dem lädierten Ei neben ihrem Fuß einen Tritt.

»Ich fühle mich, wie dieses Ei hier: Abgestürzt, angeschlagen und überflüssig.«

Sie goss das Fußbad aus der Untertasse zurück in den Kaffeebecher und kippte den Inhalt auf einmal hinunter.

Marmon starrte betreten auf die schmelzende Butter in dem runden Glasschälchen und vermied es, die zornige Carpathia direkt anzusehen.

Da war es also wieder einmal so weit. Früher oder später war es noch bei jeder so gekommen. Dann hatte er sie eben wieder zurückgeschickt in ihre Weißbrot-Welt, zurück in ihr gewohntes, angestammtes Biotop, wo sie sich zuhause fühlten, all die gierigen Models, Starlets und It-Girls, die der magische Glanz seiner Milliarden angelockt hatte.

Aber bei Carpathia Cox war es anders.

Pat war die Erbin von COX Enterprises, stammte aus einer Dynastie von einflussreichen und mächtigen Tycoons mit politischen Ambitionen.

Sie war jung, schön und intelligent, darüber hinaus auch noch gebildet und in ihrem Denken oft erstaunlich unabhängig.

Sie mochte ihn, dessen war er sich sicher, nicht wegen seines Geldes, von dem sie selber genug hatte, aber es störte sie auch nicht, dass er so reich war.

Jedenfalls hatte sie das bisher noch nicht gestört.

Marmon bemerkte, dass ihm Carpathia offenbar mehr bedeutete, als er gedacht hatte. Und mehr, als ihm eigentlich recht war.

Denn mit der Lösung, gelegentlich wechselnde schöne Frauen, die ihm im Grunde herzlich egal waren, auf der Insel zu haben, war er eigentlich sehr gut zurechtgekommen. Sie befriedigten seine erotischen und sexuellen Bedürfnisse ohne emotionalen Ballast und hielten ihm damit den Kopf frei für seine geschäftlichen Angelegenheiten.

Jetzt, durch Pat, fing es an, kompliziert zu werden.

Er versuchte, sie zu besänftigen und mit vagen Versprechungen davon abzuhalten, ihre Koffer zu packen und ihn mit seiner kleinen Armee und dem Personal allein auf der Insel sitzen zu lassen.

Neben der allgemeinen Zusicherung, ihr künftig mehr seiner kostbaren Zeit zu widmen, versprach er ihr als einzige wirklich konkrete Aktion, umgehend den widerborstigen Darko Dekker zur Rede zu stellen, wegen des ungebührlichen Benehmens seiner Männer.

Marmon, der unter seiner obligatorischen Sommer-Depression litt, die seine paranoide Grundhaltung immer noch verstärkte, fand nicht den Antrieb, Dekker deswegen extra zu sich zu zitieren und so beschloss er, ihn eher beiläufig abzumahnen, wenn er ihm meldete, dass der Eindringling jetzt vernommen werden könne.

Die Gelegenheit kam schneller als erwartet, dummerweise gerade dann, als er zwei Tage darauf am späten Nachmittag auf der von großen Elefantenbäumen beschatteten Veranda zusammen mit Pat Frappé durch einen dicken Trinkhalm schlürfte.

Er hätte lieber allein mit dem ehemaligen Fremdenlegionär gesprochen, der jetzt bei einer global operierenden Sicherheitsfirma namens CrossFire angestellt war und die kleine Insel-Security befehligte, die dafür zu sorgen hatte, dass niemand heimlich zu Wasser oder aus der Luft die etwa elf Kilometer lange und vier Kilometer breite Insel betrat.

Wer das Eiland, dessen Geo-Koordinaten sorgsam geheimgehalten wurden, zufällig dennoch fand und versuchte am Strand anzulanden, wurde unverzüglich festgenommen und verhört, wobei die Söldner nicht allzu zimperlich vorgingen.

Der untersetzte Ex-Legionär machte Meldung:

»Der Eindringling, den wir vorgestern gefasst haben, ist jetzt vernehmungsfähig. Wollen Sie ihn sprechen, Sir?«

»Sicher«, antwortete Marmon zögernd, nachdem Pat ihm mit einem kurzen Kopfnicken ihr Einverständnis signalisiert hatte.

»Bringen Sie ihn her. Hat er auch einen Namen?«

Dekker grinste.

»Vermutlich. Aber er hatte keinen Ausweis bei sich und da Sie als Erster mit ihm sprechen wollten, haben wir ihn nicht danach gefragt.«

Marmon errötete leicht vor Ärger.

»Es wäre schön, wenn Sie meine Anweisungen mehr sinngemäß ausführen könnten als wörtlich«, seufzte er.

»Aber das ist wohl zu viel verlangt.«

Dekker salutierte mit einem spöttischen Lächeln und wollte wegtreten, da überwand sich Marmon und fuhr mit einem Blick auf Carpathia fort:

»Es ist mir übrigens zu Ohren gekommen, dass Ihre Männer oder ein Teil davon den nötigen Respekt für Miss Cox vermissen lassen. Sorgen Sie doch bitte dafür, dass solche Entgleisungen in Zukunft nicht mehr vorkommen.«

»Wie Sie wünschen, Mr. Marmon, wenn ich mir auch nicht denken kann, wer das gewesen sein sollte.«

»Wollen Sie mich etwa der Lüge bezichtigen?«

Carpathias Stimme klang scharf.

»Das war nicht meine Absicht.«

Dekker vermied es, Carpathia anzusehen.

Schmallippig fuhr er fort:

»Da es sich nicht mehr feststellen lassen wird, wer im Einzelnen sich ungebührlich verhalten hat, werde ich den Männern befehlen, sich gegenseitig auszupeitschen.«

Damit ließ er Marmon und Pat zurück, denen angesichts dieser Impertinenz die Worte fehlten.

Carpathia sog ärgerlich an ihrem Strohhalm, als Dekker sich entfernt hatte, um den namenlosen Fremden zu holen.

»Das wird ja immer schöner mit diesem Kerl. An deiner Stelle würde ich mich bei CrossFire über ihn beschweren. Sie sollten ihn ersetzen und rausschmeißen. Das zu erreichen müsste für dein Geld doch ein Kinderspiel sein.«

Ihr Strohhalm machte lautstarke saugende und blubbernde Geräusche.

Marmon zuckte mit den Schultern.

»Mach dir nichts draus. Ignorier ihn einfach.«

»Ignorier ihn einfach. Das ist der gute Rat für alle kleinen Mädchen, die auf dem Schulhof gemobbt werden. Dekker kann sich das alles doch nur erlauben, weil er ganz genau weiß, wie schwach du bist.«

»Herrgott nochmal, Pat, hör auf damit. Dekker mag manchmal etwas aufsässig sein, aber er ist ein hervorragender Soldat und hundertprozentig loyal.«

Das Gespräch lief schon wieder völlig schief.

Bevor der Streit weiter eskalieren konnte, kam Darko Dekker in Begleitung eines jungen Mannes um die Dreißig zurück, der ihn ein gutes Stück überragte und eindeutig kein Chinese war.

Er trug einige olivfarbene Kleidungsstücke, die ihm von der Security-Truppe überlassen worden waren und seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt.

»Das ist der Kerl«, sagte Dekker. »Soll ich hierbleiben, falls er aggressiv wird?«

Marmon musterte den jungen Mann misstrauisch.

»Danke, ich glaube, das wird nicht nötig sein. Lassen Sie mir die Schlüssel für die Handschellen da.«

»Wie Sie wünschen. Aber ich würde Ihnen raten, davon keinen Gebrauch zu machen. Sicher ist sicher.«

Er warf die kleinen Schlüssel auf den Tisch.

»Ich werde vorsichtig sein. Sie können jetzt gehen, Dekker. Ich lasse Sie rufen, wenn ich Sie wieder brauche.«

Marmon zog eine kleinkalibrige Pistole aus seiner Hosentasche und zeigte damit auf einen leeren Stuhl neben dem Tisch.

»Setzen Sie sich.« Er wartete, bis sich sein Gefangener, der die ganze Szene interessiert verfolgt hatte, mit den Händen hinter dem Rücken auf die Stuhlkante gesetzt hatte.

»Ich bin Remy Marmon und die junge Dame hier ist Carpathia Cox. Verraten Sie uns auch Ihren Namen?«

Der Mann lächelte verbindlich.

