Der blaue Lift - Herbert Fahrnholz - E-Book

Der blaue Lift E-Book

Herbert Fahrnholz

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Beschreibung

- Ein Obdachoser wird dazu gezwungen, in einen mit Umweltgiften verseuchten Wohnturm zu ziehen, der von einer straff organisierten Gangsterbande geführt wird, und tritt dort einen rasanten Aufstieg an; - ein skrupelloser Headhunter, der Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten sucht, verstrickt seine neueste Entdeckung in ein brand- gefährliches Spiel, dessen Verlauf sich schnell seiner Kontrolle entzieht; - ein junger Mann, finster entschlossen, alles zu tun, um von der Welt nicht vergessen zu werden, findet ein rätselhaftes Paar Schuhe, das ihn unschlagbar macht und sein Leben auf eine Art verändert, die er nicht erwartet hatte; - ein alter Sonderling und Misanthrop findet eines Tages vor seiner Tür ein Geschenkpaket, das ihn bald an den Rand des Wahnsinns treibt. Ungewöhnliche Schauplätze und eigenwillige Protagonisten, die in oft skurillen Milieus agieren: Spannend und anschaulich erzählt ist diese Auswahl von Kurzgeschichten im besten Sinn unterhaltend, regt aber auch immer wieder zum Mit- und Weiterdenken an.

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Das Buch

Ein Obdachloser wird dazu gezwungen, in einen mit Umweltgiften verseuchten Wohnturm zu ziehen, der von einer straff organisierten Gangsterbande geführt wird, und tritt dort einen rasanten Aufstieg an;

ein skrupelloser Headhunter, der Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten sucht, verstrickt seine neueste Entdeckung in ein brandgefährliches Spiel, dessen Verlauf sich schnell seiner Kontrolle entzieht;

ein junger Mann, finster entschlossen, alles zu tun, um von der Welt nicht vergessen zu werden, findet ein rätselhaftes Paar Schuhe, das ihn unschlagbar macht und sein Leben auf eine Art verändert, die er nicht erwartet hatte;

ein alter Sonderling und Misanthrop findet eines Tages vor seiner Tür ein Geschenkpaket, das ihn bald an den Rand des Wahnsinns treibt.

Ungewöhnliche Schauplätze und eigenwillige Protagonisten, die in oft skurillen Milieus agieren: Spannend und anschaulich erzählt ist diese Auswahl von Kurzgeschichten im besten Sinn unterhaltend, regt aber auch immer wieder zum Mit- und Weiterdenken an.

Der Autor

Herbert Fahrnholz, 1949 in Regensburg geboren, schloss nach dem Abitur ein Psychologiestudium ab. Mit dem Beginn der Achtzigerjahre widmete er sich als bildender Künstler den Bereichen Fotografie und Objektkunst, sowie Druck- und Computergrafik. Seit 2015 veröffentlicht er außerdem Kurzgeschichten und Romane, die er mit eigenen Illustrationen ausstattet. Die zwölf Erzählungen der hier vorliegenden Sammlung entstanden in den Jahren 2020 und 2021.

INHALT

Der blaue Lift

Ein Hoch der Schüchternheit

Teds Children

Die Schuhe

Der Messias-Job

Der himmelhohe Raum

Das Präsent

Die Spezialbegabten

Der Kindmann

Die Blofeld-Voss-Methode

Die Herrschaft der Bäume

Hitzekäfer

Der blaue Lift

»Warum sollte ich im Kackturm wohnen und dafür auch noch hart erarbeitete Kohle blechen?«, fragte Blini und rieb sich die Beule an seiner Stirn.

»Na genau deswegen!«, antwortete Torv und drückte mit dem Finger auf Blinis Horn, das sich bläulich zu verfärben begann. »Sowas kann dir da drin nicht passieren. Da gibts Gesetze.«

»Die gibts hier draußen auch«, murrte Blini.

»Schon«, lachte Torv und setzte sich zu ihm auf die morsche Parkbank, »aber die im Turm halten sich da auch dran. Dafür sorgt der Boss. Was haben sie dir gleich noch mal abgenommen? Nen Zehner? Das ist fast schon eine Monatsmiete im Turm. Du hast es warm im Winter, schattig im Sommer und vor allem: du kriegst keine Beulen am Kopf.«

Blini war noch nicht überzeugt. »Pah, da drin funktioniert doch nichts, sagen alle«, wandte er ein, »Heizung, Wasser, Strom, nichts geht und alles sifft. Und es stinkt wie im Schweinestall.«

»Das stimmt nicht ganz«, widersprach Torv, »es funktioniert nicht immer alles und zur gleichen Zeit, solange du unten wohnst, wohlgemerkt. Aber es ist doch allemal besser, du hast wenigstens ein Dach über dem Kopf als nur das Himmelszelt, und der Boss passt auf dich auf, wenn du friedlich schlummerst wie ein Säugling. Hey, erst vor zwei Tagen haben sie wieder einen im Schlaf angezündet, das war auch so ein Geizkragen wie du. Das nenne ich am falschen Fleck gespart.«

»Wie kann der Boss auf jeden aufpassen, der da drin wohnt?«, zweifelte Blini. »Das müssen doch hunderte Leute sein.«

Torv nickte. »Sind es«, bestätigte er. »Weißt du, Junge, so gescheit bist du doch selber, wie? Er macht das natürlich nicht alleine. Er hat seine eigene Polizei. Wenn du dich bewährst und man dir vertraut, kannst du da sogar selber ein Cop werden. Dann kriegst du auch ne bessere Wohnung weiter oben, wo es weniger stinkt und alles besser in Schuss ist. Sozialer Aufstieg nennt man das!«, feixte er und drückte wieder mit dem Finger kräftig auf Blinis Beule.

Der verzog das Gesicht, immer noch skeptisch, aber man konnte ihm anmerken, dass er allmählich weich wurde.

»Na komm schon«, bohrte Torv schnell nach. »Ich bring dich zu Breitcord. Der war auch mal ganz unten und hats bis zum Hausmeister gebracht. Jetzt verteilt er die Wohnungen und hält alles mit am Laufen. Dem erzählst du aber besser nichts von wegen ›Kackturm‹, klar? Da versteht er nämlich keinen Spaß.« Er stand auf, stellte den zaudernden Blini kurzerhand auf die Beine, hakte ihn unter und zog ihn mit sich in Richtung Turm.

Der ›Friendly Fritz Tower‹ war in Teilen verwahrlost, vor allem in den unteren Etagen, wo er an einigen Stellen schon fast ruinös wirkte. Der über hundert Meter hohe Turm war anno dazumal von einem deutschen Investor errichtet worden, dessen Beiname, wie sich denken lässt, ironisch gemeint war, denn mit Freundlichkeit wurde man nicht schwerreich, jedenfalls nicht in dieser Stadt, und wahrscheinlich auch in keiner anderen.

Dass der morsche Gigant wie ein trotzig emporgereckter Beton-Stinkefinger überhaupt noch stand, hatte er ungeklärten Besitzverhältnissen zu danken, um die sich schon seit langem zähe Rechtsstreitigkeiten rankten, die keine Partei so recht gewinnen wollte. Sonst hätte sie vielleicht horrende Abbruchkosten aufbringen müssen für ein Gebäude, das längst aus der üblichen Wertschöpfungskette gesprungen und im normalen Rahmen wertlos war.

Wertlos, weil gleich in mehrfacher Hinsicht belastet.

Das fing schon beim Grund an, auf dem der Turm stand.

Nacheinander hatten sich dort eine Gerberei, eine Lichtpauserei und eine Verzinkerei damit übertroffen, Erdreich und Grundwasser zu verseuchen. Das Grundstück lag damals noch etwas abgeschieden außerhalb der Stadtgrenzen, aber die Stadt boomte und wuchs, Bagger und Bebauungspläne rückten immer näher und kamen mit Neubauviertel auf Neubauviertel nieder. Das als verseucht bekannte Stück Grund umflossen sie in angemessenem Abstand, legten zwar den letzten Betrieb dort, die galvanische Anlage still, rührten aber vorläufig nichts an, denn zu dieser Zeit achtete man grade mal wieder mehr auf eine saubere Umwelt, und an besagter Stelle etwas einreißen oder hochziehen zu wollen hätte schmerzhaft kostspielige Auflagen der zuständigen Behörden bedeutet.

Aber eine Brache, die ertrag- und profitlos mitten in einem prosperierenden Gebiet am Stadtrand üppig vor sich hin vegetierte, war eine arge Provokation für das nach fetten Gewinnen gierende Profitstreben und konnte sich da keinesfalls lange halten.

Die Akzente der lokalen Politik veränderten sich denn auch bald wieder, schätzten den Umweltgedanken geringer, und der deutsche Fritz erwarb das Grundstück und baute dort seinen Turm, ohne Erdschichten abzutragen und als Sondermüll zu entsorgen oder ähnlichen Firlefanz. Dafür mischte er dem Beton, wie sich später herausstellte, asbesthaltige Füllstoffe bei, die aus dem pulverisierten Schutt einer unlängst abgerissenen Problem-Immobilie gewonnen worden waren.

