Harissa - Herbert Fahrnholz - E-Book

Harissa E-Book

Herbert Fahrnholz

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Beschreibung

- Eine Gruppe von Amateurforschern gerät auf einer Exkursion in den Untergrund einer riesigen Stadt in höchste Gefahr; - ein Journalist sucht einen verschwundenen Kollegen und stößt dabei auf ein äußerst merkwürdiges Phänomen; - ein begabter junger Schlossknacker wird von einer verführerischen Frau vor eine Herausforderung gestellt, an der er zu scheitern droht; - zwei Betatester einer Simulations-Software verstricken sich in ein paranoides Gedankenlabyrinth; - der Betreiber einer Nostalgiekneipe bringt einen betrunkenen Gast nach Hause und scheint dabei etwas in Gang zu setzen, das für beide schwerwiegende Folgen hat. Solche und andere Szenarien im Umfeld einer imaginären Megacity, die, kaum mehr regierbar, an ihren Rändern bereits zu verfallen beginnt, führen den Leser in ein Grenzgebiet zwischen Realität und Fiktion, in dem die wahre Natur der berichteten Ereignisse nicht immer eindeutig erkennbar ist.

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Das Buch

Eine Gruppe von Amateurforschern gerät auf einer Exkursion in den Untergrund einer riesigen Stadt in höchste Gefahr;

ein Journalist sucht einen verschwundenen Kollegen und stößt dabei auf ein äußerst merkwürdiges Phänomen;

ein begabter junger Schlossknacker wird von einer verführerischen Frau vor eine Herausforderung gestellt, an der er zu scheitern droht;

zwei Betatester einer Simulations-Software verstricken sich in ein paranoides Gedankenlabyrinth;

der Betreiber einer Nostalgie-Kneipe bringt einen betrunkenen Gast nach Hause und scheint dabei etwas in Gang zu setzen, das für beide schwerwiegende Folgen hat.

Solche und andere Szenarien im Umfeld einer imaginären Megacity, die, kaum mehr regierbar, an ihren Rändern bereits zu verfallen beginnt, führen den Leser in ein Grenzgebiet zwischen Realität und Fiktion, in dem die wahre Natur der berichteten Ereignisse nicht immer eindeutig zu erkennen ist.

Der Autor

Herbert Fahrnholz wurde 1949 in Regensburg geboren und studierte Psychologie in Regensburg und Würzburg. Seit den achtziger Jahren ist er als bildender Künstler in den Bereichen Objektkunst, Druckgrafik, Computergrafik und Fotografie tätig.

Die zwölf Erzählungen der vorliegenden Sammlung entstanden in den Jahren 2014 und 2015.

INHALT

Seltene Ereignisse

Der Legionär

Harissa

Das Offene Ohr

Die Stimme

Refugium Blaue Aster

Hades

Der Knall

Silberaugen

Die den Tod nicht fürchten

Ein Tag im Büro

Die Geschichte von Herrmann

Seltene Ereignisse

Der dünne, weiße Doppelstreifen, der über den hellblauen, fast wolkenleeren Himmel zog, zielte auf die schmale Mondsichel, die so schwach leuchtete, dass ich sie fast nicht bemerkt hätte. Gespannt verfolgte ich die unwahrscheinliche Begegnung, die sich da anzubahnen schien, aber je näher der Streifen an die beinahe liegende Sichel heranrückte, desto mehr krümmte er sich von ihr weg.

Schließlich verfehlte er sie um ein beträchtliches Stück.

Ich lag in einer menschenleeren Ecke im Freigelände des alten Schwimmbades in einem Liegestuhl und schaute in den Himmel. Das Liegemöbel, dessen verchromtes Stahlrohrgestell mit einer Art von transparenter Wäscheleine bespannt war, hatte sich als überraschend bequem erwiesen.

Die Schnur würde auf meinem Rücken ein interessantes Muster hinterlassen, das ich selber ohne größere Verrenkungen allerdings kaum zu sehen bekäme.

Ich legte das Buch, das ich auf meinem Bauch abgelegt hatte, auf den am Boden neben dem Rucksack aufgetürmten Stapel und sah wieder nach oben. Über mir lösten sich ein paar winzige Wölkchen auf. Die scharfe Kontur des Kondensstreifens war zerlaufen. Eine andere wurde lautlos vom winzigen Umriss eines Flugzeugs über den Zenit gezogen.

Die Sonne schien durch das kleingefiederte Blattwerk eines Baumes, dessen Art und Gattung ich nicht kannte. Der Schatten war von vielen Lichtflecken durchbrochen und wie ein engmaschiges Netz über das kurzgeschorene Gras geworfen.

Ich schloss die Augen und genoss den auffrischenden Wind auf meiner Haut.

Hinter den hohen Büschen, bei den Schwimmbecken, war gedämpftes Stimmengemurmel vernehmbar, gelegentlich unterbrochen von einem Gong, dem rätselhafte Botschaften aus dem Lautprecher folgten.

Während ich die Abgeschiedenheit des kleinen Rasenstücks genoss, rollte sich die Zeit wie eine Katze zu meinen Füßen zusammen und begann zu schnurren.

Das Schnurren und die Geräusche der Umgebung verschmolzen zu einem beruhigenden, monotonen Brummen, das immer leiser wurde, bis es, kaum noch hörbar, tief in meinem Kopf vibrierte.

In diesen schwerelosen Moment drängte sich grob das ordinäre Geräusch von Flipflops, die rhythmisch gegen nackte Fußsohlen klatschten.

Die Katze sträubte das Fell und verschwand.

Ich öffnete die Augen zu einem schmalen Sehschlitz. Die Flipflops waren farblich genauso aufdringlich wie akustisch. In einem kreischenden Mintgrün kamen sie soeben um die Kurve der Backsteintreppe herunter, deren oberer Teil von einer dichten Hecke verdeckt wurde.

Die Schlappen bekamen Verstärkung von einer Badetasche gleicher Farbe.

Am Ende der Treppe prügelten sich die Rüpel sofort heftig mit dem dezenten Grün des Rasens.

Die Rabauken gehörten zu einer jungen Frau Mitte dreißig mit halblangen, glatten, hellblond gefärbten Haaren. Kräftige Oberschenkel und breite Hüften dominierten die Frontalansicht, während die Beine, vielleicht aus Furcht vor den Folgen eines Sturzes aus großer Höhe, etwas verfrüht ihr Längenwachstum eingestellt hatten.

Die Gesamtkomposition wirkte etwas gewagt, war aber durchaus diskutabel und erweckte bei mir ein spontanes erstes Interesse. Für eine abschließende Beurteilung waren jedoch noch weitere Recherchen erforderlich.

Hinter der großen Sonnenbrille mit - was sonst - mintgrünem Gestell verbarg sich potentiell ein hübsches Gesicht.

Einer glücklichen Eingebung folgend hatte die Frau wenigstens auf die zweifellos vorhandene mintgrüne Badekleidung verzichtet und einem knappen weinroten Bikini den Vorzug gegeben.

Sie floppte über das Gras zu einem Liegestuhl, der mit buntem Plastikmaterial bezogen war und nur wenige Meter rechts von mir in der prallen Sonne stand.

Sie blieb vor der Liege stehen und sah zu mir herüber.

»Hallo«, sagte sie, »ist die noch frei?«

Ihre Stimme klang lebhaft und angenehm und machte es mir leichter, den kurzzeitig in mir aufgestiegenen Ärger über die Störung zu vergessen.

»Sicher«, krächzte ich mit versagender Stimme. Mist.

Ich räusperte mich und wiederholte: »Sicher.«

Diesmal taten meine Stimmbänder ihren Dienst wie gewünscht und tönten sonor und männlich.

Sie zog den Mund leicht in die Breite, um ein Lächeln anzudeuten, setzte sich dann und wühlte in ihrer Tasche. Endlich fand sie eine gelbe Plastikflasche mit Sonnenmilch, von der sie großzügig bemessene Portionen auf ihrer schon leicht gebräunten Haut verteilte.

Mir bot sich dadurch die Gelegenheit, weitere Ermittlungen anzustellen. In der Seitenansicht fand ich unterhalb der Schultern sehr angenehm geschwungene Kurven vor, während der Bauch flach war und der Po ein angemessenes statisches Gegengewicht zur Oberweite bereitstellte. Die Beine waren natürlich auch aus dieser Perspektive von erdverbundener Länge bzw. Kürze, aber für sich genommen gut geformt. Die Polsterung der Hüften bewies, dass ihre Besitzerin nicht dem ästhetisch so beklagenswerten Schlankheitswahn verfallen war, der gerade wieder einmal virusgleich die Runde machte.