»Aber gewiss doch. Mein Name ist Reto Paulsen.«

Er hatte eine angenehme, tiefe Stimme, die Pat auf Anhieb zu gefallen schien, trotz des eigenartigen Akzents, wie ihn keiner von ihnen je gehört hatte.

Marmon hob die Pistole.

»Bitte entschuldigen Sie den unfreundlichen Empfang und dieses martialische Instrument hier. Aber ich muss sehr vorsichtig sein. Hat man Sie misshandelt? Ich frage wegen der Beule auf Ihrer Stirn.«

Der Gefesselte lächelte wieder.

»Ach das. Nein, ich bin wohl mit dem Kopf gegen einen Stein gestoßen, als ich hier angeschwemmt wurde. Ich bin also wirklich auf der geheimnisumwitterten Insel von Remigius Marmon dem Zweiten gelandet? Und ich habe auch gleich noch das Vergnügen, die schöne Carpathia Cox hier anzutreffen. Darf ich Sie etwas fragen, Miss Carpathia?«

»Aber sicher. Was wollen Sie denn wissen?«

Pat war sichtlich eingenommen vom gewandten Auftreten des Mannes, der sich Reto Paulsen nannte.

»Ist es wahr, was man in der Yellow Press liest, man hätte Ihnen den Namen des legendären Schiffs gegeben, von dem ihr Ururgroßvater nach dem Untergang der Titanic aus dem Atlantik gerettet wurde?«

Carpathia nickte.

»Ja, das ist richtig. Ich weiß selber nicht, wie es zu dieser späten Reverenz gekommen ist. Aber mir gefällt der Name.«

»Er hat große Kraft«, schwärmte Reto, »mehr noch, er hat etwas Magisches.«

Marmon räusperte sich und zeigte mit dem Lauf seiner Waffe auf Paulsen.

»Bevor wir die Plauderei fortsetzen, möchte ich Sie doch gerne zuerst befragen, wie und warum Sie hierher gekommen sind, wenn Sie erlauben. Also: Warum sind Sie hier?«

Paulsen lächelte verbindlich.

»Das ist reiner Zufall. Ich war unterwegs mit meinem Boot, der Carla, als ich in einen heftigen Sturm geriet und von einer Welle über Bord gespült wurde. Ich trieb eine Weile hilflos im Wasser, dann verlor ich das Bewusstsein und weiß erst wieder etwas ab dem Zeitpunkt, als mich ihre Schutzmänner hier in Gewahrsam genommen haben.«

»Wohin wollten Sie denn?«

»Es war mein dritter Versuch, die Welt als Einhandsegler zu umrunden, diesmal nonstop gegen den Wind, also von Ost nach West. Mit dem Wind habe ich es schon zweimal geschafft, in zweihunderteinundachtzig beim ersten und in einhundertsechsundsiebzig Tagen beim zweiten Versuch. Dieses Mal bin ich leider gescheitert.«

Marmon pfiff durch die Zähne und Carpathia Cox betrachtete den jungen Mann mit verstärktem Interesse.

»Alle Wetter. Dann wird jetzt ja wohl eine große Suchaktion nach Ihnen angelaufen sein, nehme ich an.«

Paulsen schien zu ahnen, was Marmon beunruhigte.

»Da gibt es nur leider kaum eine Möglichkeit, mich zu finden.

Ich bin wohl schon vor vielen Tagen von meinem Kurs abgekommen und dann ist auch noch das Funkgerät ausgefallen.«

Marmon nickte vielsagend.

»Oh je, da ist ja wohl alles schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte, wie?«

»Nun, nicht ganz. Immerhin lebe ich noch«, stellte Paulsen mit seinem kehligen Akzent trocken fest.

»Da haben Sie natürlich recht«, lachte Marmon etwas gekünstelt. »Ich meine nur, dass da eine ganze Menge an widrigen Umständen zusammengekommen ist, nicht wahr? Vom Kurs abgekommen, Kontakt verloren, weil nur ein einziges Funkgerät an Bord war, dann im Sturm nicht am Boot festgebunden und prompt über Bord gegangen. Das ist schon wirklich bitter für einen erfahrenen Segler wie Sie.«

Carpathia blitzte Marmon zornig an.

»Du immer mit deinem krankhaften Misstrauen, Remy. Für mich klingt alles sehr plausibel, was Reto erzählt. Ich darf doch Reto zu Ihnen sagen?«

»Aber mit dem allergrößten Vergnügen«, strahlte Paulsen, während Marmon finstere Blicke auf ihn und die flirtende Carpathia abschoss.

»Schön«, lächelte Pat.

»Und du nimm endlich diese lächerliche kleine Pistole da weg, Remy.«

Marmon steckte gehorsam die Zweiundzwanziger in seine Hosentasche zurück.

»Eine letzte Frage hätte ich aber doch noch, Paulsen«, legte er dann unbeirrt nach. »Warum haben Sie eine Maske getragen, als Sie hier angeschwemmt wurden?«

Paulsen, immer noch im Blickkontakt mit Carpathia, wandte sich Marmon zu.

»Ganz einfach. Ich leide unter einer photoallergischen Reaktion, oder, einfacher gesagt, an einer Sonnenallergie. Da es auf See nicht möglich ist, sich konsequent im Schatten aufzuhalten, trage ich immer so einen Gesichtsschutz. Nicht gerade bequem, kann ich Ihnen sagen, aber für mich leider unerlässlich. In China ist so etwas jetzt sogar groß in Mode.«

Carpathia sah Marmon triumphierend an.

»Siehst du, mein Süßer, ich hatte recht. Ich werde jetzt Reto von seinen Fesseln befreien. Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie so schrecklich behandelt haben. Sie müssen uns für unzivilisierte Barbaren halten.«

Sie griff sich die Schlüssel auf dem Tisch, ehe Marmon Einspruch erheben konnte und befreite Paulsen von den Handschellen.

»Aber nein«, beruhigte Paulsen sie, während er die schmerzenden Handgelenke rieb, »ich habe durchaus Verständnis für Ihre Situation. Wer so außerordentlich reich ist wie Mr. Marmon, ist natürlich auch extrem gefährdet und muss sich schützen.«

Marmon, der Carpathias Befreiungsaktion missbilligend beobachtet hatte, nickte zustimmend und fuhr damit fort, den hochgewachsenen Mann zu befragen.

»Sie werden doch sicher eine vage Vorstellung davon haben, in welcher Ecke der sieben Meere Sie hier sind, Paulsen. Sie kannten ja Ihre Route; also werden Sie nicht plötzlich tausende von Seemeilen abseits davon sein. Als zweimaliger Weltumsegler können Sie sicher auf hundert Seemeilen genau schätzen, wo Sie sich jetzt befinden.«

Paulsen ging ihm nicht auf den Leim.

»Natürlich weiß ich, dass ich hier nicht im Mittelmeer oder in der Nordsee bin. Aber durch das anhaltend schlechte Wetter war es mir tagelang nicht möglich, ein Besteck zu nehmen, um meine Position zu bestimmen. Ich habe auch keine Ahnung, wie lange ich zuerst mit dem Boot und dann ohne Boot abgetrieben worden bin und in welche Richtung. Der Radius des Gebietes, in dem ich mich befinde, könnte also durchaus mehrere hundert Seemeilen groß sein.«

Die Antwort stellte Marmon erwartungsgemäß nicht zufrieden, doch bevor er weiter nachbohren und nach dem GPS fragen konnte, zog Carpathia das Gespräch an sich und verwickelte Paulsen, den sie nun schon vereinzelt ›lieber Reto‹ nannte, in einen Smalltalk, der wie ein Bächlein stetig dahinplätscherte und Marmon keine Gelegenheit mehr bot, sich einzuschalten.

Sie ließ Paulsen Getränke bringen und bot ihm zu Essen an, was dieser dankbar annahm. Obwohl ihm der vertrauliche Umgang Pats mit dem Mann, den er nach wie vor für einen Schwindler hielt, nicht gefiel, ließ Marmons Angespanntheit allmählich nach, was wohl der Trivialität der Plauderei geschuldet war, die ihn in einen gelangweilten Cocktail-Party-Modus versetzte.

