Leifs letzte Reise - Herbert Fahrnholz - E-Book

Leifs letzte Reise E-Book

Herbert Fahrnholz

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Beschreibung

- Weil das stadtnahe Umland längst lebensfeindlich und unbewohnbar geworden ist, versucht ein Bauer sein Glück in der Großstadt, wo er ins Räderwerk eines feindselig agierenden Hydro-Kults gerät; - ein über das Land fahrender 3D-Drucker trifft mit seinem Hund auf einem abgelegenen Hof einen genialen, seiner Forschung ohne jeden Vorbehalt verfallenen Wissenschaftler, der mehr von ihm fordert, als er ihm geben will; - ein moderner Privatgelehrter und Feldforscher will am eigenen Leib erfahren, wie hart die Riesenstadt mit dem sozialen Bodensatz ihrer Bewohner umgeht, der mittellos tief unten in den Schluchten ihrer Straßen zu überleben versucht; - ein seltsamer Eremit im idyllischen Park eines schwerreichen Investors fasziniert esoterischen Ideen zugeneigte, sinnsuchende Stadtbewohner. Erstaunliche Szenarien mit eigenwilligen Charakteren in oft kuriosen Milieus: Wortmächtig und bildreich erzählt, sind die Stories dieser Sammlung im besten Sinn unterhaltend und regen den Leser zum Mit- und Weiterdenken an.

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Das Buch

Weil das stadtnahe Umland längst lebensfeindlich und unbewohnbar geworden ist, versucht ein Bauer sein Glück in der Großstadt, wo er ins Räderwerk eines feindselig agierenden Hydro-Kults gerät;

ein über das Land fahrender 3D-Drucker trifft mit seinem Hund auf einem abgelegenen Hof einen genialen, seiner Forschung ohne jeden Vorbehalt verfallenen Wissenschaftler, der mehr von ihm fordert, als er ihm geben will;

ein moderner Privatgelehrter und Feldforscher will am eigenen Leib erfahren, wie hart die Riesenstadt mit dem sozialen Bodensatz ihrer Bewohner umgeht, der mittellos tief unten in den Schluchten ihrer Straßen zu überleben versucht;

ein seltsamer Eremit im iyllischen Park eines schwerreichen Investors fasziniert esoterischen Ideen zugeneigte, sinnsuchende Stadtbewohner.

Erstaunliche Szenarien mit eigenwilligen Charakteren in oft kuriosen Milieus: Wortmächtig und bildreich erzählt, sind die Stories dieser Sammlung im besten Sinn unterhaltend und regen den Leser zum Mit- und Weiterdenken an.

Der Autor

Herbert Fahrnholz wurde 1949 in Regensburg geboren und studierte nach dem Abitur Psychologie. Ab Beginn der achtziger Jahre war er als bildender Künstler in den Bereichen Fotografie und Objektkunst, sowie Druck- und Computergrafik tätig.

Seit 2013 schreibt er Gedichte, Kurzgeschichten und Romane, die er mit eigenen Illustrationen ausstattet.

Die zwölf Erzählungen der hier vorliegenden Sammlung entstanden in den Jahren 2019 und 2020.

INHALT

Leifs letzte Reise

Trennschärfe Inc.

All you can eat

Neusparta

Die Edgar-Vermutung

Gelobt sei das Wasser

Noles unter Hanry

Von Herzen und Hunden

Marty

Die Zeit mit Vater Speck

Die Tirpitz

Der Wylie-Stream

Leifs letzte Reise

Er hatte keine Ahnung, wo sie ihn abgesetzt hatten.

Das war korrekt und richtig so, und nicht weiter beunruhigend.

Es gehörte zu den Grundvereinbarungen, nicht zu erfahren, wo man war, und sie gaben einem auch nichts mit, das geeignet gewesen wäre, es herauszufinden. Es habe sich nämlich gezeigt, so hieß es, dass die Scouts risikobereiter und kreativer agierten, wenn sie nicht wussten, wo sie sich befanden. Er argwöhnte allerdings, dass dies nicht der eigentliche Grund war, und sie mit dieser Maßnahme nur die Panikreaktionen und Meutereien vermeiden wollten, die es früher oft gegeben hatte, als man noch ankündigte, wohin die Reise gehen sollte.

Freilich fanden viele früher oder später doch noch heraus, wo man sie abgesetzt hatte. Aber dann war es zu spät, um noch aufzubegehren, zumal ja der Dienst im Senex-Korps freiwillig war. Ein wenig verhielt es sich dabei allerdings so wie mit der Fremdenlegion: Man trat freiwillig ein, gewiß, aber wenn man es tat, befand man sich meist in einer persönlichen Notlage, und man hatte es sich anders vorgestellt, als es dann kam.

Eine harte Holzbank, dunkel gebeizt, mit dem Geruch von Chorgestühl. Darauf war er erwacht, liegend und die Beine angewinkelt, denn die Bank war ein Stück zu kurz für ihn. Über ihm wölbte sich ein bleigefasstes Glasmosaik an der Decke, wie ein riesiger Tiffany-Lampenschirm, unerreichbar hoch oben, wie ihm schien, in vielen Grüntönen, Schilf und Sumpfpflanzen um einen Seerosenteich.

Das durchsickernde, gleichmäßige Licht und die Farben taten ihm gut, beruhigten seine Augen, machten ihn gelassener und erfüllten ihn mit einer grundlosen Zuversicht.

Fast widerwillig setzte er sich auf.

Zwar hielt er den Raum für sicher, aber man musste immer auf alles gefasst sein, so hatte man ihn belehrt, immer auf alles Mögliche vorbereitet, besonders auf das, was man bisher für unmöglich gehalten hatte.

Was war das hier für ein Ort?

Eine leere Halle, allein durch ihre Ausmaße von feierlicher, weihevoller Aura, wären da nicht die reichlich mit floraler Ornamentik verzierten gußeisernen Säulen gewesen, die das zentrale Gewölbe und einige kleinere Nebenkuppeln mit seltsam technoider Eleganz stützten.

So etwas kannte er nur aus Büchern, und er konnte dem Raum auch nicht mit letzter Sicherheit die Funktion zuordnen, die er einmal erfüllt haben mochte. Am wahrscheinlichsten erschien ihm noch, es könnte ein Bahnhof gewesen sein, in einer längst vergangenen Epoche freilich, als man solch blumige Ästhetik auch bei Zweckbauten noch schätzte und bewunderte.

Verbargen sich hinter den heruntergelassenen Eisenrollos Fahrkartenschalter? Vielleicht war es eine gute Idee, draußen nach Gleisen zu suchen. Er stand auf und spürte ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen. Die Bahnhofshalle, wenn es denn ein Bahnhof war, schrumpfte auf etwa die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe. Was vorher für eine Metropole repräsentativ gewesen wäre, reichte jetzt nur noch für eine mittlere Großstadt. Flügeltüren mit geätzten Glasornamenten, die er für den Haupteingang hielt, erwiesen sich als verschlossen. Dann eben in die andere Richtung. Irgendwie mussten sie ihn ja auch hereingeschafft haben.

Der Ausgang nach hinten führte auf einen Bahnsteig mit mehreren Gleisen. Rostigen Gleisen, in deren braunen Schotterbetten der Wildwuchs Dutzender von Pionierpflanzen anzeigte, dass hier schon lange kein Zug mehr gefahren war.

In seiner Jackentasche vibrierte der Kommunikator.

»Wie fühlst du dich?«

»Gut, dich zu hören, Vibes. Mein Kopf schmerzt. Und die Proportionen der Dinge um mich herum oszillieren.«

»Hmm. Nimm besser eine Vertikulin. Hast du frisches, sauberes Wasser gefunden?«

»Der Bahnhof ist schon lang außer Betrieb. Das Wasser ist ganz sicher abgesperrt. Aber ich könnte ja einen Kiosk aufbrechen. Vielleicht gibts da noch Reste von Mineralwasser.«

»Bist du immer noch dort, im Bahnhof?«

»Auf den Stufen zum Bahnsteig.«

»Hast du Anhaltspunkte dafür gefunden, wo man dich abgesetzt hat? Inschriften, Plakate, Anschläge?«

»Jede Menge. Alle in einer Schrift, die ich nicht kenne. Schön geschwungen, harmonisch, mit nichts vergleichbar, das ich je gesehen habe. Bewusst gesehen habe. Ich bin wohl weit weg von zuhause, Vibes.«

»Oh ja, das bist du wohl. Aber bist du denn je irgendwo zuhause gewesen?«

»Hmm, wie recht du hast. Nein, ich glaube nicht.«

»Pass auf dich auf. Sei vorsichtig bei allem, was du tust.«

»Bislang habe ich noch nichts gesehen, das mir gefährlich vorkam. Der Bahnhof ist wirklich schön. Hier gefällt es mir. Die Dinge erscheinen friedlich und gut.«

»Ja. Pass trotzdem auf. Alles ist möglich. Sie schicken keinen zur Erholung weg. Nicht euch. Nicht dich. Bis heute abend.«

Seine Vermutung, wo er Wasser finden könnte, bestätigte sich.