Abschließendes Ergebnis der Figurprüfung:

Ein durchaus lohnender Anblick, mit der leichten Irritation, sie könnte womöglich von einem Planeten mit etwas höherer Anziehungskraft gekommen sein, als unsere gute alte Erde sie vorzuweisen hatte. Zwar entzog sich ihr Gesicht noch immer zu einem großen Teil meinen Blicken, aber der Mund mit den schönen, ausdrucksvollen Lippen versprach, dass nicht mehr allzuviel schiefgehen konnte.

Es sei denn, hinter der Sonnenbrille wären die toten Augen von London versteckt.

Ich schnippte einen kleinen Käfer von meinem Bauch.

Warum hatte sie sich eigentlich für die Liege direkt neben mir entschieden? Etwas weiter entfernt gab es noch einige andere.

Sollte ich das als Anzeichen von Interesse an meiner Person werten, oder war es eher das instinkthafte Wirken des Herdentriebes: Wo schon einer ist, muss mindestens noch ein zweiter hin.

Jedenfalls beschloss ich, mich so weit von ihr stören zu lassen, dass ich sie unter diskreter Beobachtung hielt.

Ein leichter Hauch von Kokos zog zu mir herüber.

Wieder einmal ertönte der Gong und eine weibliche Stimme verkündete Wichtiges, vermutlich in Hindi oder Urdu.

Vielleicht war es auch irgendein afrikanischer Dialekt.

»Haben Sie das grade eben verstanden?«, fragte Frau Nachbarin unerwartet und drehte sich in meine Richtung.

»Nein«, antwortete ich, »man kann es nicht verstehen. Ist gar nicht gewollt. Man hat dann immer ein schlechtes Gewissen und sie können einem jederzeit sagen: Haben Sie denn nicht die Durchsage gehört?«

Sie lachte. »Hoffentlich war es nicht wegen eines falsch geparkten Fahrzeugs. Ich stehe nämlich nicht grade günstig mit meiner Kiste.«

Große Sorgen schien sie sich allerdings deswegen nicht zu machen, sondern spritzte sich in aller Ruhe Sonnenmilch auf die Oberschenkel.

War das nur ein Vorwand für ein Gespräch gewesen?

Dann also mal drauf einsteigen: »Die werden Ihr Auto ja nicht gleich abschleppen lassen, oder behindern Sie jemanden?«

»Nein, glaube ich nicht. Das wäre mir aufgefallen.«

Sie verteilte die weiße Milch auf ihren hellbraunen Beinen.

Der Kokosgeruch wurde intensiver.

Eine Biene klapperte die armseligen Kleeblüten im Gras ab, schien aber kaum noch sammelnswerte Pollen darin zu finden. Jedenfalls zog sie, kaum hatte sie sich auf einer niedergelassen, gleich wieder weiter zur nächsten.

Am Himmel streiften weiterhin winzige Flugzeuge das Blau.

Ich wollte das Gespräch nicht einschlafen lassen.

»Dann brauchen Sie sich wohl keine Gedanken darüber zu machen.«

Sie kramte erneut in der augenmordenden Tasche und fand ein einzelnes Papiertuch, an dem sie ihre Hände abwischte.

Den zerknüllten Papierknödel versenkte sie zusammen mit der gelben Flasche wieder im mintgrünen Schlund des Grauens.

»Meinen Sie? Na hoffentlich«, sagte sie. »Sonst müssen Sie mich nach Hause fahren.«

Sie senkte leicht den Kopf und prüfte über die Sonnenbrille hinweg meine Reaktion auf ihre letzte Bemerkung.

Ich lachte. »Vielleicht sehen sie dann doch besser nach. Diese Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Ich bin mit dem Fahrrad hier.«

Mir zugewandt setzte sie sich auf ihre Liege und stimmte in mein Lachen ein, spitzte dann etwas die Lippen und leicht spitz war auch der Tonfall, in dem sie sagte:

»Oh, so sportlich.« Dann, leicht süffisant: »Dabei hätte ich Sie fast eher der Spezies Bücherwurm zugeordnet.«

Sie zeigte auf den Stapel, den ich neben mir auf dem Rasen aufgeschichtet hatte.

»Das ist nicht ganz falsch«, erwiderte ich großzügig.

»Aber ich bin ein durchaus sportlicher Bücherwurm.«

»Aha«, sagte sie staunend, »was es alles gibt« und schwang ihre Beine auf die Liege. Die Zehennägel waren rot lackiert.

»Sieht mir sehr nach Arbeit aus, was Sie da alles liegen haben.

Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr gestört. Bin auch schon ganz still jetzt.«

»Nein nein«, sagte ich hastig. »Ich mache grade Pause.«

Sie nahm die Sonnenbrille ab und legte sie neben sich ins Gras.

Ihr Gesicht war hübsch, wie vermutet. Die Augen braun. Und keineswegs tot.

Sie lehnte sich zurück.

Ein lautes Platschen übertönte das ferne Stimmengewirr und ließ vermuten, dass jemand verbotenerweise vom Beckenrand ins Wasser gesprungen war.

Der nachfolgende cholerische Pfiff einer Trillerpfeife bestätigte die Vermutung.

Ich befürchtete schon, die Unterhaltung sei vorbei, noch ehe sie richtig in Gang gekommen war, als sie fragte:

»Sind Sie Doktor oder Professor oder sowas Ähnliches?«

»Eher sowas Ähnliches. Ich bin Wissenschafts-Journalist und bereite grade einen Artikel für eine große Zeitschrift vor.«

Das war richtig, aber unpräzise genug, um ihr Gelegenheit für weitere Nachfragen zu geben.

Da kam die nächste Frage auch schon:

»Worum geht´s denn da?«

Aber wie sollte ich diese Frage nun beantworten?

Ich wusste es ja selber noch nicht so genau.

Und noch weniger wusste ich, was ich bei ihr voraussetzen konnte. Sie schien nicht ungebildet zu sein, wahrscheinlich aber auch nicht akademisch vorbelastet. Intelligent und interessiert, aber ohne Vorkenntnisse; vermutlich in der Lage, nicht allzu spezielle Fremdwörter zu verstehen, taxierte ich sie.

Ich zählte einige Stichpunkte auf:

»Es geht um seltene Ereignisse. Um den Unterschied zwischen unmöglich und unwahrscheinlich. Um Statistik und Quantenmechanik. Darum, dass wir die Naturgesetze vielleicht zu eng auslegen und damit eine Vielzahl von bisher unerklärten Phänomenen leichtfertig esoterischen Deutungen überlassen.«

Ich wartete auf ihre Reaktion.

»Klingt interessant. Geht es um Wunder oder so?«, fragte sie.

Gar nicht dumm. Ein helles hübsches Köpfchen.

»Auch das. Zumindest ist das ein Teilaspekt der ganzen Geschichte«, bestätigte ich.

Eilig fügte ich hinzu: »Ich bin aber kein Theologe. Ich habe Physik und Philosophie studiert und behandle das Thema aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Theologen haben da ja etwas andere Vorstellungen.«

Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Eine dezente Schweißnote kämpfte sich durch den Moschusgeruch meines billigen Deodorants.

»Sehen Sie«, fuhr ich fort, »ich schreibe keine streng wissenschaftlichen, theoretischen Artikel und ich veröffentliche auch nicht in den einschlägigen Fachzeitschriften.

Ich schreibe für die ›WissenschaftLeichtGemacht‹, ein ziemlich auflagenstarkes Periodikum, das sich mehr an den interessierten Laien wendet.«

Die leicht verkrampfte Beschreibung meiner Zielgruppe brachte nicht den erhofften Erfolg.

»Also populärwissenschaftlich«, stellte sie fest.

Es klang sachlich, nicht herabsetzend. Trotzdem fühlte ich mich dazu aufgefordert, mich zu verteidigen.

»So könnte man sagen, auch wenn ich den Ausdruck nicht besonders mag. Er wird oft mit einem etwas negativen Beigeschmack verwendet, besonders von den lieben Kollegen aus der reinen Wissenschaft.«

»So habe ich das aber nicht gemeint«, protestierte sie. »Es ist doch schön, wenn jemand schwierige Zusammenhänge so erklären kann, dass auch normale Menschen wie ich was kapieren können. Ich finde es spannend, was Sie machen.«

Wieder kramte sie in ihrer Tasche und fischte ein kleines Saftpäckchen heraus.

Sie stieß den Strohhalm durch die Membran und saugte die Flüssigkeit in den Mund. Ihre Wangen wölbten sich dabei nach innen.

»Wollen Sie auch eins? Ich hab´ noch ein paar davon.«

Ich lehnte spontan ab und ließ mir damit die Gelegenheit entgehen, mich ihr physisch etwas mehr anzunähern. Unglaublich.

