Bob Lennce und der fremde Klang - Sanne Prag - E-Book

Bob Lennce und der fremde Klang E-Book

Sanne Prag

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Beschreibung

In einer unfertigen Kathedrale soll ein Konzert der besonderen Art stattfinden. Bob Lennce, der berühmte Musiker überlegt, wie der Klang seiner Lieder in einem Mysterienspiel diesen Raum erfüllen könnte. Ist Gott ein Vater? Ist sein blutiger Tod in diesen Wänden ohne Dach nicht zu vermeiden?
Um ihn herum kümmern sich Menschen um die praktische Seite der Veranstaltung, die ihre Tücken hat. Ganz alltägliche Probleme häufen sich und müssen während der Entstehung des mystischen Konzertes bewältigt werden und das funktioniert nur bedingt, nur mit Mühe.
Ein Journalisten Treffen soll alle Zeitungen landesweit dazu veranlassen über das Konzert zu schreiben. Aber am Ende des Abends liegt eine Journalistin tot im schwarz-weißen Vorraum des WCs. Blass sieht sie aus mit ihren ausgebreiteten Haaren, wie ein Foto ohne Farbe. Eine berühmte Journalistin, - eine Heldin der Zeitungszene. Dürfen Helden einsam im Vorraum eines WCs sterben, statt auf einem weißen Ross in den Himmel zu fliegen?

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Sanne Prag

Bob Lennce und der fremde Klang

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Inhaltsverzeichnis

Bob Lennce und der fremde Klang

MORGEN

SPÄTER NACHMITTAG

ABEND

SPÄTER ABEND

NACHT

FRÜH

VORMITTAG

MITTAG

NACHMITTAG

ABEND

NACHT

MORGEN

VORMITTAG

VORMITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

NACHMITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

ABEND SPÄT

FRÜHER MORGEN

MITTAG

MITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

FRÜHER ABEND

NACHTS SPÄT

MORGEN

SPÄTER VORMITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

ABEND

MITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

VORMITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

FRÜH

MITTAG

FRÜHER NACHMITTAG

NACHMITTAG

SPÄTER NACHMITTAG

NACHT

MORGEN

SPÄTER MORGEN

VORMITTAG

VORMITTAG

MITTAG

MITTAG

NACHMITTAG

NACHMITTAG

ABGESANG

VIEL ZEIT SPÄTER

Bob Lennce und der fremde Klang

von Sanne Prag

Vor dem Musiker saß der Mann mit dem harten, festen Kiefer, Muskelmasse zusammengeballt. Der ganze Körper war angespannt gegen mögliche Bedrohungen, überall sah er Gefahr. Dunkle Augen scannten die Umwelt ständig, um die Waffe des anderen zu erkennen, die lauernde Gewalt im Versteck, er wollte den Moment des Angriffs abfangen, denn an solch ein Leben war er gewöhnt. Kein vergnügliches Warten auf Bilder, kein stilles Wandern des Blickes. Vergnügliche Bilder waren Leichtsinn, lockere Unaufmerksamkeit reiner Luxus. Das was er sah war da um verarbeitet zu werden, war nur Baumaterial für Mauern gegen den Untergang.

Bob Lennce blickte auf den Mann vor ihm, sah schmerzhafte Kunst auf seiner Haut. Haut als Leinwand zur Selbstverwirklichung. Die Körperoberfläche war ausgearbeitet bis zum letzten cm. Rote, blaue und vor allem schwarze Muster überall in die Haut gedrückt. - 5 Jahre Gefängnis, das war Zeit. Im Nacken genau an der empfindlichsten Stelle sah Bob ein Spinnennetz, - Tinte unter der Haut wo sonst die meiste Angst saß.

Das Gefängnis war im Grunde für den Mann geschützte Zone gewesen, harmlos, nur ein paar Schwerverbrecher rund um ihn, nichts wirklich Bedrohliches, keine Leichenteile in den Straßengräben, keine zerrissenen Augen hinter der Ecke. 5 Jahre ein ganz normales Leben im Knast zum Muster auf die Haut malen, blutige Muster, denn sonst geschah ja nichts. Zwischendurch Ausbildung zum Werkzeugmacher – irgendwer behauptete, dass das gut tut. Geschützte Leere - ein neues, schalgraues Leben, normales Anstalts-Gewand über die Haut mit den Bildern gestülpt. Keine Uniform mehr. Und ab in den farblosen Kreisverkehr, wo die Seele hungrig war, nach dem Lärm, nach der Gewalt, die sie nie vermissen wollte.

Mitten in dem Chaos, war er hilflos leer geblieben. Nie war er satt geworden an dem Blut um ihn, und er kannte nichts um den Hunger zu stillen. Wenn Gewalt nicht da war, blieb das Nichts. Nach Jahren war er krank, konnte nicht mehr schlafen. - So tiefes Mitleid hatte Bob Lannce noch nie für irgendjemanden empfunden. Was da vor ihm saß war Deutscher Söldner, amerikanischer Söldner - Krieg in Afrika, Krieg in Bosnien immer wieder nur Krieg, der Alltag - zerstückelte Leichen. Sie schlichen sich täglich in die kurzen Träume des Mannes, klappten sich vor seinen Augen auf, ungewollt, ungerufen. Keine Chance auf Stille. Alles war gewalttätig und gleichzeitig leer.

Wie sollte ein Leben Stille bekommen, wenn das Nichts die Herrschaft hatten? Da fehlt der zarte Duft, der leisen Klang… Musik vielleicht, dachte Bob, aus dem Hauch des Windes, aus gleichmäßigem Rauschen von Wasser, ein Konzert wie das Rascheln von Vogelflügeln in einem Baum – das war Leben … Es gab den feinen Klang nicht wo der Lärm der Tötungsmaschinen war. Deshalb war diese Seele verbrannt, das konnte Bob sehen, ihr Treibstoff war aufgebraucht, hatte sich im Motor zur Gewalt selbst vernichtet. „Wer tötet zuerst“ die einzige Frage, die der kannte. Die aber war allmächtig, weil sie das Bisschen Überleben garantierte…

„ Ich würde gerne etwas ändern“, sagte der Mann in dem Moment. Er hätte gerne etwas anders? Wie sollte das sein? Er kannte ja sonst nichts, hatte kein Bild von dem „anders“. Der Söldner saß vor Bob, angespannt. Nicht zufällig war er da, er hatte etwas zu erledigen, etwas zu vollbringen, er hatte ihn, den Musiker Bob Lannce, etwas zu fragen, ein wichtiges Anliegen um weiter leben zu können: Wie war das mit dem Klang? - würgte er heraus. Können Wiegenlieder wirklich den Schlaf bringen. Wie war das mit dem Lulabei? War das ein Mittel, ein Mittel gegen den zerstörten Schlaf? Er hatte über Lulabei gelesen, ja er kannte das Wort – aber er war als Kind schon Krieger. Es gab da Dinge, die für andere Kinder vertraut waren, ihm waren sie fremd.