Er packte drei Flaschen in seinen Rucksack, nicht mehr, denn sie waren aus dickem Glas und deshalb ziemlich schwer. Damit konnte er an die drei bis vier Tage auskommen, dann sollte er eine neue sichere Quelle gefunden haben. Sonst musste er wohl Risiken eingehen, aber war nicht genau das der Grund, warum einer wie er hier stand?

Es dauerte eine Viertelstunde, bis das Vertikulin wirkte.

Dann waren alle Ränder seines Bewusstseins wieder sauber getrimmt, der Rasen gemäht und die Beete frisch geharkt.

Alles bestens, gesund und integriert, so wie es wohl sein sollte.

Er kämpfte sich durch das Buschwerk, das den Bahnhof umgab, bis hin zum verschlossenen Haupteingang. Quer über den mit großformatigen Steinplatten gepflasterten Vorplatz verlief eine lange Mauer, an die vier Meter hoch, mit mehreren Reihen von rostendem Stacheldraht obenauf. Zu beiden Seiten des Platzes verschwand sie in der üppig austreibenden Vegetation, die sich immer mehr zu einem undurchdringlichen grünen Filz verdichtete. Schwer zu sagen, wie lange das alles schon so dastand, vielleicht zwanzig, vielleicht aber auch vierzig Jahre, womöglich auch noch länger.

Eines war jedenfalls sicher: Niemand hatte es bislang hier herüber geschafft, denn es gab keine Spuren von Vandalismus, keine eingeworfenen Scheiben, keinen herumliegenden Müll, keine Graffitis, nichts dergleichen.

Nachdenklich musterte er die Mauer. Hatte es wirklich niemand geschafft, sie zu überwinden, oder hatte es nur keiner versucht, weil in der Gegend bekannt war, wozu es sie gab und wovor sie die Umgebung schützen sollte?

Die Sonne stieg höher am Himmel und der Dschungel um ihn herum begann zu dampfen.

Er folgte seinem selbst getrampelten Pfad wieder zurück bis zur hinteren Fassade an den Gleisen. In einer schattigen Nische war dort an der Backsteinfront eine kleine Wetterstation installiert. Das Thermometer zeigte 29 Grad an, bei einer Luftfeuchtigkeit von über 80 Prozent. Keine große Überraschung, denn so war das schon seit einigen Jahrzehnten. In den gemäßigten Breiten, versteht sich. In den heißeren Gegenden war es ein wenig ungemütlicher.

Er überlegte, wie sie ihn wohl hierher geschafft hatten.

Hatten sie ihn aus einem Helikopter abgeseilt? Aber wie war er dann ins Innere des Bahnhofs und auf diese Holzbank gekommen? Er fand keine Lösung und beschloss, das Problem zu vertagen. Schließlich war er nicht hier, um Antworten auf Fragen zu finden, die sie ohnehin schon kannten.

Trotzdem ließ das ungelöste Rätsel einen Stachel in ihm zurück. Der Urwald jenseits der Gleise war dicht und dunkel. Ihn hatte er zu durchqueren, um tiefer in das unbekannte Gebiet vorzudringen. In der Luft und am Boden gab es eine Menge krabbelnder und fliegender Insekten, und er erwartete, neben der entfesselten Flora auch eine überbordende und reichhaltige Fauna vorzufinden.

Aber dann fiel ihm auf, dass er noch keinen einzigen Vogel gesehen oder gehört hatte. Eine ganze Weile blieb er ruhig stehen und lauschte, aber da erfüllte nur Summen und Brummen die Luft, aber kein Zwitschern, Tschilpen oder Tirilieren. Seltsam. Aber wenn es hier wirklich keine Vögel gab, dann war dafür die so groß scheinende Zahl von Insekten sogar noch erstaunlich klein.

Die Sonne hatte inzwischen ihren Höchststand erreicht und es schien ihm eine gute Idee zu sein, sich nun auf den Weg durch den Wald zu machen, der zwar vor Feuchtigkeit dampfte, aber wenigstens schattig war und vielleicht doch eine etwas angenehmere Temperatur zu bieten hatte.

Kühlere Luft fand er dann allerdings nur in der Gleis-Unterführung, die mit weißen, hellblauen und goldenen Fliesen gekachelt war, die die floralen Ornamente der großen Halle oben in gleicher Stilistik fortführten. Auch hier war es sauber und ohne Spuren von Vandalismus, was ihn vermuten ließ, der Ort hier sei schon seit jeher abgeschottet und bewacht gewesen, auch schon während der Zeit, als die hohe Mauer noch nicht benötigt worden war und hier vielleicht rege Betriebsamkeit geherrscht hatte.

Der Urwald hinter dem Bahndamm erwies sich wenig später als Enttäuschung, was die Hoffnung auf ein verträglicheres Klima anging. Aber er entschädigte ihn dafür mit einer unglaublichen Vielfalt von exotischen Pflanzenarten. Inmitten tausender Grüntöne entdeckte man da fantastische Blüten und Früchte, deren verschwenderische Fülle an Farben und Formen die prächtigen Ornamente des Bahnhofs mit Leichtigkeit in den Schatten stellte. Und immer wieder schwirrten da schillernde Libellen und flatterten prachtvolle Schmetterlinge durch die feuchte Luft, krabbelten bizarre Käfer und plakativ gezeichnete Wanzen über Blattwerk, Rinde oder Wurzel: Insekten wohin das Auge auch blickte.

Und das waren nur die angenehmen Sorten, die interessanten, aber doch eher unaufdringlichen, die einen nicht belästigten, wie die Fliegen, die es auf seinen Schweiß abgesehen hatten, oder die Mücken, die sein Blut wollten.

Was mochte mit den Vögeln geschehen sein? Waren sie weggeflogen aus diesem Gebiet, vor irgendetwas geflohen, oder waren die Populationen nach und nach weggeschrumpft? Bei diesem Nahrungsangebot?

Oder hatten sich die Kerbtiere erst nach dem Vogelschwund so vermehrt? Jetzt schienen sie sogar ein wenig zum Riesenwuchs zu neigen, denn er sah immer wieder Exemplare, die ihm außergewöhnlich groß vorkamen. Meist waren das Arten, die sich ihrerseits von Insekten ernährten oder solche, die ihre Brut mit ihnen großzogen, wahre Ungetüme von Fangschrecken etwa, oder böse schnarrende, gigantische Schlupfwespen.

Hatten diese Spezies hier die Vögel ersetzt und wurden dabei immer größer, während sie gleichzeitig ein Entgleisen des Ökosystems verhinderten, indem sie die anderen Arten dezimierten?

Lag die Größe der Exemplare, die er beobachtet hatte, vielleicht doch noch im oberen Normbereich, und er überschätzte ihre Dimensionen, weil er damit rechnete, hier irgendetwas zu finden, das auf eine von Menschen verursachte Katastrophe schließen ließ? Oder schlimmer noch: Es veränderten sich bei ihm schon wieder die Proportionen der Dinge, trotz der Vertikulin, die er eingenommen hatte?

Das wäre übel gewesen, aber irgendwie glaubte er nicht daran, dass er die Dinge nur verzerrt wahrnahm. Dass hier etwas nicht stimmte, zeigte doch schon das Fehlen der Vögel an.

Und das schien noch nicht alles zu sein: Er fand auch keine Spuren von Säugern, von kleinen, wie Mäusen, Mardern oder Eichhörnchen, aber auch nicht von den großen, kaum zu übersehenden, wie Rotwild oder gar Wildschweinen. Besonders die neigten ja nicht dazu, sich zu verstecken, sondern brachen gern lärmend und in großer Zahl durchs Unterholz. Selbst in manchen Großstädten waren sie lange schon zur Plage geworden, weil sie nächtens in Horden durch die Straßen zogen und randalierten wie Betrunkene nach einem Junggesellenabschied. Aber da war nichts, keine Vögel und keine Säuger, nichts, das warmes Blut oder überhaupt so etwas wie Blut in sich hatte. Wie schafften es die Mücken nur, sich unter diesen Umständen trotzdem noch zu vermehren?

Er brach einen dünnen Ast ab und machte sich mit ihm den Weg frei zwischen den eng beieinander stehenden Bäumen, zerschlug damit die klebrigen Fäden, die oft dazwischen aufgespannt waren. An ihren Rändern lauerten Spinnen auf Beute, ungewöhnlich fette Spinnen, auch sie häufig überdimensioniert und mit Leichtigkeit in der Lage, selbst größere flugfähige Sechsbeiner festzuhalten und auszusaugen.

Auch die Spinnentiere hatten also überlebt, zumindest die leicht zu entdeckenden Webspinnen, und dämmten ihrerseits die ausufernden Bestände der Insekten ein.