Als aber dann das Gespräch erneut auf die ›Magie‹ von Carpathias Vornamen kam, war sein Interesse wieder geweckt, denn Onomastik, die Namenskunde, war seine Leidenschaft.

Dabei hing er allerdings weniger der wissenschaftlichen als vielmehr der esoterischen Spielart dieser Disziplin an.

Obwohl einerseits ein rational agierender Finanzmann und Industriemagnat, war er auf der anderen Seite, wie viele mächtige Männer, anfällig für allerlei esoterische Sinndeuterei und mystische Orakel-Praktiken, insbesondere Numerologie und Tarot-Symbolik. Beide Disziplinen, die eine so obskur wie die andere, wendete er besonders gerne auf seine Namensanalysen an.

So hatte er für seinen eigenen Namen, Remigius Marmon, die Namenszahl 4 errechnet, was bedeutete, dass ihn große Zuverlässigkeit und eine beharrliche, zielgerichtete Selbstdisziplin auszeichneten, eine Charakterisierung, die er gerne für sich in Anspruch nahm, ebenso wie die gleichfalls der 4 zugeschriebene Praxisbezogenheit mit Liebe zum Detail.

Die Tarotkarten, die er seinem Namen zuordnete, waren Tod, Eremit, Mond und Hierophant, der Enthüller heiliger Geheimnisse. Sie kennzeichneten ihn als klugen und erfinderischen Planer und Bauherrn, als entschlossen und stark, aber auch als geduldig und bescheiden.

Damit hatte er nun endlich für sich die Antwort auf die Frage gefunden, warum es ihm gelungen war, das ohnehin gewaltige Vermögen, das ihm sein Vater, Remigius Marmon der Erste, hinterlassen hatte, noch einmal zu verdoppeln.

Früher hatte er zuweilen noch den Verdacht gehegt, ein riesiger Haufen Geld vermehre sich, wenn man sich nicht total dämlich anstellte, so zwangsläufig wie ein Stall voll Kaninchen. Jetzt aber war er davon überzeugt, dass es wohl doch eher an der Häufung positiver Eigenschaften lag, für die sein Name stand und die sich in seiner Person konzentrierten.

Diese profunde Erkenntnis bestärkte ihn, logisch äußerst fragwürdig, dann umgekehrt auch noch in der Ansicht, dass seine Methode der Namensanalyse die einzig richtige sei.

Marmon hätte nur allzu gern ausführliche Recherchen Paulsen betreffend angestellt.

Um die Anbindung der abgelegenen Insel an die internationalen Datenströme und Kommunikationskanäle zu ermöglichen, leistete er sich einen eigenen Satelliten, über den er komplexe globale Finanztransaktionen durchführte und alle seine Geschäfte abwickelte und überwachte.

Aber leider war ziemlich zeitgleich mit dem Auftauchen Paulsens die Verbindung zum Satelliten Remacom komplett ausgefallen, zum allerersten Mal übrigens seit der Inbetriebnahme.

Der Administrator tappte noch im Dunkeln, was die Gründe für den Totalausfall waren, vermutete aber vage einen heftigen Sonnensturm ais Ursache.

Da Marmon auch die Fortsetzung der hochnotpeinlichen Befragung des zum Gast avancierten Gefangenen wegen Carpathias Intervention verwehrt war, holte er aus einer der Tischschubladen ein Tablet hervor und begann, Berechnungen über Reto Paulsens Namen anzustellen.

Schließlich war auch das kein schlechter Weg, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

Er errechnete für Paulsen die Zahl 2.

Interessant. Auch Pat war eine 2. Die Zweier mochten Aufmerksamkeit und Zuwendung. Wie richtig das war, konnte man gerade bei den beiden beobachten. Eine Tendenz zu manipulativem Verhalten war dabei nicht auszuschließen (nein, sicher auch nicht bei Carpathia).

Er machte sich an die Zuordnung der dominanten Tarotkarten und fand, dass bei Paulsen, ebenso wie bei ihm selbst, der Hierophant einen großen Einfluss hatte. Welche Geheimnisse mochte Paulsen wohl hüten? In der Gesamtschau war er ihm selbst sehr ähnlich, wenn auch seine Merkmale nicht ganz so stark ausgeprägt waren.

Konnte man so einem vertrauen? Würde er sich selbst vertrauen? Die Frage war gar nicht so leicht zu beantworten, denn wenn es um seinen Vorteil ging, stellte Ehrlichkeit, wie er zugeben musste, keinen besonders großen Wert für ihn dar.

Nahm man also an, Paulsen wäre ihm auch in diesem Punkt ähnlich, dann würde es sicher nicht schaden, weiterhin auf der Hut zu bleiben.

Obwohl ihm das Geturtel mit Carpathia auf die Nerven ging, beruhigte Marmon der Umstand, dass Reto Paulsen als numerologische Zweier-Persönlichkeit keine größere Affinität zu Pat hatte als er selbst auch.

Die Zweier passten besonders gut mit den Nummern 1 und 7 zusammen. Obwohl er also rein numerologisch selbst nicht den optimalen Gegenpart zu Carpathia darstellte, war er sich ihrer Treue doch recht sicher. Die Zweier waren nämlich sehr harmoniebedürftig und versuchten immer, eine angenehme Beziehung zu ihren Partnern aufzubauen, denen sie dann starken emotionalen Rückhalt gaben.

Im Grunde konnte er also eigentlich froh darüber sein, dass der lebenslustige und charmante Abenteuerer auf seiner Insel gelandet war, denn er sorgte gerade für grundlegend und sichtbar bessere Laune bei Carpathia.

Wäre da nicht der Umstand gewesen, dass Paulsen nicht die Wahrheit über die Umstände seines Auftauchens erzählte.

Die Geschichte von der Weltumsegelung nahm er ihm nicht ab; Marmon war, was in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt war, selbst Segler, vielmehr Segler gewesen, denn er übte den Sport lange schon nicht mehr aus.

Die Insel hatte er vor vielen Jahren zufällig bei einem Segeltörn entdeckt, auf dem er weit vom Kurs abgekommen war. Was das betraf, konnte er also mitreden und die Geschichte Paulsens hatte zu viele Schwachstellen, um wahr zu sein.

Trotzdem beschloss Marmon, Pat ihren Spaß zu gönnen und zu allem, was sie wollte, gute Miene zu machen.

Insgeheim aber wollte er den auffällig unprofessionellen vorgeblichen Segler sehr genau im Auge behalten.

Plötzlich traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel die triviale Erkenntnis, dass der Mann ihm ja sehr wahrscheinlich einen falschen Namen genannt hatte.

Damit lösten sich seine schönen Berechnungen in Luft auf und er war wieder ganz am Anfang angelangt, nämlich bei der Frage, wer dieser Mann war und was er hier wollte.

Möglicherweise war er eine Art Vorhut, ein Spitzel, der hier alles auskundschaften sollte, im Auftrag von Piraten oder Kriminellen, die ihn in ihre Gewalt bringen wollten, um sich dadurch einen möglichst großen Happen seines Vermögens unter den Nagel zu reißen. Vielleicht war er aber auch nur ein Reporter, der für eine Story über ihn, Pat und die Insel recherchierte, die er dann teuer an einschlägige Magazine verhökern konnte.

Bei etwas näherer Betrachtung hatten aber beide Hypothesen Schwachstellen, vor allem konnte Marmon sich nicht erklären, wie der Neuankömmling das Eiland überhaupt hatte finden können, denn die Geo-Koordinaten waren streng geheim. Auf den Seekarten war die Insel ohnehin nicht verzeichnet und er hatte sehr viel Geld dafür aufgewendet, sie auch aus den öffentlich zugänglichen Satelliten-Aufnahmen tilgen zu lassen.

Nur eine Handvoll Leute, die er für loyal hielt und denen er so weit vertraute, wie es ihm überhaupt möglich war, kannten die genaue Position.

Andererseits, was hieß das schon.

Zu oft hatte er sich bei der Beurteilung von Menschen geirrt; ein weiterer Grund für seinen Hang zur Namensdeuterei.

Er suchte einfach nach mehr Daten für seine Einschätzungen und da vermittelte insbesondere die Numerologie mit ihrer Zahlenmystik einen trügerischen Eindruck von Objektivität und Quantifizierbarkeit.

