Blutrache - Yitzhaq Shami - E-Book

Blutrache E-Book

Yitzhaq Shami

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Beschreibung

Blutrache - Die Rache der Väter, ist eine arabische Novelle, die auf Hebräisch geschrieben wurde.

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Blutrache, Roman, Hebron, Palästina, Osmanisches Reich, Arabisch-hebräische Literatur, Yitzhaq Shami

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Endnoten

1

Seit jeher fiel in den Dörfern in den Bergen von Samaria der Moussam, die Prozession zum Grab von Nabi Moussa, mitten im Frühling, in die Zeit der Blüte.

In dieser Jahreszeit können die Falachen* ihre Arbeit für einige Wochen unterbrechen und Luft schnappen. Die Winterarbeiten sind beendet, das Getreide ist, ohne angeben zu wollen, reif, satt und hoch, wie ein erwachsener Mann, und es gedeiht und wächst von selbst. Sanfte und angenehme Frühlingswinde pflegen es liebevoll. Der Prophet Mussa möge es nur behüten, dass kein Hagel es vernichtet und die Sonne des Chamsins es nicht verbrennt. Man muss zwar schon mit dem Pflügen und dem Säen der Sommersaat beginnen, und auch die einzelnen Feigenbäume, die an den Rändern der Berge wachsen, bedürfen der Auflockerung des Bodens und des Jätens des Unkrauts. Die Oliven schreien förmlich: „Befreit uns von den Erdgürteln, die ihr zu Beginn des Winters um unsere Stämme gemacht habt, um uns vor der Kälte zu schützen. Ihr habt euch auch von den Pelzmänteln befreit, und wir ersticken vor Mangel an Luft und vor Hitze.“ Aber all diese Arbeiten sind nicht dringend, man kann sie aufschieben, der späte Regen wird ihnen guttun, und Nabi Youssef, der in Nablus begraben liegt – er ruhe dort in Frieden – , ist verantwortlich für den späten Regen und für die Ernte und den Segen. Es lohnt sich an sein Grab zu gehen und eine Kerze anzuzünden, in seiner Moschee das Freitagsgebet zu beten und anwesend zu sein, wenn die heilige Fahne für den Moussam herausgeholt wird.

Nur Ungläubige - Allah möge sie verdammen –, die Söhne der entfernt wohnenden Bauern, die in der Ebene leben, neben den Siedlungen der Juden wohnen und für sie arbeiten, haben angefangen die Tradition der Väter zu vernachlässigen und die Heiligkeit dieser Prozession zu missachten. Sie begleiten zwar die Fahne, wenn sie herausgeholt wird, verdrücken sich aber bald danach und kehren noch am selben Tag zu ihrer Arbeit zurück. Man verbreitet über sie üble Gerüchte in den Moscheen und vor den Toren der Stadt, dass sie das Grab von Nabi Moussa anzweifeln und behaupten, dass er den Jordan gar nicht überquert habe. Wer ist aber so dumm, diesen Unsinn zu glauben? Es gibt alle möglichen Narren in der Welt! Feueranbeter, Götzendiener und Ungläubige. Auch die Bewohner von Medina sind nicht alle vollkommene Gerechte gewesen. Die Effendis und Hausbesitzer – viele von ihnen sind Alkoholiker, essen insgeheim an den Fastentagen des gesegneten Ramadans. Diesen wird niemals verziehen und sie werden eines Tages zur Rechenschaft gezogen. Alle Schrecken der Hölle werden sie nicht reinwaschen von ihrem Frevel…