Bob sah den Mann an: Ein Wiegenliedchen damit er wieder einmal schlafen konnte? Half der sanfte Klang einer Weise über den Frieden? Konnte der schlafen, weil ihm jemand ein Lied über den Frieden sang?

Nein, denn nichts in ihm hatte Antwort auf ein solches Lied …

Er, Bob Lennce, der berühmte Musiker, war sein Leben lang hinter dem feinen Klang hergejagt, hinter Verlockungen für die Seele. Er wollte Gefühle aus ihren dunklen Höhlen kitzeln um seine Musik lebendig zu machen... Aber was war, wenn dann irgendwann nichts mehr in der Höhle hauste? Leere in der dunklen Seelenhöhle, keine Verbindung, kein Weg zur Musik. Gab es das? Da musste doch irgendetwas sein, nicht nichts?

Bob erinnerte sich. In der Kindheit waren Gefühle leichter zu befreien gewesen, kamen neugierig aus ihren Löchern. Er spürte sie damals in den Handflächen, konnte Gefühle riechen und hören, warm zerlaufene Schokolade und ein brummender, vibrierender Käfer auf seiner geöffneten Hand. Die Krallen und das Brummen waren zu spüren. Oder sein Meerschweinchen hatte er warm, fett und quietschend in den Fingern gefühlt, das war die Welt der Kindermusik und das müsste dieser Krieger dann erst einmal erleben. Wie sollte der aber Musik in seinen Händen spüren durch die dicken, harten Schwielen der Waffen?

Bob fühlte das heftige Mitleid fast körperlich. Wie sollte der Mann das zarte Zirpen einer Grille hören, wenn Waffen auf vollen Touren knallten? Durch die Hornhaut dieser Erfahrung kam nicht leicht etwas durch. Man musste zuerst den Lärm abdrehen, ausschalten…

Abdrehen und ausschalten aber war für den Mann vor ihm wohl nur der Tod. Abdrehen und Ausschalten war einfach töten.

Wie oft der schon gemordet hatte? Ein Schuss, Messer an der Kehle. Dann das Nichts, alles abgedreht, ausgeschaltet. Dieser da war übriggeblieben, daher war der andere tot. Und dann hatte er sich wohl wieder ein neues Muster in seine Haut bohren lassen, in einen leeren Fleck, wo er Gefühle vermutete…

Mitleid, Mitleid mit dem der keinen Klang fühlen konnte, Wiegenlieder nie gekannt hatte. Nur den Lärm oder das Nichts. Und dazwischen war tote Leere. Bobs Gedanken wanderten aus seinem Mitleid für den anderen in die eigene Welt. Ein Lulabei für Krieger? War das etwas wirklich Neues? Harter Rhythmus der von einem Schlafliedchen niedergerungen wurde?

AUF DEM WEGE ZUM SCHAFFOTT… klang in seinem Ohr, - der Beginn eines neuen Songs…

Rhythmisch… Die rhythmische Gewalt schleift die feine Melodie im Hintergrund zuerst mit… Bob ließ einige Noten aufmarschieren. Die sprangen in die fünf Linien, formierten sich und fielen wieder heraus. Er dachte zu viel an das Gehörte. Alles schon mal dagewesen, das war sein Fluch. Nach fast dreißig Jahren Komposition ging einem das Neue aus. Er konnte sich nichts mehr abquälen, das seinen Ausruf der Begeisterung verdiente. Aber in seinem Gehörgang dröhnte weiter:

AUF DEM WEGE ZUM SCHAFFOTT – Marschmusik, der Text entwickelte sich

Geschenk an Vaterland und Gott…

Banal! Leer. Leer wie der Mann vor ihm. Er selbst war auch leer. Vielleicht spürte er den anderen deshalb so?

War dieses Mitleid eigentlich für ihn selbst bestimmt? Gehörte das Mitleid ihm?

Auch sein Leben hatte im Lärm stattgefunden. Sein Leben war Synthesizer und Schlagzeug auf vollen Touren - riesige Veranstaltungen, mächtiger Klang, mächtiger Applaus - alle, alle wollten sich ihm hingeben. Brennende Illusion von Liebe, sich aufschaukelnd, sich unermesslich steigernd, für ihn dann unverzichtbar wie eine Sucht, aber auch er hatte die Gefühle der Kindheit verloren, hatte kein anderes Leben.

Was war mit dem Kitzeln, mit dem Geruch der kleinen Lust? Konnte er denn noch die zerlaufene Schokolade in der Handfläche riechen?

Eigentlich nicht, denn er musste immer einen Welthit daraus machen, wenn er ein Bisschen Schokolade roch. Seine Welt war ganz anders und doch gleich wie von dem Mann vor ihm. Er war auch ein Krieger – er jagte hinter den kleinen, feinen Gefühlen her, ständig auf der Pirsch. Wie eine Katze vor dem Mauseloch wartete er jetzt schon seit Jahren auf jedes winzige Gefühlchen aus dem ein guter Song zu machen war. Seine Handflächen waren hart und verhornt, weil sie ständig offen, darauf warteten endlich gekitzelt zu werden.

Gerade jetzt hatte irgendetwas passieren müssen – irgendeine neue Sensation. Er hatte hin und her überlegt, was das sein könnte. Schließlich hatte er beschlossen das Konzert für den Bau der Kirche zu machen. Er suchte gerade jetzt nach Bildern, für Glauben und Gott, weil er das für sein Mysterienspiel brauchte. - Die Welt ohne Krieg - der Mythos von dem er sang und der gut ankam und vielleicht auch irgendetwas mit Religion zu tun haben konnte. Eine neue Bewegung sollte es werden. War dieses Konzert, das er da in der unfertigen Kathedrale plante eine Möglichkeit? - Er wollte neu bewegt werden, er musste neu bewegt werden, damit er andere bewegen konnte…

Die alten Worte konnte er nicht mehr verwenden, waren alle ausgesaugt.