Netze zerschlagend kämpfte er sich durch das feuchtschwüle Dickicht und kam leidlich gut voran. Doch dann wurde das Gelände sumpfig und erschwerte das Vorwärtskommen enorm. Gleichzeitig stieg die Zahl der Mücken explosionsartig an und erfüllte die von Feuchtigkeit tropfende Luft mit lautem, giftigem Summen.

So musste es damals an der Steinigen Tunguska gewesen sein, als Krupa, ein junger, ehrgeiziger Scout von grade mal hundertzehn, den Impakt-Krater gesucht und stattdessen den Beweis gefunden hatte, dass die Katastrophe nicht durch einen Asteroiden oder Kometen, sondern durch die Explosion einer riesigen Erdgasblase verursacht worden war. Aber während Krupa von den in dichten Wolken angreifenden Blutsaugern so sehr bedrängt wurde, dass er nur noch mit einem tragbaren Moskitonetz weitergehen konnte, interessierten sich die kreisenden Mückenschwärme hier nicht im mindesten für ihn. Freilich war er darüber nicht traurig, aber es verriet ihm, dass sich hier wohl schon Varianten durchgesetzt hatten, die auch ohne Blutmahlzeit für ihre Nachkommen sorgen konnten. Das, was ihre einstigen Wirte hatte verschwinden lassen, war also nicht erst gestern passiert, sondern lag sicher schon viele Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte zurück.

Er sollte wohl diese Beobachtung abends beim Rapport besonders hervorheben, vielleicht konnten die Ökobiologen und die systemischen Genetiker damit etwas anfangen.

Langsam sank die Sonne tiefer und die Hitze ließ nach.

Am Rand eines kleinen Sees fand er eine Blockhütte, und weil es schon dämmerte, beschloss er, dort die Nacht zu verbringen.

»Hast du einen sicheren Platz für die Nacht gefunden?«

»Ich denke, er ist wohl so sicher, wie es hier möglich ist.«

»Wie fühlst du dich?«

»Was soll ich sagen, Vibes? Es war ein sehr harter Tag und ich bin keine hundert mehr.«

"Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre das nur ein recht müder Witz gewesen."

»Tja, heute bin ich es, der müde ist. Es ist schon ein grausamer Scherz, dass einige aus meiner Generation genug Lebenszeit als Nachschlag bekamen, dass sie die Folgen ihres Tuns und Duldens nun selbst erleben müssen. Wir alle waren ja noch Verursacher, waren Täter, und dazu auch noch starrsinnige Verweigerer eines radikalen Kurswechsels.«

»Denkst du, man hat dich bestraft? Gott, die Vorsehung, das Schicksal, irgendeine höhere Macht?«

»Vielleicht Gaia, Mutter Erde persönlich. Weil wir Menschen sie so schlecht behandelt haben.«

»Bist du deshalb zum Korps? Um Buße zu tun? Als Wiedergutmachung?«

»Um die Zeit, die mir noch bleibt, sinnvoll einzusetzen. Ich versuche, das alles nicht zu persönlich zu nehmen. Wer hätte schon ahnen können, dass ausgerechnet ein Mittel gegen Hitzeempfindlichkeit, das Millionen eingenommen haben, bei einem von Zehntausend als Nebenwirkung gut fünfzig Jahre mehr Leben zur Folge haben könnte? Welche Macht auch immer dafür verantwortlich ist, sie hat einen sehr boshaften schwarzen Humor.«

»Klingt das nach einem, der die Dinge nicht persönlich nimmt?«

»Du hast ja recht, ich bin verbittert. Aber ich konnte es zuletzt wirklich nicht mehr hören, wir sollten uns freuen, dankbar sein, schließlich hätten wir ein halbes Jahrhundert an Lebenszeit geschenkt bekommen! Was sind schon fünfzig Jahre, hinten angehängt? Wir haben nicht das ewige Leben bekommen, und schon gar nicht die ewige Jugend! Es ist ein verzögerter Alterungsprozess, wir altern etwas langsamer, aber verdammt noch eins: wir altern! Mit allem was dazugehört.«

»Du kannst es als Geschenk sehen, oder als Last. Als Verpflichtung, oder als Chance. Gib der Sache die Bedeutung, die du für richtig hältst. Aber sei dir immer bewusst, Leif, dass du es bist, der das tut. Der deutet und interpretiert. Du bist ein Handelnder, kein Duldender. Was hast du bis jetzt herausgefunden?«

An die Kontaktperson eines Scouts wurden beim Korps hohe Ansprüche gestellt. Vibes wurde allen Anforderungen mehr als gerecht. Sie war die beste Begleitung, die einer wie er sich nur wünschen konnte, dessen war er gewiss. Sie war sehr einfühlsam, ahnte oft, was ihm auf der Seele lag, bevor er es selbst bemerkte, verhielt sich aber immer wohltuend rational, laberte und sülzte nicht, wie er es oft bei professionellen Coaches erlebt hatte. Darüberhinaus sortierte und analysierte sie fachkundig seine Beobachtungen und diskutierte sie mit ihm.

Entsprechend ernst nahm er denn auch ihre Warnung.

Was da Vögel und Säuger hatte verschwinden lassen, war vielleicht noch wirksam, da sonst längst schon wieder neue, unbelastete Populationen den Lebensraum dort besetzt hätten. Die Mauer wäre ja nur ein Hindernis für das Wild gewesen, nicht aber für kleine Nager oder gar Vögel.

Was also, wenn das Wasser verseucht war, mit einem Gift oder einem Virus, der nur für Warmblüter gefährlich war? Oder war die Warmblütigkeit gar kein Kriterium, und die Gefahr betraf auch andere Wirbeltierklassen, die wechselwarm waren, wie Reptilien, Amphibien oder Fische? Im Sumpfgebiet war er keiner Schlange begegnet, aber die waren oft sehr scheu. Hier am See sollte er nach Fröschen und Fischen Ausschau halten. Gestern in der Dämmerung, bis tief in die Nacht hinein, hatte er einen lautstarken Chor zirpender Grillen gehört, aber kein Froschkonzert.

Auch jetzt war kein Quaken zu vernehmen, und obwohl schon reichlich Mücken, Fliegen und Libellen dicht über der Wasseroberfläche ausschwärmten, sah man nicht einen einzigen Fisch aus dem Wasser schnellen, um sich eine fette Insektenmahlzeit zu holen. Früher musste es hier aber reichlich Fische gegeben haben, denn die Hütte, in der er übernachtet hatte, war ohne jeden Zweifel eine Fischerhütte. Davon zeugten Netze, Kescher und alte Angeln und Reusen, die man hier verstaut hatte.

Am seeseitigen Steg war ein altes Boot festgemacht, das ihm das Vorwärtskommen wohl erleichtert hätte, aber er misstraute dem morsch und brüchig aussehenden Kahn und beschloss, das Gewässer lieber in Ufernähe zu umrunden.

Er aß einen der geschmacklosen Energieriegel, die ihn mit allen wichtigen Nährstoffen versorgten, die sein Körper brauchte und im Magen aufquollen, um ihm das Gefühl zu geben, er sei satt. Er war dankbar für diese einfache Möglichkeit, seinen Hunger zu stillen, denn Essen war ihm schon lange vom Vergnügen zur Last geworden, und es erleichterte seine Aufgabe erheblich, wenn er nicht jagen, fischen oder sammeln musste, immer in Sorge, ob das, was er dabei fand oder erbeutete, auch ja ungiftig und genießbar war.

Er trank noch einen Schluck vom guten Mineralwasser aus dem Bahnhof, dessen Existenz ihm immer unwirklicher vorkam. Gab es ihn wirklich oder war er nur der Rest eines Traumes, den er kurz vor seinem Erwachen in dieser einsamen Wildnis geträumt hatte? Ohne die drei Flaschen Sprudel wäre er sich in dieser Frage gar nicht mehr sicher gewesen.

Er hängte sich den Rucksack um und brach dann in Richtung Norden auf, um tiefer in das Gebiet vorzudringen, mit dessen Erkundung man ihn beauftragt hatte.

Solange er sich auf der Höhe des Sees bewegte, veränderte sich die Landschaft nur wenig. Der dichte Wald reichte manchmal bis an das Ufer heran, dann wieder verwischten hohes Schilf und Sumpfpflanzen den Übergang vom Wasser zum Land.

Normalerweise wäre hier ein Eldorado für Wasservögel zu erwarten gewesen, aber er entdeckte kein einziges Exemplar, auch keine Molche oder Frösche, und das völlige Fehlen von Gezwitscher und Gequake, all den in vergleichbaren Biotopen üblichen Geräuschen, machte den Ort für ihn mehr und mehr zur surrealen Kulisse.

An einem Rohrkolben paarten sich in der Morgensonne zwei große, schillernde Libellen und formten dabei mit den Hinterleibern eine Herzform, die ihm auffiel. Gleichzeitig begann sein eigenes Herz zu rasen und zu stechen, verschlug ihm den Atem und zwang ihn in die Knie.

Er fasste sich an die Brust.

Innen und Außen flossen ineinander.

Die Grenzen verschwammen.