Die Bewohner der Ebene - der Prophet wird ihnen nachsehen wegen ihres Irrsinns und sie nicht bevorzugen und dem Land nicht übel wollen ihretwegen - sind ein wenig im Nachteil, da der Weg für sie lang ist. Sie müssen gleichzeitig doppelte Arbeit verrichten, ihr Land bestellen und die Felder und Orangenhaine der Juden pflegen. Diese Herren machen auch nicht das Geringste selbst. Sie kommen in die Dörfer und bieten hohe Löhne für jeden Arbeitstag, und die Nachlese dürfen die Bauern auch noch für sich behalten. Und da wundert es nicht, dass es welche gibt, die ihre Seele dem Teufel verkaufen und den heiligen Feiertag vernachlässigen. Die Söhne der Ebene sind gute Geschäftsleute, klug und listig, jeder Tag hat bei ihnen seinen Wert und seinen Preis. Eine ganze Prozession, vom ersten bis zum letzten Tag, dauert für sie mehr als zehn Arbeitstage. Zehn Dinar sind etwas wert und werden nicht so einfach auf die Straße geworfen. Derweil benutzen sie die Tage, an denen die Feiertage der Juden und Christen fallen und an denen die meisten Falachen in die Ferne wandern, und treiben die Preise in die Höhe. Ihre Weiber tragen den Joghurt und die Butter, die Baumwolle, die Eier und das Gemüse in die Stadt. Sie verkaufen die Früchte des Frühlings für gutes Geld und kehren heim mit schweren Bündeln von Geldscheinen in ihren Ärmeln und ihrem Schoß. Sie nehmen die Dinare in beide Händen, füllen die Krüge damit und vergraben sie tief in die Erde. Und wenn sie genug gespart haben, da öffnen sie mit einem Mal ihre Taschen, kaufen noch eine Frau, vertreiben die eine und heiraten eine andere, töten einen Menschen und zahlen Blutgeld für ihn. Schließlich pilgern sie auch noch zum Grab des Propheten in Mekka, bringen Opfer, trinken das heilige und reinigende Wasser, schlagen um sich ein breites weißes Tuch – und schon sind sie fertige Haddsch, die sich ihre Welt gekauft haben.

Die Bewohner der Berge dagegen können mit ruhigem und sicherem Herzen ihre Häuser und ärmlichen Farmen, mit den Säuglingen und Greisen, zurücklassen und die Feiernden begleiten. Eine Woche Nichtstun bringt keine Einnahmen. Wenn die Arbeitssaison in den Bergen beendet ist, hat der Falache nichts zu tun und er verschränkt seine Hände und frisst sein eigenes Fleisch. Es gibt in den Dörfern viele, die, ohne was zu tun, herumschleichen, auch wenn es Arbeit gibt. In den Bergen gibt es kein Angebot und keine Nachfrage nach Arbeitskräften. Ganze Heere wandern in die nächste Stadt, die im Zentrum der Berge liegt, um Arbeit zu suchen, und sie verdienen dort nicht einmal den Preis für die Pitas oder die Kosten der Übernachtung im Chan. Und wenn die Zeit kritisch wird, wenn der Groschen nicht vorhanden ist und die Gläubiger und diverse Geldeintreiber ihnen auf den Fersen sind und den Falachen das Blut und das Mark ihrer Knochen saugen, noch bevor die Ernte reif ist, da ist es besser zu verschwinden und sich zu verstecken, bis der Zorn vorüber ist. Die Dorfvorsteher und die Scheiche wussten, was sie erwartet, und so verschoben sie immer wieder alles, bis die Welt wieder in Ordnung war und der Segen gekommen ist.

Die Prozession zum Moussam und die Rückkehr zum Dorf sind, Gott sei Dank, nicht mit Kosten verbunden. Jeder Gläubiger, dessen Herzen eins ist mit Allah und den Heiligen, kann sie körperlich bewältigen. Wenn sein Schöpfer ihn mit Verstand gesegnet hat, kann er sie sogar genießen und auch noch seine Familie damit erfreuen. Futter für Esel und Kamele wird nicht benötigt, da alles in der Umgebung grün ist. Am Rand der Felder, den Abgrenzungen der Zäune und in den felsigen Bergen gibt es Gras und Disteln zu Genüge, und es ist fett und saftig und sättigt die Tiere. Die Kamele lecken daran, bis sie satt sind und davon gesund werden, schneller als von dem Haufen Stroh und der Handvoll trockenen Mais oder Bohnen, mit denen sie in den Wintermonaten ernährt werden. Auch die Mitnahme von Verpflegung für die Menschen ist vollkommen überflüssig. Der Segen ist vielfältig vorhanden: Nabi Moussa und Nabi David und Stammvater Abraham und alle übrigen Propheten sorgen für alle Pilger, den Reichen und den Armen, und bewirten sie auf ihre Kosten. In allen Städten und Dörfer, die die Feiernden passieren, breitet man vor ihnen aus, was fertig ist. Fässer voll mit Reis vermischt mit Joghurt, mit Safran gefärbt und in flüssiger Butter geschlagen, und es zergeht auf der Zunge. Jedes Korn verabschiedet sich von seinem Freund, wie die gelblichen Samen der Zypressenzapfen, die darauf gestreut sind. Man nimmt einen kleinen Haufen und festigt es zwischen den Daumen und den Fingern zu festen Bällen und stillt damit seinen Hunger. Die Armen reichen ihr Geschirr und füllen ihre Eimer, die Gierigen füllen auch noch ihre Tücher vor den Augen aller und schämen sich nicht einmal. Ganze Schafe kochen in den großen Kesseln, jeder, der seine Hand ausstreckt, bekommt etwas. Aber die Enge, die Beschimpfungen und Schläge, die Streitereien und Faustschläge neben den Fleischtöpfen und den Wasserkrügen sind Angelegenheiten, die bei jeder Mahlzeit stattfinden. Die Ereignisse eskalieren manchmal bis zu Messerstechereien und Blutvergießen. Deshalb werden die ängstlichen Seelen immer zahlreicher, die ihre Hand vom Fleisch und Reis zurückziehen, um sich nur nicht den Streithähnen anschließen zu müssen. Sie ziehen es vor hinter ihnen zu trotteln oder um einen oder zwei Tage zuvor zu kommen, allein um nicht an den Streitereien beteiligt zu sein. Aber wer ist so dumm und wird auf die Pilgerfahrt verzichten, wegen solch gewöhnlichen und unwichtigen Angelegenheiten? Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine große Menge von Menschen, jung und bewaffnet, voller Lebenskraft und heißem kochenden Blut, einen langen und ermüdenden Weg in Frieden und Ruhe miteinander wandern, ohne dass allein schon aus Gewohnheit die Keulen geschwungen und die Messer aus der Scheide gezogen werden.