Eine Zeitlang lief es für den freundlichen Deutschen richtig gut, und der neue Tower zog viele Gutverdiener an, die sich in den luxuriösen Wohnungen einmieteten und das damals boomende Viertel weiter aufwerteten.

Dann traten erste Fälle von Atemwegserkrankungen auf, leichte Fälle zunächst, aber eben auch bei einigen Kindern von Turmbewohnern, und das wog schwer. Zunächst dachte man an ein Virus oder bakterielle Ansteckung, fand aber nichts, das eine solche Annahme gestützt hätte. Dagegen häuften sich nun die Hinweise auf eine enorme Belastung der Atemluft mit Asbestpartikeln, sowie PCB- und Formaldehyd-Ausgasungen.

Eine Reihe von akribischen Untersuchungen wurde nun beauftragt und durchgeführt, an deren Ende der Befund stand, das gesamte Gebäude, von der Tiefgarage mit den Stellplätzen für die Nobelkarossen bis hin zum Penthouse auf dem Dach, sei extrem gesundheitsgefährdend und somit unbewohnbar. Darüber hinaus sei der Grund, auf dem die Luxusimmobilie stehe, nicht weniger stark verseucht und also gleichermaßen hochgradig ungesund. Die restlichen Mieter, die noch nicht gleich beim ersten Verdacht ausgezogen waren, verließen nun fluchtartig den Turm, und eine Klagewelle rollte an, die den freundlichen deutschen Fritz schwer traf und die ihn über die Jahre hinweg schließlich ruinierte.

Der Tower selbst wurde zunächst von einer Spezialfirma versiegelt und überwacht, aber als dann niemand mehr für die Kosten aufkommen wollte, zog die FASEC sich zurück und überließ das Objekt den üblichen destruktiven Kräften, die von aufgegebenen Anlagen und Gebäuden so schnell und so magisch angezogen werden.

Gleichzeitig schritt eine umfassendere De-Gentrifizierung des Viertels schnell voran. Die Gutverdiener zogen sich zurück in andere, neue Trend-Hotspots, und weniger Wohlhabende rückten nach, alles in einer Abwärtsspirale von schwindelerregendem Drive, angetrieben vom spektakulären Umweltskandal, der aus der ehemaligen Luxusimmobilie den ›Giftfinger des Todes‹ gemacht hatte, wie der Boulevard gruselfroh textete.

Hier, in dieser schnell völlig desolaten Gegend, in der sich, allem Gift zum Trotz, bald die am meisten Verzweifelten eines wachsenden Heeres von Wohnungslosen sogar in den verseuchten Turm hineinwagten, hier, so hätte man meinen können, ließe sich sicher kein Weg mehr finden, auf dem sich mit der üblichen Art von Ausbeutung noch Gewinn erzielen ließ. Aber es gab ja auch noch unkonventionelle Wege, die etwas weniger grade waren und etwas mehr im Dunkeln lagen, und die beschritt schließlich Elroy, der sich gerne auch ›Boss Elroy‹ nennen ließ, zusammen mit seiner ›Gang der Guten‹.

Blini wusste zunächst nicht, wem er sein schönes blaues Horn eigentlich verdankte.

Aber darauf sollte er bald noch kommen.

Fürs Erste war er eingeschüchtert und hatte Angst vor der kommenden Nacht, denn man fand immer schlechter einen Schlafplatz, der einem wenigstens ein bisschen Sicherheit bot.

Sicherheit vor dem Ausgeraubt- oder Bestohlenwerden, vor dem Geschlagen- und Getretenwerden, Sicherheit insbesondere davor, angezündet und abgefackelt zu werden.

So hatte Torv letztlich leichtes Spiel mit Blini, als er ihn anwarb, und konnte ihn zu Breitcord schleppen. Warum der Mann so hieß, wurde schnell klar, wenn man ihn sah: Gleichsam wie eine Krone des Hausmeisterstandes saß da ein lächerlich kleiner Hut aus lächerlich breitem, braunem Cord auf seinem Kopf, den er mit lächerlich ernsthaftem Stolz trug.

In der Brusttasche seines grauen Kittels, einer weiteren Insignie seiner zweifellos im Geheimen den Lauf der Welt lenkenden Zunft, steckten einige Stifte, darunter ein metallisch goldglänzender Kugelschreiber. Und in einer Schlaufe am Hosenbund präsentierte er stolz einen mächtigen Vierkant-Schlüssel als sinnfälliges Symbol dafür, dass er in der Lage war, jedem hier so ziemlich alles abzudrehen, was er wollte, Wasser, Strom oder Heizung, immer und zu jeder Zeit.

Er musterte Blini scharf durch seine Hornbrille, tastete ihn mit den Augen ab und fragte dann missmutig: »Was schleppst du mir da wieder an, Torv, was soll dieses schlampige Bündel hier?

Der Kerl stinkt doch zwei Meilen gegen den Wind, und ein Raufbold ist er noch dazu, das sieht man auf den ersten Blick!

Ich hoffe doch, du denkst nicht, der könnte in einem unserer noblen Appartements einziehen?«

Breitcord schien heute in Hochform zu sein.

Torv, der das Spiel kannte, grinste.

Er schnupperte in Blinis Richtung und sagte: »Naja Mann, er duftet nicht grade wie ein Rosenbeet, das muss ich zugeben. Ich werd ihn wohl mal mit dem Schlauch abspritzen. Aber für die Beule kann er nichts, da waren die andern die Raufbolde.«

Breitcord drehte eine Runde um Blini und musterte ihn wie ein gebrauchtes Auto, das zum Verkauf stand, und das er im Preis drücken wollte.

»Hmm«, machte er dann, und tat, als würde er scharf nachdenken, »hmm, ich könnt ihn ja vielleicht zu den Gaskochern stecken. Zwei von denen sind erst gestern in den Bau gegangen, da ist was frei.«

»Auf keinen Fall, Mann!«, rief Blini aufgeregt, aber deshalb umso entschiedener, »nicht zu denen! Dann penn ich lieber wieder draußen!«

Die Gaskocher-Bande hatte sich ihren schlechten Ruf hart erarbeitet. Zu ihrem Namen war sie nicht nur deshalb gekommen, weil sie sich gern übelriechende Mahlzeiten auf einem Campingherd zubereiteten, sondern auch und vor allem darum, weil sie immer wieder mal versuchten, Geldautomaten durch das Einleiten und Entzünden von Gas zu sprengen. Mit mäßigem Erfolg übrigens: Beim ihrem letzten Coup hatten sie den Automaten mitsamt dem Geld verbrannt, und ihre Bude mit dazu, weshalb sie sich nun im Turm eine Wohnung teilten.

Bescheuerte Burschen also, so viel stand fest, genauso fest stand aber auch, dass mit ihnen nicht gut Kirschen essen war.

»Die Kerle sind wirklich schlimm«, sprang Torv nun scheinbar dem armen Blini bei, »haste denn wirklich nichts anderes frei?

Nur dass der Ärmste hier ein Dach überm Kopf hat, und nicht wieder nächtens was übern Schädel kriegt.«

Breitcord tat wieder, als würde er überlegen.

»Hmm«, meinte er dann, »vielleicht könnt ich ihn ja zu den Baldinis tun?«, und erklärte, als er Blinis fragendes Gesicht sah: »Zwei Clowns aus einem Minizirkus, der vor nem Jahr Pleite gemacht hat. Lustige Gesellen, die beiden. Sehr spaßig.«

»Nur die beiden?« fragte Blini misstrauisch.

»Die zwei, und Ernö, der Kunstradfahrer. Ja, und dann noch die Rote Rita mit der Pudeldressur. Mitsamt ihren Hunden, versteht sich.«

»Wieviele sind das denn?«, fragte Blini entsetzt, »ein Dutzend, wie?«

»Bist du bescheuert?« Breitcord war zornig. »Doch kein Dutzend! Noch nicht mal ein halbes. Fünf putzige Pudelchen, mehr nicht.«

»Aber das sind dann alle, oder?«, meinte Torv. »Halt, da war doch noch Gonzo, der stärkste Mann der Welt! Wohnt der nicht auch noch da?«

»Der liegt in der Klinik. Hatte nen feinen Job als Möbelpacker, aber hat sich dabei verhoben. Deshalb ist da jetzt ja was frei.

Wär eh nur was Vorübergehendes.«

»Hey, was soll dieser Scheiß?«, regte Blini sich auf. »Ich wette, dass es nicht einen einzigen von diesen Zirkustypen gibt! Denkt ihr, ich bin komplett verblödet?«

»Nicht komplett. Nur ein wenig«, grinste Torv.

»Ihr zieht hier so ne Schow ab, um mich weichzuklopfen, stimmts? Aber nicht mit Blini! Ich wette, hier gibts auch was, wo ich allein wohnen kann in dem verdammten ollen Kackturm!«, sagte er mit Nachdruck, »ich zahl dann dafür auch etwas mehr!«

Der Hausmeister erstarrte. Da war es raus, das böse Wort, und ließ sich nicht mehr einfangen und in das vorlaute Maul zurückstopfen, dem es entflohen war.