Wenn er aber in die Wundertüte seiner Gefühle blickte, das Kaleidoskop drehte, kamen immer die gleichen ausgelutschten Bilder und Klänge. Die hatten schon Weltruhm bekommen und seine Fans warteten mit offenen Mündern, damit sie wieder staunend Neues schlucken konnten. Sie standen am Rand der Bühne und sperrten wie junge Vögel sehnsüchtig. Er sah offene Schnäbel aus der Tiefe, auf ihn hoffend und er hatte alles ausgegeben. Da war nichts mehr drin,- nicht der kleinste Seelenwurm.

Ein Lulabei für Krieger? Etwas regte sich in ihm…

MORGEN

Ezra hatte wieder einmal einen seiner unmöglichen Jobs. Er musste ein Journalistentreffen auf die Beine stellen, hatte schon seit Wochen alles in die Wege geleitet, damit möglichst viele kamen und ihre Zeitungen mit Berichten über das geplante Konzert füllten. Bob Lennce als Zugpferd würde ihnen ein Konzert der besonderen Art servieren. Aber das brauchte Organisation.

Und Ezra brauchte den Job. So vor sich hin zu studieren, kostete Geld, das er beschaffen musste. Drei unfertige Studien, das wollte finanziert werden… Seine beiden Mütter standen wohl allzeit bereit, ihm zu helfen. Allerdings hatte er vor Jahren gelernt, das war mit guten Ratschlägen oder Vorschlägen verbunden. Sie überlegten einfach immer wieder, wie er sein Arbeitsleben effizienter, kontinuierlicher, einfach seriöser gestalten konnte. Er wollte es weder kontinuierlich noch seriös. Er wollte sein viertes Studium finanzieren und keine Ratschläge. So hatte er die letzten Wochen kaum eine Pause gehabt. Sein Ohr war schon aufgerieben vom Telefonieren: Großveranstaltung, in diesem seltsamen Gebilde, in dem er gerade stand, zwischen unfertigen Wänden.

Große Löcher in den Himmel statt einem Dach, eine Kirche, eine sehr große Kirche in Bau, unfertig. Vielleicht war unfertig mehr Beziehung zum Schöpfer als fertig? Der hatte ja auch ständig Probleme mit der Fertigstellung.

Es fühlte sich seltsam an, zwischen diesen mächtigen Mauern in den Himmel zu schauen. Über ihm in der Ferne das Gerüst einer riesigen Kuppel, unter ihm nackter Lehm. Zu mindest große Flächen nackten Lehms, denn einige Teile des Bodens waren mit unglaublich schönen Mosaiken belegt, aber eben nur einige Teile, er sah drei Flächen mit wenigen Quadratmetern Mosaik. Dazwischen, gab es betonierte Flächen und eben nackten Lehm, Sand, Löcher.

Ezra konnte sich der Beziehung zu Gott nicht inbrünstig hingeben, denn er war ziemlich beunruhigt. Er wollte den Job perfekt durchziehen und es schwante ihm Böses: Das Projekt hatte drei führende Persönlichkeiten, seiner Erfahrung nach war das schon ein gewaltiges Risiko. Aber dann war auch noch der eine Rudolf von Walthen, sein Auftraggeber. Ein Deutscher, nach Ezras Meinung ohne die angestammten deutschen Qualitäten. Der hatte es irgendwie geschafft, das Großprojekt an Land zu ziehen, und Ezra vermutete, dass Verbindungen im Hintergrund gelaufen waren, Verfilzungen, um diese Entwicklung möglich zu machen, denn Rudolf von Walthen stand in seiner Erfahrung nicht für effizientes Management. Nein, gar nicht. Er stand für erstklassige Fahrzeuge, geschmackvolle Kleidung, war sehr gutaussehend und hatte selbst das Gefühl, dass er sehr fähig war, Leute zu überzeugen. Wovon? Von allem, je nach Bedarf.

Mit den praktischen Folgen seiner Überzeugungskraft konfrontiert, verschwand er meistens, und er hatte Ezra schon bei anderen Projekten im Regen stehen lassen.

Langsam wanderte Ezra durch den nicht fertig gestellten, gewaltigen Raum. Unter dem Himmel in weiter Ferne sah er ein winziges Männchen an der Arbeit. Das turnte durch die Gerüste, die Kuppel war ein Gerippe ohne Haut. Wieso die wohl nur einen einzigen Bauarbeiter hatten? Bei so einem gewaltigen Projekt kam ihm der vor wie ein kleiner Käfer, der auf einer uralten, riesigen Eiche hochkrabbelte. Der konnte doch keine Spuren hinterlassen?

Ein wunderbarer Ort, ein neues Gefühl für ein Konzert. Klänge, die durch das offene Dach in den Himmel stiegen. Hier war Ausdehnung möglich, eine Erweiterung der kleinen menschlichen Welt in die Unendlichkeit mit Musik. Die Apsis, wo man später wohl einen Altar finden würde, war schon überdacht. Ezra ging um eine mächtige Säule herum, die ohne Erklärung in den Himmel ragte. Sie verstellte ihm die Sicht. Er betrachtete das Stück Dach.

Das Problem würde die Akustik sein. Man konnte nicht einfach beschließen, die Plattform für die Performance unter diesem Stück Dach anzulegen, weil absolut nicht zu bestimmen war, wie sich die Töne in den Wandfragmenten verhielten. Solange das nicht klar war, konnte man gar nichts planen. Nicht einmal, welches der Portale der Einlass für die Konzertbesucher werden sollte. Die Anordnung der Sitze war von der Akustik abhängig.

Er nahm sein Handy und hatte Larry, den Bodyguard von Bob Lennce, in der Leitung. „Ist Ylia schon da?“ Das war der Mann am Mischpult. Von ihm war am ehesten zu erwarten, dass er in Sachen Akustik zu einer Aussage kommen würde.

„ Ylia ist grade in der Krise. Er ist vor einer Woche irgendwohin abgehaut und ich weiß nicht, wann er wieder kommt. Und die anderen reisen erst morgen Nacht an.“

„ Gut, vergiss es.“ Ezra hätte auch nicht erwartet, dass irgendetwas funktionieren würde.

Er rief Wolfgang an, seinen Freund seit der Grundschule. „Hast du gerade ein Projekt?“

„ Nein, ich bin in der Badewanne.“

„ Hast du gerade eine unaufschiebbare Liebessache?“

„ Nein, ich bin in der Badewanne.“

„ Das Konzert in der Kathedrale wird von Walthen organisiert. Ich bin aufs Schlimmste vorbereitet und muss wissen, wie es mit der Akustik in diesem unwahrscheinlichen Gebilde bestellt ist.“

„ Das muss auch bis nach der Badewanne warten.“

Gottseidank war Wolfgang, so unvernünftig er auch gelegentlich war, in diesem Falle die ergiebige, verlässliche Lösung. Er würde zu einer Aussage in Sachen Akustik kommen und dann konnte weiter geplant werden.