Die rote Sonnenscheibe, unnatürlich groß, berührte mit ihrem unteren Rand den fernen Wasserhorizont. Marmon sah ihr zu, wie sie langsam tiefer sank, bis sie nur wenig später im Meer untergetaucht war.

Er legte das Tablet zurück in die Schublade.

Pat und der Fremde tranken gerade auf die segensreiche Strömung, die den Schiffbrüchigen hier an Land gespült hatte.

Cato, der schwarze Butler, bot Marmon ebenfalls eine der flachen, mit gut gekühltem Champagner gefüllten Glasschalen an, aber er lehnte ab, weil er Alkohol nicht vertrug und lieber einen klaren Kopf behalten wollte.

Carpathia, die zwischenzeitlich seine Anwesenheit fast vergessen hatte, wandte sich ihm jetzt zu und sagte:

»Mein süßer, grummeliger, misstrauischer Schatz, du bist doch damit einverstanden, dass Cato hier in der Villa eines der Gästezimmer für Reto fertig macht, ja? Wir können ihn doch nicht am Strand schlafen lassen oder gar in einer von Dekkers Zellen, nicht wahr?« Sie kicherte.

Der Champagner war nicht das erste alkoholische Getränk gewesen, das sie sich an diesem Nachmittag genehmigt hatte.

Marmon, der Paulsen in der Tat lieber in einer der CrossFire-Zellen gesehen hätte, zwang sich zur Einhaltung seines eben gefassten Entschlusses und rang sich ein Lächeln ab.

»Wie du willst, meine Liebe. Wenn es wirklich dein Wunsch ist...«

»Ja, das ist es. Und außerdem gibst du Reto bitte noch Sachen zum Anziehen aus deinem unerschöpflichen Fundus, damit er nicht mehr in diesen schrecklichen Militärklamotten herumlaufen muss. Würdest du auch das noch für mich tun?«

Marmon presste erneut ein etwas verkniffenes Lächeln auf seine Lippen.

»Aber sicher. Du hast ja recht Pat, er braucht unbedingt andere Sachen.«

Missmutig wandte er sich direkt an Paulsen.

»Cato soll Sie später durch die Kleiderkammer führen, dort können Sie sich etwas aussuchen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich Paulsen.

Auch er hatte etwas Alkohol mit Pat getrunken, machte aber einen deutlich weniger angeheiterten Eindruck.

Auch er schien auf der Hut zu sein.

Carpathia Cox reckte und dehnte sich.

»Ich habe zuviel Alkohol erwischt«, gähnte sie. »Wenn ich zu viel trinke, werde ich immer albern und müde. Ich werde mich deshalb jetzt zurückziehen, bevor meine Albereien allzu peinlich werden. Aber morgen werde ich früh aufstehen und Reto die Insel zeigen, mit all ihren spektakulären Vergnügungsmöglichkeiten. Er muss mit mir unbedingt Tennis und Golf spielen, schwimmen und Wasserski und Kart fahren, dann Drachenfliegen und abends mit mir ins Kino. Wir werden uns einen dieser uralten Filme ansehen. Casablanca vielleicht. Oder Some like it hot. Werden Sie das alles mit mir machen, lieber Reto?«

Sie kicherte.

»Überlegen Sie sich ihre Antwort genau, denn ich fürchte, eine Ablehnung würde mich in den Selbstmord treiben.«

»Aber warum sollte ich denn ablehnen?«, fragte Paulsen galant.

»Ich wüsste nicht, was ich lieber täte.«

Sie erhob sich vorsichtig aus dem geflochtenen Sessel.

»Dann also bis morgen. Und vergessen Sie nicht, die Militärs-Klamotten mit den Milliardärs-Klamotten zu vertauschen.«

Sie kicherte wieder und drückte Marmon einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Gute Nacht, Schätzelchen.«

Dann verschwand sie schnell durch das reich verzierte Portal im Inneren der Villa.

Paulsen sah ihr nach.

»Eine prachtvolle Frau«, stellte er bewundernd fest.

»Schön, intelligent und gebildet. Meinen Glückwunsch.«

Marmon, der sich nun nicht mehr zu verstellen brauchte, lächelte hintergründig.

Seine depressive und eher ängstliche Tagesverfassung war dem gewohnten Stimmungshoch am Abend gewichen, das jetzt seine unterdrückten Gefühle vom Zügel ließ wie durchgehende Pferde.

»Dasselbe würden Sie auch sagen, wenn sie potthässlich und strohdumm wäre, nicht wahr?«

Zufrieden beobachtete er, wie seine Bemerkung das gewinnende Lächeln aus dem Gesicht des anderen wischte.

»Hören Sie mir gut zu, Paulsen, ich traue Ihnen nicht. Irgendetwas stimmt mit Ihnen nicht und Sie werden so lange hier auf der Insel bleiben, bis ich herausgefunden habe, was es ist und wer Sie wirklich sind.«

Paulsen, falls er überrascht war, ließ sich davon jedenfalls nichts anmerken.

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Mr. Marmon, und für Ihr Taktgefühl, dass Sie Miss Cox diese Offenheit erspart haben. Sie scheint Ihnen sehr viel zu bedeuten.«

Jetzt war Marmon verblüfft.

Er suchte nach scharfen Worten für eine Entgegnung, da fuhr Paulsen schon fort:

»Sie sollten ihr Ihre Gefühle ruhig deutlicher zeigen, denn Sie sind im Begriff, sie zu verlieren. Aber vielleicht ist Ihnen erst durch mich klar geworden, wieviel sie für sie empfinden. Sehen Sie, ich würde wirklich gerne mit Ihrer Partnerin den ganzen Tag schöne Dinge tun, während Sie Ihr Geld vermehren. Aber das wäre gefährlich. Ich habe Angst davor, mich dabei in Pat zu verlieben und noch mehr Angst davor, dass sie diese Gefühle erwidern könnte. Eigentlich sollten doch Sie derjenige sein, der all das mit ihr unternimmt, worum sie mich in ihrer Verzweiflung gebeten hat.«

Marmon war konsterniert.

Mit diesem Frontalangriff hatte er nicht gerechnet.

»Was geht das alles eigentlich Sie an? Sie mischen sich da in Dinge ein, die Sie in keiner Weise zu interessieren haben.«

»Ich sage Ihnen nur, was die richtige Entscheidung wäre«, stellte Paulsen sachlich fest.

»Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Sie sollten die Insel verlassen, Miss Cox heiraten und Kinder mit ihr haben.«

»Sie sind verrückt. Jetzt weiß ich, was mit Ihnen los ist: Sie sind übergeschnappt!«

Marmon war fest davon überzeugt, dass er es mit einem Irren zu tun hatte. Woher der auch immer gekommen sein mochte.

Paulsen aber war mit seinen seltsamen Empfehlungen noch nicht fertig.

»Und nehmen Sie sich vor Dekker in Acht. Er ist nicht loyal. Ich habe gehört, wie er mit seinen Männern über Sie redet. Das war nicht sehr schmeichelhaft. Ich glaube, dass Ihre Security etwas gegen Sie plant.«

Schlagartig war Marmons Paranoia, die schon partiell geschlafen hatte, wieder hellwach.

»Sie reden schon genau wie Pat«, knurrte er. »Haben sie mit ihr über Dekker gesprochen? Dekkers Name ist numerologisch eine 4. Also ist er vertrauenswürdig, zuverlässig und treu. Ein charismatischer Führer, seine Tarotkarten sind die Gerechtigkeit und der Herrscher. Vielleicht ist er gelegentlich ein wenig eigensinnig, aber er ist stark und diszipliniert. Ich halte ihn für integer, auch wenn er gelegentlich etwas aufsässig ist.«

»Das müssen Sie wohl glauben«, seufzte Paulsen.

»Sie klammern sich verzweifelt an ihre esoterischen Charakterdeutungen, weil Sie diesem Mann ja ausgeliefert sind, Tag und Nacht. Sie versuchen, sich selbst zu beruhigen, denn wer könnte Ihnen helfen, sollte er sich gegen Sie verschwören? Tragische Ironie, wenn diejenigen, die Sie vor Gefahr schützen sollen, selbst zur Bedrohung werden. Wem könnte man dann noch vertrauen? Vielleicht nur noch einem vermeintlichen Feind.«

»Numerologie ist keine Esoterik«, widersprach Marmon ärgerlich. »Ebenso wenig wie Tarot. Beide beruhen auf uralten Praktiken und Erfahrungen und haben sich tausendfach bewahrheitet. Zahlensymbolik finden Sie schon in der Bibel. Tarot beruht auf altägyptischen und kabbalistischen Weisheitslehren und eine spirituelle Erklärung der Tarotsymbolik hat schon C.