Er suchte in seinem Rucksack nach dem Vertikulin-Röhrchen und öffnete es hastig mit zitternden Fingern. Eine Kapsel bekam er zu fassen, den Rest verschüttete er. Zum Glück landeten die meisten im Rucksack und nur ein paar wenige auf der morastigen Walderde, unter all den dunkelgrünen, dickblättrigen Bodendeckern und schleimigen Pilzkolonien.

Nicht mehr verwendbar, weil kontaminiert mit wer weiß was.

Die Attacke ebbte ab, hatte ihn aber geschwächt.

Ängstlich besorgt beobachtete er seinen Herzschlag, den er nun als stolpernd und unregelmäßig empfand. Mit Atemzügen tief in den Bauchraum hinein versuchte er ihn wieder einzuregulieren, so wie er es in der Meditationsgruppe gelernt hatte.

Nach einiger Zeit besserte sich sein Zustand, sodass er weitergehen konnte. Aber er beobachtete noch immer argwöhnisch Puls und Kreislauf, obwohl er gewillt war, dem System wieder Vertrauen entgegenzubringen und es einfach arbeiten zu lassen, so wie es das hundertzwanzig Jahre lang zuverlässig getan hatte. Die hohen Bäume des Waldes machten kleineren Platz, je weiter er vorankam, und bald gab es fast nur noch Gebüsch, das sich mehr und mehr lichtete. Den See hatte er hinter sich gelassen, der Boden wurde trockener, und die Luft, mit viel weniger Feuchtigkeit getränkt, ließ sich jetzt leichter atmen.

Von der artenreduzierten Fauna sah er nun am häufigsten übergroße Schmetterlinge, manche davon so breit und lang wie sein Handteller. Sie besuchten eine blaue Blumensorte, die hier überall in großen Clustern wuchs und einen starken, süßlichherben Geruch verströmte, der ihn an das Atelier eines Malers erinnerte, mit dem er befreundet war.

Er pflückte eines der kniehohen Gewächse.

Aus dem hohlen Stengel quoll, wie bei einem Löwenzahn, milchiger Saft, der an den Fingern klebte und aufdringlich roch.

Der Geruch zog die Schmetterlinge offenbar wie magisch an, denn schon bald umkreisten sie ihn zu Dutzenden und wollten auf ihm landen. Er versuchte, die klebrigen Fingerspitzen wieder sauber zu bekommem und rieb sie an einem Moospolster, das unter den Blumen wuchs. Das frische, saftige Grün des samtweichen Kissens verfärbte sich zu einem unansehnlichen Graubraun. Das war nicht gut, denn gleichzeitig spürte er ein unangenehmes Brennen der Hautpartien, an denen die milchigen Tropfen hafteten. Das Zeug musste weg.

Er setzte seinen Rucksack ab und opferte fast eine halbe Flasche kostbares Mineralwasser, um sich die Hände zu waschen. Von den drei Flaschen waren jetzt nur noch zwei übrig. Aber das Brennen verschwand, und die großen Falter ließen von ihm ab.

Er aß einen Phönix-Riegel und ermahnte sich, etwas besonnener vorzugehen, denn überall konnten ihn neue Gefahren erwarten. Er hatte es hier mit einem Ökosystem zu tun, das sich offenbar durch ein folgenschweres Ereignis stark verändert und in eine neue, unbekannte Richtung entwickelt hatte, die für ihn nicht berechenbar war.

Nach ein paar Stunden Fußmarsch durch ermüdend eintöniges Gelände stieß er auf eine alte Straße, die nach Nordosten führte. Sie war kaum noch als Straße zu erkennen, denn die Asphaltdecke war an zahllosen Stellen rissig und aufgebrochen, eine günstige Gelegenheit für zähes, harthalmiges Gras und niedrige Kriechranken, sich über den grauen Belag herzumachen, ihn zu überwuchern und noch weiter zu zerbröseln. Begrenzungspfosten, Leitplanken oder Verkehrsschilder fehlten völlig und so spurlos, dass er annahm, es habe etwas derartiges an dieser Strecke noch nie gegeben. Sehr gut möglich, dass die Straße gar nicht ganz fertiggestellt geworden war.

Trotz alledem war der Verlauf der Trasse noch erkennbar und er beschloss, ihm zu folgen, denn irgendwohin musste diese Straße ja führen, vielleicht in eine Ortschaft oder zu einem Gebäude. Vielleicht endete sie ja auch nur im Nichts, aber was für eine bessere Option hatte er schon, sich in diesem völlig unbekannten Gelände zu orientieren?

Die Sonne hatte am bewölkten Himmel schon den Zenit hinter sich gelassen, und je länger er auf der zerfallenden Piste unterwegs war, ohne irgendeine Spur von menschlichen Artefakten zu finden, desto mehr machte er sich Sorgen, ob er bis zum Beginn der Dämmerung einen Platz finden würde, an dem er einigermaßen sicher die Nacht verbringen konnte. Unterwegs hatte er faustgroße Taranteln gesehen und schwarze Skolopender, beängstigend schnell, und so lang und dick wie sein Unterarm.

Die Aussicht, auf dem nackten Erdboden schlafen zu müssen, beschleunigte seine Schritte, obwohl er schon sehr müde war und seine Füße schmerzten.

Als es bereits begann, dunkel zu werden, tauchten am Horizont die Umrisse von Gebäuden auf. Beim Näherkommen entdeckte er in der dunstigen Silhouette erstaunliche Regelmäßigkeiten. Die Stadt oder Siedlung, auf die er zuging, bestand offenbar aus vielen baugleichen Elementen, deren Gestaltung er als einigermaßen bizarr empfand: Dreigeschoßige Gebäudewürfel mit jeweils einem runden und einem eckigen Turm, reichlich Geländern, Brüstungen und Balkonen und mit schwarzem Schiefer gedeckten, steilen Dächern. Dicht an dicht gesät wuchsen sie da aus dem Boden, erstarrt in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung, jeder einzelne Bau ein Schlößchen im Stil von Disneys Cinderella-Schloß. Das alles sah nach einer Investitionsruine aus, denn nichts deutete darauf hin, dass hier noch gebaut wurde. Nein, was hier stand, stand schon sehr lange da und würde nie mehr fertig werden. Vielmehr nagte schon der Verfall an den Elementen dieser absurden Ansammlung kleiner Märchenschlösser, das abblätternde Weiß der Fassaden war längst einem tristen Grau gewichen, über das Streifen vom Grünspan kupferner Fensterbleche und Dachrinnen ihre Spuren zogen. Die Dekoelemente aus Stuck sahen abgerundet und verwaschen aus, wenn sie nicht schon bröckelten oder gar in großen Platten abfielen. Wege und Plätze zwischen den Gebäuden waren nicht gepflastert oder asphaltiert, sondern staubige Flächen, auf denen sich Lupinen ausbreiteten.

In großer Zahl, gewiss, trotzdem hätte er hier noch weit mehr Vegetation erwartet, wenn denn wirklich alles schon so lange wucherte, wie es der angegriffene Zustand der Fassaden vermuten ließ.

Planlos irrte er durch die endlosen geklonten Gebäudezeilen.

Doch kurz bevor es völlig dunkel wurde, fand er ein Traumschloss, das schon mit fertig verglasten Fenstern und einer massiven Tür aufwarten konnte und verbarrikadierte sich dort.

»Erstaunlich! Wie kann ich mir das vorstellen? Wieviele dieser Schlösschen gibt es denn dort?«

»Hunderte, schätze ich. Ich werde morgen, wenn es wieder hell ist, auf einen der Türme steigen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Wie ist es nur möglich, dass ein Baustil, den wir für sich alleine genommen ganz originell, schlimmstenfalls etwas geschmacklos finden, in dieser grotesken Anhäufung zu einem Albtraum wird, der einem schwer aufs Gemüt drückt?«

»Hmm, vielleicht liegt es daran, dass uns ein Schloss, selbst ein kleines, immer ein ganz besonderer Wohnort für besondere Menschen sein muss. Für Prinzessinnen, Prinzen und Könige. Als Massenware verläßt es seinen märchenhaften Hintergrund und zerstört unsere Träume.«

»Und das verzeihen wir nicht. Gut möglich, dass es so ist. Kein Wunder jedenfalls, dass diese Siedlung des Grauens niemals fertiggestellt wurde. Wer wollte hier schon wohnen?«

»Wie war dein Tag denn sonst?«

»Anstrengend, sehr anstrengend. Und das nicht allein physisch. Für meine hundertzwanzig bin ich sehr gut zu Fuß. Aber wenn man stundenlang alleine monotone Landschaften durchquert, kommen einem viele Dinge in den Sinn. Das ist die wahre Qual des Alterns. Die ganzen Erinnerungen, die schon so schön verblasst und fast verschwunden waren, alle sind sie auf einmal wieder da. Nichts Großes, keine schwere Schuld, auch kein dramatisches Versagen. Nein, es sind eher kleine Dinge, die mich quälen, miese kleine Feigheiten, dumme Reden, alberne Taktlosigkeiten. Peinliches, kleinliches Versagen, das schon zugehängt war mit einem dekorativen Überwurf. Das alles kommt nun nach und nach zurück und plagt mich, zeigt mir, was für ein peinlicher Mensch ich doch war. Und wie soll ich sicher sein, dass ich das nicht noch immer bin? Seinerzeit ist es mir ja auch ziemlich lang entgangen.«