Ezra ging durch eine Stelle mit Sand und schob kleine Hügel vor seinen Schuhen her. Ob man die Zuschauer in diese Sandstellen setzen konnte? Gartensesseln? Einige tausend Sesseln mussten untergebracht werden. Wie das richtig einzurichten war, hing von der Bühne ab… Seine Organisation drehte sich im Kreis.

Da sah er drei kleine Mädchen sandspielen. War das erlaubt, hier sandspielen? Durch die offene Kuppel fielen Sonnenstrahlen auf den Sand und auf die Köpfe. Gott würde der Anblick wohl gefallen, dem Bischof nicht. Der hatte eine Tradition zu wahren – Spiel als Abwertung Gottes. Warum eigentlich?

Ezra blieb stehen und schaute den dreien zu. Es waren hübsche kleine Mädchen. Sie hatten aus dem Lehm von einer anderen Stelle des Bodens Männchen geformt. Die Männchen stellten sie in den hellen, ein wenig glitzernden Sand. Die Größte fragte ihr kleines Tonwesen: „Welcher hat geklopft?“

„ Der da“, sagte die Kleinste, „der hat geklopft.“

„ Aber vielleicht war’s der?“

„ Nein der, der will aus der Wand.“

„ Kann er aber nicht“, sagte die Größte.

„ Muss er drinnen bleiben und weiter klopfen.“ Die Mittlere klang sehr zufrieden.

Die Kleinste nahm ein Tonmännchen und ließ es davonhüpfen. „Jetzt klopft er im Keller“, rief sie.

Ezra trat hinter seiner Säule vor. Die drei sahen ihn und ließen die Männchen stehen. Quietschend liefen sie davon. Ezra stand vor der kleinen Sandbühne mit ihren Schauspielern. Einige waren umgefallen. Er konnte mit dem seltsamen Dialog der Kinder nichts anfangen.

Das Spiel fand er bezaubernd, aber sein Planungshirn drängte sich vor, mit anderen Aufgaben: Zuerst musste er sich um den Presseempfang kümmern. Und zwar sofort. Walthen hatte irgendetwas gemurmelt und dann gemeint, er würde ein wenig zu spät zum Empfang kommen. Das war seine Methode, um sich aus der Organisation heraus zu stehlen, für die er zuständig war.

Der Wetterbericht war schlecht, und daher war das ursprüngliche Konzept, das Ganze in der „Kathedrale“ stattfinden zu lassen, out, keine gute Sache. Der Gemeindesaal wurde gerade ausgemalt, und so hatte Ezra nach weiteren Räumen gesucht, in denen man Ansprachen und Journalisten unterbringen könnte. Gab es nicht. Die letzte Möglichkeit: Er hatte mit der Pensionsinhaberin vereinbart, die Kegelbahn hinter dem Haus nützen zu dürfen.

Preisvergleiche beim Catering und Organisieren einer mobilen Heizung hatte er vollbracht, denn der Frühling hatte sich noch nicht wirklich vom Eise befreit. Ezra rannte mit Handy am Ohr durch die Straße.

Was hatten die Kinder wohl damit gemeint? Wer klopft? Wieso klopft einer?

SPÄTER NACHMITTAG

Eine Stunde vor dem Presseempfang. Das Budget hatte nur für ein billiges Catering gereicht und Ezra spürte ein leises Vibrieren in den Nervenbahnen. Billige Caterings waren normalerweise eher unverlässlich.

Die Kegelbahn war schon einige Zeit außer Betrieb gewesen. Verschlafen hatten einige Holzkegeln an Fäden gebaumelt und Holzkugeln, die nicht mehr wirklich rund waren, hatten zwischen Laub vom vergangenen Herbst gelegen. Das war das Bild der ersten Besichtigung. Die Türe war wohl aus irgendeinem Grund offengeblieben und der Wind hatte die Last von den Bäumen hineingeweht. Mit zwei mühsam organisierten Helfern wurde der Raum von Ezra geräumt. Die Reste der Kegelbahn waren inzwischen zur Dekoration geworden. Ein Blumenarrangement tat so, als ob dieser Raum immer gemeint gewesen wäre. Ein geliehenes Heizsystem versuchte, das Ganze zu heizen wie einen Empfangsraum. Das Catering war noch nicht da. Schlimmstenfalls würden sie leise ihr Buffet aufbauen, wenn die Ansprachen schon begonnen hatten. Einige Doppler Wein und einige Flaschen Mineral hatte er gekauft, falls gar nichts klappte. Gläser hatte er von der Hausfrau geborgt.

Wolfgang war wirklich angereist, direkt aus der Badewanne, hatte die Akustik eingemessen und gesagt, es wäre keine vorhanden. Die Kathedrale war ein wundervoller Raum, aber, so großartig er aussah, kein Konzertsaal. Wolfgang als Techniker meinte, man könnte ein System mit schwebenden Objekten entwickeln. Er glaubte daran, dass diese Objekte einen geeigneten Raum ersetzen konnten. Das wäre aber nicht erprobt.

Das versprach ein Riesenproblem zu werden, aber zu einem späteren Zeitpunkt – ein andermal, nicht an diesem Tag. Jetzt war angesagt, mit der Hausfrau klarzukommen. Die hatte festgestellt, dass sie sich ihre schönen geputzten Kloanlagen nicht von irgendeinem Journalistenpack verschmutzen lasse, es gäbe noch aus den Zeiten der Kegelbahn im Garten ein Plumpsklo. Ezra führte mit ihr harte Verhandlungen, aber beide wussten, dass so knapp vor der Veranstaltung wenige Möglichkeiten blieben. Er musste das Budget zusätzlich belasten.

Da kam Bob Lennce.

Der Musiker war das Herz und die Seele der Veranstaltung, erhob aber keinen Anspruch. „Wer kommt denn da heute?“, fragte er interessiert. Ezra erklärte ihm, dass eigentlich geplant gewesen sei, dass er, Bob Lennce, das Projekt vor der Journalistenriege vorstelle. Bobs Blick ging ins Leere. Das war ihm entfallen.