»Das wars dann, Junge.« Er zuckte die Schultern. »Sieh zu, wo du bleibst. Hier in dieser Luxusimmobilie jedenfalls nicht!

Vielleicht holst du dir heut nacht ja nur ein zweites Horn, wenn du sehr viel Glück hast. Ein schönes Restleben noch; kann ja nicht mehr so lange dauern.«

»Du hast mich um meine Provision gebracht!«

Torv war stinksauer.

Blini aber nicht weniger: »Ach, sieh mal an, der feine Herr kassiert Provisionen, wenn er einen Dummen findet, der im Finger wohnen will. Ein echter Wohltäter!«

»Na und?«, schüttelte Torv den Vorwurf ab wie ein nasser Hund die Tropfen aus dem Fell, »normal, oder? Vermittlungsgebühren sind was ganz Normales im Geschäftsleben! Und der Deal wäre ja nicht zu deinem Nachteil gewesen. Aber jetzt, ja jetzt steckst du wirklich bis zum Hals in Schwierigkeiten! Ich kann dir nur raten, verschwinde aus dem Viertel und geh so weit weg wie möglich, wenn du die Nacht überleben willst.«

»Wieso das denn?« Blini konnte oder wollte nicht verstehen.

»Bist du taub? Hast du nicht gehört, wie Breitcord dir gedroht hat? Ein schönes Restleben noch, hä? Kann nicht mehr lang dauern! Ich hab dich doch noch gewarnt, Mensch, aber du, du wolltest ja nicht hören!«

»Nur weil ich Kackturm gesagt hab? Das glaub ich nicht. Deswegen wird doch keiner so sauer.«

»Das ist auch nicht der echte Grund«, gab Torv widerwillig zu, »jedenfalls nicht allein. Viel schlimmer ist, dass du dich querstellst, dich rotzfrech der Fürsorge von Boss Elroy verweigerst.

Wenn du den Schutz, den er dir anbietet, nicht annimmst, dann wundere dich nicht, wenn du bald von Kerlen aufgesucht wirst, die noch härter zuschlagen als die vom letzten Mal.«

Blini ging ein Licht auf.

»Willst du damit sagen, dass diese Schläger für Elroy arbeiten?

Dass er sie schickt, um den Turm vollzukriegen?«

Torv wand sich, als sage er nur äußerst ungern, was er nun zugab: »Jaa, nein, ich meine nicht er selber. Dafür hat er seine Leute. Breitcord zum Beispiel.«

»Das heißt, er organisiert den Terror selber, vor dem er dann die armen Teufel beschützt, wenn sie brav zahlen?«

Torv nickte. »Nichts Neues. Uraltes Mafiakonzept. Dürfte ich dir eigentlich nicht verraten. Wenn das rauskommt, bin ich im Arsch, aber ich kann dich nun mal gut leiden. Ja, wenn ich es recht betrachte, bin ich wirklich ein echter Wohltäter!«

Blini war davon nicht überzeugt.

»Nur weil die Masche uralt ist, wird sie doch nicht besser«, meckerte er, und ging Torv damit ziemlich auf den Senkel.

»Sieh mal, Blini«, belehrte er den Widerspenstigen, »du hast jetzt ein echtes Problem an der Backe, glaub mir. Das wirst du nur los, wenn du Teil des Systems wirst. Oder du machst dich aus dem Staub und verlässt die Stadt, aber ohne Umwege! Hör mal, ich will nicht dran schuld sein, wenn dir was zustößt!«

Torvs kassandrisches Orakel hinterließ allmählich Spuren beim aufsässigen Blini.

»Ja, gibts denn überhaupt noch einen Weg, wie ich da reinkomme?«, fragte er. »Der Hausmeister hat mich doch weggeschickt.

Denkst du, der ändert nochmal seine Meinung?«

»Gute Frage«, nickte Torv. »Aber Kopf hoch, ich lass mir was einfallen. Vorher spritz ich dich aber noch beim Carwash mit dem Schlauch ab, du stinkst nämlich wirklich.«

… und dann hat er mich doch tatsächlich mit dem Schlauch nass gemacht!«, schimpfte Blini und meckerte seinem Wohngenossen die Ohren voll, einem hageren älteren Typ, der Texel genannt werden wollte. Aus seiner nassen Kleidung tropfte noch immer Wasser und die feuchten Haare klebten in Strähnen am kantigen Schädel.

»Wo sind denn deine Sachen?«, krächzte Texel und hustete.

»Hast du keine?«

»Geklaut«, sagte Blini düster, »alles weg, bis auf das, was ich am Leib habe.«

Er zeigte auf den breiten Gürtel aus abgenutztem braunem Kunstleder um seine Hüften. »Bin letzte Nacht von drei Schlägern überfallen worden.«

Texel nickte verständnissinnig. »Und dann kam ganz zufällig Arbo oder Torv vorbei, und hat dir Angst gemacht, wie?«

Blini war verblüfft. »Woher weißt du das?«

»Ich weiß noch viel mehr«, lachte der Ältere, »pass mal auf: Dann haben er und der Hausmeister dich so lang verarscht, bis dir der Gaul durchgegangen ist und Breitcord hat dich weggeschickt, mit finsteren Drohungen. Aber dein barmherziger Wohltäter hat ihn überredet, dass er dir noch ne Chance gibt, wenn du mehr Miete abdrückst. Oder für ihn arbeitest, wenn du nicht genug Kohle hast. Tja, und weil du Schiss vor den Schlägern hattest, warst du einverstanden und da biste nun, mit ner hustenden alten Krücke wie mir im Luxus-Einzimmer-Appartement. Armes Schwein.«

Blini hatte tellergroße Augen bekommen während Texels langer Rede. Er konnte es kaum fassen, wie dumm und naiv er gewesen war.

»Ja, aber warum denn nur so kompliziert das alles«, wollte er schließlich wissen. »Warum schickt Elroy nicht einfach allen auf der Straße seine Schläger und zwingt sie, ihm Geld zu geben oder für ihn zu arbeiten, ganz ohne Gegenleistung?«

Wieder wurde Texel von einem Hustenanfall geschüttelt.

»Das wäre ja nackter Terror«, erklärte er, als er wieder ausreichend Luft für eine längere Rede hatte, »aber Boss Elroy ist ja nicht blöde. Ein System, das nur durch Gewalt funktioniert, erzeugt Widerstand. Alle versuchen wegzulaufen und erzählen dann woanders, wie schlimm es da ist, wo sie herkommen.

Ergebnis: Die Gegend hier ist bald leergefegt, und er guckt in die Röhre. Oder aber die Opfer tun sich alle zusammen und machen einen Aufstand, der dem Boss eine Menge kosten kann, schlimmstenfalls seine Macht, oder sogar sein Leben. Nene, Junge, besser klappt es, wenn die Leute, die du ausnimmst, auch noch einen Nutzen haben, wenn sie schon behumst werden.

Dass sie auch was gewinnen, zum Beispiel ihren ruhigen Schlaf in der Nacht. Und dass sie hoffen können, es geht ihnen bald noch besser, wenn sie nämlich aufsteigen im System.«

Blini verstand nicht ganz. »Wie, aufsteigen? Wie soll das denn gehen?«

Texel blieb geduldig mit ihm. Sah wohl, dass er da einen vor sich hatte, der etwas langsamer kapierte, wie etwas lief.

Dafür aber rebellisch war, mit viel Stolz ausgestattet, einer der sich ums Verrecken nicht unterordnen wollte und lang auf seine Chance warten konnte, um die Dinge zu seinem Vorteil zu drehen. So einen machte man sich besser nicht zum Feind.

Dem neuen Mieter im Turm, ganz ganz unten im Turm versteht sich, da, wo es stank und voll und laut war, rauchte der Kopf von dem, was ihm der Alte erzählt hatte über das, was man tun sollte, um einen guten Job oder eine bessere Wohnung zu ergattern, weiter oben im Tower, und das, was man besser bleiben ließ, wenn man Ehrgeiz hatte und es zu etwas bringen wollte im System.

System, immer wieder fiel dieses Wort, das auch Torv benutzt hatte, als er ihm nahelegte, er müsse ein Teil davon werden.

Texel hatte ihm erklärt, was es bedeutete, aber ganz verstanden hatte er nur soviel, dass es wie eine Maschine war. Es gab da große und kleine Rädchen, eins griff ins andere, und wenn alle taten, was sie sollten, dann lief die Maschine wie geschmiert.

Wenn aber eins der kleinen Rädchen klemmte und hakte, verbog es sich leicht oder zerbrach, und musste zurechtgedengelt oder sogar ersetzt werden. Damit sie nicht von den größeren Rädern zermalmt wurden, die viel stärker waren und fast nie ausgetauscht wurden, war es für die kleinen also immer besser, wenn sie möglichst gut funktionierten.