»Ist denn die Fähigkeit zur Selbstkritik nicht eine, die du bei anderen positiv bewertest? Also was ist schlimm an dem, was sich jetzt bei dir tut? Es bedeutet, dass du lernst. Und was diese Kleinigkeiten von früher betrifft, die dich so quälen: Hast du einmal daran gedacht, wie die anderen waren, die du damals kanntest? Gut, mag sein du warst manchmal wirklich peinlich. Doch was ist mit den anderen? Die vielleicht auf eine andere Art peinlich waren, aber um keinen Deut weniger? Wie viele fallen dir da ein? Ich nehme an, du hast nur gut im Mittelfeld gelegen, bei all der harten Konkurrenz in Wettstreit um den Goldpokal der Peinlichkeit.«

»Du bringst mich zum Lachen, Vibes! Rückst wieder mal die Bilder grade. Ich frage mich manchmal, ob du wohl wirklich das bist, wonach du klingst: Eine junge Frau? Ich kann dich oft nur schwer hören, ganz schwach und weit entfernt.«

»Ich bin was immer du willst. Was du dir vorstellen magst.«

Von Überblick konnte keine Rede sein.

Da alle anderen Gebäude ringsum genau so hoch waren und alle zwei Türme hatten, genau so hoch wie der, auf dem er stand, sah er nichts als einen Wald von Türmen. Unmöglich, die Anzahl der Gebäude genau anzugeben, denn von seinem Standpunkt aus konnte er nicht einmal den Waldrand sehen.

Wenn er sich auf sein Gefühl verließ, seine Intuition, war er sich aber sicher, dass die Siedlung, Stadt, Urbanisation - ja, was war das denn nun eigentlich? - aus vielen hundert Einzelelementen bestand. Hätte man von ihm verlangt, sich festzulegen, wäre seine Schätzung wohl an die achthundert gewesen.

Er stieg wieder nach unten, setzte sich auf die letzte Treppenstufe und dachte nach. Die Häuser zu durchsuchen schien ihm nicht sinnvoll, intuitiv wiederum, weil er keinerlei Lust darauf verspürte. In dieser geronnenen Woge des Wahnsinns würde er keine Hinweise darauf finden, was sich hier einmal ereignet hatte. Vielleicht war es am besten, die Siedlung einfach in nördlicher Richtung zu durchqueren und dann nach einer Straße zu suchen, ähnlich der, die ihn hergeführt hatte. So fand er, wer weiß, noch weitere ›Sehenswürdigkeiten‹, und wenn er Glück hatte, darunter auch Spuren, die Antworten gaben auf die zahlreichen Fragen, die sich in ihm aufgestaut hatten.

Der Tag versprach, heiter und weitgehend wolkenlos zu werden, sodass er sich gut am Stand der Sonne orientieren konnte. Also nahm er einen Energieriegel und einen kräftigen Schluck Mineralwasser zu sich und ging durch das schwere Holztor auf die Straße hinaus.

Die Stille, die ihn empfing, war unirdisch. Nicht schlimmer als die im Haus, aber unerwarteter und ungewohnter. Die tiefstehende, grelle Morgensonne warf lange Schatten in die staubigen Straßen. Was hätte er jetzt für Vogelgezwitscher gegeben, für Hundegebell, Kinderlachen, oder sogar das Gezänk streitender Eheleute. Vielleicht, überlegte er, war doch die Einsamkeit der ärgste Feind des Prolongierten, dem der Tod schon alle, die ihm je wichtig waren, entrissen hatte.

Freunde, Frau und selbst die Kinder.

Weit und breit war kein lebendes Wesen zu sehen.

Er versuchte, die Richtung nach Norden zu halten, was nicht immer leicht fiel, denn die Straßen kannten keine Regelmäßigkeit, sondern verliefen kreuz und quer, als wollten sie der Uniformität der Bebauung eine wilde, anarchische Richtungsvielfalt entgegensetzen. Überhaupt, so fiel ihm auf, gab es hier keinerlei Infrastruktur, keine Läden, Kaufhäuser, Cafes, Restaurants, Bushaltestellen oder Taxistände, nichts, das auch nur ein Minimum an urbaner Wohnqualität garantiert hätte.

Warum war man hier so unglaublich versessen darauf gewesen, immer und immer wieder denselben fragwürdigen Entwurf zu realisieren, als würde er besser, wenn man ihn nur oft genug wiederholte? Er wurde nicht schlau aus diesem Ort und er spürte, wie sehr ihn dessen unmenschliche Gleichförmigkeit verwirrte und mental überwältigte.

Er nahm den Rucksack ab und warf eine weitere Vertikulin ein. Er nahm das Mittel derzeit häufiger, als es die Ärzte für vertretbar hielten, aber in seinem Alter brauchte er wohl mögliche Langzeitnebenwirkungen nicht mehr groß zu fürchten. Bis das Medikament wirkte und ihn wieder stabilisierte, hatten allerdings noch einige unerfreuliche Gedanken Zeit, sich in sein Bewusstsein zu drängen. Etwa der entmutigende Zweifel, ob es denn wirklich viel brachte, Greise ohne große Kenntnisse und ohne besondere Ausrüstung alleine loszuschicken, um Vorfälle aufzuklären und Gegenden zu erkunden, für deren gründliche Erforschung man gut ausgestattete Expeditionen hervorragender Spezialisten benötigt hätte?

Bei den Senexianern war man felsenfest davon überzeugt, dass es sinnvoll war, oder man tat wenigstens so, als sei man es. Ihm selbst dagegen kam jetzt immer öfter der Gedanke in den Sinn, dass das Korps vielleicht nichts anderes war als eine Art Organisation für Sterbehilfe. Wer sich in seine Obhut begab, fühlte sich noch einmal gebraucht und wichtig, und riskierte sein Leben für eine sinnvolle Aufgabe, begleitet von einer kompetenten und warmherzigen Person, die ihn seelisch betreute.

Die Psychopille begann jetzt zu wirken. Er spürte das Anfluten als wohlige Welle, die seinen ganzen Körper durchlief, aus der Mitte des Bauchs heraus bis hinein in die Zehen-, Finger- und Haarspitzen.

Natürlich war das Unfug mit dem Korps als einer palliativen Einrichtung. Schließlich hatten ja nicht wenige Mitglieder der Greisentruppe schon gezeigt, welche Taten zu vollbringen sie fähig waren. Da gab es nicht nur Krupa an der Steinigen Tunguska, da war auch noch Karl Knirsch, der am Unterlauf des Orinoko das sagenhafte Eldorado entdeckt hatte, das vor ihm keiner hatte finden können, noch nicht einmal die extrem goldgierigen Spanier. Oder die famose Hannah Opta, die auf Santorin Atlantis gefunden hatte. Und viele andere mehr.

Dennoch würde er beim nächsten Kontakt Vibes zu dieser Einschätzung befragen, allein schon deshalb, weil er gern hören wollte, wie klug und überzeugend sie ihm seinen bösen Verdacht ausreden würde.

Sein Kopf fühlte sich so heiß an, als hätte er Fieber, wie schon öfter in den letzten Tagen. Aber nicht einmal ein Thermometer hatten sie ihm mitgegeben, damit er seine Körpertemperatur kontrollieren konnte. Und wozu auch. Was hätte es ihm schon genützt, wenn er es nun gradgenau gewusst hätte? Sicher setzte ihm nur das Klima zu, die Hitze, die in diesen Breiten schon vor dem Mittag an die dreißig Grad erreichen konnte, im Mikroklima dieser Siedlung vielleicht sogar noch mehr.

Und er war eben auch sehr hitzeempfindlich, darum hatte er ja auch das verfluchte Aureotropicon eingenommen, dem er seine Zusatzration an Lebenszeit verdankte.

Beharrlich versuchte er, weiter die Nordrichtung zu halten, bog dazu nach links ab und ging, sobald es möglich war, wieder nach rechts. Er wiederholte dieses Manöver einige Male, dann stieß er auf eine lange, gerade Straße mit freier Sicht auf das Gelände, das vor ihm lag.

Dort vorn war der Rand der Siedlung, dort hörte sie auf, war sie plötzlich zu Ende. Wie abgehackt, abrupt und übergangslos. Sie endete dort so unnatürlich, wie sie auch sonst war, in allen Belangen, die einem überhaupt einfallen konnten.

Kurz bevor sich die Straße zur Ebene hinaus öffnete, bemerkte er eine seltsame Veränderung in der baulichen Ausführung, die sonst so sklavisch uniform war und alle Elemente vollkommen identisch aussehen ließ.