»Warum haben Sie denn gleich zwei Fächer studiert?«, fragte sie und zog am Strohhalm. »Und warum diese Kombination, Physik und Philosophie? Konnten Sie sich nicht für eins davon entscheiden?«

»Gute Frage. Mein eigentliches Interesse galt der Physik. Aber Physik allein erschien mir mehr und mehr als zu eindimensional. Deshalb suchte ich als Ausgleich nach einem Fach mit einer etwas erweiterten Perspektive. Manche, denen es ähnlich ging, studierten zusätzlich noch Theologie. Das kam für mich nicht in Frage, weil ich nicht religiös bin. Blieb also noch die Philosophie. Sie steht insofern über den anderen Wissenschaften, dass sie auch deren Möglichkeiten und Grenzen selber zum Gegenstand hat.«

Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Es war auch und vor allem darum gegangen, meine Job-Chancen zu erhöhen. Für Physik alleine hatte es nicht gereicht; ich war einfach nicht gut genug gewesen, um mich damit im akademischen Ellbogengerangel behaupten zu können. Und weil ich nicht irgendwann einen Haufen pickliger Pennäler quälen wollte, hatte ich noch mit Philosophie begonnen und mich dann in Richtung Journalismus orientiert.

Ihr Strohhalm erzeugte lustige gurgelnde Geräusche.

Sie war am Grund des Saftpäckchens angekommen. Sie zerknüllte es und warf es in den mintfarbenen Plastikrachen.

»Was schreiben Sie denn nun über Wunder?«, fragte sie und dehnte sich.

»Wie gesagt, das ist eher ein Nebenaspekt. Aber die Leser der Zeitschrift interessieren sich natürlich für solche Dinge mehr als für trockene Mathematik. Natürlich muss ich auch kurz auf Poisson-Verteilungen etc. eingehen, die zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse dienen. Das Thema führt ziemlich weit in die Statistik und die Wahrscheinlichkeits-Theorie hinein. Ein Exkurs in die Quantenmechanik. Planck, Heisenberg etc. muss natürlich auch sein.«

Ich machte eine kleine Pause, um ihr Zeit zu geben, von meinem gelehrten Namedropping angemessen beeindruckt zu sein.

Sie drehte den Kopf, sah zu mir herüber und legte die Stirn in Falten.

»Selbstverständlich.«

Hatte ich da einen leicht spöttischen Unterton gehört?

»Also: Wunder«, fuhr ich schnell fort, »Wunder sind zunächst unerklärbare Ereignisse. Genauer sind es mit unserem derzeitigen Wissen nicht erklärbare Vorkommnisse. Zum anderen sind sie natürlich auch seltene Ereignisse. Etwas, das alle Tage passiert, wird man kaum als Wunder im engeren Sinn bezeichnen wollen. Höchstens als ein Wunder des Alltags im eher poetischen Sinn, wie etwa den Sonnenaufgang.

Je seltener sich etwas ereignet, desto eher sind wir geneigt, den Begriff ›Wunder‹ darauf anzuwenden.

Sehr wichtig ist dabei aber auch das Verhältnis zu den Naturgesetzen. Nehmen wir einmal die Begriffe unwahrscheinlich, daher selten, und unmöglich.

Wenn wir eine Münze hochwerfen, wird diese in den allermeisten Fällen auf einer der beiden Seiten, Bild oder Zahl, landen. Manchmal wird sie aber auch auf die Kante fallen und so stehen bleiben. Das ist unwahrscheinlich, also selten, aber nicht unmöglich.

Werfen wir jedoch die Münze und sie fällt gar nicht zu Boden, sondern sie schwebt in der Luft, dann würden wir das als unmöglich bezeichnen, weil ein Naturgesetz, in diesem Fall das Gravitationsgesetz, dabei verletzt würde.«

»Es ist unmöglich und deshalb ein Wunder, wenn es trotzdem passiert«, sagte sie und nickte.

»Genau. Eine scheinbar zweifelsfrei bewiesene Verletzung der Naturgesetze bezeichnet ein religiöser Mensch als Wunder und schließt auf das Eingreifen einer höheren Macht.

Es wäre aber auch möglich, dass wir das Naturgesetz, das wir für verletzt halten, nicht restlos verstanden haben.

Wir sollten besser nicht der Illusion verfallen, dass wir schon alles wissen, was es zu wissen gibt.«

»Das wäre vermutlich ein sehr langweiliger Zustand.«

»Das wäre es zweifellos«, bestätigte ich. »Nichts mehr zu tun für Forschung und Wissenschaft. Alles schon bekannt und Schnee von gestern.«

»Den Sie uns dann erklären werden«, stellte sie trocken fest.

»Ihr Job ist doch krisenfest. Sie müssen ja keine neuen Erkenntnisse sammeln. Es reicht, wenn Sie die alten neu aufkochen.«

Jetzt war der Spott offenkundig.

Sie hatte meine wunde Stelle gefunden und stocherte lustvoll darin herum.

»War nur ein Scherz«, beschwichtigte sie schnell.

»Ich sagte ja, ich finde es gut, was Sie machen.«

Dann fügte sie hinzu:

»War denn das Thema eine Vorgabe oder haben Sie es selbst ausgesucht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das war keine Vorgabe. Es gibt einen Roman von Douglas Adams, der in interessierten Kreisen schon nahezu Kultstatus hat. Vielleicht kennen Sie ihn. Darin wird ein Antrieb für den Hyperraum beschrieben, den Adams den ›Unendlichen Unwahrscheinlichkeitsdrive‹ nennt. Das Ganze ist natürlich nicht ernst gemeint, aber es war genau diese Stelle in ›Per Anhalter durch die Galaxis‹, die mich auf diese Thematik gebracht hat.«

»Interessant.« Es klang wenig überzeugend. Eine andere Frage interessierte sie offenbar mehr.

»Was finden Sie denn eigentlich selber am spannendsten an diesem Thema?«

Sie lag jetzt seitlich auf ihrer Liege, stützte sich auf den linken Ellbogen, beugte sich etwas nach vorn und sah mich neugierig an.

Eine ihrer Brüste versuchte dabei, die günstige Gelegenheit zu einem Ausbruchsversuch aus der Enge des weinroten Oberteils zu nutzen. Ich beobachtete den geplanten Coup mit zufälligen, indirekten Blicken und überwachte ihn wie ein verdeckter Ermittler. Mich abzulenken und zu verunsichern beherrschte sie wirklich exzellent. Ich gab mir Mühe, mich wieder auf ihre Frage zu konzentrieren.

»Nun ja, noch bin ich am Recherchieren; aber sehr interessant sind natürlich immer die Cranks, die Spinner. Die extremen Außenseiter mit ihren gewagten Theorien, die von der Schul-Wissenschaft immer nur müde belächelt werden. Meistens auch zu Recht. Aber ab und zu sind auch ein paar Diamanten in der Asche.«

Am Himmel zogen in großer Höhe einige feingliedrig gerippte Wolken dahin, die aussahen wie von Giger gebrusht.

»Meine Lieblingstheorie ist die Theorie der Dimensionsrisse von Lawrence Orson Tesla, einem entfernten Verwandten des legendenumwobenen Nikola Tesla.«

Sie ging mir nicht in die Falle.

Anstatt zu fragen, wer das nun wieder sei, sah sie mich nur aufmerksam an und nickte erwartungsvoll mit dem Kopf.

»Ich glaube, wenn nicht der Name Tesla im Spiel gewesen wäre, hätte ich diese Geschichte kaum beachtet«, fuhr ich fort, »aber so...«

Die Sonne war inzwischen gewandert und mein Liegestuhl war komplett aus dem Schatten geraten. Ich spürte, wie sich auf meiner Stirn und der Oberlippe kleine Schweißperlen bildeten. Ich überlegte kurz, in den Schatten links neben mir umzuziehen, ließ es dann aber bleiben, weil ich nicht wusste, wie sich eine solche Aktion auf unsere Unterhaltung auswirken würde. »Also, das Ganze läuft so«, dozierte ich, »Tesla geht von der Multiversen-Theorie aus, die aus der Quantenmechanik abgeleitet ist. Diese Theorie behauptet, dass es nicht nur ein Universum gibt, sondern mehrere, theoretisch unendlich viele, die sich in einer beliebigen Anzahl von Aspekten, möglicherweise aber auch nur in einem einzigen, von unserem Universum unterscheiden.

Viele dieser zahllosen Universen liegen komplett außerhalb des unsrigen. Andere dagegen sind mit unserem nahezu deckungsgleich oder überschneiden sich mit ihm. Wir bemerken aber nichts von ihnen, weil sie in einer anderen Dimension liegen und ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum beanspruchen.

Laut Tesla kann es nun in sehr seltenen Fällen geschehen, dass aufgrund von Quantenfluktuationen eng benachbarte Dimensionen für kurze Zeit miteinander interagieren können.