Schon klar, was ihm der Alte, der ihn vermutlich für aufsässig und stur, vielleicht sogar für etwas beschränkt hielt, damit sagen wollte, denn Blini war ja nicht dumm, sondern nur nicht so schnell mit dem Kopf. Und das mit dem Aufstieg im System, das hatte er schon kapiert, und es beschäftigte ihn mächtig in der nächsten Zeit. Dass das langsam gehen musste, Schritt für Schritt, leuchtete ihm ein, denn was er in seinem Gürtel noch an Geld gehabt hatte, das kostete ihn schon die allererste Monatsmiete im Finger, und danach würde er einen Job brauchen, um die nächste aufbringen zu können. Besser, er machte sich rechtzeitig auf die Suche, denn wenn man ihn zu irgendwas verpflichtete, würde er keine Auswahl mehr haben.

Der Alte hatte ihm gesagt, ein gewisser Brazzo sei für die Vergabe von Jobs zuständig, also beschloss er, den mal aufzusuchen, um zu sehen, was grade so nachgefragt wurde.

Er verließ also das kleine Appartement, in das Breitcord ihn gestopft hatte, zum ständig hustenden alten Texel und einem weiteren Mieter, der zum Glück fast nie da war. Über die angeschlagenen Granitstufen im Treppenhaus, das mit schwarzen Marmorplatten ausgekleidet war, die zum Teil schon abgefallen waren, und in dem es zwar sehr streng roch, das aber sonst erstaunlich ordentlich und aufgeräumt war, gelangte er zum Ausgang und auf den Vorplatz, der gut besucht war von solchen wie er selber einer war.

Der Brunnen, eine komplexe Durchdringung von Quadern und Kugeln, war längst ausgetrocknet und hielt den einen oder anderen bröckelnden Sitzplatz für Bewohner der unteren Etagen des Turms bereit, die es in ihren überfüllten und stickigen Buden nicht mehr aushielten, und die dringend in etwas frischerer Luft durchatmen mussten.

Das Erdgeschoss des Giftfingers hatten die Planer mit dem damals üblichen Mix belegt, bestehend aus Supermarkt, Friseur, Bankfiliale, Apotheke und einem Büro der Hausverwaltung.

In letzterem saß jetzt Brazzo, der, wie Texel beinahe schon ehrfürchtig berichtet hatte, ein ›Greenlifter‹ war, weil er im 32.

Stock wohnte, also ein ganz hohes Tier war und den grünen Fahrstuhl benutzen durfte, um in sein privilegiertes, edles Heim zu gelangen, in dem alles bestens und unbeschränkt funktionierte: Strom, Wasser, Heizung, sogar Weltnetz, einfach alles.

Und in die Klimaanlage hatte Elroy die allerbesten verfügbaren Filter einbauen lassen, um möglichst viele Giftstoffe aus der Raumluft herauszuziehen.

Brazzo, bereits ein verdientes Mitglied in Elroys alter ›Gang der Guten‹, war damit einer der Ranghöchsten im Finger und unterstand nur noch direkt dem Boss persönlich.

Der wiederum residierte im sagenhaft luxuriösen Penthouse auf dem Dach des vierunddreißig Stockwerke hohen Gebäudes, erreichbar nur mit dem schwer bewachten goldenen Lift, der als einziger schon in der für alle anderen geschlossenen Tiefgarage losfuhr, wo Elroys stattlicher Fuhrpark abgestellt war.

Auch vor dem Eingang zu Brazzos Büro schoben zwei quadratisch gebaute Hünen mit gelben Armbinden Wache, auf denen in fetten schwarzen Lettern ›SECURITY‹ stand. Nachdem sie ihn nach Waffen durchsucht hatten, ließen ihn die Gorillas passieren und Blini trat ein. Hinter einem Schreibtisch, der fast das hintere Drittel des Raumes ausfüllte, saß ein Mann, der aussah wie ein Bruder von Breitcord, nur ohne dessen alberne Attribute und den noch lachhafteren Dünkel.

Blini grüßte respektvoll: »Tag, Mister Brazzo!«

Der Mann hinter dem Schreibtisch lachte.

»Herrje, was haben wir denn da für einen Vogel? Grade aus dem Ei geschlüpft, wie? Glaubst du im Ernst, Brazzo würde hier persönlich sitzen und sich von euch Pennern den letzten Rest gute Luft wegatmen lassen? Er ist ja nicht umsonst der Chef unseres Jobcenters. Der arbeitet nicht selbst, der lässt arbeiten, und schaut nur ab und zu mal nach dem Rechten.«

Auch was den Humor auf Kosten anderer anging, fand Blini die Ähnlichkeit mit Breitcord erstaunlich. Er überlegte schon, ob er fragen sollte, hielt aber dann doch lieber den Mund. Wer wusste schon, wie die beiden miteinander konnten?

»Ich bin sein Stellvertreter und heiße Mungo, präg dir den Namen genau ein, wehe du nennst mich Mango oder Manga, und wenn du Mongo zu mir sagst, schieße ich dich komischen Vogel ohne viel Federlesen gleich über den Haufen, verstanden?«

Blini nickte und stellte sich seinerseits vor.

Was Mungo, beim eigenen Namen so empfindlich, zu lahmen Witzen über Russen, Eierkuchen und Menschen, die hießen wie russische Eierkuchen, animierte. Nachdem er damit durch war, musterte er sein Gegenüber scharf, wiederum dem Hausmeister ähnlich, nur ohne dessen Hornbrille, kam offenbar zu einem vergleichbar negativen Ergebnis und sagte dann: »Ahem, du willst also einen Job? Am besten ganz was Schniekes, sauber, körperlich nicht anstrengend, dafür aber hochangesehen bei deinen Pennerbrüdern, wie?«

Blini, mal wieder nicht schnell genug mit dem Denken, bejahte wahrheitsgemäß, und Mungo grinste fies: »Ich glaub, da hab ich was für dich!«

Nach dreimonatigem aufopferndem Einsatz bei der Müllabfuhr und der Gebäudereinigung hielt Blini die Zeit für gekommen, die orangene Armbinde mit der fetten weißen Aufschrift ›Cleaner‹ abzulegen und seinen sozialen Aufstieg weiter voranzubringen.

Er hatte inzwischen eine Menge über den Turm dazugelernt, etwa warum es so sauber in ihm und um ihn herum war, trotz der nicht unbedingt für ihre penible Ordnungsliebe und Reinlichkeit bekannten Bewohnergruppe.

Oder über Funktion und Bedeutung der Fahrstühle, die, vom alten Texel mit seiner Bemerkung über den ›Greenlifter‹ Brazzo nur am Rande berührt, in Wahrheit noch bedeutsamer und legendenumwitterter waren, als man auf den ersten Blick sah.

Sein Cleaner-Kollege Hefty hatte ihm einiges erzählt, das er im Lauf vieler Jahre an Beobachtungen zusammengetragen hatte.

Hefty war schon sehr lange dabei, weil er keinen Bock auf sozialen Aufstieg und, ebenso wie der abgeklärte Texel, keinerlei Ehrgeiz hatte. Mit dem Job war er ganz zufrieden und in seiner maroden Wohnung war er ohnehin so selten anzutreffen wie der Kollege in Blinis marodem Appartement.

So einer sieht viel, und wenn man auch nicht alles für bare Münze nehmen durfte, was er so von sich gab, lohnte es sich doch manchmal, ihm erst genau zuzuhören, bevor man die Dichtung von der Wahrheit trennte.

Beides war besonders in den Erzählungen über die Fahrstühle enthalten, die in einem Hochhaus natürlich eine wichtige Rolle spielten, von den oftmals ziemlich abergläubischen neuen Bewohnern aber fast schon mystifiziert wurden.

Im Friendly-Fritz-Tower gab es insgesamt zwölf Fahrstuhlschächte. Nicht alle davon waren noch in Betrieb, oder besser gesagt, waren von Boss Elroys Instandsetzungstrupp wieder fahrbereit gemacht worden, und von denen, die wieder funktionierten, fuhren nicht alle bis ganz nach oben oder hielten in jeder Etage. Und nur ein einziger, der goldene, fuhr von der Tiefgarage ganz unten bis hoch ins oberste Geschoß, von dem aus ein breiter, prächtiger Aufgang ins Penthouse auf dem Dach führte, in dem Boss Elroy mit seinem Hofstaat residierte.

Der Schacht war nach außen nur mit einem gelben Punkt gekennzeichnet, das Gold gab es nur innen, und er unterschied sich von den andersfarbig markierten Aufzügen dadurch, dass man manchmal auf der Leuchttafel über seinen Türen beobachten konnte, wie er den langen Weg von U1 nach 34 zurücklegte, oder umgekehrt den von 34 nach U1.

Das schiere Gold im Inneren der Kabine durfte im übrigen durchaus angezweifelt werden, vielleicht war es auch nur eine Vergoldung oder gar poliertes Messing, denn keiner von denen, die davon berichteten, hatte es je mit eigenen Augen gesehen.