Den letzten drei Schlösschen rechts der Straße fehlte jeweils das Gegenstück auf der linken Seite, und sie wirkten wie eine Ergänzung, ein unpassender Nachklapp zu dem, was eigentlich ja schon fertig war. Oberflächlich glichen sie zwar den übrigen Gebäuden, sahen aber bei näherem Hinsehen aus wie die nicht ganz geglückten Versuche einer anderen Baukolonne, ihrerseits den anscheinend obligatorischen, einzig gültigen Plan umzusetzen und damit den fertigen Bestand möglichst genau nachzuahmen.

Nur: Was mochte das wohl für eine Truppe gewesen sein, die für die Erstellung dieser irrwitzigen Hausattrappen verantwortlich war, denn, wie er bei näherer Betrachtung feststellte, hatte sie dabei jedes Verständnis für den Sinn und die Funktion einer menschlichen Behausung vermissen lassen.

Beim ersten der drei dazugeschusterten Häuser stimmte schon die Größe nicht. Es war deutlich kleiner als die Originale und auch die Proportionen wirkten verzerrt, sodass er kurzzeitig erschrak und befürchtete, es oszillierten schon wieder die Dinge um ihn herum, und die Wirkung der psychotropen Droge sei bereits verflogen.

Aber das konnte nicht sein, denn er sah all die anderen Häuser ganz normal, nur nicht dieses, und das zweite hingepfuschte Imitat direkt daneben. Auch da waren einige Linien und Fluchten aus dem Lot, wenn auch die Größe schon fast stimmte.

Erst das dritte wirkte zunächst leidlich gelungen, aber das Material gab ihm Rätsel auf. Als er eine Wand abklopfte, klang es etwas hohl, obwohl alles solide, fest und hart schien und nichts dem Druck seiner Finger nachgab. War das Erde, mit feinen Holzfasern vermischt, und einer Art Leim als Bindemittel? Was verursachte wohl die unterschiedlichen Abstufungen von Grau und Braun? Und was hatten die dünnen, waagerechten Linien zu bedeuten, die sich da überall zeigten, schwach, aber doch gut erkennbar, Linien die ihn an die feine Schichtung eines Baumkuchens erinnerten?

Eine weitere Kuriosität waren die Fenster.

Deren Scheiben waren stumpfschwarz, wie die meisten rundum, als sei es einfach nur dunkel in den Zimmern dahinter. Nur waren diese hier gar nicht aus Glas, es spiegelte sich nicht die Umgebung in ihnen, und sie waren auch nicht durchsichtig, so, wie man es von ganz gewöhnlichen Fenstern mit lichtdurchlässigen Scheiben erwartet hätte.

Und das war noch nicht alles: Wenn man genau hinsah, stellte man fest, dass sogar das fundamentale Konzept einer Tür oder eines Fensters als verschließbare Öffnungen in einem Gebäude, das doch wirklich nicht schwer zu verstehen war, dieser Baukolonne offenbar nicht vertraut gewesen war. Denn was da die Fassaden zierte, waren nur grotesk missverstandene Imitate, denen die allerwichtigste Eigenschaft von Türen fehlte, die aber auch, neben der erhellenden Funktion, für Fenster nicht unbedeutend war: Sie ließen sich allesamt nicht öffnen.

Waren dafür gar nicht gebaut! Öffnen war nicht vorgesehen.

Was hatte das alles zu bedeuten? War hier am Ende gar nicht Unvermögen, sondern volle Absicht am Werk gewesen? Denn diese drei letzten, wohl erst später hinzugefügten Skulpturen von Häusern empfand er fast schon als ironischen Kommentar zu der ganzen verkorksten Siedlung.

Kunst am Bau als Abrechnung mit den Architekten und dem Bauherrn? Er hätte gern das Innere der unheimlichen Artefakte gesehen, fand aber keine Möglichkeit hineinzukommen. Und vermutlich gab es da drinnen auch nichts weiter als Leere und Dunkelheit.

Er ließ die kuriose Siedlung hinter sich und machte sich auf die Suche nach einer Straße. Nach einer, wenn auch noch so rudimentären alten Piste, die ihn von hier fort und weiter nach Norden führen würde.

Nach einer halben Stunde fand er eine und folgte ihr.

Das Gelände wurde hügeliger und die allgegenwärtigen Lupinen waren schon kurz hinter der Ortsgrenze von mannshohen grünen Büschen abgelöst worden, die Unmengen von weißen Beeren trugen und zusammen mit den verschiedensten Gräsern das Bild der Landschaft prägten, soweit das Auge reichte.

Die Früchte sahen aus wie die Schneebeeren, die er aus seiner Kindheit kannte, allerdings waren sie etwas größer und knallten schon, wenn sie zu Boden fielen und auf Steine oder Reste der alten Asphaltdecke trafen. Sie kräftig gegen eine harte Oberfläche zu schleudern war gar nicht notwendig.

Da die Büsche entlang der Straße dicht an dicht standen, war ein anhaltendes, unregelmäßiges Knattern zu hören, als hätte jemand Miniknaller-Ketten gezündet.

Sobald die Beeren zerplatzten, gaben sie das unerwartet dunkle Innere preis und es stürzten sich Wolken von großen, metallisch rot schimmernden Fliegen auf die Überreste, offenbar angelockt von dem strengen Geruch nach Jodtinktur, den die schleimige Fruchtmasse verströmte.

Obwohl er den Duft eigentlich mochte, erinnerte er ihn doch sehr stark an die schmerzhaften Prozeduren, die er als Kind erduldet hatte, wenn ihm ein Wattebausch, getränkt mit der braunen, aromatischen Flüssigkeit, auf das aufgeschürfte, blutende Knie gedrückt wurde, um die Wunde zu desinfizieren.

Prompt fingen jetzt seine Knie wieder an zu brennen, und es überkam ihn ein gieriges Verlangen nach den Schokolinsen, mit denen er nach solchen Eingriffen immer getröstet worden war. Weit entfernte, schon verblasste Episoden, frühe Szenarien der Kindheit kamen ihm so wieder nah, während er das Knattern und Summen durchschritt, und die sinkende Sonne seinen langsam wachsenden Schatten immer mehr nach Osten zu ausgerichtet auf das Buschwerk am Wegesrand warf.

Er erinnerte sich an einen Nachmittag, warm, träge und windstill wie dieser. Es war ein Samstag, und er war vier oder fünf gewesen. Sein Vater hatte ihn auf einen Spaziergang mitgenommen, über den eisernen Fußgängersteg zur grünen Insel im Fluss, die ihn so faszinierte, weil sie ein Stück Wildnis war inmitten der Stadt. Als sie sich auf den Rückweg machten, war er vom Herumtoben müde und weinerlich, und Vater hatte ihn auf seine Schultern gesetzt, aus Mitgefühl, und um größeres Aufsehen zu vermeiden. Von diesem Hochsitz aus sah er ein Motorrad, wie es in die Uferstraße bei der Brücke einbog. Er sah das dumpf bollernde Gefährt noch genau vor sich, die chromblitzenden Auspuffrohre, den großen Scheinwerfer und das geschwungene Schild mit der Nummer auf dem Schutzblech über dem Vorderrad, das sich so elegant dessen Krümmung anpasste. Und er sah den jungen Mann auf dem Sitz, mit dem vor Stolz geröteten Gesicht. Stolz, der sich, wie er später verstand, auf die brutale Kraft der Maschine gründete, und auf sein Können, mit dem er das röhrende Monster beherrschte.

Vater und er hatten erst ein kurzes Stück des Stegs hinter sich gebracht, da hörten sie ein nervenzerfetzendes Quietschen und dann das harte, dumpfe Geräusch eines Aufpralls, das er sofort richtig deutete, obwohl er es noch nie zuvor gehört hatte. Kurz nur, ganz kurz, war es unwirklich still, dann wurde entsetzt geschrieen und aufgeregt gebrüllt, und sein Vater rannte unwillkürlich ein paar Schritte zurück, um besser zu sehen, was da passiert war. Aber er, Leif, ganz oben auf seinen Schultern, sah es zuerst, und das Bild brannte sich ihm ein, unauslöschlich bis auf den heutigen Tag. Das Motorrad lag auf der Seite, das Vorderrad drehte sich noch, und der Fahrer trug eben ein kleines Mädchen an den Straßenrand, das ein rosa Kleid anhatte und schlaff in seinen Armen hing. Er war kalkweiß im Gesicht, bis auf zwei rote Flecken auf den Wangen, doch war es nicht mehr Stolz, der sie hervorrief. Leif wusste erst viel später, was es war: Der junge Mann war gezeichnet vom plötzlichen, überwältigenden Erkennen der Schuld, die er für den Rest seines Lebens mit sich herumtragen würde.