Eigentlich sind sie alle große Kinder, die sich freuen und fröhlich sind über die gemeinsame Prozession und über die Begegnung mit ihren nahen und fernen Verwandten, die Bewohner der Berge Jerusalems und Hebrons und die Bewohner der Negev-Wüste, des Nordens und des Ostens. Wie Kinder treten und rupfen sie einander wegen nichts, nur aus Spaß an der Freude und an der Ausgelassenheit. Insbesondere hängt alles von den Leitern der Prozessionen ab, von den Fahnenträgern, die auch die Scheiche der jungen Leute sind. Wenn sie eine eiserne Hand zeigen und ihre Augen über alles wachen und ihre wilden und heißblütigen Burschen umfassen und sie in ihrer Nähe festhalten, wenn ihre Ohren aus der Ferne die Stimmen der Freude und der heißen Gesänge von den Stimmen des Schmerzes und der Wut unterscheiden, die die Familie und die Bekannten von ihrem Dorf zur Hilfe rufen, wenn sie es verstehen auf ihren Pferden zu galoppieren und zwischen den Streitenden im richtigen Zeitpunkt zu trennen, dann kann euer Herz getrost annehmen, dass mit der Hilfe Gottes und seiner Propheten die Prozession ihren Weg, nach einem Plan, der von Anfang an aufgestellt wurde, fortsetzen wird. Die Messer werden wieder in die Scheiden gesteckt, die Steine in ihrer Faust werden weggeworfen, die vor Wut brennenden Augen werden wieder lächeln, und die Zurückgebliebenen werden das Lager wieder einholen. Sie werden die auseinandergerissenen Ringe wieder schließen, indem sie, wie mit Metallringen, die Köpfe der Aggressiven umschließen werden. Die Beine werden sich erheben und mit voller Kraft wieder auftreten. Ein gewaltiger Gesang wird aus ihren Kehlen erschallen, die Berge um sie herum freuen sich auch und werden den Gesang wie einen gewaltigen Donner und Echo von einem Hügel zum anderen weitergeben.

Wenn der Satan der Feind der Gläubigen ist, möge Allah sein Gesicht schwärzen! Er wird nicht tanzen und keine Keime der Feindschaft, der Trennung, des Hasses, der Eifersucht und des Wettbewerbs unter ihnen säen. Die Führer der Burschen können die Pilgerfahrt bedeutend erleichtern. Von ihnen ist die Pracht und Herrlichkeit des Moussam abhängig. Ihr guter Name wird Ströme von Teilnehmern anziehen oder abhalten. Die Wahl von diesen ist zwar in den Händen der Burschen aus der Stadt gegeben, die Söhne der mächtigen und angesehenen Familien, die die Herren des Ganzen sind. Aber die feiernden Falachen haben die Wahl, die Herrschaft der starken Familien zu akzeptieren und sich ihren Fahnen anzuschließen, oder sich in kleinen Gruppen zu teilen, wie eine Herde, die keinen Hirten hat, und für sich allein ihr Fest zu feiern.