G. Jung im letzten Jahrhundert geliefert. Die Naturwissenschaften sind nicht die einzige Quelle von Erkenntnis.«

Der Mann, der vorgab, Reto Paulsen zu heißen, zog die Brauen zusammen.

»Würden Sie Aktien kaufen, nur weil sie numerologisch und tarotsymbolisch Gewinn versprechen? Würden Sie da nicht viel eher auf volks- und betriebswirtschaftlich fundierte Prognosen setzen?«

»Mein Junge, da ist Kaffeesatzlesen noch zuverlässiger als diese Prognosen«, erwiderte Marmon trocken.

Paulsen lachte.

»Da mögen Sie wohl recht haben. Ein schlechtes Beispiel. Dann kann ich nur hoffen, dass Dekker Ihnen seinen richtigen Namen genannt hat, was bei einem ehemaligen Fremdenlegionär nicht gerade selbstverständlich sein dürfte.«

Marmon wurde von dieser verdeckt herausgeschossenen linken Geraden voll erwischt.

Er war angeschlagen, ließ sich aber nichts anmerken und ging zum Gegenangriff über.

»Auch ein Falschname sagt etwas aus über den, der in wählt.

Aber woher wissen Sie, dass Dekker in der Legion war? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Ihnen das erzählt hat. Sie sind überhaupt bemerkenswert gut informiert über das, was hier geschieht und ich frage mich, warum?«

Paulsen fuhr sich mit beiden Händen durch das volle, gewellte dunkle Haar und zuckte mit den Schultern.

»Schon wieder misstrauisch«, bedauerte er.

»Misstrauen scheint leider Ihr alles beherrschender Charakterzug zu sein. Darum leben Sie auch jetzt hier als Gefangener Ihrer eigenen Insel. Ihr Misstrauen hat Sie hierher gebracht.«

Marmon bedachte Paulsen mit finsteren Blicken.

»Wenn Sie schon so gut Bescheid wissen, dann sollte Ihnen auch bekannt sein, warum alles so ist wie es ist. Vor mehr als zehn Jahren, als ich noch in der Welt da draußen lebte, wurde ich Opfer eines Kidnappings, bei dem Kriminelle eine Summe von hundert Millionen zu erpressen versuchten. Ich war acht- unddreissig Tage in einem finsteren, feuchten Erdloch eingesperrt und fürchtete dort jede Stunde um mein Leben. Sie haben gedroht, mir Körperteile abzuschneiden und an meinen Assistenten zu schicken als Beweis dafür, dass ich mich in ihrer Gewalt befände. Genau dieser Assistent ist später als Drahtzieher des Coups überführt worden. Überlebt habe ich das alles nur durch einen unwahrscheinlichen Zufall. Ich war schwerst traumatisiert und über drei Jahre in Behandlung. Hat alles nicht viel gebracht. Seitdem bin ich paranoid und von Ängsten geplagt; fühle mich von jedem verfolgt und bedroht, kann nachts kaum schlafen und habe multiple Kontrollzwänge, die mich massiv einengen. Dann, vor sieben Jahren, habe ich zufällig diese Insel entdeckt. Sie lag in internationalen Gewässern, abseits der Schifffahrtsrouten und kein Staat konnte auf sie Anspruch erheben, weil keiner von ihr wusste. Es war ein paradiesisches Stück Land, unbewohnt und von Menschen unberührt. Hier war ich zum ersten Mal wieder sorglos und glücklich. Ich blieb mehrere Wochen hier und lebte nur von dem, was die Natur mir bot. Über Funk gab ich Bescheid, dass ich lebte und dass es mir gut ginge, gab aber die Position der Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, nicht preis. Wieder zurück beschloss ich nach einigen Wochen tiefer Depression, mich ganz hier niederzulassen. Aber ganz so wie zuvor, als ich die Insel entdeckt hatte, konnte ich natürlich nicht auf Dauer wohnen.

Also begann ich, die Insel nach und nach auszubauen. Zuerst sorgte ich für die Kommunikation und ließ Remacom hochbringen, den Satelliten. Dann ließ ich die Villa nach meinen eigenen Plänen bauen. Zu dieser Zeit fand ich noch alles wunderbar und war froh und zufrieden. Ein Versorgungsschiff brachte alles, was ich und das Personal hier brauchten. Da die Insel keinen natürlichen Hafen hatte, ließ ich die Ladung des Schiffs per Helikopter einfliegen.

Allmählich kamen weitere Gebäude zur Villa hinzu. Eine Krankenstation, eine Aussichtsplattform ganz oben auf dem Berg, ein Hangar für die beiden Hubschrauber.

Später, als ich damit begann, von gelegentlichen Ausflügen zu meinen Banken und Firmenniederlassungen Frauen mit hierher zu bringen, war ich gezwungen, etwas für die Unterhaltung dieser überaus anspruchsvollen Damen zu tun.

Also baute ich das Kino, die Pools und die Sportanlagen.

Die Insel fing an, sich zu verändern. Nein, sie hatte sich schon verändert. Was vorher ein unberührtes Naturparadies gewesen war, hatte den Charakter eines albernen All-inclusive-Urlaubs-Resorts angenommen.

Dann wurde mir eines Tages klar, wie angreifbar ich auf der Insel war. Ich war gerade auf der Aussichtsplattform oben auf dem Berg, als ich ganz weit draußen ein großes Schnellboot vorbeifahren sah. Es beachtete die Insel gar nicht und war bald wieder hinter dem Horizont verschwunden. Aber mir fuhr der Schreck in die Glieder, wenn ich daran dachte, was wohl geschehen wäre, wenn es die Insel angesteuert hätte.

Es hätten Piraten sein können, die genauso zufällig wie ich ankamen, vielleicht aber auch Kriminelle, die genau wussten, was sie wollten. Es hatte sich ja nicht ganz vermeiden lassen, dass einige Leute doch wussten, wo die Insel lag. Kapitän und Mannschaft des Versorgungsschiffes zum Beispiel und etliche andere Leute, denen ich zwar vertraute, aber man kann für keinen Menschen die Hand ins Feuer halten, wenn viel Geld im Spiel ist. Es war also nie ganz auszuschließen, dass nicht einer von ihnen versuchte, sein Wissen zu vergolden.

Also baute ich schließlich die Mauern mit den Toren und Wachtürmen und heuerte die CrossFire-Truppe samt Darko Dekker an, um mich vor Eindringlingen zu schützen. Damit war die Insel vollends zu einem Gated Resort mutiert, oder wie die liebe, kluge Pat es ausdrückte, zu einem Knast, in den ich mich selber eingesperrt hatte.

Und jetzt legen Sie den Finger auf die Wunde und haben damit natürlich recht: Wer schützt mich vor den Beschützern?«

Marmon schwieg gedankenversunken.

Paulsen hatte die lange Erzählung aufmerksam verfolgt.

Dunkelheit hatte schnell die Dämmerung abgelöst und die Lichter auf der Terrasse aufflammen lassen. In ihren hellen Kegeln tanzten Insekten und warfen riesige Schatten.

Nach einer Weile brach Paulsen das Schweigen.

»Nun, Sie wissen ja selbst, dass es nur eine einzige Lösung gibt.«

Marmon sah ihn ausdruckslos an. »Und die wäre?«

»Wie ich schon sagte: Sie müssen wieder zurück in die Welt.

Zusammen mit Ihrer Pat, die Sie verlieren werden, wenn Sie bleiben. Das Schiff Carpathia hat einst über siebenhundert Ertrinkende aus dem eiskalten Nordmeer gerettet.

Die Frau Carpathia könnte Ihre Rettung sein. Sie sind hier schon lange nicht mehr glücklich und Sie sind hier nicht sicherer als da draußen. Alle Welt spricht über den verrückten Milliardär und seine geheimnisvolle Insel. Für einen Teil der Presse ist das ein Riesending. Sie müssen wieder leben. Leben ist immer ein Risiko. Leben ist gefährlich. Und führt zum Tod.