Sein Vater merkte schnell, dass dies kein Anblick für ein Kind war. Er murmelte etwas von ›zu schnell gefahren‹, drehte sich um und beeilte sich, die Unfallstelle hinter sich zu lassen. Den Fragen seines Sohnes wich er aus, und besonders die eine, ob das kleine Mädchen tot sei, verneinte er so schnell, dass dem aufgewühlten Fragesteller Zweifel kamen. Doch das Schicksal des verunglückten Kindes war es ohnehin nicht, was ihn damals am meisten beeindruckt hatte. Nein, was ihn am meisten traf, war das Gesicht des jungen Mannes, das ihm die schrecklich enge Nachbarschaft von Freude und Leid gezeigt hatte. Damals war etwas mit ihm geschehen, durch den Anblick dieses jähen Sturzes, vom stolzen Hochgefühl des Könners tief hinab in die selbstquälerische Reuehölle des leichtsinnigen Täters, aus der es keine Rettung durch barmherziges Verzeihen gab.

Eine dicke Beere, von einem weit über die Straße hängenden Zweig gefallen, zerplatzte mit lautem Knall an seinem Kopf und riß ihn aus seinen Gedanken.

Sofort umkreiste ihn ein Schwarm roter Fliegen.

Er ruderte mit beiden Armen, um sich der lästigen Plage zu erwehren, aber erst, als er den Fruchtschleim mit einigen Blättern abgerieben hatte, waren seine Bemühungen erfolgreich.

Er roch nun selbst stark nach Jod in alkoholischer Lösung, aber der Geruch der Tinktur, den er ebenso mit Schmerzen verband als auch mit deren Linderung, verweigerte ihm die Heilung und konnte die Wunde in seinem Kopf, die nach so vielen Jahren wieder aufgerissen war, nicht verschließen.

Nach einem weiten Rechtsbogen endete die Straße abrupt und unerwartet am Ufer eines Flusses, der an dieser Stelle fast hundert Meter breit zu sein schien.

Drüben sah man in einiger Entfernung im Dunst ein flaches, aber sehr ausgedehntes Gebäude, das dem Schloss von Versailles bei Paris glich, oder seiner kleineren Nachahmung auf dieser Insel in einem deutschen See. Schon wieder ein Schloss? Nur diesmal alleine dastehend, und vielleicht nur deshalb ästhetisch geglückter?

Er rätselte, ob er sich wirklich an einem Fluss befand und das Land da drüben, auf dem das Schloss stand, zu dessen anderem Ufer oder aber zu einer Insel gehörte, die von Wasser umgeben war, Fluss oder See, was immer es auch sein mochte.

Es gab keine Brücke, nur eine Motorfähre an einem Führungsseil, die wohl auch für größere Fahrzeuge geeignet war.

Und sie lag drüben auf der anderen Seite.

Auf der seinen gab es nur eine befestigte, aber schon recht verfallene Anlegestelle, die sanft in die gemächlich dümpelnden Fluten hineinführte, und außerdem ein einfaches, bescheidenes Häuschen, das vermutlich einmal der Fährmann bewohnt hatte. Wenn das Schiff aber nun drüben lag, hieß das, dass sich dort noch jemand aufhielt? Er dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass sich nichts daraus ableiten ließ, auf welcher Seite das Fährschiff nun lag. Es war ja noch nicht einmal sicher, ob das jenseitige Ufer wirklich zu einer Insel gehörte.

Es würde nicht leicht werden, dort hinüber zu kommen. Und wollte oder sollte er das überhaupt? Aber gewiss. Was sonst gab es denn wohl zu tun, als zu erforschen, was immer er vorfand.

Die untergehende Sonne färbte schon den westlichen Horizont blutrot. Zeit, sich auf die Nacht vorzubereiten.

Er ging auf das Fährmannshaus zu und drückte die Klinke der Haustür herunter. Sie war abgeschlossen, schien aber morsch zu sein. Also nahm er einen kurzen Anlauf und trat sie ein.

»Mir scheint, im Alter quälen uns nicht nur vermehrt unsere eigenen Dummheiten, sondern auch noch die der anderen.«

»Dieser Unfall scheint dich stark berührt zu haben.«

»Oh ja. Ich bin dem jungen Mann später noch oft in der Stadt begegnet. Nie hat er gelächelt, immer wirkte er sehr ernst und bedrückt.«

»Hast du je herausgefunden, ob das Mädchen nicht doch überlebt hat? Vielleicht war es ja gar nicht so schwer verletzt, stand nur unter Schock, und ist in Frieden und Glück noch sehr alt geworden?«

»Du säst Zweifel an Gewissheiten, die mir lieb und teuer geworden sind. Woher käme denn dann das Elend dieses jungen Mannes?«

»Dafür kann es viele Gründe geben. Vielleicht hast du auch das, was er von sich zeigte, nur einseitig gedeutet. Aber glaub, was immer du glauben willst.«

»Jaja, ich verstehe. Das, was mich quält, ist nicht außerhalb von mir. Ich selbst bin es.«

»Du weißt es ja, Leif.«

»Ja. Aber zunehmend weiß ich weniger. Nimm zum Beispiel das Senex-Korps. Ich glaubte immer zu wissen, dass es Orte untersucht, an denen das Ökosystem grob entgleist ist oder riskante Klimatechnikversuche gescheitert sind. Dass es Scouts dorthin entsendet, die zu alt sind, um noch viel verlieren zu können, aber fit genug, um noch von Nutzen zu sein. Besonders Prolongierte seien dafür geeignet, dachte ich. Aber vielleicht ist ja alles ganz anders? Kennst du Kirchner? Marvin Kirchner?«

»Tut mir leid, Leif. Was ist mit ihm?«

»Er ist auch ein Prolongierter. Und Scout im Korps. Ist erst vor kurzem nicht mehr zurückgekommen. Er meinte einmal, wir hätten uns wohl zusammen mit dem verlängerten Leben einen massiven Schuldkomplex eingefangen. Wir entstammten einer Generation, in der Profit mehr zählte als eine intakte Umwelt, kämen aus genau der Zeit, in der man das Steuer vielleicht noch hätte herumreißen können, und wir alle hätten ein chronisch schlechtes Gewissen wegen der fünfzig Extrajahre. Senex, so meinte er, das sei in Wahrheit nichts anderes als eine karitative Einrichtung zur psychischen Betreuung der Prolongierten, finanziert auf der Grundlage einer außergerichtlichen Einigung mit der Pharmafirma, die uns durch ihr ach so famoses Aureotropicon versehentlich auch die Verlängerung beschert hat.«

»Wow! Ein interessanter Standpunkt. Wie denkst du darüber?«

»Ich weiß nicht. Schwer zu sagen. Manchmal denke ich, es ist völliger Unsinn. Und dann wieder finde ich es recht schlüssig.«

»Was findest du denn unsinnig? Und was leuchtet dir ein?«

»Nun, das mit der Finanzierung als außergerichtlichem Deal, das klingt mir zu sehr nach Verschwörungstheorie. Hätte man nicht schon davon hören müssen? Wer sollte denn die Interessen der Prolongierten vertreten haben? Wir haben doch keinen Verband und keine Lobby, soweit ich weiß. Aber eine getarnt arbeitende Forschungsgruppe, die uns studiert, unsere Physis und unseren Alterungsprozess, unsere Psyche und unser Sterben, das erscheint mir doch sehr plausibel, so wie ihr uns durch Testbatterien und Screenings hetzt.«

»Und ich, wäre ich denn auch eingeweiht in diese geheimen Studien?«

»Nicht zwingend in die Untersuchung als Ganzes. Erzählte man dir genau dasselbe wie uns, würde das an deinem Job vielleicht gar nichts verändern. Vieleicht wäre es sogar besser, euch nicht vollständig einzuweihen, weil ihr viel authentischer wirkt, wenn ihr nicht das Gefühl habt, uns zu hintergehen.«

»Aber ihr seid doch nur so wenige! Nur einige Hundert. Wärt ihr denn nicht viel zu wertvoll, um euch solchen Risiken und Gefahren auszusetzen?«

»Es werden ja nicht alle ausgesendet. Ich kenne nur eine Handvoll Scouts, die wirklich draußen waren und große Dinge getan haben. Vielleicht veranstaltet man ja mit denen, die nicht geeignet sind, nur Bingo-Nachmittage oder Butterfahrten mit Heizdeckenverkauf.«

»Du bist ein Witzbold, Leif. Aber ich kann die Zweifel, die dich plagen, gut nachvollziehen. Auch ich frage mich manchmal, was ich denn hier tue. Aber dann denke ich wieder, dass das Konzept gut durchdacht ist und wir uns vertrauen sollten. Ihr seid besondere Menschen. Wir sind uns dessen sehr bewusst.«

In der frischen Helle des Morgens untersuchte er noch einmal alles, was auf seiner Seite zur Fähre gehörte und entdeckte dabei ein zweites Seil, das neben dem starken Halteseil für die Fähre über das Wasser führte. An diesem etwas dünneren Seil hing eine merkwürdige Vorrichtung, die er am Vortag in der Dämmerung übersehen hatte.