Und da die ganze Verantwortung beim Fahnenträger liegt, gibt es nicht viele, die sich um diese Ehre streiten. Abgesehen von Kopfschmerzen, Belästigungen und Ärger, die es seinen Trägern verursacht, ist es auch mit großen Ausgaben verbunden. Die Pflichten des Führers der Burschen liegen darin, das Fehlende aus seiner Tasche zu ersetzen, und neben der Pflege der Pilger aus seiner Stadt anständige Geschenke für Nabi Moussa vorzubereiten, wie es seine Ehre und die Ehre der Fahne, die er trägt, verlangen. Vom Tag der Verkündigung an (eine Woche vor der Prozession) muss sein Haus offen sein für Besucher aus allen Schichten, die sich beeilen, ihm zu gratulieren für die ehrenvolle religiöse Pflicht, die ihm zuteilwurde, und sich mit ihm zu beraten in Sachen der Prozession.

Je nachdem wie großzügig die Trinkgelage und Fressorgien sind und die Sorge, Ergebenheit und Freundlichkeit ausfallen, erkennen die Gäste, mit wem sie es zu tun haben. Und wenn er aus einem reichen Haus stammt und es versteht, ihre Herzen zu kaufen, werden sie sich ihm unterwerfen und ihm bei seiner Aufgabe helfen.

In unserer Zeit gibt es keine Vornehmen mehr, die alles, was sie haben, Allah und seinen Propheten zu Füßen werfen. Jahr für Jahr müssen die Burschen am Tag der Verkündung, mit der Fahne von Nabi Josef, ihre Füße von Straße zu Straße tragen, mit lautem Gesang und feierlicher Stimme, um nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau zu halten, der bereit sein könnte, ihr Führer zu sein. Nur nach vielen Versprechungen, Übertretungen, Aufregungen und Schmerzen schaffen sie es schließlich, den gesuchten Mann in ihrem Netz zu fangen.

Nimmer Abu-al-Schawarib (der mit dem Schnurbart) war der einzige Mann in Nablus, der die Sitten der Väter noch ernst nahm und in dessen Herzen das Heldentum und die Großzügigkeit noch schlugen. Seit seiner Jugend war er den Propheten und den Gerechten treu, den Großen und den Kleinen. Für die Pflege und Standhaltung ihrer Grabsteine hat er viel Gold aus seiner Schatulle ausgegeben. Die Imams und die Vorsteher der Moscheen können ein Lied singen von seiner Gerechtigkeit und Großzügigkeit. Alle Burschen aus Nablus pflegten seinem Ruf zu folgen, trotz seines temperamentvollen Charakters und obwohl er als stolzer und oft zorniger Mensch, der anderen seinen Willen aufzwang und keinen Widerspruch und Nachgeben duldete, bekannt war. Sein Zorn und seine unangenehme Art haben ihn oft in Streitereien verwickelt und in unangenehme Situationen gebracht, und nur mit Hilfe der Polizeiinspektoren, seine treuen und ergebenen Freunde, und den Verantwortlichen bei den Behörden und bei der Regierung in Nablus und Jerusalem konnte er sich unbeschadet daraus befreien. Er war es, der einen beduinischen Scheich von seinem Pferd auf die Straße stieß, weil dieser die Straße passierte, ohne den üblichen Warnruf von sich zu geben: „Dein Rücken…! Dein Gesicht…! Pass auf…!“. Er ist derjenige, der fast den Rand des Springbrunnens zerbrach, weil dieser seine Schuhe und Kleider traf. Er ist der Mann, der die traditionelle weiße Kopfbedeckung des Kadis1 vor allen Passanten auf den Boden schmiss, mit seinen Füssen zertrat, und ihn beschimpfte und verfluchte und auch diejenigen, die ihn zum Kadi gemacht hatten. Aber trotz dieser Eigenschaften hat man ihn geehrt und verehrt, weil er für die Sache der Benachteiligten eintrat, der Waisen und Armen, ohne irgendjemanden zu benachteiligen. Und nur weil sie ihn liebten und ihn davor schützen, dass er zu viel Geld ausgab, mehr als er sich leisten konnte, hat man ihn bisher bei der Wahl zum Fahnenträger übergangen und man pflegte es ihn später mitzuteilen, erst nachdem ein geeigneter Kandidat gefunden wurde.