Immer. Ob früher oder später, am Ende steht immer der Tod und das ist gut so, denn Leben und Tod brauchen einander, so wie Sie und Pat sich brauchen. Ohne den Tod kann man das Leben nicht lange schätzen.

Sie wissen doch, was der Tod, die dreizehnte Karte, im Tarot bedeutet: Sie bedeutet nicht das Ende, nicht Trauer oder Angst, der Tod ist der Schöpfer, der Planer, der Bauherr. Sie müssen ihn nicht suchen, aber auch nicht fürchten. Nur ihm gelassen entgegenblicken, wenn er am Ende Ihres Weges wartet.«

Paulsens Worte, mit einer seltsamen, hypnotischen Intensität gesprochen, beeindruckten Marmon tief, auch wenn sie im Grunde banal waren und nichts aussagten, was er nicht schon lange gewusst hätte. Aber er hatte es gewusst, ohne es ernst zu nehmen und ohne es wirklich zu verstehen.

Nun war es, als wären Paulsens Worte durch eine Tür in Marmons Geist geschlüpft, die gerade einen Spalt breit offen stand.

»Wer zum Teufel sind Sie?, fragte er, doch Paulsen schüttelte lächelnd den Kopf.

»Das ist nicht wichtig. Ich bin nur ein Studierender auf einer Studienreise.«

»Was studieren Sie denn? Philosophie, Psychologie?«

»Geschichte«, erwiderte Paulsen schlicht.

Dann erhob er sich aus seinem Stuhl.

»Wenn Sie erlauben, würde ich es nun gerne Miss Cox gleichtun und schlafen gehen. Sie scheint morgen zu früher Stunde Dinge von mir zu erwarten, von denen ich noch nicht weiß, wie ich sie ablehnen soll.«

»Pat steht niemals vor zehn Uhr auf. Meist erst gegen Mittag«, beruhigte ihn Marmon. Aber Sie können sich selbstverständlich gerne zurückziehen. Ich werde Cato Bescheid geben, dass er sich um alles kümmert.«

Er drückte einen Messingknopf auf einer kleinen Konsole unter dem Tisch und sofort erschien der Butler, um Marmons Anweisungen entgegenzunehmen.

»Zeigen Sie Mr. Paulsen sein Zimmer, Cato und staffieren Sie ihn mit neuer Kleidung aus. Schlafen Sie gut, Paulsen.«

Als sein Gast mit dem Butler im Haus verschwunden war, trank Marmon einen Rest Champagner, falls man den halben Inhalt noch als ›Rest‹ bezeichnen konnte, direkt aus der Flasche und streckte sich im Korbsessel aus, um noch etwas seinen Gedanken nachzuhängen.

In seinem Kopf ging es rund wie in einem Karussell.

Unzusammenhängende Gedankenfetzen flogen herum, ließen sich aber nicht zu klaren Überlegungen zusammenfügen.

Er holte ein Funkgerät aus der Tischschublade und befahl Dekker, einen seiner Männer zur Villa zu schicken, damit er während der Nacht vor Paulsens Zimmertür Wache schob.

Obwohl ihn der seltsame Fremde stark beeindruckt hatte, wusste er immer noch nicht so recht, was er von ihm halten sollte und ging lieber auf Nummer sicher.

Erneut versuchte er, etwas Ordnung in seine Gedanken zu bringen, aber auf der Kirmes in seinem Kopf ging es weiter rund und die Buden und Stände waren noch nicht abgebaut. Also stürzte er sich in das Getümmel und ließ sich ziellos treiben, bis er müde war und in einen tiefen Schlaf fiel.

Am nächsten Tag erwachte Marmon gegen zehn Uhr vormittags in seinem Bett. Irgendwann in der Nacht musste er sich wohl in die bequemere Schlafgelegenheit zurückgezogen haben, wenn er sich auch nicht daran erinnern konnte. Er suchte nach seiner Brille, fand sie am gewohnten Platz auf dem Nachttisch, duschte, zog sich an und verließ das Zimmer, um nach Paulsen zu sehen.

Der Posten, den er vor dem Gästezimmer erwartet hatte, war nicht da. Er klopfte an die Tür und öffnete sie, als er keine Antwort bekam. Das Zimmer war leer. Das Bett war benutzt worden und die Drillich-Sachen aus den CrossFire-Beständen lagen ordentlich zusammengelegt auf einem Stuhl.

Paulsen war jetzt offenbar in Kleidung unterwegs, die er gestern noch mit Cato ausgesucht hatte.

Der Butler berichtete, Paulsen habe zusammen mit dem Wachtposten vor etwa dreißig Minuten das Haus verlassen, ohne sich darüber zu äußern, was er vorhatte und wohin er wollte.

Marmon war beunruhigt und funkte Dekker an, konnte ihn aber nicht erreichen.

Carpathia tauchte auf, etwas verschlafen, aber perfekt zurechtgemacht und fragte nach Reto. Marmon sagte ihr, was er von Cato erfahren hatte.

Auch sie war beunruhigt und bat ihn, Dekker anzurufen. Also funkte er Dekker noch einmal an und hatte wiederum keinen Erfolg damit.

Er fragte sich, ob nun etwa auch der Funkverkehr auf der Insel gestört sei. Das brachte ihn auf den Gedanken, zu überprüfen, ob der Kommunikations-Satellit immer noch den Dienst verweigerte.

Auf halbem Weg kam ihm schon der Administrator entgegen und berichtete erfreut, dass alles wieder einwandfrei funktioniere. Wahrscheinlich habe das System den Sonnensturm ohne größere Schäden überstanden.

Marmon setzte sich ins Comsat-Cockpit und rief zunächst seine wichtigsten geschäftlichen Daten ab.

Dann recherchierte er nach einem Einhandsegler und Globetrotter namens Reto Paulsen. Nichts. Kein Hinweis im gesamten Netz. Der Mann existierte nicht.

»Dachte ich´s mir doch.« Marmons Gefühle waren gespalten in Selbstzufriedenheit, weil er den Schwindler sofort durchschaut hatte und in Bedauern andererseits, weil er insgeheim fast die Hoffnung gehegt hatte, die suggestiven Reden des Unbekannten seien bedenkenswert und ernst zu nehmen.

Er stand auf und suchte nach Pat.

Sie saß in einem der gewaltigen Polstersessel in der Eingangshalle der Villa und hatte sich von Cato ein Glas mit Essiggurken bringen lassen, nach denen sie nun mit einer Gabel fischte, um sie dann geräuschvoll zu zerkauen.

»Comsat geht wieder. Er ist ein Schwindler«, sagte Marmon und seine Stimme klang nun doch mehr triumphierend als bedauernd. »Es gibt keinen Einhandsegler namens Reto Paulsen. Nur einen vermutlich beidhändigen Pianisten, der halb Schwede und halb Schweizer ist.«

Carpathia Cox schürzte verächtlich die Lippen.

»Wenn schon«, warf sie hin. »Er wird einen guten Grund haben, seine wahre Identität nicht preiszugeben. Nett ist er trotzdem. Und völlig ungefährlich.«

»Woher willst du das wissen?«

»Intuition.« Sie fischte eine Gurke aus dem Glas und biss mit lautem Knacken ein Stück davon ab.

»Ich habe mich lang mit ihm unterhalten gestern. Glaub mir, wenn er ein finsterer Schurke wäre, hätte ich es gemerkt.«

»Ich weiß nicht«, zweifelte Marmon, du bist zu leichtgläubig und vertrauensselig. Ein Privileg deiner Jugend.«

Pat lachte.

Marmon registrierte zufrieden, dass das Kichern wieder dem vertrauten Glucksen gewichen war, das er so gerne hörte.

»Oho, du weiser alter Mann«, spottete sie, »dann ist Paranoia wohl das Privileg deines Alters?«

Das Eintreffen Dekkers enthob Marmon einer Antwort.

Der Ex-Legionär wirkte verwirrt und schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen.

Ein Zustand, der in dieser Sichtbarkeit bei ihm sehr ungewöhnlich war und Marmon erheblich irritierte.

»Der Eindringling ist entkommen, Sir«, meldete Dekker kleinlaut und ganz ohne seine sonst übliche verdeckt-aufsässige Attitüde.

»Etwas genauer bitte«, sagte Marmon.