Es bilden sich Dimensionsrisse, die einen Austausch von Materie und/oder Energie zwischen den Parallelwelten zulassen. Tesla belegt diese Thesen mit äußerst komplizierten Formeln und Berechnungen, die zugegebenermaßen mein Mathematikverständnis leider bei weitem übersteigen.

Ich habe aber noch nichts davon gelesen, dass er von jemandem, der seine Berechnungen nachvollziehen kann, widerlegt worden wäre.

Man hat sich wohl lieber dazu entschlossen, ihn einfach zu ignorieren.«

»Was passiert denn nun, wenn diese Risse entstehen?«, fragte sie gespannt.

»Das weiß niemand so genau. Aber Tesla hat verschiedene Möglichkeiten beschrieben. Nach seinen Erkenntnissen könnten Objekte oder Personen aus der benachbarten Dimension plötzlich in der unseren auftauchen oder auch aus der unseren in die andere entweichen. Vielleicht lässt sich damit sogar das immer wieder beobachtete rätselhafte Verschwinden von Objekten aus Damenhandtaschen erklären«, grinste ich.

Sie rümpfte die Nase und schnitt mir eine Grimasse.

»Nein«, fuhr ich fort, »aber diese Thesen könnten ein neues Licht auf so manches Phänomen werfen. Kam Kaspar Hauser vielleicht aus einer Parallelwelt? Oder der Michael Jackson der späten Achtziger?

Immer wieder werden Fälle unerklärlichen Verschwindens berichtet. Ist das Bernsteinzimmer vielleicht in einer Nachbar-Dimension verschwunden? Dann Gratulation, liebe Nachbarn. Ist das Bermuda-Dreieck eine Schwachstelle unserer Welt, sodass Risse hier sozusagen chronisch auftreten? Möglicherweise könnten Objekte oder Personen auch in eine unterschiedliche Zeit, hier oder in der Parallelwelt, versetzt werden.

Dann würden Geschichten von Zeitreisenden erklärbar, sogar ohne einige der hirnerweichenden Paradoxa, die sonst üblicherweise damit verbunden sind.«

Ich sah, dass sie skeptisch die Brauen hochzog.

»Ich weiß, das klingt alles äußerst spekulativ und auflagensteigernd, aber viele geläufige Rätsel ließen sich mit Teslas Theorie tatsächlich sehr elegant erklären«, beharrte ich und fuhr fort:

»Faszinierend finde ich auch eine weitere Möglichkeit der Interaktion zwischen den Dimensionen, nämlich die energetischen Wechselwirkungen.

Das schließt altbekannte Phänomene ein wie Geistererscheinungen, Präkognition, Telepathie und Telekinese - alle letztlich zu interpretieren als Ausgleich energetischer Differenzen, damit die Risse in den Universen sich wieder schließen können.

Nach Tesla wäre sogar so etwas wie ein Identitäts-Tausch von zwei Personen möglich. Als Folge eines Lokalisations-Fehlers aufgrund der Heisenbergschen Unschärferelation. Eine kleine kosmische Verwechslung.

Sie wären dann plötzlich ich und ich Sie, und wir würden beide davon nichts bemerken.

Einer von uns befände sich dann in der benachbarten Dimension, die sich von der unseren vielleicht nur in einem winzigen Detail unterscheidet.

Tesla vermutet, dieses Phänomen könnte speziell dann auftreten, wenn zwischen den beiden beteiligten Personen ein - wie auch immer geartetes - Spannungsfeld besteht«, sagte ich bedeutungsvoll.

Möglicherweise ein erotisches, fügte ich im Stillen hinzu.

Als hätte sie meinen Gedanken geahnt, bekam ich dafür von ihr prompt die Quittung.

»Wie«, rief sie mit gespieltem Entsetzen, »heißt das etwa, wenn jetzt und hier ein Dimensionsbruch stattfände, würden Sie womöglich in mich eindringen und ich in Sie?«

Dieses Biest. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.

»Das klingt jetzt etwas seltsam und gewalttätig, aber im Prinzip wäre es möglich«, sagte ich schnell. »Immer vorausgesetzt, dass Tesla recht hat und man außerdem annimmt, dass zwischen uns beiden irgendein Spannungsverhältnis besteht. Aber wir würden den Tausch unserer Identitäten gar nicht bemerken. Man darf sich das nicht wie die Invasion der Körperfresser vorstellen. Wir würden auch die Erinnerungen, die Emotionen, die Gedanken, die ganze persönliche Geschichte - eben alles vom anderen übernehmen. Lediglich unsere Identitäten würden ausgetauscht. Nach Tesla könnten sich nur minimale Spuren der ehemaligen Persönlichkeit in die neue integrieren.«

»Wir würden es nicht merken«, sinnierte sie. »Wie beruhigend. Aber eigentlich auch wieder schade.« Sie zupfte ihr Oberteil zurecht und setzte damit allen Ausbruchsversuchen ein Ende.

Meinen letzten Blick, von mir nur schlampig getarnt, hatte sie vermutlich bemerkt. Ich war aufgeflogen.

Meine Gesichtsfarbe reifte zu einem tiefen, herbstlichen Rot.

»Es wäre schon spannend, zu erfahren, wie es wirklich so in Ihnen aussieht«, ergänzte sie.

Sie sah mich an und sagte dann teuflisch: »Oh, ich glaube, Sie waren zu lange in der Sonne. Ihr Kopf ist ja schon ganz rot.«

Jetzt war es an der Zeit, meinen aufgeschobenen Plan auszuführen. Ich ergriff die Flucht.

»Sie haben vermutlich recht«, sagte ich etwas steif, stand auf und zog mein Liegemöbel von ihr weg, weiter nach links in den Schatten. Dann holte ich den Rucksack und verschob schließlich auch noch den Bücherstapel am Boden.

Sie sah mir zu, ohne meine Aktion zu kommentieren.

Als ich mit der Räumerei fertig war, legte ich mich wieder auf das altmodische Teil, das mit elastischem Federn mein Gewicht auffing.

Sie machte keine Anstalten, mir zu folgen.

»Das ist wirklich starker Tobak, diese Theorie der Dimensionsrisse«, konstatierte sie aus der Ferne. »Ich denke aber nicht, dass man das glauben sollte. Ich hätte ja keine ruhige Minute mehr, wenn ich mit der Vorstellung leben müsste, dass jeden Augenblick das ganze Universum aufreißen kann. Wenn ich nur daran denke, was ich da schon mit meinen Strumpfhosen mitmache.«

»Sie würden ja nichts davon merken«, erinnerte ich sie lachend, »und es wäre wirklich äußerst selten.«

Sie streckte und dehnte sich auf ihrer Liege.

»Trotzdem«, murrte sie und ihre Stimme klang etwas schläfrig.

»Ich halte es lieber mit seinen Kollegen und glaube, dass dieser Tesla ein Spinner ist.«

»Kann ja auch sein«, sagte ich. »Ich weiß selber noch nicht, wie stark ich ihn im Artikel berücksichtigen und wie ich ihn bewerten soll. Wenn ich ihn zu ausführlich behandle und nicht genug kritisiere, hagelt es wieder Kommentare, die mich als kritiklosen Esoteriker beschimpfen. Oder als populistischen Journalistenfuzzi. Oder gar als Flachpfeife, die von ihrem Gegenstand hoffnungslos überfordert ist. Alles schon dagewesen.«

Ich seufzte.

»Machen Sie sich nichts draus«, meinte sie. »Meistens hört man doch immer nur von denen, die nicht einverstanden sind. Die anderen haben ja keinen Druck, den sie loswerden müssen.

Wollen Sie denn immerzu von allen nur geliebt werden?«, feixte sie.

Sie konnte es einfach nicht lassen.

Mich zu provozieren. Zu ärgern. Zu verunsichern.

Seltsamerweise erfüllte mich diese Feststellung aber nicht mit Unmut oder Ärger, sondern eher mit einem fast schon kindischen Stolz. Stolz auf die Beachtung, die sie mir schenkte.

Es war ein gutes Gefühl.

Ihre Augen waren jetzt geschlossen.

Ein Signal, dass unser Gespräch damit beendet war.

Oder zumindest eine Pause brauchte.

Von der nahen Turmuhr wehten Glockenschläge herüber und zwangen mich zum Mitzählen.

Fünf Uhr.

Während ich noch zählte, schien plötzlich die Farbe aus der Welt zu fließen. Die Umrisse der Dinge verbogen sich und verschwammen zu surrealen Formen, wie Reflektionen eines riesigen Zerrspiegels.

Ich rieb mir erstaunt die Augen, dann wurde es schwarz um mich herum.

Ich musste ein wenig eingenickt sein.

Der Professor neben mir packte gerade seine Bücher in den Rucksack.

Ganz netter Typ, intelligent, witzig. Physisch genau meine Kragenweite. Und ich hatte ihm sehr gefallen, das hatte er nicht verbergen können, trotz angestrengter Versuche. Niedlich.