An diesem Freitagmorgen passierten die Burschen mit Gesang und Jubel die Märkte der Stadt. Eine einfache Fahne aus den profanen Fahnen von Nabi Yousef wehte vor ihnen. Neben dem Geschäft von Haddjisch Derwisch, dem Seidenverkäufer, hielt die Prozession. Der Fahnenträger verließ feierlich den Kreis und schritt mit angemessenen Schritten zu dem Geschäft, wehte einige Male seine Fahne vor dem Eingang, reichte sie Haddjisch Dervisch und sagte:

„Zusammen mit Allah und Mohammed, seinem Propheten, sollst du die Fahne von Nabi Yousef ben Jakob ben Abraham dem Barmherzigen tragen! Ehre sei dem Sohn Amrams gegeben!“

Das Gesicht von Haddjisch Dervisch erblasste und verfinsterte sich. Aus lauter Erschrecken vergaß er die üblichen Floskeln. Er blieb eine Zeitlang mit verschränkten Beinen auf seinen Teppich sitzen, hielt das Röhrchen der Wasserpfeife in seinen zittrigen Händen und konnte sie nicht an seinen Lippen reichen. Seine ganze Erscheinung ähnelte einem Tier, welches in der Falle sitzt und einen Ausweg sucht. Schließlich erholte er sich und erhob sich leicht, mit dem Zipfel seines Tuches stieß er die Wasserpfeife um, und die glühende Kohle verstreute sich auf dem Boden. Danach stöberte er ein wenig zwischen den Seidenballen, zog ein buntes, glänzendes Tuch heraus, beugte seinen Kopf zur Fahne und band es an die Stange, zum Zeichen der Ablehnung. Dann wand er sein Gesicht wie ein Mann, der seine Pflicht erfüllt hatte, senkte seine Augen und vertiefte sich ganz im Einsammeln der Reste der verstreuten und erkalteten Kohle.

Der Fahnenträger blieb hartnäckig, weigerte sich diese Antwort zu akzeptieren und schwenkte wieder seine Fahne. In diesem Augenblick wurde plötzlich sein Arm festgehalten und blieb ausgestreckt, ohne Bewegung. Unter den Anwesenden, die ihre Zähne gefletscht hatten und erstaunt stehen blieben, stieß Abu-al-Schawarib hervor. Er riss die Fahne an sich, löste in Eile das Seidentuch, warf es Haddsch Derwisch ins Gesicht und schrie ihn laut an:

„Ya cheif al ala gavir – Schande solchen Großzügigen! Kommt zurück, Kinder! Ich trage eure Fahne!“

Der fette Abd el Razig, dessen Beine dick und fest wie Elefantenbeine und seine Schulter so breit wie die Ballen des Stoffhauses sind, die er zuweilen mit seinem Esel transportiert, warf seinen Körper zur Seite, und seine schwarze Abayah fiel von selbst auf den Boden. Er ging auf Abu-al-Schawarib zu, küsste seine Schulter auf beiden Seiten, klopfte ihm liebevoll auf den Rücken, und seine Stimme wurde laut vernommen:

„Lang sollst du leben, Abu –al-Schawarib! Selig werden die Guten in dieser und jener Welt! Es leben die Fahnen, die sich lohnen und es verdient haben, dass man sie dir in die Hand gibt – gib mir deinen Arm!“

Er schlug ihm mit Schwung in die Hand, und die Burschen umringten ihn von allen Seiten. Viele Köpfe sahen zu ihm auf. Der Donner ihrer Stimmen und das Klatschen ihrer Hände verstopften die Ohren und überschwemmten die Straße mit Jubel. Viele Hände wurden ihm entgegengestreckt, umschlangen und streichelten ihn und hoben ihn in die Höhe. Man ließ ihn nicht auf ihre Schultern niedersinken, trotz seiner Ablehnung und sein Flehen. Mit Gesang und feierlicher Stimme passierten sie mit ihm den Sattlermarkt, und von dort gingen sie zum Markt der Süßigkeiten Händler. Diese nahmen Süßigkeiten in beide Hände und warfen sie über die Köpfe der fröhlichen Menge. Viele von ihnen entfernten in Eile die Kessel vom Feuer, zogen ein Tuch über die Eingänge ihrer Geschäfte und schlossen sich mit Gesang den Feiernden an. Auf ihren Weg schlossen sich ihnen neue Begleiter an: Falachen, die zum Freitagsgebet in die Stadt pilgerten, Beduinen, die zum Markt kamen, Kinder, Blinde, Barfüßige und einfache Neugierige und Müßiggänger. Ein Hirte, der seine Lämmer zum Freitagsmarkt führte, sammelte sie mit Hilfe seines Stabes in den ersten Chan, der auf dem Weg gelegen war, und holte danach die Menge im Laufschritt ein, nahm seine Flöte und schob sie zwischen die Lippen, hob seine Kinnbacken hervor, und aus der Flöte kamen angenehme zarte Töne, wie ein Vogelgezwitscher am Morgen. Diese Töne seiner Flöte, die, wenn sie sich zwischen den Hügel und den Bächen ergießen und die Lämmer zum Tanzen und die jungen Ziegenböcke zum Springen über Felsen und Felswände bringen und den Hirten zwingen sich zu ihnen zu begeben, entfachten auch hier ihre Wirkung. Sehr bald wurden die Ärmel hochgekrempelt, die Hüften geschwungen und eine lange und enge Reihe von Tänzer ordnete sich ein, jeder seine Hände am Gürtel seines Nächsten, die die Beine hoben und mit einem wilden Tanz begannen.