Den CrossFire-Mann derart unsicher zu sehen tat ihm gut in der aufkeimenden depressiven Tagesphase.

»Natürlich, Sir. Vor etwa einer Stunde hat mich Weller angefunkt, der Mann, der zur Bewachung des Eindringlings abkommandiert war. Er meldete, dass der Bewachte den Wunsch geäußert habe, den Strandabschnitt absuchen zu dürfen, an dem er von uns gefunden wurde. Er vermisste, wie er sagte, einen Ring, der ihm sehr viel bedeuten würde. Weller hat gefragt, ob das in Ordnung geht.«

»Und Sie haben es erlaubt.«

»In der Tat, Sir. Nachdem Sie den Eindringling in die Villa aufgenommen hatten, war sein Status für mich ein anderer. Er war ja nun wohl kein Gefangener mehr, sondern, nun sagen wir ein Gast, den man zwar besonders im Auge behielt, aber immerhin Ihr Gast. Es gab deshalb keinen Grund für mich, ihm die Suche nach einem verlorenen Gegenstand zu verweigern. Also habe ich Weller grünes Licht gegeben und er hat Ihren Gast zunächst zu mir auf die Wachstation gebracht.«

»Auf die Idee, mich zu fragen, sind Sie nicht gekommen.«

»Ich wollte Sie zu dieser für Sie sehr frühen Stunde nicht belästigen, Sir.«

»Sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Ich habe übrigens zweimal versucht, Sie über Funk zu erreichen. Beide Male erfolglos. Haben Sie eine Erklärung dafür?«

»Leider nein, Sir. Bei mir ist kein Funkspruch von Ihnen eingegangen und ich hatte das Gerät immer am Gürtel.«

»Seltsam. Aber erzählen Sie weiter.«

»Ihr Gast bat mich, ob er diesen Lichtschutz fürs Gesicht, mit dem wir ihn gefunden hatten, für die Suche wiederhaben könnte, weil die Vormittagssonne schon recht kräftig sei. Ich habe zunächst gezögert, weil mir diese Haube etwas merkwürdig vorkam.«

»Was war denn daran merkwürdig?«

»Naja, sie war einfach ungewöhnlich. Wenn man genau hinsah, bestand sie aus vielen dünnen, bunten Platten, die man gegeneinander verschieben konnte, die sich aber anfühlten wie weicher Stoff. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Außerdem war auf der Innenseite eine Art kompliziertes Geflecht aus sehr feinen Metalldrähten.«

»Hmm. Haben Sie Paulsen gefragt, was das zu bedeuten hat?«

»Bitte wen?«

»Paulsen. Das ist der Name, den er mir genannt hat. Vermutlich ein falscher. Haben Sie ihn also gefragt?«

»Selbstverständlich. Er hat irgendwas von Magnetismus und Erdstrahlen gefaselt. Solchen abergläubischen Kram eben. Das hat mich davon überzeugt, dass alles nur Humbug ist und ungefährlich und ich habe ihm das Teil ausgehändigt.«

»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich Ihre Schulweisheit träumen lässt, Dekker. Aber woher sollten Sie sich schon mit deutschen Dichtern auskennen.«

Im Hintergrund hörte man lautes Glucksen aus Carpathias Sessel. Marmon warf einen strafenden Blick in ihre Richtung und wandte sich dann wieder an Dekker.

»Wie ging es dann weiter?«

»Wir - also ich und zwei meiner Männer - haben Ihren Gast dann zu der Stelle bei Tor 3 gebracht, wo wir ihn gefunden hatten. Da hat er sich diese Kappe über den Kopf gezogen und stand da wie ein großes X, mit gespreizten Beinen und in die Höhe gereckten Armen. Wir wunderten uns noch, was er da macht, da hat er angefangen zu blinken und zu leuchten, ist immer durchsichtiger geworden und dann war er verschwunden.«

Man konnte sehen, dass Dekker äußerst mulmig zumute war.

Er trat verlegen von einem Bein auf das andere, als er seinen Bericht mit dieser verwegenen Schlusspointe beendet hatte.

Marmon war wie vom Donner gerührt und starrte Dekker fassungslos mit offenem Mund an.

Carpathia fiel scheppernd die Gabel ins Gurkenglas.

»Was meinen Sie mit verschwunden?«, fragte Marmon, als er endlich die Sprache wiedergefunden hatte.

»Naja«, wand sich Dekker, »eben verschwunden, weg, perdu.

Wir haben natürlich gerufen und nach ihm gesucht, aber er war weg. An der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, war nichts mehr. Als ob er sich in Luft aufgelöst hätte.«

»Was wollen Sie mir da erzählen, Mann«, fragte Marmon ungläubig. »Dass Scotty ihn hochgebeamt hat?«

»Natürlich nicht, Sir, aber es hat fast genauso ausgesehen. Wie im Fernsehen. Der Blitz soll mich treffen, wenn ich lüge.«

»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie uns mit diesem Bericht zumuten, Dekker? Für wie blöd halten Sie mich eigentlich, dass ich Ihnen sowas abnehme? Haben Sie gedacht, Marmon hat sowieso einen Hang zu esoterischen Spinnereien, dann wird er mir auch so eine wilde Geschichte von einem Außerirdischen abnehmen? Haben Sie sich das so gedacht?«

»Warum sollte ich das tun, Sir? Ihr Gast ist wirklich verschwunden und ich habe zwei Zeugen dafür, dass es genauso gewesen ist, wie ich gesagt habe. So und nicht anders.«

»Die Zeugen sind doch Ihre Untergebenen. Die Aussagen dieser Männer sind völlig wertlos. Sie sind abhängig von Ihnen.

Vielleicht sind es sogar Ihre Komplizen.«

Dekker versteifte sich.

»Was wollen Sie damit andeuten, Sir?«

»Nun, vielleicht hat es Sie geärgert, dass Ihr Gefangener nun mein Gast war. Vielleicht haben Sie ihn deswegen misshandelt, wie das schon öfter mit Personen geschehen ist, die Ihrer Obhut anvertraut waren. Vielleicht haben Sie und Ihre Männer ihn etwas zu grob angefasst und er hat diese Behandlung nicht überlebt. Sie haben ihn zur Seite geschafft und jetzt tischen Sie mir dieses Märchen auf.«

»Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung, Sir. Für die Sie keinerlei Beweise haben.«

Dekkers Gesicht wirkte grau und kantig, wie aus Granit gehauen.

Natürlich hatte er recht.

Es gab nicht den geringsten Beweis für eine solche Behauptung.

Marmon ließ jeden Quadratmeter der Insel mit Infrarotsensoren und hochsensiblen Bewegungsmeldern absuchen, womit sich natürlich nur ein lebender Paulsen hätte finden lassen und setzte dafür sein Personal ein, denn gegen die CrossFire-Truppe hegte er nun verstärktes Misstrauen.

Er benutzte die beiden Helikopter für eine Suche aus der Luft und ließ die Radaraufzeichnungen nach Schiffen durchforsten, die sich zum Zeitpunkt des angeblichen Verschwindens vielleicht in der Nähe der Insel aufgehalten hatten.

Aber alles blieb ohne Ergebnis.

Die beiden Männer, die Dekker begleitet hatten, bestätigten erwartungsgemäß seine Aussage.

Marmon und Carpathia Cox nahmen sogar höchstpersönlich an der Suche teil, wobei sie, ausgehend vom Strand bei Tor 3, weite Teile der Insel durchstreiften.

Aber von dem Mann, den sie als Reto Paulsen gekannt hatten, fanden auch sie nicht die geringste Spur.

Nachdem eine Rotte von eigens eingeflogenen Suchhunden, die auch einen toten Paulsen hätte aufspüren können, erfolglos geblieben war, ließ Marmon nach vier Tagen die Suche einstellen.

»Als ob es ihn nie gegeben hätte.«

Sie schmiegte sich an ihn.

»Bist du ganz sicher, dass er wirklich hier war?«

Er legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern und drückte sie an sich.

»Nein«, sagte er, »manchmal denke ich, dass alles nur ein heftiger Inselkoller war.«

Sie standen ganz oben auf dem Berg und schauten über die Insel, deren Ränder eingesäumt waren von einem hellgrünen Flachwasserstreifen, den in endlosem Gleichtakt lange, niedrige Brandungswellen überrollten, um dann am hellen Sand des schmalen Uferstreifens zu lecken.