Vielmehr kannte jeder nur einen, der angeblich einen schnellen Blick ins Innere hatte werfen können, bei einem unfreiwilligen Zwischenstopp in einer der unteren Etagen. Solche Berichte hatten immerhin eine gewisse Wahrscheinlichkeit, denn nichts im Turm, den die meisten Bewohner nur von seiner überfüllten und übelriechenden Seite kannten, funktionierte ganz unten perfekt und reibungslos.

Der undefinierbare Gestank, der vor allem die tiefer gelegenen Etagen durchzog, war es in erster Linie, der das Märchen vom ›Kackturm‹ inspiriert hatte, das Hefty selbst, noch während er es eines Tages hinter vorgehaltener Hand erzählt hatte, als frei erfunden bezeichnete. Dieses Märchen behauptete, Boss Elroy, absoluter Herrscher über das Gebäude, habe sich in einer der Liftkabinen, die ganz oben im Turm fixiert sei, ein Plumpsklo installieren lassen, mit der sagenhaften Rekordfallhöhe der mehr als hundert Meter, die der Tower hoch war.

Warum? Nun, ganz einfach weil er es so wollte.

Auch Blini fand diese Geschichte reichlich haarsträubend und ärgerte sich noch nachträglich über sich selbst, das Unwort, das sich daraus ableitete, so gedankenlos in den Mund genommen zu haben.

Die interessanteste Story Heftys, eine, die neugierig machte und einem gleichzeitig ein kleines Schäuerchen über den Rücken jagte, war allerdings mit Abstand die, dass offenbar immer wieder Leute im Finger spurlos verschwanden.

Heute noch fest in den normalen täglichen Ablauf des Turms eingebunden, waren sie, Hefty zufolge, oft nur wenig später ganz plötzlich verschwunden und wurden nie wieder wieder gesichtet, ohne dass sie zuvor irgendwelche Absichten geäußert hätten, die Gegend verlassen zu wollen.

Auch hier war der Wahrheitsgehalt der Geschichte eher fraglich, aber Hefty schwor einen heiligen Eid darauf, dass diese wirklich stimmte.

Blini war trotzdem nicht besonders beunruhigt.

Das waren doch alles verlauste Typen, die er nicht kannte, und jeder, der aus den heillos überfüllten, lärmenden und chaotischen Wohnungen und Fluren der unteren Geschoße wieder verschwand, war für den zurückbleibenden Rest ein Gewinn.

Für seinen Geschmack waren es eher nicht genug Leute, die so verschwanden und genau aus diesem Grund steuerte er nun wieder zielstrebig Brazzos Büro an, um wegen eines besseren Jobs vorzusprechen, der ihm dann in der Folge auch eine neue, bessere und höher gelegene Wohnung verschaffen konnte.

Aber vor der Eingangsür wurde er von den beiden Gorillas aufgehalten, die so ähnlich aussahen wie die von seinem letzten Besuch, aber wahrscheinlich doch nicht dieselben waren.

Sie stellten sich ihm mit der Masse ihrer quadratischen Körper in den Weg und verwehrten ihm den Zutritt mit der Begründung, dass gerade Brazzo persönlich anwesend sei.

Blini wollte schon entgegnen, genau den hätte er ja auch gerne mal gesprochen, als drinnen ein Schuss fiel.

Die Gorillas reagierten erstaunlich schnell: Einer riss die Tür auf, die nach außen aufging, und der andere stürmte sofort in den Büroraum dahinter.

Ein weiterer Schuss knallte und der andere Security-Mann zog eine schwere Taurus aus dem Hosenbund, ging in die Knie und hechtete dann mit einem schwerfällig und froschartig wirkenden Sprung durch die Türöffnung, die Pistole beidhändig im Anschlag. Diesmal krachten drinnen zwei Schüsse, der erste, dumpfere, aus der Taurus abgegeben, der zweite nur einen Sekundenbruchteil später aus einer Waffe, die jemand im Büro benutzte, also entweder Mungo oder der Greenlifter Brazzo.

Man hörte einen Schrei, dann gab es nur noch bleierne Stille.

Die ganze Kette von Ereignissen hatte nur wenige Sekunden gedauert, zu kurz, als dass Blini irgendwie hätte reagieren können. Jetzt, nach einiger Zeit anhaltender Stille, überlegte er, ob er in Panik geraten und schnell wegrennen, oder vorsichtig ins Büro hineingehen sollte, um nachzusehen, ob da noch einer am Leben war.

Als sich weiterhin drinnen nichts rührte, entschied er sich für die zweite Möglichkeit. Irgendeiner musste das ja tun, und all die anderen Hasenfüße in der Nähe, die durch den Vorfall ebenfalls aufgeschreckt worden waren, hatten schon längst die Beine in die Hand genommen und sich aus dem Staub gemacht.

Langsam näherte er sich der Tür, bereit, sofort wegzurennen, wenn Gefahr drohte, aber nichts rührte sich. Also trat er ein und schaute sich um. Wie es schien, nach Lage der Wunden und Körper, hatten die Gorillas die Sache nicht überlebt, und auch Mungo, noch die Waffe in der Hand, sah mit dem weit aufgerissenen Mund und dem Loch in seiner Stirn sehr tot aus.

Lediglich der vierte Mann, der Brazzo sein musste, war noch am Leben und atmete schwer, die Augen einen schmalen Spalt geöffnet.

Der Blutfleck an der rechten Schulter des teuren Pullovers sagte Blini, der im früheren Leben einmal Sanitäter beim Militär gewesen war, dass der Verwundete gute Chancen hatte, zu überleben, wenn die Wunde bald fachgerecht versorgt wurde.

Jemand musste jetzt wohl den Hausmeister alarmiert haben, denn er hörte, wie Breitcords zornige Stimme rief: »Was hast du da getan, Wahnsinniger!« und ein harter Schlag von hinten auf den Schädel knipste ihm das Licht aus.

Die Dunkelheit konnte nicht lange angehalten haben, denn als Blini wieder die Augen öffnete, war der Hausmeister immer noch am Schimpfen und Fluchen.

Dazu schwang er den großen Vierkantsschlüssel, den er ihm über den Schädel gezogen haben musste, womit bewiesen war, dass er einem wirklich so ziemlich alles abdrehen konnte, was er wollte, sogar das bewusste Erleben, wie die Zeit verging.

Immer wieder jammerte er anklagend, der verfluchte Blini habe seinen Cousin, Brazzo und zwei weitere Leute mit Blei vollgepumpt, aber Brazzo, immer noch auf dem Boden liegend, bedeutete ihm unwirsch, die Klappe zu halten. Röchelnd presste er hervor: »Siehst du bei dem da vielleicht ne Knarre? Hättest ihn um ein Haar totgeschlagen! Es war aber so: Mungo hat erst mir ein Loch verpasst und dann den Security-Mann, der zuerst reinkam, erledigt. Der zweite von denen hat dann zurückgeschossen, fast gleichzeitig. Die haben sich praktisch gegenseitig umgelegt.«

Breitcord entblößte seine obere Kauleiste, was bei ihm ein verlegenes Lächeln sein mochte. »Ist nur Hartplastik«, sagte er entschuldigend und ließ den Schlüssel in seine Handfläche klatschen, »in der Wirkung kaum schlimmer als ein amtlicher Gummiknüppel.«

Blini hatte jetzt genug: »Seine Wunde muss dringend versorgt werden«, schnauzte er den Hausmeister an. »Ich kenn mich aus, war früher mal Sani. Vielleicht gibts in der alten Apotheke drüben noch was zum Verbinden, hast doch sicher den Schlüssel!«

Breitcord nickte und murmelte unverständliches Zeug, von dem Blini nur das Wort ›Cousin‹ verstand, das mehrmals darin vorkam.

Er verließ das Büro, vor dem jetzt, wo die Schießerei vorbei war, massenhaft Leute herumlungerten und gafften.

Wenig später kam er mit einem Armvoll Verbandszeug und Desinfektionsmittel zurück. Blini, der nun das Kommando übernommen hatte, untersuchte die stark blutende Wunde und stellte einen glatten Durchschuss fest. Offenbar war kein Knochen gesplittert, und die Austrittswunde war im Durchmesser nicht größer als ein alter Silberling und hatte saubere Ränder.

Da hatte er schon deutlich fiesere Löcher gesehen. Er stillte die Blutung, reinigte gründlich die Wunde und legte dann fachmännisch einen strammen sterilen Verband an.

»Das wird alles wieder wie neu«, versprach er.

Der Greenlifter war merklich beeindruckt.

»Du bist ein guter Mann«, lobte er, »sehr brauchbar. Bei den Cleanern sind deine Fähigkeiten doch total vergeudet« meinte er mit einem schiefen Blick auf Blinis orangene Armbinde.

»Na ja«, erwiderte der Gelobte und zeigte auf den toten Mungo.