Abd el-Kadr, der Bildhauer, dessen Beine darin erfahren waren, seine Arbeit mit den Steinen zu machen, zeigte seine Geschicklichkeit und dirigierte die Tänzer. Er stampfte einmal mit aller Macht mit seinen Beinen, drehte sie immer wie der um, hob sie auf einmal mit einem Schrei in die Höhe und führte sie wieder zurück auf den Boden, einmal auf ihren Zehen spitzen, ein anderes Mal auf den Fersen.

Als Nachhut trottete hinter ihnen ein Limonade Verkäufer mit seinem großen Krug, der an seine Schulter gebunden war. Mit der einen Hand schlug er heftig auf die Kupferplatten über seinem Kopf, womit er die Aufmerksamkeit von Abu-al-Schawarib auf sich lenken wollte, der, mit seinem roten Tuch um seinen Kopf wehend, auf den Schultern von Abd el Razig ritt und damit die Tanzenden begeisterte. Seine zweite Hand öffnete und schloss den Hahn, um die Durstigen umsonst zu beköstigen, indem er bei jedem Glas schrie: „Zu Ehren von Scheich al-Schawarib und der prachtvollen Fahne!“

2

Die ganze Woche war Nimmer Abu-al-Schawarib Tage und Nächte mit den Vorbereitungen der Prozession beschäftigt. Sein großes Haus außerhalb der Stadt – wo ein verfaulter Pferdeschädel über das Tor befestigt war und an dessen Frontmauer, die zur Straße, die nach Jerusalem hinaufführte, gewandt war, mit weißem Kalk große Handflächen und ein siebenarmiger Leuchter gezeichnet waren – wurde zu einem Ort, zu dem alle pilgerten. Das große Grundstück daneben brummte und lärmte vor lauter aufgeregter und beschäftigter Menschen, die so aussahen wie Ameisen bei der Arbeit. Es gab welche, die Kaffee kochten, Wasserpfeifen füllten, Holz hackten und Wasser schöpften. Barfüßige Jungs, die glühende Kohle trugen, liefen hin und her, um jedem Wunsch der Gäste nachzukommen. Lange Zelte wurden eingepflockt, offen zu den drei Himmelsrichtungen, Teppiche wurden ausgelegt und Sitzplätze für Gäste und Besucher aufgestellt. In der Mitte – zwei brennende Eichenstämme, die sich gegenseitig stützten und den Rauch der Flamme nach allen Seiten verteilten.

Auch der danebenliegende Olivenhain wurde erschlossen, der Zaun zerschlagen, und er wurde zur Lagerstätte für die Pferde und Kamele. Die Scheiche aus den fernen Dörfern und die Oberhäupter der Beduinen aus der Negev-Wüste kamen geritten, um sich mit dem Fahnenträger Abu-al-Schawarib über die Zusammensetzung der Prozession und ihre Ordnung zu beraten. Vielleicht hätten sie ihre Aussagen gemacht und wären noch am selben Tag zu ihren Stämmen und Dörfern zurückgekehrt, aber man entwischt nicht leicht den Augen von Abu-al-Schawarib, der alles beobachtete. Bei ihm ist es nicht üblich, eine Tasse Kaffee zu trinken und verschwinden. „Ihr wollt doch nicht Schande über mich bringen und mich in den Augen meines Volkes beschämen“, pflegte er ihnen zu predigen. „Im Namen Mohammeds und der Propheten, die Lager sind ausgebreitet und die Tische gedeckt. Falls ihr aber ein wichtiges Geschäft in der Stadt zu erledigen habt, dass man nicht verschieben kann, so soll es sein: Geht in Frieden, eure Söhne aber werden hierbleiben und für eure Rückkehr geradestehen. Ich habe befohlen, die Jungen großzügig zu verpflegen. Bleibt die Nacht hier, bis morgen – so Gott will – ist das Haus und alles, was ihr seht, euer!“