Die pure Idylle, wäre da nicht ein kleines Stück weiter landeinwärts das Bollwerk der stacheldrahtgekrönten Mauern und der Wachtürme gewesen.

Sie schwiegen einige Minuten, selbstgenügsam und zufrieden nur die bloße Gegenwart des anderen genießend. Durch die gemeinsame Suche waren sie sich wieder näher gekommen und sie genoss es, dass er nicht wie üblich den ganzen Tag lang nur damit beschäftigt war, sein Imperium zu dirigieren. Aber auch ihm selbst war aufgefallen, dass es noch andere, womöglich sogar angenehmere Dinge gab als die Arbeit.

Er schnupperte an ihr.

»Wonach riechst du so gut?«

»Livingstone von Dormal«, lachte sie, »dieses schreckliche Parfüm, weißt du?«

Leichter Westwind fuhr durch ihr Haar und trug das Kreischen der Seevögel zu ihnen herüber, die in den Nischen der vorgelagerten Felsnadeln nisteten.

»Was sollen wir nun von all dem halten?«, ergriff sie wieder das Wort.

»Schwer zu sagen«, antwortete er unschlüssig.

»Ich habe mir wieder und wieder die verschiedensten Szenarien durch den Kopf gehen lassen, aber keines ist ohne Widersprüche. Und in jedem spielt Darko Dekker eine wichtige Rolle.«

»Warum meinst du?«

»Ich habe Paulsen nicht selber am Strand liegen sehen. Dekker hat es mir berichtet. Und ich habe ihn auch nicht selber verschwinden sehen. Dekker war es, der mir davon erzählt hat. Ich habe also weder den Anfang noch das Ende der Geschichte miterlebt, sondern nur den mittleren Teil, in dem sich ein junger Mann mit einem komischen Akzent als Weltumsegler Reto Paulsen ausgegeben hat. Ich sage ›ausgegeben hat‹, denn es existiert niemand mit diesem Namen, der als Einhandsegler bekannt wäre. Genau zum Zeitpunkt seines angeblichen Eintreffens hier ist der Satellit und damit der Zugang zum Netz ausgefallen und er hat erst wieder funktioniert, als er wieder verschwand. Angeblich verschwand. Ein äußerst glücklicher Zufall für unseren Besucher, denn so konnte ich nur vermuten, dass er ein Schwindler ist, aber ich konnte es ihm - und dir! - nicht nachweisen.«

»Ja ja, ich weiß, das Privileg meiner Jugend. Weiß man denn, warum der Satellit gestört war?«

»Der Sysadmin hat einen Sonnensturm als Ursache vermutet.

Wir befinden uns momentan wohl in einer Phase erhöhter Sonnenaktivität.«

»Also ein Zufall?«

»Zufälle sind immer verdächtig. Vor allem dann, wenn einer Nutzen daraus zieht. Nur: Was ist denn schon groß passiert?

Ein Mann taucht auf und verschwindet wieder. Wer hätte davon einen Vorteil?«

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Stimmt. Hört sich wie ein ziemlich sinnloser Zirkus an.«

»Eben. Aber zurück zu Dekker. Wie es scheint, steht er im Zentrum der ganzen Scharade.«

»Du weißt ja, wie ich zu Dekker stehe. Haben wir also nur die Wahl, ihm zu glauben oder ihm nicht zu glauben?«

»Die Sache ist etwas komplizierter. Die Frage muss heißen: Wo glauben wir ihm und wo nicht? Es ist ja möglich, dass manche Dinge, die er erzählt hat, wahr sind, andere dagegen nicht.«

Sie seufzte.

»Also, ich halte Dekker für einen phantasielosen Kommisskopf.

Der könnte sich doch nie im Leben solche Geschichten ausdenken. Und wer wäre dann Reto Paulsen gewesen? Wie passt der überhaupt in die Story hinein?«

»Vielleicht ist er ja der Mann mit Phantasie und Dekker hat ihm nur geholfen. Für viel Geld wahrscheinlich. Vielleicht ist Paulsen - nennen wir ihn der Einfachheit halber mal weiter so - einer dieser Sensationsreporter der Boulevardpresse, der hier auf der Jagd nach einer Story über den verrückten Milliardär und seine geheimnisvolle Insel war. Und er hat Dekker bestochen, damit er ihm hilft und ihn hier einschleust.«

Sie runzelte die Stirn und man konnte sie angestrengt denken sehen.

»Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Aber ich glaube es trotzdem nicht.

Erstens: Im Gespräch mit mir kannte er öfter völlig geläufige Sachverhalte und alltägliche Dinge nicht. Das passt nicht zu einem Typ, wie du ihn beschrieben hast.

Zweitens: Er hat keine Fotos gemacht oder versucht zu machen.

Er hat mehrmals die Kleidung gewechselt und hatte nichts bei sich, mit dem man fotografieren könnte. Ohne Bilder wäre aber seine ganze Geschichte nicht viel wert.

Drittens: Wie erklärst du sein plötzliches Verschwinden von hier? Mal angenommen, Dekker hätte ihn hier irgendwie eingeschleust, wie wäre er aber dann wieder weggekommen? Wir haben jedes Sandkorn umgedreht und keine Spur von ihm gefunden.«

Er nickte.

»Selbst das Einschleusen wäre kaum möglich. Das Radar erfasst jedes Schiff und jedes Flugzeug, das näher als 10 Meilen an die Insel herankommt. So weit kann kaum einer schwimmen.«

»Aber Retos - ich meine Paulsens - Boot hat es nicht erfasst.«

»Nein. Nichts. Allerdings sagte er ja, dass er über Bord gespült wurde und längere Zeit im Meer getrieben ist. Das hat er sich nicht schlecht überlegt. Aber dass die Seglergeschichte stimmt, haben wir ja schon ausgeschlossen.«

Lange sahen sie übers Meer auf den kaum merklich gekrümmten Horizont hinaus.

»Kennst du eigentlich Dekkers Männer alle?«, fragte sie schließlich. Es hörte sich an, als sei ihr eine neue Idee gekommen.

»Du meinst...«

»Genau«, unterbrach sie ihn. »Vielleicht ist ja gar niemand gestrandet und auch gar niemand verschwunden. Vielleicht war es einer von seinen Männern, den er dir da angeschleppt hat und der ist immer noch hier auf der Insel.«

»Verblüffende Idee«, gestand er. Darauf bin ich noch nicht gekommen. Du bist eine ausgekochte Strategin.«

Sie lächelte geschmeichelt. Für ausgekocht gehalten zu werden, bereitete ihr keine Probleme.

»Aber leider hat dein Szenario, so elegant es auch ist, genauso einen Haken wie alle anderen«, fuhr er fort.

»Und der wäre? Kennst du all seine Leute?«

»Nein. Das nicht. Es wäre theoretisch schon möglich, dass er mir einen seiner Männer als einen soeben Gestrandeten verkauft hätte. Aber dann wüssten andere aus seiner Truppe auch darüber Bescheid. Ich habe eine sehr hohe Belohnung ausgesetzt für Hinweise, die zur Aufklärung dieses rätselhaften Vorfalls führen könnten. Jetzt, nach einer Woche, hat sich immer noch niemand gemeldet. Momentan sind auf der Insel etwa dreissig Mann von CrossFire stationiert. Einer von denen hätte mit Sicherheit geredet.«

»Da hast du wohl recht«, stimmte sie widerwillig zu.

»Das träfe dann aber auf so gut wie alle Tricksereien zu, die man Dekker zuschreiben könnte, richtig?«

»Richtig.«

»Sollen wir also dann glauben, was er aufgetischt hat?«

Er seufzte und hob die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit.

»Das fällt schwer, zugegeben. Aber wenn wir uns einmal - rein theoretisch - darauf einließen, zu welchen Ergebnissen kämen wir dann?«

Wieder sah man sie mit gerunzelter Stirn denken.

»Die Anfangsszene ist ja noch einfacher zu glauben«, stellte sie fest. »Aber der Abgang ist ein Brocken, der einem schwer im Magen liegt. Ziemlich unverdaulich. Kein Mensch auf diesem Planeten könnte so etwas. Oder doch? Vielleicht war es ein Versuch mit einer revolutionären neuen Technologie? Eine Demonstration, damit du darin investierst.«