Leider ein wenig zu unsicher, zu abwartend. Zu leicht zu entmutigen.

Und ein Macho.

Ein schüchterner Macho. Wirklich niedlich.

Ich grinste in mich hinein.

Ich hatte ihm ganz schön zugesetzt, aber er ließ sich nichts anmerken.

Jetzt nickte er mir zu und sagte:

»War nett, mit Ihnen zu plaudern. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, hier im Bad oder auch in der Stadt.«

»Unwahrscheinlich«, bedauerte ich.

»Ich bin nur noch zwei Tage hier.«

Dann setzte ich hinzu:

»Aber unwahrscheinlich ist ja nicht un-möglich, wie ich gelernt habe. Also wer weiß?«

Er lachte sein sympathisches Lachen.

»Bis dahin also, eventuell.«

Den Rucksack in der Hand ging er über den Rasen auf die Backsteintreppe zu.

Auf seinem Rücken war ein interessantes, kunstvolles Rillenmuster zu sehen, tief eingeprägt in seine Haut von der Plastikbespannung des alten Liegestuhls, auf dem er gelegen hatte.

Betont sportlich im Bewusstsein, dass ich ihm nachsah, sprang er die Treppe hoch und war dann im nächsten Moment hinter der Biegung verschwunden.

Ein seltsames Gefühl des Bedauerns machte sich in mir breit. Und das vage Empfinden eines soeben erlittenen Verlustes.

Ein Gong ertönte.

Dann folgte wieder eine dieser unverständlichen Durchsagen, die echt nerven konnten, weil man nie wusste, ob es nicht doch mal etwas Wichtiges gab, das einen selber betraf.

Ich fischte in meiner Tasche nach einem der restlichen Saftpäckchen und erwischte Ananas. Ich entfernte den Strohhalm von der Außenseite, stieß ihn mit der Spitze durch das folierte Loch und spritzte mit Druck auf das Päckchen den Saft in meinen Mund. Er schmeckte sehr süß und ziemlich synthetisch.

Seufzend sog ich den Geruch der Kokosmilch auf meiner Haut tief in die Nase.

Kritisch betrachtet ich meine Tasche und die Flipflops.

Irgendwie hatte ich das aufdringliche Mintgrün satt.

Obwohl es noch sehr warm war und kein Lüftchen sich regte, fröstelte ich leicht.

Resigniert lehnte ich mich noch etwas mehr in der Liege zurück und zupfte das weiße Oberteil zurecht. Ich sah in den hellen blauen Himmel, über den sehr, sehr langsam einzelne Federwolken zogen.

Zwischen einigen dieser Wölkchen, fast genau über mir, entdeckte ich die schwach leuchtende, noch sehr schmale Sichel des Mondes. Er war am Zunehmen, wenn mich meine Eselsbrücke nicht täuschte.

Kurz darauf sah ich, wie sich ein heller Kondensstreifen zielstrebig zur Sichel hinbewegte. Dann kam, etwas schneller, aus einer anderen Richtung noch ein zweiter Doppelstrich, der dasselbe Ziel zu haben schien.

Fasziniert sah ich zu, wie die beiden hellen Streifen sich genau über der Sichel in einem spitzen Winkel trafen.

Für eine kurze Zeit sah es so aus, als hätte jemand den Mond mit einem weißen Stift angekreuzt, wie das Antwortfeld einer Multiple-Choice-Aufgabe.

Dann lösten sich die Streifen allmählich auf und wurden vom Wind weggetrieben.

Der Legionär

Es war kurz nach acht, als Porter bei der Kneipe ankam.

Schon seit Stunden war es dunkel und das Leuchtschild über der Tür, auf dem sich der Schriftzug ›Streichholz‹ aus Rauchfäden formte, die aus dem glimmenden Kopf eines liegenden Streichholzes aufstiegen, war eingeschaltet.

Auf dem Bürgersteig waren überall große Haufen aus schmutzigem Schnee aufgetürmt.

Der Zugang zum Streichholz war geräumt und die dünne Neuschneeschicht taute fleckig unter den groben Salzkörnern, die locker am Boden verteilt waren.

Immer noch taumelten langsam große Schneeflocken aus dem Nachthimmel, der vom großstädtischen Lichtergemisch aus Straßenlaternen, Verkehrsampeln, Autoscheinwerfern und der Illumination von tausenden Schaufenstern und Leuchtreklamen orangerot eingefärbt war. Farblich immer wieder überraschend, dachte Porter, der stark erkältet war und sich elend fühlte.

Nur widerwillig hatte er sich dazu gezwungen, in der Kneipe nach dem Rechten zu sehen.

Er ging die drei Stufen hoch, trampelte ein wenig auf dem Metallgitter vor dem Eingang herum, um Schnee und Streugut von seinen Stiefeln zu entfernen und öffnete die massive Holztür. Er teilte den schweren dunkelbraunen Vorhang vor dem Windfang und betrat den geräumigen Gastraum.

Die Nostalgiekneipe war um diese Zeit noch spärlich besucht; nur zwei junge Männer, vermutlich Studenten, bearbeiteten routiniert den Flipperautomaten in der hinteren Ecke.

Links vom Eingang, hinter dem langen Tresen, war Porters Partner Józef, den alle wegen seiner Leidenschaft für Motörhead und seiner fatalen Ähnlichkeit mit dem Frontmann der Formation nur Lemmy nannten, gerade damit beschäftigt, ein frisches Alufass mit Bier anzuzapfen.

»Hi Lemmy«, grüßte ihn Porter, »warum ist es so still hier? Hat einer die Motörhead-Platten geklaut?«

Lemmy öffnete das Rad für die Sauerstoffzufuhr an der großen, grauen Flasche und kontrollierte am Manometer den Druck.

»Wenn jemand die geklaut hätte, dann wüsste ich auch, wo ich sie suchen muss.«

»So etwas Nutzloses würde ich nie tun«, lachte Porter schwach.

»Ich weiß doch, dass du zuhause jede Menge Ersatz hast.«

»Und zwar verschärften Ersatz«, grinste Lemmy. »Ach ja, apropos Scheiben: Zitronen sind alle.«

»Muss heute mal ohne gehen. Ich bin raus aus der Nummer.« Aus dem Retrofflipper hinten kam ein lautes Klacken. Freispiel. Porter deponierte seinen Parka neben dem Flaschenschrank hinter dem Tresen und zog die elektrische Pfeife aus der Innentasche. Er legte ein Depot mit Eukalyptus ein und wollte sich eben einen Schluck Bier genehmigen, als ein neuer Gast durch den Windfang den Raum betrat.

Porter und Lemmy sahen sich vielsagend an. Sie hatten ihn beide noch nie gesehen, aber die jahrelange Erfahrung sagte ihnen, dass der Typ mit dem für diese Jahreszeit auffällig sonnengebräunten Gesicht Ärger bedeutete.

Vielleicht war es der provozierende Blick, mit dem er sich umsah, vielleicht das minimale Schwanken, das verriet, dass er schon jetzt nicht mehr ganz nüchtern war, vielleicht auch die kleinen, ruckartigen Kopfbewegungen, denen etwas raubvogelhaft Lauerndes anhaftete.

Vermutlich aber war es das alles zusammen.

Er trug eine Fellmütze mit Ohrenklappen, die er abnahm und zusammen mit seiner abgetragenen gepolsterten Jacke an einen Haken neben dem Eingang hängte.

Offenbar hatte er beschlossen, länger zu bleiben.

Mit schnellen, prüfenden Blicken sah er sich im Gastraum um, ob jemand von seinem Eintreten Notiz genommen hatte und ihn ansah, vielleicht in einer Art und Weise, die ihm nicht gefiel oder die er doch wenigstens zum Anlass nehmen konnte, um einen Streit, im Idealfall sogar eine Schlägerei anzuzetteln.

Aber da waren immer noch nur die beiden Studenten am Flipper, die völlig von ihrem Spiel beansprucht wurden und ihm keine Angriffsflächen boten.

Also ging er an die Theke und taxierte zuerst Lemmy und dann Porter. Weil Lemmy am Zapfhahn stand, kam er nach kurzer Überlegung zu dem Schluss, dass dieser von den beiden die wichtigere Person sei.

Er streckte ihm über den Tresen hinweg die Hand entgegen.

Der gebräunte Handrücken war etwas unbeholfen mit einer Art Flamme tätowiert.

Lemmy, der keine gesteigerte Lust auf Handgreiflichkeiten zu haben schien, ergriff aus genau diesem paradoxen Grund die Pranke, die ihm da fordernd entgegengestreckt wurde und versuchte, sie zu schütteln und dann gleich wieder loszulassen. Der Versuch misslang, denn der Provokateur hielt Lemmys Hand fest und drückte sie immer kräftiger. Porter sah, wie Lemmy kurz vor Schmerz zusammenzuckte, dann aber den Druck entschlossen erwiderte.