Eine eiserne Leiter ermöglichte ihm den Aufstieg zu einer kleinen Plattform mit Geländer, die am Haltemast auf etwa zwei Dritteln von dessen Höhe befestigt war.

Von dort aus nahm er das simple Gerät genauer unter die Lupe.

Es war eigentlich nicht viel mehr als ein senkrechter Stab mit einer Querstange in der Mitte, an dem oben eine Rolle befestigt war, durch die das Seil lief. Eine Art Übersetzung sorgte offenbar dafür, dass die primitive Konstruktion mit den beiden händisch zu bedienenden Kurbeln, wie man sie manchmal auch an Rollstühlen sah, am Stahlseil entlang bewegt werden konnte. Die ganze Vorrichtung war in einem sehr schlechten Zustand: rostig, klapprig und dreckig. Alles in allem sicher kein Hilfsmittel, dem man sich gern anvertraut hätte. Sollte man dennoch so tollkühn sein, es zu benutzen, konnte es schlimmstenfalls passieren, dass man in der Mitte des Seils über dem Fluss hängenblieb und keine Möglichkeit mehr hatte, den Apparat noch weiter fortzubewegen. Oder aber die Rolle brach ab und man stürzte gleich in die Tiefe, etwa zehn Meter, grob geschätzt. Ein weiteres Handicap war sein Rucksack. Der würde ihn in die Tiefe ziehen, falls es so weit kam, dass er schwimmen musste. Aber er wollte ihn nicht zurücklassen und vorschnell aufgeben. Die Chancen, drüben heil anzukommen, standen also nicht gerade gut, aber wofür war er ein Senex-Scout, wenn nicht für genau solche Situationen? Um gefährliche Aktionen zu wagen, und um notfalls auch seine Zugabe zum Leben bei einer Expedition aufs Spiel zu setzen?

Er zog das kreuzförmige Gerät etwas zurück, schwang ein Bein über die marode, oxidierte Querstange und stieß sich mit dem anderen kräftig von der Plattform ab, bevor er es über die Sitzstange nachzog. So saß er schließlich rittlings auf der morschen Konstruktion und setzte sich schwerfällig in Bewegung.

Das Kurbelpaar über seinem Kopf drehte sich, hatte also keinen Leerlauf, aber noch ausreichend Grip am Seil.

Durch sein Gewicht und weil das Seil etwas durchhing, ging es zunächst abwärts, immer schneller, er brauchte gar nicht zu kurbeln, ließ auch lieber die Finger von den rotierenden Eisenteilen mit den Holzgriffen, und klammerte sich stattdessen am vertikalen Stab vor seiner Nase fest, der nach nassem Rost roch. Er sah nach unten. Das bewachsene Ufer glitt vorbei, dann ein schmaler Streifen Kies, dann das unbewegte Dunkelgrün und Braun des Wassers. Schnell wurde die Fahrt langsamer und endete über der Flussmitte, so wie er es vorhergesehen hatte.

Er pendelte träge hin und her, während über ihm das Rollenlager auf dem ungefetteten Drahtseil schabte und dabei Geräusche machte, die in den Ohren schmerzten. Ab jetzt ging es bis zur Plattform am anderen Ende wieder nach oben, nur mit Muskelkraft und einer ordentlichen Portion Schweiß. Er packte mit beiden Händen die Holzgriffe und schlang die Beine enger um das untere Ende des langen Stabes. Wenn er jetzt nicht mehr weiter kam, würde er gezwungen sein, sich fallenzulassen. Eine unangenehme Vorstellung, trotz der vermutlich angenehmen Wassertemperatur und der geringen, kaum wahrnehmbaren Strömung.

Den Rucksack müsste er dann möglichst schnell loswerden, und obwohl er auch aus dieser Höhe keine Lebewesen in den trüben, brackigen Fluten schwimmen sah, war es nicht ganz ausgeschlossen, dass durch seinen Sturz etwas Großes aufgescheucht würde, das bis dahin unbewegt und unsichtbar auf dem Grund gelauert hatte.

Er schauderte, schüttelte sich und begann kräftig zu kurbeln.

Der Rollengleiter schlug nach hinten aus, sodass er einen Augenblick lang schräg in der Luft hing. Dabei rutschte der Kommunikator aus seiner Jackentasche und fiel ins Wasser. Er sah, wie es beim Auftreffen spritzte, wenig nur, weil das Gerät hochkant eintauchte, und er sah weiter, wie die Oberfläche rasch wieder glatt wurde und dunkel, und ohne die geringste Spur von dem, was sie verschluckt hatte.

Er wunderte sich, dass ihn der Verlust nicht mehr schmerzte, doch war alles, was er empfand, Gleichmut, und er wandte sich wieder der Kurbel zu, um diesmal den Reibungswiderstand etwas vorsichtiger zu überwinden und seine Kraft behutsamer auf das Seil zu übertragen. Zuerst zögernd und ruckelnd, dann allmählich schneller und flüssiger, bewegte er sich mit dem Gleiter vorwärts zu seinem Ziel hin, der Plattform am anderen Ufer. Gut fünf Minuten lang strampelte er sich in luftiger Höhe ab und musste dabei alle Kraftreserven mobilisieren, über die er noch verfügte.

Schwer atmend saß er schließlich auf dem sicheren Boden, und lehnte sich mit dem Backpack an seinem Rücken gegen eine stählerne Strebe des Seilhaltemastes.

Von der Anstrengung war ihm so übel, dass er sich in die harthalmigen Gräser übergab, die dort überall kniehoch sprießten. Als er wieder halbwegs normal atmen konnte, trank er gegen den bitteren Geschmack im Mund einen großen Schluck Wasser aus seiner letzten Flasche und verschlang dazu einen Phönixriegel, um die Mineralstoffe und Salze zu ersetzen, die er bei diesem mörderischen Gewaltritt verbraucht haben musste.

Schließlich kam er mühsam wieder auf die Beine, immer noch erschöpft, aber auch stolz auf seine Leistung, und machte sich auf, das Fährschiff zu inspizieren, das unweit der Anlegerampe schwerfällig auf dem Wasser schaukelte. Dort hoffte er Hinweise auf den oder die letzten Benutzer zu finden.

Die Motorfähre war überraschend modern, ein Typ, der durch den Einwurf von Münzen gestartet, selbständig die Strecke von Ufer zu Ufer zurücklegen konnte.

In Skandinavien hatte er vereinzelt solche Boote gesehen. Hier hätte er so eines nicht erwartet, und doch hatte man den Fährmann vermutlich schon vor geraumer Zeit wegrationalisiert, denn das Schiff war in keinem guten Zustand. Überall war es von Rost und Korrosion befallen, und es sah aus wie ein Seelenverkäufer in einem verlassenen Hafen: Ein reizvolles Fotomotiv, aber für den Gebrauch nicht mehr zu empfehlen.

Trotzdem hatte jemand es gewagt, das Schiff nach der Stilllegung noch ein letztes Mal übers Wasser zu schicken, denn der Münzeinwurf war aufgebrochen und die Zündung fachkundig kurzgeschlossen worden.

Wann war das geschehen? Schon vor vielen Jahren oder erst vor kurzer Zeit?

Und wer hatte es getan? Ein Forscher, ein Vandale, ein Plünderer? Unmöglich, diese Fragen zu beantworten. Und doch hatte er das Gefühl, dass es eine Chance gab, demjenigen noch zu begegnen, der, so wie er, keine Münzen der lokalen Währung besessen, aber letztlich eine clevere Lösung gefunden hatte.

Schon wollte er wieder von Bord gehen, da stieß er auf ein weiteres Rätsel, das ihm bisher verborgen geblieben war. Er konnte es kaum fassen, dass er es jetzt erst sah: Dem Boot fehlten sämtliche Teile aus Holz, die einmal an ihm befestigt gewesen sein mussten. Am deutlichsten sichtbar war das vor allem an den Sitzbänken, die sich entlang der Reling um das Deck zogen. Nur mehr die gebogenen eisernen Rohre waren von ihnen übrig, die Latten der Sitzflächen und Lehnen dagegen waren spurlos verschwunden. In den Löchern hingen noch die Befestigungsschrauben, alle noch mit den daran festgedrehten Muttern. Als sei einfach alles aus Holz verschwunden, genauso wie bei dem Rahmen, der einmal an der Seitenwand des Führerhauses gehangen und einen von einer Glasscheibe geschützten Hinweis enthalten hatte. Vergilbte Fetzen dieses für ihn nicht lesbaren Zettels klebten noch immer an den eisernen Bodenplatten, auf denen auch Stücke der gläsernen Scheibe lagen, die heruntergefallen und zerbrochen sein musste, als das Holz des Rahmens sich auf unbekannte Art und Weise auflöste. Hatte der letzte Passagier des Fährschiffs irgendetwas mit dem geheimnisvollen Holzfraß zu tun, oder hatte auch er den Kahn schon im jetzigen Zustand vorgefunden?

Er zuckte die Schultern. Probleme, die man nicht lösen konnte,