Er konnte seine Worte nicht beenden. Seine zwei kleinen Söhne, ausgeschmückt und glänzend in ihren neuen Seidenmänteln und neuen roten Schuhen, kamen aus dem Frauenzimmer herausgerannt, dessen Tür zum Garten geöffnet war, schlossen diese hinter sich, überquerten im Laufschritt den Platz, während die Schnur ihrer Fes, in denen grüne Perlen eingefädelt waren und Knoblauchzehen in ihren Fäden steckten, sich hin und her im Wind bewegten. Während des Laufes zogen sie daran und riefen:

„Baba, Papa! Großmutter sagte, dass du sofort reinkommen sollst, viele Frauen kamen uns zu besuchen und verlangen nach dir.“

Abu-al-Schawarib war lieb zu seinen Söhnen, er zwirbelte seinen langen Schnurrbart, der bis zu seinen Ohren reichte, versteckte darin sein Lächeln und antwortete:

„Sagt mal, ihr Bastards! Was haben die Weiber mitgebracht? Vorhänge? Kerzen? Nichts von beiden? Gut…gut…sie sollen ein wenig warten. Ich komme bald!“

„Nein Vater!“, schrien die Knaben gleichzeitig und hängten sich an seinen Armen, „Großmutter sagte, dass wir dich mitbringen sollen.“

Abu-al-Schawarib pflegte ihnen zu gehorchen und so folgte er ihnen langsam und nachdenklich über sein rasiertes Kinn streichend, trat an die Tür, weilte einen Moment, räusperte sich laut, damit die Besucherinnen es hörten und ihr Gesicht verdeckten, senkte seine Augen und trat ein.

Unter der Schar der Frauen, die sich unterhaltend im Raum saßen, herrschte sofort Stille. Im Vorbeigehen hat Abu-al- Scharawib unterschieden zwischen den Verwandten und Bekannten, die in sein Haus kamen, um aus Freundschaft die Frauen zu besuchen, und denjenigen, die etwas erhofft hatten und die Macht des Schicksals sie zwang, sich an einen Mann um Hilfe zu wenden. Angesicht ihres Schweigens und ihrer Peinlichkeit wurde sein zorniges Gesicht sanfter. Seine großen, schwarzen Augen ruhten auf ihnen mit Milde, und um sie zu einem Gespräch zu ermutigen, wandte er sich an seine alte, geschrumpfte und runzelige Mutter, die auf ihren Beinen stand, als er kam, und ängstlich auf seine Worte wartete. Ihr Hut mit den umhängenden Goldmünzen gab ihr das Aussehen eines Mannes.

Er sagte:

„Umm Nimmer - Befiehl den Mädchen, dass sie den Gästen Wasserpfeifen und Kaffee reichen, damit sie sich ausruhen können.“

Seine Mutter beeilte sich seinen Befehl zu folgen, aber die Frauen hielten sie fest und hinderten sie zu Gehen. Die älteste unter ihnen fing gleichzeitig mit dem Reden an, während sie noch Mühe hatten, sich hinter ihrem Rücken zu verstecken.

„Es ist nicht nötig! Gott möge deine Tage verlängern, Abual-Schawarib! Deine Pilgerfahrt möge gelingen, mit der Freude deiner Söhne, Inschallah! Nicht deswegen sind wir hierhergekommen…es soll danach sein…, wenn du uns versprochen hast, unsere Bitte zu erfüllen…eine Gefälligkeit und Gnade wollen wir von dir erbitten…“