Ein Rumpeln war vor der Türe zu hören, während einzelne Gäste mit suchendem Blick in den Raum kamen. Das Rumpeln war das Cateringservice. Die Vorhut brachte einige große Körbe mit weißen Tüchern. Der Häuptling blickte um sich und meinte zu Ezra: „Und wo bitte soll man hier die Tische aufstellen?“ Ezra machte Vorschläge, und gerade in diesem Moment kam Walthen. Er hatte eine sehr teure Aktentasche unter den Arm geklemmt, schick, flott…

Bob Lennce heftete ihn mit seinem stahlharten Blick nieder: „Ich habe die Unterlagen vergessen, ich denke, das Projekt wirst du vorstellen.“ Er lächelte freundlich wie eine Kobra und ging. „Ich komme dann wieder“, sagte er noch an der Türe.

Walthen war überfordert. Panische Blicke, Suche nach einem Haltegriff, nach etwas, das er kannte, mit dem er Erfahrung hatte, nicht leere Seiten einer Rede in seinem Hirn. So überkam ihn das Bedürfnis, jemanden niederzumachen. Er schaute sich um und meinte zu Ezra: „Sie wissen aber schon, dass dieser Raum völlig ungeeignet ist? Das ist schlechte Organisation.“

In Ezra stieg eine mörderische Wut hoch. Seine Fantasie machte einen Ausflug in die Gewaltszene. Lustvolle Bilder von unendlicher Grausamkeit erstrahlten auf dem Bildschirm seines gereizten Hirnes. Mit einer Garotte köpfen und im Plumpsklo vergraben fand er eine zu schwache Strafe. Gleichzeitig spross aber gewohnheitsmäßig Rechtfertigung auf seinen Lippen…

Aber wofür sollte er sich rechtfertigen? Tatsächlich hatten die vom Cateringservice gerade ein wirklich buntes Buffet aufgebaut. Die fünf Mikrophone funktionierten nachweislich. Die Heizung war noch nicht ausgefallen und verbreitete angenehme Wärme. Die Journalisten kamen eben in kleinen Gruppen durch die reparierte Türe und Walthen würde halt das Projekt vorstellen müssen, wenn der Meister keine Lust hatte…

„ Wo sind denn die Handouts für die Journalisten?“

„ Ich weiß nicht, wo Sie die Projektbeschreibungen hingelegt haben.“ Ezra war abwehrend.

„ Das wäre doch wohl Ihre Aufgabe gewesen“, stellte Walthen fest. Ezra knirschte mit den Zähnen: Selbst, wenn er sofort zum Kopierer lief, war die Zeit für ein umfassendes Handout zu kurz.

Er brauchte eine schnelle, elegante Notlösung.

Er erinnerte sich an Karten mit einem Bild des gigantischen Skelettes der Kuppel, ein schönes Bild vor Gottes blauem Himmel, ragte sie hoch wie der schwebende Brustkorb eines Walfisches. Ja, die Karten! Er fand sie tatsächlich. Dort schrieb er die E-Mail-Adresse drauf – etwa fünfzig Mal. Dann lief er damit zu jedem einzelnen Journalisten, gab die E-Mail-Adresse her, erklärte, dass die Information direkt in die Redaktion geschickt würde. Schrieb eine lange Liste von Namen und Standorten und Email-Adressen und fluchte in sich hinein.

Der Raum füllte sich mit Männern und Frauen der Zeitungen die Kontakte knüpften wollten oder Rechtfertigungen für die letzten Falschmeldungen abliefern. Ein ganz normales Treffen in animierter Stimmung.

Dass am Ende eine Person tot dort liegen würde, hätten die meisten nicht gedacht.

ABEND

Der Raum hatte sich langsam mit Journalisten gefüllt. Zwischen ihnen die auffallende Gestalt von Eve Lesnault, Ausnahmeerscheinung, groß und schlank, mit langen, grauen Haaren, aus guter Familie, wohlhabender Klan, ein bisschen adelig, großes Haus. Man kannte Eve.

Sekt-Orange und Rotwein, Bob Lennce war noch nicht da. War ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass er pünktlich kommen würde. Man hoffte auf nicht allzu große Verspätung. Aber es war immerhin alles versammelt, was Rang und Namen hatte. Man konnte einiges besprechen, was sonst nicht leicht zu besprechen war. Zwischen den Gläser-Haltenden schob sich die beleibte Gestalt von Rowley durch, künstlerischer Leiter, kurz Ro genannt. Er bemühte sich immer, bodenständig zu wirken. Keine abgehobene, elitäre Kunst wollte er machen, praktisch, grenzenlos praktisch wollte er sein. Das gelang nur mit Hilfe.

Und dann war da noch Walthen… Ezra freute sich, dass der so nervös war.

Das Buffet war wider erwarten großartig. Winzige Häppchen voll mit kleinen Freuden. Auch das trug zum Wohlbefinden bei, obwohl bei dieser Veranstaltung ausnahmsweise nur wenige zum Essen gekommen waren.

Schließlich erschien auch Bob und zeigte mit keiner Geste, dass er etwas mit dem Podium zu tun haben wollte. Er stand an einem Tisch mit Eve und Ro und unterhielt sich träge mit Kaffee. Die große Gestalt seines Bodyguards kam und ging wieder. Walthen eilte immer wieder vorbei um Bob in Richtung Bühne zu bewegen, hatte aber keine Chance. Ezra beobachtete das mit Genugtuung.

Also schritt Walthen tapfer zum Podium, die Mundwinkel gewaltsam hochgezogen. Nachdem er: „Meine Damen und Herrn…“, gesagt hatte, schenkten ihm alle einen kurzen Blick und gingen zur Tagesordnung über, sprachen weiter wie vorher… Keiner war besonders interessiert. Eve hatte schon einige Zeit hektisch um sich geblickt und eilte dann in Richtung weiblicher Schutzzone.

Walthen wiederholte: „Meine Damen und Herren…“, etwas lauter.

Das leise Summen im Raum blieb unverändert. Was da am Podium gesprochen werden sollte, hatte keinen Reiz. Von dort war nichts Ungewöhnliches zu erwarten, nur alltägliche Wortgeklingel. Es gab Interessanteres. Einige versuchten, mit Bob ins Gespräch zu kommen, aber der hatte im Zuge seiner langen Karriere gelernt, wie man keine Gespräche führt. Er blieb weiter am Tischchen mit Ro.

Da ertönte ein lang gezogener, heller Ton.

Ein fremder, musikalischer Ton.

Er hallte durch das leise Summen der geknüpften Kontakte. Ein neuer Klang, eine fremde Note. Ezra erkannte weiße Löckchen und ein goldenes Instrument. Was war das hinter der Ecke? Hatte Ro etwas Nettes organisiert, ohne ihm etwas zu sagen? Das Instrument verschwand. Alle Blicke wanderten zu der Ecke, ein Lächeln im Raum.