Man sah es Lemmy nicht an, aber Porter wusste, wie er mit den Fünfzigliterfässern umging und er hatte auch gesehen, wie er Kerle, die um einiges größer waren als er selbst, bei Kragen und Hosenboden gepackt und mit Schwung aus der Kneipe befördert hatte.

Die beiden Kontrahenten verharrten einige Zeit in diesem Ritual des Kräftemessens und die Adern an den Schläfen der beiden traten schon in der Stärke dreipoliger Elektrokabel hervor.

Dann ließ der neue Gast plötzlich los und lachte.

»Nicht schlecht«, nickte er Lemmy anerkennend zu, »ich bin Jakub.«

Er drehte sich zu Porter und grüßte, besser gesagt, salutierte, indem er die Hand an eine imaginäre Kopfbedeckung führte.

Er schien ihn in die Akzeptanz, die er nun Lemmy entgegenbrachte, gleich miteingeschlossen zu haben.

Porter nickte ihm zu, einigermaßen froh darüber, dass nicht auch er sich noch die Flosse zerquetschen lassen musste, saugte Eukalyptusdampf aus der Pfeife in seine Lungen und fragte sich, ob der neue Gast Soldat war.

Jakub kletterte auf einen der Barhocker.

Lemmy, alias Józef, der aus Polen stammte, vermutete in Jakub einen Landsmann und sagte etwas auf polnisch zu ihm.

Jakub zuckte leicht zusammen, starrte Lemmy an und fragte ihn dann: »Wie heißt du?«

»Józef«, antwortete dieser, »aber du kannst Lemmy zu mir sagen, wie die anderen auch.«

»Hör gut zu, Lemmy-Józef«, sagte Jakub, »ich bin zwar dort geboren und groß geworden, aber das ist schon gar nicht mehr wahr. Ich bin keine Pole mehr und die Scheißsprache habe ich längst vergessen. Also quatsch mich nie mehr so an.«

Wie lange kann das denn schon her sein? Der Kerl ist höchstens dreissig, keinen Tag älter, dachte Porter.

Wenn Lemmy über die heftige Reaktion erstaunt war, dann ließ er es sich nicht anmerken.

»Schon gebongt. Was willst du trinken?«

Nach längerem Hin und Her entschied Jakub sich für ein Bier und einen Wodka Zubrowka. »Das einzig Gute, das die Polen je zustande gebracht haben«, bemerkte er dazu grinsend, aber Lemmy ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Der kleine Zwischenfall hatte Porter endgültig davon überzeugt, dass der Abend für ihn im Arsch war. Er würde nicht wieder nach Hause gehen und sich aufs Sofa vor den Fernseher legen können, um seine Krankheit zu pflegen.

Das Streichholz lag am Rand eines ausgedehnten Vergnügungsviertels und sie hatten öfter mit Irrläufern zu tun, die schon aus dem einen oder anderen der dortigen Etablissements geflogen waren und dementsprechend gereizt und angriffslustig waren. Bei diesem Jakub lag der Fall zwar etwas anders, weil es noch so früh am Abend war und die Versprengten in der Regel wesentlich später kamen. Trotzdem war auch der brisant und konnte jederzeit hochgehen, wenn man nicht aufpasste.

Um Typen wie diesen Jakub ruhig zu stellen und eine Schlägerei zu vermeiden, war eine Sonderbewachung erforderlich, das heißt, jemand musste sich den ganzen lieben Abend lang um ihn kümmern, ihm zuhören, mit ihm reden, ihn beruhigen, sich für ihn interessieren. Sich einfach mit ihm abgeben. Und nach Lage der Dinge würde dieser Jemand wohl er, Porter, sein. Er hatte irgendetwas an sich, das diese verzweifelten Existenzen anzog wie ein Hundehaufen die Fliegen. Man konnte es Geduld nennen oder auch Lethargie, jedenfalls war es, als ob ein Schild um seinen Hals hängen würde, auf dem geschrieben stand ›Quatscht mich voll‹.

Also zapfte er sich ein Bier und legt sich dann als Köder aus.

Er setzte sich auf einen der Barhocker vor der Theke, nicht direkt neben Jakub, sondern in einigem Abstand. Er sprach ihn nicht an und sah auch nicht zu ihm hin, sondern saß einfach nur da und wartete darauf, dass er von selber ankam.

Lange brauchte Porter nicht zu warten, dann gab ihm Jakub einen Zubrowka aus und erkaufte sich damit das Recht, neben ihm am Tresen einzurasten und ihm in den nächsten Stunden die Geschichte seines Lebens zu erzählen.

Das Streichholz füllte sich jetzt zusehends und Lemmy hatte gut zu tun.

Während er Gläser mit Getränken füllte, versuchte Jakub zu erzählen, warum er nichts mehr mit Polen zu tun haben wollte. Hartnäckig kämpfte er dabei gegen die Lärmübermacht einer Mischung aus Hardrock und den Stimmen von Leuten an, die alle gleichfalls versuchten, sich gegen Lemmys kommunikationsfeindliche Kultmusik durchzusetzen.

Soweit Porter die wirre Erzählung auf dem Hintergrund dieser Geräuschkulisse verstehen konnte, war Jakub als Jugendlicher in eine Sache hineingeraten, die ihn in schwerwiegende Konflikte mit dem polnischen Staat gebracht hatte.

Welcher Art diese waren, ließ er im Dunkeln, auf jeden Fall setzte er sich wohl aus Polen, wo sein Ausweis eingezogen worden war, von Usedom über die Ostsee nach Schweden ab.

Jemand hatte ihm von der Légion étrangère, der französischen Fremdenlegion erzählt und dass man dort seinen richtigen Namen nicht zu nennen brauchte.

Das schien ihm genau das Ding zu sein, nach dem er suchte:

Abenteuer in fremden Ländern mit einer neuen Identität, ordentlich Kohle und der Aussicht, am Ende Franzose zu werden. »Ich war ein junger Kerl«, schrie er Porter ins Ohr, »verstehst du, stark wie ein Bulle und durch nichts aufzuhalten. Durch nichts auf der Welt.«

Er orderte ein neues Bier und zwei Wodka und verlor dabei den Faden seiner Erzählung.

Im annähernd vollen Schankraum verdichtete sich allmählich der E-Zigaretten-Dampf zu einem feinen Nebel, der stark nach den verschiedensten Kräutern, Gewürzen und exotischen Aromen roch.

Jakub hob sein Schnapsglas in die Höhe und verschüttete dabei die Hälfte des Inhalts. Dann brüllte er: »À la tienne! Legio Patria Nostra! Auf die Legion!« und salutierte wieder.

Porter, dessen Bild von der Fremdenlegion in der Hauptsache durch Laurel und Hardy geprägt war, verstand jetzt, woher diese alberne Grußkrankheit kam.

Wie er bald erfahren sollte, war der Dienst in der Legion aber alles mögliche, nur eines gewiss nicht: ein Spaß.

Wie Jakub ohne Papiere von Schweden nach Frankreich gekommen war, blieb sein Geheimnis. Vermutlich war auch dabei nicht alles im Rahmen der Gesetze, gleich welchen Landes, geblieben.

Jedenfalls hatte er sich in Lille rekrutieren lassen und war wenige Tage später nach Paris verfrachtet worden.

Dort fand man offenbar, dass der starke Jungbulle gut dazu verwendet werden konnte, französische Interessen in der Welt durchzusetzen.

Also ging es ab nach Aubagne ins ›Mutterhaus‹ und dann war er für fünf Jahre dabei.

»Honneur et Fidélité«, brachte er wieder lauthals einen französischen Toast aus und schmetterte seinen Bierkrug so heftig gegen den von Porter, dass der ihn schon zu Bruch gehen sah.

Jakubs Zunge wurde jetzt zunehmend schwerer und es wurde immer mühsamer, seinen Reden zu folgen.

Je mehr er intus hatte, insbesondere vom guten Zubrowka, desto öfter wiederholte er sich oder stolperte beim Versuch, einen Satz zu bauen, über einzelne Wörter.

Auch die zeitliche Reihenfolge seiner Abenteuer geriet offenbar mehr und mehr durcheinander.

Vielleicht vermischte er aber auch Gehörtes oder Gelesenes mit seinen eigenen Erlebnissen.

Immer wieder faselte er von Algerien, wohin er nach einer knallharten Ausbildung verschifft worden sei. Der brutale Drill der französischen Schleifer sei nichts gewesen gegen die Hölle, die ihn dort erwartet habe.

Porter hatte nicht viel Ahnung von Geschichte, aber diese ganze Algerien-Sache vermutete er zeitlich so in den Fünfzigern, höchstens noch in den Sechzigern und da Jakub kaum älter als Anfang dreissig sein konnte, war es unmöglich, dass er das alles wirklich erlebt hatte.