Die Frauen haben ausführlich erzählt und vor ihm ihr Herz ausgeschüttet. Unter Tränen offenbarten sie ihre Qualen und Schmerzen, die Zaubereien, die ihre Nebenbuhlerinnen ihnen angetan hatten, ihren Schoß zu verschließen, um sie bei ihren Ehemännern unbeliebt zu machen, und von dem bösen Auge, das ihre Nebenbuhlerinnen ihnen zuwarfen. Bei der Verhängung von Zauber und seiner Annullierung gibt es keinen Propheten, dessen Macht stärker ist als die von Nabi Moussa Friede sei mit ihm! Viele Unglückliche sind von ihm erlöst und durch seine Gnade von den Fallen, die ihre Gegner ihnen gegraben haben – ihr Augenlicht möge erlöschen! – gerettet worden. Den Zauber muss man in der Morgendämmerung, wenn der Hahn seinen dritten Schrei macht, auf das Grab des Propheten werfen, und mit der Hilfe Gottes des Allmächtigen wird er seine Macht verlieren, und es wird so sein, als ob es nie war. Sie selbst können nicht an der Prozession teilnehmen, weil ihre Ehemänner es ihnen nicht erlaubten. Diese gehen lieber mit ihren jungen Frauen, - hoffentlich werden sie in der Blüte ihrer Jahre gefällt und Allah trübe ihr Leben, wie sie unser Leben getrübt haben! Abu Nimmer ist das Haupt der Prozession, und er wird ihr Sprachrohr vor dem Propheten sein, Allah möge ihn schützen! Seine Bitte wird er bestimmt nicht zurückweisen.

Dann wird jede von ihnen lange in ihrem Schoß, unter ihrem Umhang suchen und wird ein Leichenhemd herausholen, das verzaubert ist und das sie gefunden hat, versteckt neben dem Eingang, in einer Ritze oder an einem anderen Versteck. Vorsichtig und voller Furcht, als ob sie etwas Gefährliches in der Hand hielten, das explodieren und das Haus und alles darin zerstören könnte, reichten sie es der Mutter von Nimmer, unter Flüstern und Murmeln, damit sie es ihrem Sohn gebe. Danach lösten sie mit ihren Zähnen das Bündel Geld, das in ihrem Tuch gebunden war, holten nach langem Zögern eine glänzende Goldmünze und reichten sie wieder der Mutter von Nimmer.

„Nimm, Abu-al-Schawarib, und vergiss nicht unsere Botschaft“, sagten ihm die Frauen, „Allah wird dich beschützen und du sollst in deinem Haus keine Not kennen. Einen Teil davon sollst du ausgeben für den Kauf des Opferlamms für Nabi Moussa, und mit dem Rest kaufe eine große vergoldete Kerze und zünde sie selbst am Haupt des Propheten an. Wenn wir nicht befürchten müssten, dass die Prozession uns schwerfallen würde, hätten wir es selbst gekauft. Außer Allah und außer dir, haben wir keinen Menschen auf Erden, der mit uns Mitleid hat. Die Verzweiflung und das Leid haben uns gedrängt, dich zu bitten uns zu helfen.“

Abu-al-Schawarib hörte jedem Laut zu, der aus ihren Mündern kam, schüttelte mit dem Kopf und schlug verärgert auf seinen Unterschenkel. Ebenso hätte er sich auch an ihrem Leid beteiligt, bis seine Augenbrauen sich verdunkelten und die Kaffee Tasse, die seine Mutter ihm eingegossen hatte, jedes Mal, wenn sie an ihm vorbeiging, von ihm zur Seite geschoben wurde. Und nachdem sie ihre Herzen vor ihm ausgebreitet hatten, reichte er die Wasserpfeife in seinem Mund weiter, von einer Ecke zur anderen, und antwortete mit trauriger Stimme:

„ Bei meinen Kopf und meinen Augen…hört zu…es wird gut sein, Inschallah…Allah wird sich erheben und eure Not sehen und euch helfen… wer wird den Willen des Propheten erfüllen…ich, natürlich, werde euren Auftrag erfüllen, so gut ich kann…Allah wird euch vollständige Genesung bringen, mit euch Erbarmen haben und eure Herzen beruhigen!“

Und ohne sie anzuschauen stand er zum Gehen auf. Während er aufstand, reichte er die Amulette an seine Mutter, damit sie sie in die Reisetaschen verstecke. Danach öffnete er langsam die Knöpfe seiner Weste, holte die Samttasche heraus, die an seinem Hals hing, der von der fleischigen Schürze versteckt war, und seine dunkle Brust wurde gewahr, deren langen schwarzen Haare hart und gesträubt sind. Er warf genüsslich und mit Wohlbehagen die Münzen hinein. Dann öffnete er ein zweites Portemonnaie, das in seinem breiten Gürtel steckte, und fügte, vor ihren Augen, aus seinem Geld das Doppelte hinzu, dann wendete er seinen breiten Körper zur Tür, die in den inneren Gang führte, während viele Wünsche und Segnungen ihn beim Hinausgehen begleiteten.