Da kam der sehnsüchtige Ton durch das schmal geöffnete Fenster. Verlangend und gleichzeitig wie ein Jubelschrei. Alle Blicke richteten sich sofort dort hin. Walthens Rede war deutlich weniger interessant. Der stieg schließlich gereizt und gekränkt, voll Abwertung für alle vom Podium und lief wütend davon.

Hatte er erkannt, dass seine Rede nicht von einem atemlosen Publikum empfangen wurde? Wollte er flüchten, ausgegrenzt und abgeschnitten von allen, die ihm zuhören sollten? Wundervoll! Ezra hatte noch immer Rache im Sinn. Walthen hatte wohl seine Angst in den kleinen verfliesten Raum bringen müssen.

Wieder der lang gezogene Ton. Nur eine kurze Zeit war da etwas Helles, und weg war es wieder. Volle Aufmerksamkeit, Erwartung, ein beginnendes Abenteuer, das Fremde im langweiligen Geldgeschehen. Alle Augen suchten.

Der Ton kam jetzt wieder durch die Türe hinter Ezra. Er drehte sich schnell um und erkannte die zarte Gestalt einer alten Dame. Das Gesicht voll feiner, blassrosa Plissees, zerbrechlich, eingerahmt von einem silbrigen Gespinst, das sich von der rosa Kopfhaut ringelte. Das Haar erschien rosa, getönt durch die Haut, silberne Brauen, sorgfältig gemalt, und darunter neugierige, blassblaue Augen. Ein später Engel, heruntergestiegen von seiner Wolke, blies die Posaune weiter in Erdennähe. Warum sollten Engel auch jung sein, nachdem sie Jahrmillionen an der Schöpfung gearbeitet hatten?

Eve war zurück und blickte neugierig zur Türe, die Tasche vor der Brust. Sie lächelte. Wusste sie etwas von dem Engel?

Ezra eilte hin und bat die alte Dame mit ihrem Instrument ins Zimmer. Einen tiefen Kratzfuß, eine Verbeugung ganz nach unten – wie man Engel eben empfängt. Mit kleinen Schritten dribbelte sie vorsichtig ins Zimmer, blickte um sich, voller Fragen, in einem Gewand aus altrosa Spitze mit kleinen glitzernden Steinchen. Zart und schwerelos, das goldene Instrument in der Hand stand sie dort.

Ezra fühlte harte Seelenstacheln in seinem Rücken. Das waren wohl die Blicke von Walthen – er war zurück, außer sich vor Wut, die Backen voll mit einer Rede, die ihn unsicher machte, und jeder blickte auf den Himmelsboten mit seiner Posaune anstatt auf ihn. Ezra war sehr zufrieden mit seiner Rache.

Da setzte das flauschige Wesen von der Wolke sein Instrument an die Lippen und blies ein Solo. Der Raum war plötzlich erfüllt mit Klängen, wo keiner Musik erwartet hätte. Alle Anwesenden bildeten einen Kreis. Viele überlegten, von wem wohl die Einlage geplant war. Ein zierlicher rosa Engel hier zwischen beinharten Journalisten... Man wartete, ob es noch goldene Sternchen regnen würde, oder…? Ein angenehm entspanntes Gefühl im warmen Raum. Ro schob sich heran und schloss das filigrane Geschöpf in die breiten Arme. „Wundervoll, meine Sternenfee“, tönte er, seine mächtige Stimme kehrte all die kleinen Fragezeichen beiseite. Er hatte sie bestellt – das war Kunst der Präsentation… Eine kleine Zugabe… Eine zufriedene Pause, während die letzten Töne in der Luft verglommen…

Da klang eine scharfe Stimme von der Türe: „MUTTER!!“ Erstarrt vor Schreck stand die Pensionsbesitzerin an der Türe. „WIE KANNST DU NUR?!“ Entschuldigungen murmelte sie und zog am Arm ihrer Mutter. Die lächelte sehnsüchtig in den Saal, ihre Posaune an die Brust gepresst, und wollte nicht mit.

War das doch nicht bestellt gewesen?

Schließlich wurde sie von der Tochter gewaltsam und widerstrebend aus dem Raum gezerrt.

Walthen nahm notgedrungen noch einen Schluck Kaffee neben Bob Lennce und erstieg dann schließlich wiederum das Podium, er schien angstvoll entschlossen. Klick - das Strahlelächeln wurde eingeschaltet. Keiner beachtete ihn. Er trat von einem Fuß auf den anderen.

„ Ich muss mich vielmals entschuldigen…“ Die Hausfrau steckte ihren Kopf nochmals in den Raum, hochrot, mit hektischen Flecken an der Seite des Halses. Die alte Dame mit dem goldenen Instrument schaute an ihr vorbei, sehnsüchtig strahlend, aber der Auftritt war beendet. Im Gesicht der Pensionsbesitzerin zeichnete sich tiefe Abscheu. Das Verbrechen war abnormes Verhalten. Abnormes Verhalten, beschämend, erklärungsbedürftig, unmöglich…

Die meisten Anwesenden und Journalisten ließen den Engel nur ungern ziehen, vor allem Ro. Er hätte mit dem Himmelsboten von der rosa Wolke gerne gemeinsame Sache gemacht. Und jetzt wurde der ganz profan abgezogen und versteckt. Nachdem die alte Dame von der Tochter abgeführt worden war, stand Ro da, als ob man ihn bestohlen hätte.

Eve wühlte verzweifelt in ihrer Tasche. Sie hatte noch Kaffee vor sich stehen. Was suchte sie? Schließlich stürzte sie den Kaffee hinunter und startete zurück in die geschützte Zone.

Bob Lennce schien unberührt. Er hatte andere Probleme.

Eve kehrte nicht zurück.

Sie lag tot auf dem schwarzweißen Boden der gepflegten Anlage, im Vorraum des WCs. Steril, Chlor, wohin die Nase reichte. Eve war tot, trotz Desinfektion.

Sie lag da, ihr graues Haar am Boden ausgebreitet, weiß und blutleer, der Raum mit Eve wirkte wie ein schwarz-weißes Foto. Rot wäre aufgefallen in der blassen, kargen Farbenwelt. Kein Blut.

SPÄTER ABEND

Walthen hatte die Tote gefunden. Seine Reaktion war organisatorisch unbrauchbar, er war mit sich und seinem Schock beschäftigt. Ezra verständigte die Rettung, während die Veranstaltung erstarrte.