Entweder war er also ein Aufschneider und wollte sich mit den Geschichten, die er zusammenfantasierte, wichtig machen, oder er glaubte selber an das, was er da auftischte.

Porter war nicht besonders neugierig darauf, herauszufinden, was wohl richtig war.

Er bat Lemmy, ein Auge auf Jakub zu haben und riskierte es, aufs Klo zu gehen.

Als er zurückkam, wurde er bereits vermisst.

Jakub hatte sich seinem Nachbarn auf der anderen Seite zugewandt, um zu testen, ob dieser vielleicht ein geeigneter Kandidat dafür wäre, ihm entweder einen auszugeben oder ihm eine aufs Maul zu hauen, falls er sich nicht einladen lassen wollte.

Zum Glück hatte der schon so viel von Porters Mission mitbekommen, dass er sich lieber sein Getränk griff und schnell damit in der dampfgeschwängerten Luft und in der Menge der anderen Gäste untertauchte.

Der Punkt, an dem der vorgebliche Legionär noch in der Lage gewesen war, einigermaßen zusammenhängende Geschichten zu erzählen, war jetzt offenbar überschritten.

Immer wieder fluchte er auf General de Gaulle und wünschte den Hurensohn zum Teufel und ganz Algerien mitsamt seinen dreckigen Bewohnern zur Hölle.

Mehr und mehr kochte in ihm eine widerwärtige Mischung aus primitiven, dumpfen Ressentiments, rassistischen Vorurteilen, hasserfüllten Gewaltfantasien und devotem Kadavergehorsam hoch.

Er schrie etwas von dreckigen Kanaken, von Ungeziefer, das man mit dem Flammenwerfer ausräuchern sollte und von ehrlosen Verrätern, denen man eine Uzi in den Arsch schieben und die Scheiße aus dem Leib schießen sollte.

Porter war kurz davor, aufzustehen und zu gehen.

Er fühlte sich ziemlich mies und die Brocken, die Jakub ihm jetzt hinwarf, gaben ihm fast den Rest.

Aber er zögerte noch, weil er Lemmy nicht im Stich lassen wollte.

Dann plötzlich schwadronierte Jakub über einen Kameraden, der, durch einen Bauchschuss schwer verwundet, neben ihm gelegen habe.

»Er hat geschrien, hörst du, geschrien, ich habs nicht mehr hören können. Er war jünger als ich, viel jünger als ich noch. Hat gebettelt, ich soll ihn erschießen. Geschrien und gebettelt und geschrien; ich habs nicht mehr anhören können. Hab meine Pistole genommen, ihm in den Mund gesteckt und abgedrückt, nur damit Ruhe ist. Ich hab ihn erschossen, hörst du, erschossen wie einen Hund. Meinen Kameraden, meinen Freund.«

Er schluchzte hemmungslos und wie er so über dem Tresen hing und heulte, tat er Porter plötzlich wieder leid.

Egal, wie viel von dem, was er da auskotzte, wirklich stimmte, er war doch in jedem Fall ein zutiefst unglücklicher Mensch, der sich Gefühlen wie Spott, Hass oder Verachtung allein durch die grausame Offensichtlichkeit seines Elends entzog.

Porter versuchte, die Striche auf Jakubs Bierfilz zu zählen.

Es waren viele, sehr viele, so viele, dass man im Hinblick auf seine Gesundheit keinen weiteren mehr hinzufügen sollte.

Leider war damit zu rechnen, dass Jakub das nicht so einfach hinnehmen würde.

Porter winkte Lemmy zu sich.

»Wir sollten ihm nichts mehr geben«, meinte er und Lemmy nickte zustimmend.

»Ich versuche mal, ihn abzukassieren. Was soll ich machen, wenn er nicht blechen kann oder will?«, fragte er.

»Vergiss es, wir schreiben es ab. Mir ist lieber, er ist draußen ohne zu bezahlen, als dass wir hier Riesenärger haben. Das verschreckt uns die anderen Gäste und kostet uns unterm Strich noch viel mehr.«

Aber dann ging es doch einfacher, als sie befürchtet hatten. Alle Angriffslust und alle Hassgefühle, die in Jakub getobt hatten, waren auf einmal aus ihm entwichen wie die Luft aus einem Ballon und nur mehr eine schlafe Hülle war übrig geblieben.

Auf Lemmys Aufforderung, zu bezahlen, zog er einen zusammengeknüllten Schein aus der Hosentasche und schob ihn wortlos über den Tresen.

Er reichte nicht ganz aus, um seine Zeche restlos abzudecken, aber es war mehr, als sie erwartet hatten und damit allemal genug.

Beim Versuch, vom Barhocker herunterzuklettern, verlor Jakub das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

Ein Stammgast half mit, ihn wieder auf die Beine zu stellen.

Porter bugsierte ihn durch die Menge Richtung Ausgang.

»Kommst du klar?«, fragte Lemmy.

»Er schaft es nicht mehr allein«, stellte Porter fest. »Ich kümmere mich drum. Morgen rufe ich dich mal an.«

Beim Windfang fand er Jakubs Mütze mit den Ohrenklappen, zog sie ihm über die kurzen braunen Haare und stopfte ihn in die Jacke, die darunter hing.

Draußen schwebte am orange-grauen Himmel eine Handvoll Polizeidrohnen, die das angrenzende Vergnügungsviertel mit ihren Nachtsichtkameras kontrollierten.

Es fiel kein Schnee mehr, dafür hatte sich nun eine schneidende Kälte über die Straßen gelegt.

In den Nasenlöchern gefror der Rotz zu kleinen Eisplättchen.

»Wo musst du hin?«, fragte Porter Jakub mehrmals mit wachsendem Nachdruck.

Endlich drang er bei ihm zu einer Bewusstseinsschicht durch, die offenbar grade Nachtdienst schob.

Jakub öffnete umständlich den Reißverschluss seiner Jacke zur Hälfte und angelte aus der Innentasche ein amtliches Schreiben in einem hellblauen Kuvert heraus.

Im Fenster des Kuverts konnte man die Adresse lesen:

Lange Gasse 37.

Porter kannte die Straße. Sie war nicht allzu weit vom Streichholz entfernt.

Zusammen mit dem besoffenen Jakub, der sich jetzt dazu entschlossen hatte, in einen der dreckigen Schneehaufen am Rand der Straße zu pinkeln, konnte sich der Weg allerdings trotzdem in die Länge ziehen.

Wenigstens war kein Taxi nötig. Mit ziemlicher Sicherheit hätte kein Fahrer Jakub mitgenommen, aus Angst, er würde ihm in den Wagen kotzen.

Porter wartete, bis Jakub fertig war und fror, während dieser von der Kälte dank seines Promillepegels kaum etwas zu spüren schien. Während er noch mit seinem Hosenstall beschäftigt war, rutschte er aus und stürzte kopfüber aufs Pflaster.

Das dumpfe Geräusch des Aufpralls ging Porter durch und durch.

Unerwartet schnell gelang es Jakub, sich in eine sitzende Position zu bringen.

Er blutete an der Stirn.

Porter kramte eine Packung Papiertaschentücher hervor und versuchte, ihm eines davon auf die Wunde zu drücken, aber Jakub winkte ab und lallte:

»Lass nur ... lass ... die Kugel .. die Kugel macht das schon.«

»Du brauchst dich doch deshalb nicht gleich zu erschießen«, beruhigte ihn Porter, »ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

Jakub sah ihn verständnislos an.

»Komm hoch, sonst frierst du noch am Boden fest.«

Porter versuchte vergeblich, den Gestürzten hochzuziehen, konnte ihn aber alleine nicht mehr aufrichten und musste sich schließlich erneut von einem der Gäste, die grade die Kneipe verließen, helfen lassen.

Porter legte Jakubs linken Arm über seine Schulter und machte sich vorsichtig mit ihm auf den Weg.

Auf halber Strecke kehrten noch einmal kurz die Hassfantasien zurück. Wenn er mal abträte, verkündete der Pseudo-Legionär, würde es hässlich werden. Dann würde er ganz viele mitnehmen, sie alle mit der Uzi niedermähen.

Aber Porter nicht, weil der sein bester Freund sei.

Porter fand diese Einstufung zutiefst deprimierend, offenbarte sie doch das ganze Ausmaß der Einsamkeit dieses Menschen.

Endlich erreichten sie das Haus mit der richtigen Nummer, einen großen, ziemlich heruntergekommenen Altbau.

Porter lehnte Jakub erst einmal gegen die Wand.

Als er in sein Gesicht sah, machte er große Augen: Die Wunde an der Stirn war kaum mehr zu sehen.

In diesem Mann schienen unglaubliche Selbstheilungskräfte zu wohnen.

Porter schaute noch einmal genauer hin, aber er konnte keine Wunde mehr entdecken, auch keine Narbe oder sonst irgendeine Spur einer Verletzung. Selbst das Blut war verschwunden, so als hätte Jakubs Haut es aufgesaugt.

Porter war verblüfft und beunruhigt, aber genauso, wie Unerklärliches zwar verunsichert, erweckt es auch Neugierde und den Wunsch, das Rätsel zu lösen.

Jakub war inzwischen wieder völlig teilnahmslos und pendelte schwankend an der Mauer hin und her.

Porter klopfte seine Jackentaschen nach den Schlüsseln ab und hoffte inständig, sie dort zu finden und nicht in einer der engen Hosentaschen.

Und dass überhaupt welche da waren.

Er hatte Glück.

Ein großer Bartschlüssel passte zum Schloss der massiven, hölzernen Haustür.

Porter schloss auf und schob Jakub vor sich her durch den Eingang. Sie standen unter einem Gewölbe, das den Treppenaufgang überspannte und sich zu einem verschneiten Hinterhof hin öffnete.

In der Mitte des Hofs stand ein einzelner alter Baum mit rauer, rissiger Rinde und dicken Schneepolstern auf den ausfächernden kahlen Ästen.

Es gab mehrere Türen. Die eine gehörte zu einem ausgedienten Waschhaus, in dem man durch ein schmutziges Fenster abgestellte Fahrräder erkennen konnte, eine zweite führte wohl in den Keller hinunter und wieder eine andere, halb geöffnet, in einen Raum mit grauen und grünen Plastikmülltonnen.

»Wohin jetzt?», fragte Porter Jakub, der über seinen Schultern hing wie ein angezählter Boxer in den Ringseilen.

Jakub deutete mit dem Kopf auf eine einzelne, dunkelbraun furnierte Tür in der Wand neben dem Treppenaufgang. Die Tür hatte kein Namensschild, aber neben ihr hing ein kleiner grauer Briefkasten mit einem Aufkleber, auf dem in ausgebleichter Schrift Jakub Wójcik stand.

Also kein zermürbender Transport, womöglich in den dritten Stock, dachte Porter erleichtert und probierte zuversichtlich den anderen Schlüssel im Zylinderschloss der Tür.

Er passte und nach zwei Umdrehungen ließ sich die Tür am abgewetzten Aludrehknopf nach innen drücken.

Porter streifte, so gut es ging, den Schnee an seinen Schuhen auf der Gummimatte vor dem Eingang ab.

An der Wand hinter der Tür ertastete er einen Lichtschalter.

Eine Deckenleuchte mit rundem Milchglasschirm, in dem seit wer weiß wie langer Zeit die Überreste einiger Insekten lagen, warf spärliches Zwielicht in einen kleinen Vorraum. Die elektrische Leitung lief in einem mitgestrichenen dünnen Rohr über den Putz von Wand und Decke.

Gegenüber der Tür, etwa in Augenhöhe, war ein schmales Brett mit drei silberfarbenen Kleiderhaken an der Wand befestigt, an denen nichts hing.

Den Boden bedeckte abgetretenes Stragula aus den Siebzigern. Die alte Teerpappe löste sich schon in einzelne Inseln auf, zwischen denen der nackte Zementboden sichtbar wurde.

Rechts neben dem Garderobenbrett trug eine schmale Tür die Aufschrift Toilette. Der hochtrabende Schriftzug war aus billigen, messingfarbenen Klebebuchstaben zusammengesetzt und wirkte wie ein hilfloser, lächerlicher Versuch, dieses miserable Loch noch etwas aufzuwerten.

Links stand eine Tür, die das gleiche schäbige Nussholzfurnier ertragen musste wie die Eingangstür zu einem dunklen Zimmer hin einen Spalt offen.

Der Flur war unbeheizt, aber dennoch um einiges wärmer als die eiskalte Winternacht draußen.

Porter bugsierte Jakub auf den einfachen hellen Holzstuhl, der links an der Wand des Flurs stand, pellte ihn aus seiner Jacke, und hängte diese an einen der verwaisten Haken.

Eigentlich hätte er jetzt gehen können.

Aber irgendetwas hielt ihn davon ab, eine Art Faszination des Elends und des Erbärmlichen vielleicht, denn es ließ sich kaum ein passenderer Rahmen denken für eine verlorene und völlig hoffnungslose Existenz als diese schrecklich karge und schäbige Behausung.

Jakub war halb besinnungslos auf dem Stuhl zusammengesackt, die Beine, die noch in den schneenassen, klobigen Stiefeln steckten, weit von sich gestreckt, die Arme nach unten hängend, als würden sie nicht zum Körper gehören und den Kopf mit dem Kinn auf die Brust gestützt.

Und als hätte das Schicksal, noch nicht zufrieden mit seiner Grausamkeit, sich einen besonders boshaften Scherz erlaubt, zierte obendrein diese lächerliche Goofymütze mit den gefütterten Ohrenklappen Jakubs Kopf wie eine Narrenkappe.

Porter konnte nicht anders, als sie ihm abzunehmen und an einen der Haken neben der Jacke zu hängen, und es schien ihm, als sei dies ein größerer Akt der Barmherzigkeit gewesen als jener, Jakub wieder zurückzubringen in das Loch, in dem er vegetierte.

Der Drang, nun auch noch den Rest dieser erschütternden Umgebung zu sehen, war stärker als die leise, warnende Stimme in Porters Innerem.

Er öffnete die Tür zu dem dunklen Raum und knipste das Licht an. Es kam von einer wattschwachen Glühbirne, die, eingeschraubt in eine Fassung, an einem kurzen Kabel in der Mitte der Zimmerdecke aus dem Leitungsrohr herabhing.

Der Raum war fensterlos und so kälteklamm wie der Flur.

Geheizt wurde hier offenbar nur hin und wieder mit dem alten, stromfressenden Heizlüfter, der neben dem Bett rechts an der Stirnwand stand. Das Bettgestell war aus Holz, dunkel gebeizt und lackiert, mit einem hohen Kopfteil und einem niedrigeren Fußteil.

In einem solchen Bett hatte Porter als Kind seinen Großvater liegen sehen, mit eingefallenen Wangen, spitzer Nase und pergamentgelber Haut, die ganze Familie um sich versammelt, bis man ihn aus dem Zimmer geschickt hatte.

Auf der Matratze, die in ein schmutziges graues Laken gehüllt war, lagen ein Kissen und ein dünnes Federbett, beide ohne Bezug. Das speckige Glänzen der roten Inletts verriet, dass sie nicht nur vorübergehend unbezogen waren.

Dem Bett gegenüber stand ein billiger, schmaler Schrank aus Pressspan mit Plastikfurnier.

Auf dem Zementboden war auch hier vor langer Zeit Teerpappe verlegt worden.

Kohlgeruch, dessen Herkunft rätselhaft war, da es im ganzen Zimmer keine Kochgelegenheit gab, vermengte sich mit widerwärtig süßlichen Ausdünstungen von Urin und dem Moder des unbelüfteten, feuchten Raums zu einer Mixtur, die Porter nur widerwillig und der schieren Notwendigkeit gehorchend in seine Atemwege eindringen ließ. Dass er den Gestank gerade noch ertragen konnte, verdankte er zum einen der frostigen Temperatur im Zimmer, zum anderen aber auch seiner Erkältung, die sich inzwischen weiter verschlechtert hatte und jetzt zu einem leicht fiebrigen Zustand herangereift war.

In der Mitte des Raums, direkt unter der Glühbirne, standen ein stark abgewetzter, stümperhaft mit weißer Farbe gestrichener Tisch und ein schäbiger, heller Holzstuhl von derselben Machart wie der im Vorraum.

Auf dem Tisch lagen einige Briefe, beschwert mit einem sonderbaren Objekt in der Größe und Form einer Billardkugel.

Die Kugel bestand aus einem Material, das Porter Rätsel aufgab. Zuerst dachte er, es handle sich um mattgestrahltes oder geätztes Kristallglas, dann aber, unter einem anderen Winkel betrachtet, sah es eher aus wie auf Hochglanz poliertes Metall und zeigte seltsam verzerrte Spiegelungen von Dingen, die er im Zimmer aber nirgendwo ausfindig machen konnte.

Dann entdeckte er unter den Briefen ein zusammengefaltetes, vergilbtes Papier mit ausgefransten Rändern.

Er legte den Briefbeschwerer zur Seite, zog es unter den amtlichen Anschreiben hervor und faltete es auseinander.

Es war eine Entlassungsurkunde aus der französischen Fremdenlegion mit Datum vom 18. Januar 1963, ausgestellt auf den Namen Jakub Wójcik.

Hatte er also doch keine Märchen erzählt? War das der Beweis?