»Er hier hat mich denen zugeteilt. Kann man nichts machen.«

»Oh doch, man kann!«, schniefte Brazzo grimmig. »Mungo war eine Fehlbesetzung. Hat in die eigene Tasche gearbeitet und versucht, mich umzulegen, als ich ihm auf die Schliche kam.

Aber das ist nun alles Geschichte, und für dich werden wir was finden, das deinem Können mehr entspricht. Erst mal kommst du mit nach oben.«

Der Tower in den oberen Etagen war eine völlig andere Welt.

Während sich in den unteren zehn Etagen teils apathische, teils aggressive Gescheiterte und Chancenlose in verwahrlosten und stinkenden Wohnungen drängten, die nur selten mit einem der drei fast immer kaputten Lifte zu erreichen waren, die man mit ordinärem roten Nappaleder ausgekleidet hatte, gab es weiter oben Luxus und Komfort pur.

Dort herrschte eine paradiesische Stille, die von melodiösem Vogelgezwischer mehr unterstrichen als gestört wurde, und der Flur duftete, ebenso wie die mit grünen Marmor- und Jademosaiken ausgekleidete Aufzugkabine, nach erlesenen Gräser- und Blütenaromen. Den moosweichen Teppichboden mit dem reichen Pflanzendekor, das sich nirgendwo zu wiederholen schien, begrenzten überall mattgoldene Fußleisten.

Die Wohnung von Brazzo war riesig. Allein das Wohnzimmer übertraf an Größe Blinis ganzes Appartement um ein Mehrfaches. Ihr Bewohner, der sich immer noch auf seinen Sanitäter stützte, ließ sich ächzend auf ein überdimensionales Sofa fallen und deutete auf einen der drei nicht weniger gewaltigen Sessel.

Das pompöse Sitzmöbel verschluckte den staunenden Blini, der in so etwas noch nie gesessen hatte, nicht einmal damals, als es noch etwas besser für ihn gelaufen war als jetzt.

Neugierig sah er sich um.

Alles wirkte so sauber und aufgeräumt, als würde die Wohnung die meiste Zeit nicht benutzt. Was für ein Luxus, über eine solche Behausung zu verfügen und sie kaum zu bewohnen!

Oder wurde hier etwa nur extrem gereinigt?

Er wusste, dass eine Elite-Putzkolonne außerordentlich angepasster und vertrauenswürdiger Kräfte die Luxuswohnungen ganz oben säuberte und pflegte. Das war die einzige wirkliche Aufstiegsmöglichkeit, die man als Cleaner hatte und die, die es in diese Combo hinein geschafft hatten, waren alles Schnösel, die ihre Nasen sehr hoch trugen und mitleidig auf die einfachen Putzkräfte herabschauten.

Brazzo erriet seine Gedanken und wollte offenbar nicht als zwanghaft ordentlicher Pedant dastehen. »Ich bin nur selten hier«, erklärte er entschuldigend, »die meiste Zeit hänge ich oben beim Boss rum, außer ich mach mal ne scharfe Braut klar.«

Er schickte Blini auf eine lange Reise durch knietiefe Teppiche zur gut gefüllten Hausbar und ließ ihn den guten Whiskey in der Kristallglaskaraffe und zwei dazu passende Gläser holen.

Im gesamten Stadtgebiet galt eigentlich ein striktes Alkoholverbot. Das hatte aber nur dafür gesorgt, dass eine Unmenge von Hinterhofläden ein großes Angebot auch seltenster und nobelster Sorten bereithielten. Sogar Leute von weit außerhalb, aus Gebieten, in denen Alkohol erlaubt war, deckten sich lieber in der Stadt damit ein, weil die Auswahl da vielfältiger war und schmuggelten das Zeug dann durch die laschen Kontrollen nach draußen.

Sie stießen mit dem teuren Stoff an und Brazzo nahm einen großen Schluck nach dem anderen gegen die Schmerzen, die nun doch ziemlich heftig wurden, wie er mit mannhaft zusammengepressten Zahnreihen bekannte. In den Restbeständen der Apotheke im Erdgeschoß waren keine Analgetika mehr zu finden gewesen. Vermutlich habe der Hausmeister schon alles vertickt, mutmaßte Brazzo, und griff also nun der Not gehorchend zu bewährten Hausmitteln.

Nach einigen bedeutungslosen Floskeln und tiefen Blicken ins dickwandige Glas sah er Blini plötzlich neugierig an, musterte ihn gründlich und schoss dann eine Frage auf ihn ab, deren unangenehm spöttischer Unterton sogar den gewöhnlich eher arglosen Blini stutzig machte: »Na, und was ist nun deine ans Herz gehende Geschichte? Lass doch mal hören!«

Blini war auf der Hut und sah ihn nur fragend an.

»Ach komm schon«, lockte Brazzo, »du hast doch auch schon mal bessere Tage gesehen, wie die meisten von euch! Bist doch bestimmt nicht schon als Penner geboren worden, als Spross stolzer Penner-Eltern und Erbe einer uralten Penner-Dynastie, oder? Hattest doch sicher ne Pechsträhne, die dich dahin gebracht hat, wo du jetzt bist! Komm schon, alle hatten die, alle sind nur ungerecht behandelt worden vom Schicksal, oder etwa nicht?«

Nach dieser Einleitung hätte Blini sich am liebsten schnell aus dem so gründlich weggesaugten Staub gemacht. Zu gut kannte er diese selbstgerechten Reden, geschwungen meist von vermeintlich rechtschaffenen Bürgern, die gerne glauben wollten, dass jeder von Geburt an die gleichen Chancen habe, und dass sie selbst sich alles, was ihnen gehörte, im Schweiß ihres Angesichts hart erarbeitet hätten. Ebenso fest waren sie aber auch davon überzeugt, dass am anderen Ende die Gescheiterten ausnahmslos ihre missliche Lage selbst verschuldet hätten.

Als er nun Brazzo in dieser Tonlage räsonieren hörte, war er schon versucht, eine scharfe Erwiderung auszupacken, beherrschte sich aber, weil er die vorteilhafte Situation, die sich da für ihn ergeben hatte, nicht einfach ungenutzt lassen wollte.

War dieser Mann von der Sorte der für Schleimerei Empfänglichen, oder war er einer der Intelligenteren, die Duckmäuserei verabscheuten und ein offenes Wort schätzten? Blini war sich da nicht ganz sicher, obwohl er sich über die Jahre auf der Straße ein feines Gespür für die jeweils beste Sorte von Opportunismus erarbeitet hatte. Irgendwas zwischen den Extremen würde wohl passen, ein gradliniges Auftreten, nicht zu frech, aber auch nicht zu demütig.

»Was soll ich da lang herumreden«, seufzte er und sah seinem Gegenüber mit der größten Offenheit in die Augen, die ihm möglich war, »ich habs eben ganz einfach verkackt.«

»Oho, hört hört!«, grinste Brazzo, der dieses Spiel nicht zum ersten Mal spielte. Seine Schmerzen schien er kaum mehr zu spüren.

»Was nicht heißt, dass es nicht auch andere gibt, die wirklich einfach nur Pech hatten«, betonte Blini entschieden. »Aber zu denen gehöre ich leider nicht. Ich hatte eigentlich ganz gute Karten und habs trotzdem vergeigt. Ist also nur meine eigene Schuld, wenn ich jetzt hier festhänge.«

Brazzo goss beide Gläser wieder voll. »Prost!«, sagte er und hielt dem Gast sein Glas hin, um mit ihm anzustoßen. Er wartete ab, bis Blini getrunken hatte und fragte dann scheinheilig: »Wie ist es denn so weit gekommen? Alkohol?«

Langsam begann sich bei Blini das Bild von Brazzo zu runden: Ein intelligenter Zyniker, bei dem man immer auf der Hut sein musste.

Er lachte. »Kein Alkohol und keine Drogen«, sagte er, »nur eine Frau.«

Brazzo versuchte es noch einmal. »Verstehe. Die Frau war also schuld.«

Blini blieb ruhig. »Wie ich schon sagte: Ich habs ganz allein verbockt. Die Frau, sie konnte ja nichts für meine krankhaften Ausraster.«

»Hmm. Klingt mir ganz nach einem Eifersuchtsdrama.«

Blini nickte. »Und dann kam die ganz gewöhnliche Spirale: Scheidung nach ein paar Jahren im Knast, wieder raus ohne Job, keine Freunde, keine Wohnung. Das übliche Spiel eben.«

Brazzo schien von dieser offenen, sachlichen Haltung beeindruckt. Er musterte seinen Sanitäter nachdenklich und trank wieder einen ausgiebigen Schluck.

Blini, der nie verheiratet gewesen war, fand, dass es gut lief.

Wenn er auch weiter aufpasste und keinen Leichtsinnsfehler machte, hatte er den einflussreichen und mächtigen Mann im Sack. Alkohol war noch nie ein guter Berater gewesen und mit seiner Schmerztherapie war Brazzo ganz klar übers Ziel hinausgeschossen. Immer schwierig, die richtige Dosierung.

»Du scheinst in Ordnung zu sein«, befand Brazzo nun, »ein Kerl mit Rückgrat, der auch einsteht für das, was er getan hat, ohne großes Getue. Das gefällt mir. Ich mag keine Opfer. Du bist keines. Und du hast was auf dem Kasten. Medi-zi-nisch meine ich.« Seine Zunge wurde allmählich schwer.

»Ich denke, ich werde einen neuen Job für dich erfinden und mache dich zum Gesundheits-Beauftragten hier im Turm.«

Blini war überrascht. Er hatte nur eine kleine Belohnung erwartet, eine bessere Wohnung vielleicht, in der immer alles funktionierte. Aber das? Was sollte das sein?

Brazzo lachte über sein verdutztes Gesicht und wurde ausführlicher: »Nun, dass du mit Schusswunden umgehen kannst, das hast du ja bewiesen. So einer fehlt uns hier, wie du dir denken kannst. Einen wirklich guten Arzt lockst du nur schwer hierher, nicht mal für viel Geld. Wenns bislang Wunden gab, hat sich immer Bloody drum gekümmert, auch einer aus der alten Gang, der hat sich das aber nur selber draufgeschafft. In Zukunft kann er dir ja assistieren. Pass aber gut auf, dass er dir nicht ein Messer in den Rücken rammt, weil er sich von dir verdrängt fühlt.«

Er kicherte. »Würd ich ihm glatt zutrauen. Okay, wo waren wir?« Er dachte nach.

»Ach ja. Mit Wunden versorgen wirst du ja nicht ausgelastet sein. Du bist erst zuständig ab dem zwanzigsten Stockwerk, da kommt sowas nicht jeden Tag vor, und alles, was da drunter passiert, muss dich nicht kümmern. Da bleibt alles wie es war.«

Wieder verlor er den Faden und grübelte eine Weile, während er aus der Karaffe Whiskey in sein Glas nachgoss.

Blini sah es mit Sorge.

Allmählich befürchtete er, Brazzo würde morgen nichts mehr von all dem wissen, was er ihm heute so vollmundig versprach.

Ihre Unterredung hatte keine Zeugen, und wenn der Greenlifter so weitermachte, bestand die Gefahr, dass er anderntags mit Kopfschmerzen aufwachte und sich das Hirn zermarterte, was wohl gestern alles gewesen war, nachdem er sich diese Kugel von Mungo eingefangen hatte.

Aber Blini sah keine Möglichkeit, seinen Gönner zu etwas mehr Mäßigung zu veranlassen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen.

Eine fatale Situation, wo er doch grade so kurz davor war, sich als etwas größeres Rädchen im System mitzudrehen.

Er überlegte, versehentlich die Karaffe umzustoßen, aber das hätte ihn als Tölpel dastehen lassen und außerdem hätte ihn der durstige Brazzo dann zweifellos wieder auf die lange Reise zur Hausbar geschickt, in der es reichlich Nachschub gab.

Konnte er vielleicht um etwas Schriftliches bitten, ein Dokument, das seine neuen Aufgaben beschrieb? Der Angetrunkene hätte wohl sofort durchschaut, welche Sorge hinter seiner Bitte steckte und vermutlich nicht eben freundlich reagiert.

Und außerdem: Worin bestand denn sein Aufgabenbereich nun überhaupt, neben dem offenbar auch für ihn selbst riskanten Verarzten von Wunden mit gewaltsamer Ursache bei der Oberschicht des Towers?

Seine stille Frage wurde umgehend beantwortet, denn Brazzo hatte nun den Faden wieder gefunden.

»Ja«, sagte er, und fuhr an genau der Stelle fort, an der er aufgehört hatte, »das bleibt alles so, wie es war. Sicher hast du schon mal gehört, wie das früher hier war. Ein nobles Viertel war das mal, aber je besser es den Leuten geht, desto mehr Ansprüche haben sie. Also war ihnen auf einmal alles nicht mehr gut genug. Sie fingen an sich einzubilden, alles um sie herum sei vergiftet. Und wenn eins ihrer Kinder Husten hatte, dann war gleich die schlechte Luft hier dran schuld. Was für ein elendes, arrogantes Pack, trugen die Nasen alle sehr hoch, und das nicht nur wegen der angeblich so schlimmen Luft!«

Er kicherte. »Jedenfalls sind sie dann weggezogen und haben den Investor, dem sie das alles hätten danken sollen, einen braven Deutschen, korrekter und penibler Mann war das, aber sie haben ihn am Ende in den Ruin getrieben. Sehr traurig, das alles.«

Blini kannte die Geschichte etwas anders, aber er hütete sich, den anderen zu unterbrechen, denn solange der so engagiert erzählte, vergaß er darüber das Trinken.

»Tja, das ganze Viertel hier litt unter der Geschichte und verkam allmählich zu dem, was es heute ist«, fuhr Brazzo fort.

»Der Turm stand lange leer, eine Schande war das, während rundherum immer mehr Leute auf der Straße lagen. Damals hat der Magistrat schon überlegt, hier alles platt zu machen, alles komplett abzureißen. Aber dann kam die Rettung, Rettung in Gestalt von Boss Elroy und der Gang der Guten, der anzugehören ich schon damals die Ehre hatte.«

Er rülpste geräuschvoll, und ein Pesthauch von Whiskey und Magensäure streifte Blini, der möglichst unauffällig versuchte, nicht noch mehr von der übelriechenden Wolke einzuatmen.

»Man kann es nicht oft genug betonen«, fuhr Brazzo fort, »dass wir damals diesen Bau nicht etwa ›besetzt‹ haben, wie es immer wieder fälschlich heißt. Wahr ist, dass die Immobilie praktisch ohne rechtmäßigen Besitzer war, und so hat der Magistrat sie Boss Elroy zum symbolischen Preis einer ormesischen Lewonze überlassen, denn unser Trupp kam damals gerade nach den Aufständen in den äußeren Kolonien zurück aus Ormahan. Der Deal war an keine besonderen Bedingungen geknüpft, war eher eine Anerkennung für unsere großen Verdienste dort, aber der Boss hat eine sozial vorbildliche Nutzung versprochen, und an dieses Versprechen hat er sich auch gehalten.«

Davon hatte Blini noch nie etwas gehört, und ein wenig zweifelte er auch an der angeblichen sozialen Mustergültigkeit.

Immerhin erklärte die Geschichte aber, warum die Stadt Elroy einfach machen ließ, ohne ihn groß durch polizeiliche Kontrollen und Einsätze zu stören. Sein System war damit, wenn auch nicht offiziell anerkannt, so doch wenigstens amtlicherseits geduldet und damit gewissermaßen legalisiert.

Ein cleverer Bursche, dieser Elroy, und gewiss nicht ohne Grund der Boss, der über allem ganz oben in der edlen Penthouse-Wohnung auf dem Dach residierte.

»Eine sozial vorbildliche Nutzung«, wiederholte sein Gönner, »ja, das war es, was Elroy hier geschaffen hat, und der Magistrat war mehr als zufrieden damit, und er ist es noch heute.

Schließlich hat der Boss die Ärmsten der Armen von der Straße geholt und ihnen wieder ein Dach überm Kopf, vielen sogar noch einen Job dazu gegeben. Das war ein großer kosmetischer Gewinn für das Stadtbild, denn es sprach sich herum in der ganzen riesigen Megacity, und die Berber kamen sogar aus weit entfernten Vierteln, weil sie gehört hatten, hier im Turm habe man noch ein Herz für sie. Die ganzen Geschichten über das Asbest, PCB und was nicht noch für Gifte hatten sie zwar alle schon mal gehört, aber die waren ihnen egal, oder sie dachten, das ist alles schon so lange her, dass der Wind das ganze Zeug längst verblasen hat. Und solange sie nicht andauernd Leute übermäßig husten hören, oder welche sehen, die hässliche Ausschläge haben und so weiter, ist für sie alles in Ordnung.«

Brazzo machte eine Pause und betrachtete Blini gönnerhaft.

»Ja«, sagte er feierlich, »ja, und da kommst jetzt du ins Spiel, mein Sohn! Wie heißt du denn überhaupt?«

»Jassow«, sagte Blini, »Juri Jassow.«

»Russe, eh? Gute Männer. Sehr gute Männer.«

Blini nickte, obwohl er nur Viertelrusse war, aber er wollte das Lob nicht schmälern.

Brazzos Mund war wohl trocken geworden von der langen Rede. Er befeuchtete ihn mit dem Rest Whiskey in seinem Glas.

»Also pass auf: Bisher haben wir Leute mit auffälligen Symptomen, die es natürlich immer wieder gibt, einfach aus dem Verkehr gezogen, wenn wir drübergestolpert sind. Aber es werden mehr, und wir müssen gründlicher werden, bevor uns die Penner hier alle hysterisch die Fliege machen, und sich dann wieder über die ganze Stadt verteilen wie früher. Einfach lächerlich! Ich meine, wie gesund kann denn schon ein Leben als Obdachloser sein, bei Kälte und Nässe immer unter freiem Himmel? Wir müssen also das Übel frühzeitig an der Wurzel packen, und genau dafür wirst ab sofort du sorgen, in deiner Funktion als Gesundheitsinspektor.«

Das also war es, was von ihm erwartet wurde!

Er sollte Leute aufspüren, die krank wirkten und sie dann - ja was denn eigentlich? Sie ›aus dem Verkehr ziehen‹? Wie sollte das aussehen? Heftys Gerede von den Leuten, die plötzlich verschwanden, fiel ihm wieder ein: Waren die etwa auch ›aus dem Verkehr gezogen‹ worden?

Der redselige Zecher lachte über Blinis ratloses Gesicht.

»Nur melden sollst du uns diese Leute!«, erklärte er vergnügt, »nur melden, nicht gleich umlegen. Das erledigen andere. Oder bist du da auch qualifiziert?«

Blinis Gesichtsausdruck wechselte von ratlos über schockiert bis nach entsetzt und Brazzo kriegte sich kaum mehr ein vor Lachen.

»Das war doch nur ein Witz!«, grölte er, »Du solltest mal dein dummes Gesicht sehen! Du bist mir ganz schön auf den Leim gegangen, gibs zu!«

Blini zwang sich, in Brazzos Gefeixe und Gelächter einzustimmen, obwohl er fand, dass man mit Mord keine Scherze machte, zumal es ihm wirklich nicht so absurd vorkam, dass sie hier auch zu solchen Mitteln griffen, wenn sie es für recht und vor allem für billig hielten. Man brauchte ja nur daran zu denken, dass sie sich Schlägertrupps hielten, um Unwillige, wie er selbst einer gewesen war, nach Mafiavorbild davon zu überzeugen, sich besser in den Schutz des Turms zu begeben.

Na und, beschwichtigte er den inneren Moralapostel, der seine Stimme inzwischen immer seltener erhob, weil er schon zu oft unterlegen war mit seinen unbequemen Ermahnungen. Na und wenn schon? Bist du ein Mann oder eine Maus? Das Leben folgt harten Regeln, die mit Moral nichts zu tun haben, und nur, wer kein reines Gewissen braucht, um gut zu schlafen, ist wirklich bereit für den Aufstieg.

Und er blieb noch bei dem Angetrunkenen, verzögerte dessen Zecherei, so gut es ging, um das Schlimmste zu verhindern, bis dieser endlich auf seinem Sofa eingeschlafen war und ein lautes Geschnarche anstimmte.

Dann ging er zu Fuss nach unten, 32 Etagen, weil er keine Magnetkarte für den Lift hatte, die man brauchte, um ihn zu benutzen. Er zählte die Stufen bis 424, dann hörte er auf damit, weil er von seinen Gedanken abgelenkt wurde, und auch weil er hoffte, diese Fußwanderung nie wieder machen zu müssen.

Am nächsten Tag tat sich bis zum Nachmittag gar nichts. Der gestrige Zwischenfall im Jobcenter war immer noch Tagesgespräch. Aus der ohnehin schon schlimmen Schießerei war nun ein blutiges Gemetzel geworden, mit einem Dutzend und mehr Opfern, und mit den verschiedensten Ursachen und Verläufen.

Auch über Blinis Rolle dabei gab es mehrere Versionen, von der Fassung, die der Hausmeister zunächst verbreitet hatte, dieser ›schreckliche Russe‹ habe seinen Cousin und zwei Security-Männer umgenietet, nachdem er Brazzo angeschossen hatte, bis hin zu der Story, die später die Runde machte, und die besagte, ein einfacher Cleaner sei in Wahrheit früher Arzt gewesen und habe den Greenlifter Brazzo, Opfer einer Verschwörung im Jobcenter, an Ort und Stelle notoperiert, ihm mit einem simplen Brieföffner die Kugel entfernt, und den Bewusstlosen dann ganz alleine bis nach oben in den 32sten in dessen Wohnung getragen. Ein Russe eben: Stark wie ein Bär.

Da er nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte, war Blini pünktlich morgens wieder bei den Cleanern angetreten und sammelte wie gewohnt den Abfall auf, den die Bewohner der unteren zehn Etagen überall großzügig in den Treppenhäusern und Gängen verteilt hatten, damit die Jungs von der Putzbrigade auch ordentlich zu tun hatten, und nicht noch eines Tages auf der Straße landeten, wie die im Turm häufig unter Zwang Angesiedelten gern sarkastisch anmerkten.

Pausenlos wurde er auf sein Abenteuer angesprochen und war froh, dass die falsche Version des Hausmeisters, in der er so schlecht wegkam, inzwischen von keinem mehr für bare Münze genommen wurde.

Gegen Schichtende tauchte im Quartier der Cleaner im Souterrain, in dem auch die Lappen, Schwämme, Reiniger und Eimer gelagert wurden, ein baumlanger Kerl auf, den er noch nie gesehen hatte. Er trug eine abgeschabte braune Lederjacke, hatte ein unglaublich zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht und fragte sich durch nach Juri.

»He, was machst du denn noch immer bei diesen schwulen Saubermännern?«, dröhnte er, nachdem Hefty ihn zögernd an Blini verwiesen hatte. »Brazzo schickt mich, ich soll mal nachsehen, wo du bleibst! Hast jetzt nen neuen Job, schon vergessen? Wohl zu tief ins Glas geschaut gestern, wie?«

Damit schloss er vermutlich vom Antischmerztrinker mit den Dosierungsproblemen auf dessen Saufkumpan mit dem russischen Namen. Aber der hatte, untypisch für den Russen an sich, der er ja auch nur zu einem Viertel war, nur wenig getrunken und davon noch nicht einmal Kopfschmerzen. Erstaunlich, dass Brazzo sich nach seinem Exzess wohl an Blinis Beförderung noch genau erinnern konnte, und sie offenbar auch nicht bereute, wie es sich mit so mancher Handlung verhielt, die im Suff passiert war.

Der Ausgezeichnete fing schon an, sich darüber zu freuen, als der Lange mit dem Gesicht wie ein tausendjähriger Lederapfel knurrte: »Ich bin übrigens Bloody, Bloody der Main-Hunter, du Grünschnabel, und ich soll dir ›ein wenig zur Hand gehn‹ bei Bedarf.«

Er holte einen Schlüssel und eine Magnetkarte aus der Jackentasche und übergab sie Blini, der sich im Stillen fragte, was für einer wohl ein ›Main-Hunter‹ war.

»Wohnung im 22sten, Streber«, kommentierte er bissig die Übergabe. »Da bist du ja ein ziemlich sattes Stück die Treppe hochgefallen.«

Bei Blini, der dazu doch allen Grund gehabt hätte, kam bei der Art, wie ihm diese Nachricht übermittelt wurde, kaum Freude auf. Das also war der Mann, vor dem ihn Brazzo schon gewarnt hatte. Der Kerl war ihm unheimlich, und dafür, dass einer den Spitznamen ›Bloody‹ führte, gab es sicher gute Gründe.

Der Gegerbte ließ ihm nicht lange Zeit, sich wieder zu fassen.

»Damit der Tag nicht ganz vertrödelt war«, stichelte er weiter, »hast du vielleicht ja schon ein paar Namen von allzu offensichtlich kranken Mietern für mich, Namen, die ich weitergeben kann?«

Blini war klar, was er mit ›allzu offensichtlich‹ meinte und dachte scharf nach. Es gab viele, die Symptome hatten, die auf Umweltgifte hinweisen konnten. Texel mit seinem chronischen Husten etwa, oder Hefty, bei dem er komische Rötungen im Nacken und an den Händen gesehen hatte. Eigentlich lag bei fast jedem, den er kannte, etwas in dieser Art vor.

»Weitergeben?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen, »an wen weitergeben?«

»Das hat dir Onkel Brazzo also lieber nicht gesagt«, grinste Bloody. »Hält dich doch wohl eher für ein Weichei. Nen Wohltäter der Menschheit, der in der Schlacht lieber Pflästerchen klebt, als mit der Waffe in der Hand seinen Mann zu stehen.

Was denkst du wohl, was wir hier mit diesen intriganten Loosern machen, die den Anschein erwecken wollen, hier sei das Wohnen ungesund? Schicken wir sie auf Kur? Zahlen wir ihnen ne Rente? Ich will dir sagen, was wir tun: Wir überlassen das Ungeziefer den Kammerjägern, die für sie zuständig sind!

Die kümmern sich um das Problem und entsorgen die Brut.«

Blini konnte nicht verhindern, dass sein Gesicht verriet, wie sehr er solche Reden missbilligte. Wie redete denn dieser vertrocknete Kerl da über kranke Menschen?

»Gefällt dir nicht, wie?«, lachte Bloody. »Dann pass mal auf, was ich dir jetzt sage! Entsorgen bedeutet nicht, dass wir sie weit weg schaffen, an irgendeinen anderen Ort in der Stadt. Das wäre doch nicht fair den Leuten gegenüber, die dort wohnen!