Der Arzt rief die Polizei.

Das geliehene Heizsystem tat seinen Dienst, aber der Raum fühlte sich trotzdem bald kälter an. Ein plötzlicher Todesfall, eine Untersuchung, alle mussten ihre Daten abgeben, mussten bleiben, obwohl nichts mehr zu sagen war.

Geduld… In Ezras Kopf rotierten Fragen: Wenn der Arzt nach der Polizei gerufen hatte, war etwas seltsam an dem Todesfall. War Eve ermordet worden?

Die Polizei kam. Die Leiterin der Untersuchung war eine Frau. Ezra fand das gut. Mit Frauen hatte er umgehen gelernt, bevor er sprechen oder gehen konnte.

Frau Kommissarin war nicht ganz schlank und strömte Mütterlichkeit aus. Hier war die Mutter aller Anwesenden. Der erfahrene Beobachter hatte Zweifel: Wie hätte sie diesen Job geschafft, wenn all die weiche Fürsorglichkeit tatsächlich vorhanden gewesen wäre?

Sie hatte zuerst Bob Lennce befragt, in der irrigen Annahme, dass er irgendetwas von der Organisation wüsste. Der verwies sie an Ezra, er kannte, schien es, Walthen gut genug. Also kam sie auf Ezra zu und sagte mit sanfter, ruhiger Stimme: „Sie sind der Organisator hier, hat mir Herr Lennce gesagt.“ Walthen stand in der Nähe und rückte auf, mit charmantem Lächeln. Er konnte sich wohl seinen Job nicht so leicht aberkennen lassen. Er stellte sich neben die Dame von der Polizei, nahe, sodass sie ihn nicht übersehen konnte. Aber sie war auf Ezra konzentriert.

Ezra hatte vorher sein Handy bemüht, um das Profil der Dame zu erkunden: Doktorin der Rechte, Professorin an der Uni… Sie lächelte ihn freundlich an, zwei Grübchen in den Wangen. Eine biedere, blonde Frisur, milde Augen scannten ihn sanft. „Ich würde gerne mit Ihnen beginnen, weil sie alle Vorbereitungen kannten. Ich bitte Sie aber, dann noch zu bleiben, für Rückfragen.“ Nein, keine Befehle, ruhige Klarheit, das Notwendige im Vordergrund. Ezra war vorsichtig. Soviel sanfte, vernünftige Mütterlichkeit hatte sicher einen harten, krummen Geierschnabel im Verborgenen.

Man unterhielt sich über die Vorbereitungen, die Notwendigkeiten für die Veranstaltung, bevor sie begonnen hatte. Was war vorher da, was wurde wo und wie beschafft? Ezra erkannte an den Fragen: Es ging um Gift. Konnte es irrtümlich irgendwie in Eve hineingekommen sein? War es vielleicht schon da gewesen, bevor die Veranstaltung begonnen hatte? War hier ein mörderischer Zufall am Werk, oder Planung? Woher kam das Cateringservice, wollte Mutter Kommissar wissen. Wieso dieses, nicht ein anderes?

Ezra ging in sich. Hatte eine geheimnisvolle Kraft ihn bewogen, dieses Catering auszusuchen? Man sollte nicht so präpotent sein, zu glauben, dass man durch nichts beeinflusst würde, dass man immer alle Entscheidungen allein träfe, ohne Einflüsterungen. War er vielleicht einer Strömung ausgesetzt gewesen, die er so nicht wahrgenommen hatte?

Die Kommissarin befragte ihn sorgfältig. Er hatte das Catering aus sechs Anbietern ausgewählt, die er sich vorher aus dem Internet gesucht hatte, so sagte er ihr. Aus der Liste hatte er dann schnell entschieden: Fast die Billigsten, und sie hatten am Telefon kompetent geklungen. Einflüsterungen? Wie sollte das passiert sein?

Der Raum? Eine Kegelbahn – hatte geschlafen, mindestens ein halbes Jahr, aber wahrscheinlich viel länger. Wieso ein halbes Jahr oder länger? Das Laub vom Vorjahr, irgendjemand hatte die Türe im vergangenen Herbst offengelassen. Feuchtigkeit und Blätter im Raum, die Türe war verzogen, musste repariert werden. War vielleicht irgendetwas im Raum vergiftet? Alte Farbe möglicher Weise, die irgendwie ins Essen gekommen war?

Getränke? Ezra bestätigte, er hatte extra Wein gekauft, weil er das Service nicht kannte. Wenn die den Termin verschlafen hätten, hätte es halt nur Brezeln und Weißen und Roten gegeben. Immerhin irgendetwas, nicht gar nichts. Der Wein und das Mineral wurden gelagert, und er hatte die Leute vom Catering dann angewiesen, alles aufzubrauchen.

Ezra führte die Dame zu dem Ort der Lagerung hinter der Ecke. In dem Stadium der Untersuchung mussten alle Möglichkeiten erkannt werden. Aber wie bitte sollte ein vergifteter Doppler im Umlauf gebracht worden sein? Ausrottung aller Journalisten? Das wäre wohl aufgefallen.

„ Und haben Sie vielleicht beobachtet, was an dem Tisch, wo Frau Lesnault gestanden hat, los war?“

Ezra versuchte, sich zu erinnern. Zuerst fiel ihm der Engel mit der Posaune ein: „Wir hatten einen Engel da, einen Posaune blasenden Engel.“

Frau Kommissar nahm das gelassen. Bei Kunstveranstaltungen musste man auf alles gefasst sein. „Einen Engel…“, wiederholte sie ruhig.

„ Die Mutter der Hausfrau blies ein Posaunensolo, als schon fast alle Leute da waren.“

„ Wissen Sie zufällig, was zu dieser Zeit auf dem Tischchen gestanden hat, bei Frau Lesnault?“

Ezra kramte in seiner Bildergallerie des Abends: ein dunkler Kellner lief um die Tische, stellte etwas ab, das waren wohl Brötchen oder etwas Ähnliches, und ein Glas Rotwein. Bob rührte in einer Tasse und schob sie dann weg… Was war da noch? „Alle haben einen Kreis um die alte Dame mit der Posaune gebildet. Ich habe sie hereingebeten. Ich konnte da nicht auf das Tischchen sehen.“ Es war ihm natürlich klar, dass das der Moment war, wo man gut etwas Gift unterbringen konnte. Das war der Zeitpunkt, wo keiner etwas anderes sah als den Engel mit der Posaune.

Ungerufen kam ein Bild aus dem Dunkel des Abends: der Kellner mit einem Tablett und etwas Hellem drauf. Er konnte nicht erkennen, was es war. Das konnte er so aber nicht sagen… Was war das Helle?

Ezra befasste sich kurz mit dem Bild, hätte dann aber gerne mehr erfahren, mehr Antworten auf seine eigenen Fragen bekommen. Natürlich gab es keine Auskünfte an Zivilisten. Er rief also wiederum Wolfgang an: „Wir haben einen Mord hier.“

„ Hoffentlich Walthen.“ Wolfgang wusste ja um die Probleme.

„ Nein, leider nicht. Eve Lesnault.“

„ Wirklich schade. Eine interessante Frau.“

„ Kannst du Infos beschaffen?“

„ Was für Infos?“

„ Ich hätte gerne gewusst, an welchem Gift sie gestorben ist. Wie man die Wirkung einschätzt. Ich meine, wie lange vorher sie es genommen hatte.“

„ Wird erst nach der Autopsie zu haben sein. Aber ich mach mich dran. Morgen vielleicht schon… Werde denen erzählen, dass wir nicht wissen, ob das Ganze nicht größere Tragweite hat und so...“ Es war gut, dass es Wolfgang gab, mit seinem Job als Techniker im Geheimdienst. Und er war gerade nicht im fernen Osten oder in Chile, wie zuletzt. Er hatte Pause. – Und er konnte Insiderinformationen besorgen. Auf diese Art war es mit einigen Ausreden möglich, Wissen zu beschaffen, das sonst nicht zu haben war.

Hatte er, Ezra, Mitschuld an Eves Tod? Hatte er etwas verbrochen und wusste es gar nicht? Er saß noch die Zeit ab für eventuelle Rückfragen. Die Journalisten tröpfelten aus dem Raum. Er wurde leerer, kälter und müder. Spät war alles beendet und auch Ezra durfte gehen.

NACHT

Inzwischen war an Schlaf nicht zu denken. Leicht unterkühlt und hellwach glaubte Ezra nicht, dass er Freude am Pensionszimmer haben würde. Er zog die Jacke eng um seinen Körper und fand sie viel zu klein und zu dünn. Gerne hätte er sich eine Decke umgewickelt, aber Bett war sinnlos.

Ein wenig Wind trieb sich in der Straße herum. Leises Frösteln zog die Ärmel hinauf und umschlang die Handgelenke und Unterarme. Es begann zu regnen, aber das Wetter war nicht sicher, ob es dabeibleiben wollte. Mit dem Regen kamen einige Eisstückchen.

In der Kathedrale brannte ein sehr heller Scheinwerfer. Ezra wanderte neugierig durch das Seitentor, oder das, was einmal ein Seitentor werden wollte.

Die gewölbten Mauern ragten auf um Gottes zukünftige Arena. Im starken Licht des Scheinwerfers rannen die gläsernen Tropfen aus dem Himmel und trafen Sand und Mosaike. Ein Beton-Engel blickte von einer Säule und hatte ein wenig Eis auf der Nase und auf den Flügeln. Hoch oben kletterte eine kleine, schwarze Gestalt durch das Gegenlicht, eine andere stand mitten im Raum.

Als ob er Gott zum Vatertag ein Gedicht aufsagen wollte, stand Bob Lennce im Sand. Ezra ging zu ihm, langsam, leise, vorsichtig. Er schien mit Gott zu sprechen, während der vom Himmel nasse, kalte Launen losließ. Vielleicht wollte er in Ruhe beten?

Aber Bob drehte sich um, und schaute Ezra entgegen, während der näherkam.

Er wollte über das Konzert reden. „Ich habe gerade überlegt, ob ein Chorgesang von dem Gerüst dort oben am Rand interessant wäre. Ein Engelschor von abgerissenen Personen, vielleicht in Arbeitskleidung. So wie Bühnenarbeiter. Die Fetzen des Gewandes sähen aus wie Flügel, graue Flügel…“ Kein Wort von der toten Eve.

Ezra wollte den Todesfall auch verdrängen, daher überlegte er bereitwillig, wie ihm ein Chor von Bauarbeiterengeln gefallen würde. Ob er wohl das Akustikproblem besprechen sollte? Vielleicht war Bob aber zu hart aus seinen Überlegungen gerissen, wenn sein Arrangement zu hören bekam: „Kein Klang“. Außerdem hatte ja Wolfgang vielleicht eine Problemlösung …

Bob war weiter mit dem Konzert beschäftigt: „Der Raum ist einfach sehr hoch – über ihm das All…“ Gedankenversunken blickte der Musiker nach oben, und feuchte Flocken tanzten in sein Gesicht. Gott wollte zu diesem Zeitpunkt gerade Schnee produzieren. Statt der glitzernden Schnüre begannen weiße Federn, niederzutreiben und sich sanft auf die Sandflächen, die Gesichter, die Engeln und die Mosaike zu legen.

Bob war ganz auf seine Pläne konzentriert: „Es hält mich nur aufrecht, wenn ich etwas Besonderes mache“, murmelte er zu Ezra. „Todesfälle dürfen mich nicht leiden machen, es lenkt mich ab. Aber der Tod ist manchmal gut zu gebrauchen. Er bringt das notwendige Drama, damit Lieder unter die Haut gehen.“ Er ging einige Schritte in den feuchten Sand und überlegte ein Weilchen. „Tote sind dann schließlich auch Schauspieler auf der Bühne, sie bekommen Bedeutung, weil sie tot sind. Das mit Eve ist gute Werbung. Ich kann sie nicht beweinen, ich muss hier einen Popanz schaffen, der alle Träume aufnimmt. Und der Todesfall ist ein Stück der Bühnendekoration…“

Er streichelte eine Säule. „Was ist, wenn wir in einer riesen Gefühlsmaschine leben? Und ich bin der, der die Maschine bedienen kann? Vielleicht ist Gott überhaupt eine Gefühlsmaschine?“ Bob ging im Kreis und suchte mit den Augen den oberen Rand der Mauern ab. Der Rand war gerade noch im Licht der Scheinwerfer zu erkennen. Scheinbar unbeeindruckt vom Wetter und der Geburt des Popanzes kletterte das winzige, schwarze Männchen weiter durch die Gerüste.

Bobs Stimme war wieder da: „Ich habe mich mit Religion befasst, vor allem in den letzten Jahren. Zuerst habe ich immer gedacht, ich kann ohne leben. Aber dann war plötzlich der Ruf da. Ich wurde gerufen und frage noch immer, wohin.“ Er schüttelte den Kopf. Nach einer Weile sprach er weiter: