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Einige große Fachwerkhäuser haben über Jahre im Wald geschlafen. Mächtige Bäume sind inzwischen durch das Mauerwerk gewachsen. Der Ort sieht aus wie ein Kloster, in dem der riesige Geist des letzten Mönches über dem Hof schwebt. Der Ort einer geheimen Aktion. Ezra hat wieder einmal einen seiner unmöglichen Jobs und soll an diesem Ort im Wald ein Hotel herstellen. Bestimmte Personen sollen glauben, dort sei ein friedlicher Gasthof zur Erholung. Angeblich wurde eine Biologin gekidnappt und aus dem Urwald in Südamerika gerettet und soll dort zu sich selbst zurückfinden. Aber ist sie wirklich Frau Dr. Dilmon? Oder ist sie ein Double, eine Frau, die den Platz einer anderen einnehmen soll? Was ist da in Südamerika tatsächlich passiert? Während die Unklarheit am größten ist und der Stress anwächst, entstehen rund um die Häuser Steinkreise. Ein Landeplatz für Aliens? Was tun Aliens? Die Einwohner des Ortes sind mit den Außerirdischen schon lange vertraut, nur können sie sich nicht einigen, wie genau die Besucher aus dem All aussehen und was sie denn im Wald da wollen.
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Seitenzahl: 377
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Sanne Prag
Kein Sommernachtstraum
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kurzes Intro
TIEF IN DER NACHT
ZEITIGER MORGEN
11 UHR
MITTAG
FRÜHER NACHMITTAG
2 UHR
NACHMITTAG
ABEND
ABEND
MORGEN
VORMITTAG
VORMITTAG
VORMITTAG
MITTAG
NACHMITTAG
SPÄTERER NACHMITTAG
SPÄTER NACHMITTAG
SPÄTER NACHMITTAG
ABENDDÄMMERUNG
FRÜHER MORGEN
VORMITTAG
MITTAG
NACHMITTAG
ABEND
MORGEN
VORMITTAG
FRÜHER NACHMITTAG
SPÄTER NACHMITTAG
ABEND
DÄMMERUNG
ABEND
NACHT
MORGEN
VORMITTAG
VORMITTAG
FRÜHER NACHMITTAG
NACHT
ZEITLICHER MORGEN
NACHMITTAG
SPÄT NACHTS
NACHT
NACHT, SPÄT
MORGEN
NACHMITTAG
NACHMITTAG
FRÜHER MORGEN
ABEND
DÄMMERUNG
SPÄT
FRÜH
Impressum neobooks
KEIN SOMMERNACHTSTRAUM
Einige große Fachwerkhäuser haben über Jahre im Wald geschlafen. Mächtige Bäume sind inzwischen durch das Mauerwerk gewachsen. Der Ort sieht aus wie ein Kloster, in dem der riesige Geist des letzten Mönches über dem Hof schwebt. Der Ort einer geheimen Aktion.
Ezra hat wieder einmal einen seiner unmöglichen Jobs und soll an diesem Ort im Wald ein Hotel herstellen. Bestimmte Personen sollen glauben, dort sei ein friedlicher Gasthof zur Erholung. Angeblich wurde eine Biologin gekidnappt und aus dem Urwald in Südamerika gerettet und soll dort zu sich selbst zurückfinden. Aber ist sie wirklich Frau Dr. Dilmon? Oder ist sie ein Double, eine Frau, die den Platz einer anderen einnehmen soll? Was ist da in Südamerika tatsächlich passiert?
Während die Unklarheit am größten ist und der Stress anwächst, entstehen rund um die Häuser Steinkreise. Ein Landeplatz für Aliens? Was tun Aliens?
Die Einwohner des Ortes sind mit den Außerirdischen schon lange vertraut, nur können sie sich nicht einigen, wie genau die Besucher aus dem All aussehen und was sie denn im Wald da wollen.
Judith hatte bereits eine lange Fahrt hinter sich. Sie war spät losgezogen – viel zu spät. Ihre Augen waren zu ganz kleinen Schlitzen zusammengekniffen und starrten verbissen über den Rand des Lenkrades. Nachts fahren war immer schwierig. Sie war zwar nicht nachtblind, aber sie bildete sich ein, nichts zu sehen. Sobald sich Dunkelheit über die Straße legte, wurde sie ein Maulwurf oder eine Fledermaus, blind und ohne Radar. Vor ihr war eine dunkle Fläche. Die Welt ohne Farbe schuf Mythen und schrumpfte den Ausblick auf ein winziges Fenster. Die Augen wuchsen dabei aus dem Kopf. Sie fraßen sich an Formen fest und schufen ihre eigene Sage: War das dort ein Baum oder ein Mensch? – Der Moment, in dem Mystik passiert – das Wunder gibt Antwort, wenn etwas nicht zu erkennen ist: Vielleicht war das dort ein übrig gebliebener Saurier oder ein Alien?
Sie hatte ja eigentlich viel früher fahren wollen, aber da waren noch zwei Patienten, die sie betreuen musste. Wenn sie jetzt länger nicht da war, wollte sie alles geordnet haben. Sie brauchte Ordnung, um ihre chaotische Seite in Ruhe wuchern zu lassen …
Und dann gab es plötzlich kein warmes Wasser mehr in der Praxis. Aus mit den Wohltaten der Zivilisation – es kam kalt. Die Therme blieb stumm, als sie an dem Hahn mit dem roten Punkt drehte, kein Aufheulen, kein Surren – Stille in dem weißen Körper. Sie brauchte zwar kein Warmwasser, wenn sie nicht da war, aber sie wollte die Tage in dem „Waldhotel“ in Ruhe verbringen, nicht ständig an die Therme denken müssen. Judith neigte dazu, an Problemen herumzukauen. Jedes Mal, wenn die Therme verweigerte, schlich sie in kleinen Kreisen um die Zeitschaltuhr und rief dann schließlich doch an – den Mann, der es regeln konnte.
Der Schutzengel aus den höheren Regionen der Installation aber war unwillig. Das war er immer.
Er betrachtete die alte Anlage jedes Mal mit Abscheu. Wenn sie keine neue kaufe, versicherte er ihr, würde die Zentralheizung nie funktionieren. – Das war der übliche Verlauf – meist verlangte sie beharrlich und widerständig, dass er das System wieder einschalten sollte, mit einem Knopf – sie wusste nie, welchem. Technik war nicht ihre starke Seite. Es gab da einen Knopf, einen alles regelnden Knopf an dem kleinen rechteckigen Ding, das angeblich Macht über den weißen Thermenkörper hatte. Das kleine rechteckige Ding hatte ein Geheimnis: Es hatte viele Funktionen – kleine Sonnen und Monde und verschiedene Zeichen. Irgendeine Einstellung war die mit der Macht. Der Erzengel von Installateur wusste das. Er hielt aber sein Wissen geheim, wohl aus finanziellen Gründen. Aber manchmal hatte er ein Installations-Gewissen und dann hatte sie wieder einmal eine Chance. So war nach einigen Diskussionen die Therme auch diesmal zum Leben erwacht und hatte warmes Wasser gespendet … Das wäre ein beglückendes Ereignis gewesen – aber es war viel zu spät geworden. Die Tage waren wohl im Sommer lang, aber jetzt war es dunkel. Es war stockfinster, sie musste ihre Augen anstrengen, um weit genug zu sehen – und da gerade beschloss das Navi auszufallen. Auch ein Rütteln am Zigarettenanzünder hatte nichts gebracht. Es hatte sich höflich aber endgültig von ihr verabschiedet.
Sie versuchte, das Gefühl von Verlorenheit zu unterdrücken, aber in dem Blindflug, in dem sie nun unterwegs war, hatte sie sich schon auf einer Baustelle verfahren, weil einer von den Richtungspfeilen umgefallen war. Immer wenn sie die Orientierung verlor, nahm ein mächtiges Gefühl Platz, ein allumfassendes Gefühl. Eine ungeheure Leere breitete sich aus. Sie fühlte sich auf dem Mond ausgesetzt, Bedrohung in einer fremden Welt – im Weltraum. Die anderen kannten sich alle aus, sie nicht. Alle anderen wussten, wo sie hinwollten, nur sie nicht. Auf der Baustelle vor einer Stunde war sie im Niemandsland gelandet, Ende des Asphaltes, kleine weiße Kiesel, Ende der Pfeile, ein abgestellter Lastwagen in der nächtlichen Steinwüste. – Die anderen wussten alle, wo sie hinwollten, nur sie nicht. Aber diese Baustelle konnte es wohl nicht gewesen sein.
Auto war Freiheit, Selbstständigkeit, Möglichkeit zum spontanen Entschluss, aber für sie tatsächlich nur auf gewohnten Strecken. Die Reise ins Unbekannte, in die ungewohnte Freiheit brachte sie jedes Mal an die Grenzen der Depression. Welch ein Widerspruch! Ein ständig schales Drücken in der Magengrube verlangte immer Klarheit, damit alle ihre Organe wieder an die richtige Stelle fielen. Sie brauchte Orientierung, um wieder in dieser Welt zu sein, nicht auf dem Mond.
So klammerte sie an ihrem Lenkrad und fuhr durch die Nacht, immer im Zweifel, immer in Unsicherheit: War sie am richtigen Weg oder am falschen?
Sie war inzwischen sehr angespannt, und gereizt sowieso. Sie musste sehr langsam fahren. Langsam war notwendig, weil sie sonst die Hinweisschilder nicht entziffern konnte. Autos stauten sich hinter ihr. Ameisen liefen auf ihrem Rücken auf und ab. Besonders arg wurde es, wenn ein Fahrer hinter ihr ungeduldig dicht an ihre Stoßstange fuhr. Vor ihrem inneren Auge sah sie seine weiß verkrampften Knöchel am Lenker. Sie glaubte, durch die schwarzen Scheiben sein wutverzerrtes Gesicht zu sehen, und hatte das Gefühl, sich in Luft auflösen zu müssen. Bei Patienten bearbeitete sie das: Jeder hatte das Recht auf seinen Quadratmeter Boden, sagte sie immer, hatte das Recht, vorhanden zu sein, wenn er doch geboren war! Aber wenn einer knapp an ihre Stoßstange fuhr, vergaß sie die weisen Worte sofort – und wollte sich auflösen in ein rosiges Nirwana ohne Störung und Stoßstangen.
Sie hatte sich nach der Baustelle wieder in die Autoschlange gereiht und versuchte nun, die Wegweiser alle auf mindestens 100 Meter zu lesen. Das ging nicht, denn sie hatte eine große graue Fläche vor Augen, die jeden Ausblick verstellte, das Heck eines Lastwagens. Das war sehr beunruhigend, denn sie konnte doch nicht so langsam fahren, dass sie die Schilder in Ruhe auf zehn Meter entziffern konnte.
Sie konnte nicht die aufhalten, die doch wussten, wo genau ihr Weg war, und sie allein wusste es nicht.
Schließlich hatte sie die Abfahrt geschafft, die sie mit einiger Wahrscheinlichkeit für die richtige hielt. Die Landstraße schlängelte sich nun unentschlossen vor ihr her. Sie war durch ein Dorf gekommen und empfand zuerst große Erleichterung. Menschliche Siedlungen waren Orte der Unterstützung. Aber angesichts der stockdunklen Fassaden kamen ihr Zweifel. Langsam war sie zwischen den schlafenden Fensterreihen durchgefahren – ungesehen. Keiner wusste von ihrer Existenz – keiner hier. Wenn sie die Erde verschluckte, war sie einfach spurlos weg …
Sie fuhr weiter, durch ein Waldstück mit sehr hohen alten Bäumen. Über ihr ein schmaler Streifen Sternenhimmel. Irgendwo hinter den Baumriesen leuchtete ein Mond. Die Stämme wirkten bläulich dunkelgrau und verloren sich im Schwarz. Da fiel die Elektrik des Autos aus. Einfach so, plötzlich. Der Kamerad, mit dem sie gemeinsam durch die dunkle Welt gezogen war, stand leblos, ohne Schnurren, ohne irgendeinen Laut.
Es war grauenhaft. Nichts rührte sich mehr. Kein Licht, kein Motor, nichts. Wieso war der so einfach tot? Wer hatte ihn getötet?
Aliens fielen ihr ein. Würde jetzt gleich ein Raumschiff über ihr erscheinen und sie mit einem Strahl hochbeamen? Als Versuchsobjekt. Würden sie ihr alle Zähne reißen und sie mit Krankheiten infizieren – nur so, aus Wissensdurst? Einfach aus Forscherdrang? Funktionierten Aliens wie Menschen? Und was würde dann sein – ein Restleben in einem weißen Käfig?
Sie fühlte sich wie ein Astronaut, dessen Verbindung zum Raumschiff abgerissen war. Ein Bild von einem sehr hellen Menschen in einem Anzug wie ein Marshmallow-Männchen drängte sich vor, frei schwebend im unendlichen, stockdunklen All, hinter ihm einzelne Sterne, die dünne, helle Schnur zum Raumfahrzeug gerissen. Die Gestalt schwebte davon. Was war dann? Wie konnte man im luftleeren Raum heimfinden? Wie konnte man Richtung machen? Vielleicht schwimmend? Nein, nicht ohne Luft. Sie saß wie versteinert, starrte durch die Windschutzscheibe und hielt sich am toten Lenkrad fest.
Dann machte sich Restvernunft bemerkbar. Sie konnte keine Aliens sehen und Autos waren auch nur Maschinen, die halt gelegentlich Defekte hatten. Sie ließ das Fenster ganz herunter und setzte sich damit den unsichtbaren Bedrohungen des Waldes aus. Die Luft war angenehm und die dunkle Masse der Bäume machte leise Geräusche.
Sie könnte bis zum Tagesanbruch sitzen bleiben, war aber dann vor dem gleichen Problem wie gerade eben – es war nicht klar, ob jemand vorbeikäme, ob der halten würde, Hilfe leisten … Denn sie wusste ja nicht, wo sie war, und sie hatte auch einen Job. Sie musste anwesend sein am nächsten Vormittag. Da begann diese seltsame Aufgabe. – So etwas hatte sie noch nie gemacht. 11 Uhr am nächsten Vormittag begann dieser Auftrag in einigen Kilometern Entfernung … Hoffentlich in wenigen Kilometern Entfernung …
Aber jetzt in diesem Moment musste sie mit dem Alienangriff fertigwerden. Sie versuchte, in sich hineinzulächeln. Aber der Witz gelang nicht so richtig. Die Einsamkeit umschlang sie rücksichtslos. Vernunft befahl ihr, auszusteigen und die Straße weiterzugehen – irgendwo musste die ja hinführen, das war die Aufgabe von Straßen. Vielleicht war ja das „Waldhotel“ näher, als sie dachte?
Den letzten Ort der Sicherheit zu verlassen, kostete einige Mühe. Der Widerstand war heftig. Sich panisch auf dem Sitz einzuringeln war so naheliegend …
Vorsichtig stieg sie aus und ging um das stille Auto herum. Dann packte sie die notwendigsten Kleidungsstücke aus ihrem kleinen Koffer in einen Sack, hängte noch ihre Tasche über die Schulter, stellte das Pannendreieck auf und versuchte, sich sportlich aktiv zu fühlen. Die Bewegung war nicht das Problem – es fühlte sich gut an, Beine zu haben, auf denen man schnell weglaufen konnte, vor was auch immer… Sie gab sich einen Stoß ins Dunkle hinein. Es fühlte sich an wie ein Sprung vom Zehnmeterbrett. Dann aber begann sie, forsch auszuschreiten – sie wollte sich forsch fühlen.
Der Wald führte neben der Straße weiter und weiter – sie hatte Sehnsucht nach einer Wiese – wenigstens einer Wiese. Eigentlich hatte sie Sehnsucht nach bewohnten Häusern mit Licht. – Ein Lichtlein im Dunklen wie im Märchen, das war es, was eine gute Fee für sie herzaubern sollte …
War da ein seltsames Geräusch? Hatte sie etwas gehört? Wahrscheinlich akustische Halluzinationen, weil sie so angespannt war.
Nein, da war ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein musikalisches Surren. Was war das?
Ein kleiner Weg führte in den Wald in der Richtung, aus der sie glaubte, den seltsamen Ton zu hören. Es klang jetzt wie Luft in Telegraphendrähten. Wie eine Harfe, die seltsam gespielt wird – aber doch bitte nicht mitten in der Nacht. Vorsichtig folgte sie dem Pfad ein kleines Stück, schaute immer über die Schulter, um die Straße noch im Blick zu haben. Das Geräusch war jetzt von anderen Tönen begleitet. Es war deutlich, es war erzeugt – von Menschen? Durch die Bäume war ein blasser Schein zu sehen, bläulich. Wenn es Menschen waren, dann könnte vielleicht Hilfe zu holen sein. Räuberbanden waren ja inzwischen selten geworden – oder nicht? Die wohnten jetzt in den Städten, nicht im Wald.
Sie verhielt sich sehr leise – sicher war sicher. Es schien etwas wie eine Lichtung vor ihr zu liegen, von der die Töne kamen.
Vorsichtig spähte sie durch das Buschwerk. Das Geräusch war jetzt klar von ungewöhnlichen Instrumenten erzeugt. Sie konnte aber noch immer nicht sagen, wovon genau es erzeugt war. Ein fremder Klang – erinnerte sie ein bisschen an ein Didgeridoo, luftig, wie Musik vom Wind.
Da lief etwas über den schmalen Spalt, den der Wald an der Mündung des Weges in die Lichtung frei ließ. Es war etwa so groß wie sie. Es war hell. Judith hatte ein Gefühl in ihrem Brustbein, das schlagartig alle anderen Gefühle verdrängte. „Da sieht man, wozu Ängste fähig sind“, dachte sie. Etwas hatte sie ein Alien sehen lassen. Sie kroch geräuschlos näher. Zwischen den Bäumen durch starrte sie auf etwas im schwachen Licht, bis ihr die Augen weh taten.
Auf der Lichtung bewegten sich Geschöpfe seltsam, wie in Zeitlupe. Helle, glatte Gestalten, und jede hatte Antennen auf dem Kopf, die aussahen wie Fühler von Insekten. Der Klang des Didgeridoo veränderte sich nur wenig. Die Gestalten schienen im Kreis zu gehen, aber jeder Schritt war übertrieben lang, die dünnen Beine wurden bis zur Brust hochgezogen und dann lang vorgestreckt. Und so wanderten die rundum. Es war nicht grauenhaft – es war nur unmenschlich.
Judith stand zwischen den Büschen und wagte kaum, Luft zu holen. An der Szene veränderte sich die ganze Zeit nichts. Die Gestalten gingen wie in Zeitlupe im Kreis. Die Antennen waren nicht gleich, fiel ihr auf. Manche hatten 2 Fühler und manche nur ein Ding, das aussah wie eine antike Fernsehantenne in Schlingen und Mustern gedreht auf dem Kopf. Und wieso leuchteten die Gestalten blass? Es war kein Licht im Umkreis zu sehen. Sie waren nicht beleuchtet, sie leuchteten selbst.
Während sie dort stand, entwickelte sich kalter Schweiß in ihren Achseln und unter ihrer Brust. Schließlich kam sie zu einer Entscheidung. Es schien nicht wirklich möglich, in dieser Szene nach dem Weg zu fragen. Nein! Sie zog sich vorsichtig zurück, sehr vorsichtig.
Als sie die Straße wieder unter den Beinen hatte, war es vor allem wichtig, dass die kleinen Steinchen unter ihren Schuhen still blieben, kein Knirschen, kein Rascheln. Das, was sie da gesehen hatte, war sicher keine Erfindung ihrer gereizten Fantasie. Sie hatte tatsächlich etwas wahrgenommen, das wie Aliens ausschaute … Was tun mit der Erfahrung? Wer immer es war, schien sie nicht bemerkt zu haben. Sie wollte auch weiter nicht bemerkt werden, nein … sicher nicht.
Sie versuchte, sehr schnell wegzukommen, ohne ein Geräusch zu machen. Am Straßenrand stand die dunkle Form eines schlafenden Traktors – hatte vielleicht auch einen Defekt, zeigte aber Spuren von Zivilisation. Immer wieder über die Schulter schauend lief sie möglichst lautlos die Straße entlang und kalter Schweiß sickerte in ihr Gewand.
Der Wald nahm noch immer kein Ende, die Straße wand sich bergauf. Sie hoffte so sehr auf ein Ortsschild. Diese weißen Tafeln mit der schwarzen Schrift wurden zum Ziel ihrer Sehnsucht. Schon mehrmals war vor ihr eine Erweiterung in der Wald-Wand erschienen. Eine Fata Morgana für ihr Verlangen – aber da waren nur Baumstämme, keine Lichtung, keine Wiese. Irgendwo musste diese Straße hinführen, das war ihre Aufgabe. Oder nicht?
Schließlich kam sie wieder zu einer Erweiterung, die sie nicht mehr ernst genommen hatte. Der Himmel hatte sich inzwischen von dunkel zu blass verfärbt, und sie stand über einem Dorf in der Tiefe mit allem, was ein Dorf zu bieten hatte, außer Licht. Es schlief noch, was ja auch zu erwarten war.
Sie ging den Hang hinunter fand eine Bank zwischen den Häusern und setzte sich, um den Morgen zu erwarten.
Als alle Ansprechstellen wieder erwacht waren, fand sie einen kleinen dünnen Mann namens Hiltinger, der auch Autos reparieren konnte, und stellte fest, dass sie in der Nacht auf der Anhöhe an ihrem Waldgasthof vorbeigelaufen war. So machte sie sich auf, um den Berg wieder zu ersteigen, fröhlich und guter Dinge. Ein herrliches Selbst begleitete sie, das jede schwierige Situation meistern konnte, was sie ja in dieser Nacht bewiesen hatte …
Der Waldgasthof rief nach ihr. Es war dringend nötig, dass sie zum angegebenen Zeitpunkt dort war. Abmachung war 11 Uhr. Ein gut bezahlter Auftrag mit Urlaub.
Die seltsame Forderung war vor acht Tagen an sie herangetragen worden. Sie war sehr vorsichtig gewesen mit ihrer Zustimmung. Dann hatte sie überlegt, was für Gefahren tatsächlich über sie kommen konnten. Was war gefährlich daran, zwei Wochen Urlaub zu machen und dabei ein Urteil über eine fremde Frau abzugeben? Dass es hier um kein offizielles Gutachten ging, hatte sie klargestellt, dass sie möglicherweise zu keinem Urteil käme, hatte sie auch eingewendet. Das könnte schon passieren, hatte ihr Auftraggeber gemeint – aber bestmöglich wäre ja auch schon eine Hilfe.
Sie sollte bestmöglich was beurteilen? Um was genau ging es? Da war er sehr zugeknöpft gewesen. Schließlich versuchte er eine Erklärung, ohne tatsächlich etwas zu sagen: „Die Einheit, die mit dem Problem umgehen muss, hat sehr unterschiedliche Wege, um mit dem Problem umzugehen …“, quetschte er heraus. Er hieß Schneider und saß bei ihr in der Praxis, ein kleiner grauer Mann, der nett wirkte und daran gewöhnt war, Befehle auszugeben, ohne mitzuteilen, was er eigentlich wollte.
Judith hatte mit einigermaßen fester Stimme ihren Standpunkt behauptet: „Ich kann ja nicht die Fähigkeiten dieser Dame beurteilen, ohne zu wissen, um welche Fähigkeiten es sich eigentlich handeln soll. Soll sie als Kaninchenzüchterin oder in der Buchhaltung ihre Frau stellen oder soll sie vielleicht eine gute Mutter für kleine Staatsangehörige sein?“
Er hüstelte und dachte eine Weile. „Nun“, sagte er schließlich langsam, „eigentlich sollte sie eine Biologin sein, die Feldforschung in Südamerika gemacht hat.“ Stille.
Judith dachte jetzt auch länger: „Und ich soll nun beurteilen, ob sie eine gute Biologin ist?“ Sie konnte sich zu diesem Zeitpunkt nur schwer von dem Gedanken lösen, dass es um Beurteilung der Eignung für einen Job ging, denn das hatte sie schon zweimal gemacht. Sie war damals still neben dem zuständigen Machthaber gesessen, hatte sich bemüht, wie eine Sekretärin auszusehen. Nachher wurde gefragt, was sie von der Person denn wohl dachte.
Eigentlich mochte sie solche Situationen nicht, denn nie wäre sie auf die Idee gekommen, einen Menschen in einer Stunde beurteilen zu wollen. Sie war damals ausgewichen, hatte bestimmte Fähigkeiten erwähnt, hatte Zurückhaltung geübt, einen Hinweis auf Verhalten gegeben, das zu erwarten wäre, ohne wirklich ein Urteil zu fällen. Das schien aber trotzdem gute Ergebnisse gebracht zu haben. Denn die Anwesenheit des kleinen, grauen Herren in ihrer Praxis war eine Folge dieser Beurteilungen. „Ich soll herausfinden, ob sie tatsächlich etwas von Biologie versteht?“ Judith fand das seltsam.
„Nein, falls sie nicht Biologin ist, hat sie sicher so viel Wissen, dass sie zu keinem Urteil kämen“, sagte er sachlich. Es dauerte wieder eine Weile. Judith saß die Pause aus. „Es ist mehr die Frage, was sie für eine Art Mensch ist.“
„Und was wollen Sie dann daran beurteilen?“ Judith fühlte sich inzwischen wie ein Dachshund, der sich in einen Dachs verbissen hatte - tief in seiner Höhle.
Es dauerte wieder: „Sie war gekidnappt worden und wir wissen nicht, ob es sich tatsächlich um Frau Dr. Dilmon handelt.“ Judith hatte das Gefühl, er hätte in dem Moment alle Schutzkleidung abgelegt, sich herausgewunden aus seiner Rüstung und stand nackt und bloß vor ihr mit dieser Aussage.
In ihrem Kopf kreisten Bilder, Fragen, Entwicklungen.
„Ja aber die Identität muss sich doch viel sicherer feststellen lassen? Da muss es doch viel klarere Möglichkeiten geben als meine Beurteilung?“
„Wir wollen keinesfalls, dass sie unser Mistrauen merkt, und außerdem geht es auch um ein Mehr an Information. Wenn sie nicht Dr. Dilmon ist, möchten wir ihr Verhalten einschätzen können.“
„Das heißt sie darf nicht merken, dass ich sie beobachte und deshalb sind auch Fotos und so simple Dinge wie Fragen an eine Schwester oder ein Freund nicht möglich.“
„Wenn sie nicht Frau Dr. Dilmon ist, versucht sie, es zu sein. Sie hatte eine Gesichtsoperation.“ Nach einiger Stille fügte er noch hinzu: „… und ich kann sie nicht einfach bitten, sich auszuziehen, um zu schauen, ob sie ein Muttermal neben dem Nabel hat.“ Wieder war eine Pause. „Das Muttermal im Gesicht ist vorhanden, aber das wäre ja wohl auch künstlich machbar. – Wir wollen auf keinen Fall, dass sie unseren Zweifel merkt“, wiederholte er. Und dann nach einer langen Pause: „Wenn die Frau nicht Dr. Dilmon ist, kann sie uns unter bestimmten Umständen viel nützen … Dafür benötigen wir sie.“
Jetzt brauchte Judith eine Denkpause. „Sie wollen also, dass ich beurteile, was für eine Art von Mensch Frau Dr. Dilmon ist, damit sie beurteilen, wie sie mit ihr umgehen?“
„Nicht nur. Es geht mehr um die Frage, was weiterhin von ihr zu erwarten ist und wie man dem begegnen kann.“
Judith zog nur mehr die Braue hoch und saß zurückgelehnt in ihrem Sessel. Sie wollte die Situation mit Abstand betrachten.
Da sagte er ganz ruhig. „Wenn sie nicht Frau Dilmon ist, muss es ja einen Grund geben, warum sie es sein möchte“
Das war das Gespräch gewesen, das sie an diesen Ort gebracht hatte. Wer war Frau Dr. Dilmon? Eine Biologin, die man gekidnappt hatte, in Südamerika. Ganz normal, und warum käme dann jemand anderer aus dem Urwald? Warum käme jemand anderer aus der Gefangenschaft?
Judith wanderte am Rande der Straße und es war inzwischen ziemlich heiß. Die Wiesen wogten und flirrende Hitze stieg aus dem hohen Gras und sie musste noch ein Stück bergauf gehen. Schließlich begann der Wald wieder, angenehm kühl, freundlich, die Ängste der Nacht gab es nicht mehr. Waren die Aliens noch da?
Aber bei Tag waren auch Aliens ein durchaus machbares Problem – nur nachts war alles ganz anders…
Ein Wegweiser „Waldhotel“ hing ein wenig traurig an einem Holzpfahl, den hatte sie natürlich in der Nacht nicht bemerkt. Ein Weg führte zwischen sehr hohen, alten Bäumen in die Tiefe.
Die Gebäude wirkten düster in ihrer Abgeschiedenheit und waren ziemlich groß. Es sah fast aus wie ein kleines Dorf mit einigen Häusern. Fachwerk ragte hoch in den Wald hinauf. Baumwipfel streichelten an düsteren Giebeln.
Es war knapp nach 10 Uhr - sie hatte es geschafft. Eine erste Erleichterung breitete sich wie Sonne in ihrem Inneren aus. Eingehaltene Termine waren etwas Schönes, wenn man vorher so viele Widerstände niederringen musste besonders. Sie würde sich nun zu einem friedlichen Kaffee niederlassen. Still ging sie durch die fremde Türe und nahm Platz.
Ein blonder jüngerer Mann lief auf und ab, um in dem Raum neben ihrem breiten Ledersessel etwas herzurichten. An der Wandseite schob er Tische zusammen. Er bedecke sie mit hübschen Tüchern, brachte Wasserkaraffen, Gläser und stellte eine Reihe Sessel zwischen den Tischen und der Wand auf.
Das konnte doch wohl kein Mittagstisch sein? Oder?
Ein großer, älterer Mann kam mit einigen Mikrophonen in der Hand und stellte sie auf die Tische. Er schaute sich die Anordnung an. Eines nahm er wieder und fand einen anderen Platz dafür.
Es waren Vorbereitungen für eine Pressekonferenz.
Der Raum füllte sich locker mit Journalisten.
Der junge blonde Mann schien unruhig zu werden und jemanden zu suchen. Schließlich kam er zu Judith, um zu fragen, ob sie die Psychologin sei. Beide waren erleichtert, ein wenig Klarheit zu haben. Wie ein kleines Stückchen blauer Himmel, der plötzlich durch eine dichte Wolkendecke schaut. Er sagte: „Frau Dr. Dilmon gibt eine Pressekonferenz über ihre glückliche Rettung. Ich habe hier die Hotelbetreuung übernommen. Ich werde Ihnen Ihr Zimmer nach der Pressekonferenz zeigen.“ Leise fügte er hinzu: „Ich denke, die Pressekonferenz ist für Sie ein guter erster Einstieg.“ Damit lief er weiter. Judith erkannte, der Mann weiß, worum es geht. Das war ihr wissender Anker für die nächste Woche. Langsam wurden ihre Muskeln lockerer. Sie suchte sich einen Platz mit guter Sicht auf den langen Tisch und wartete.
Noch mehr Mikrofone wurden hereingetragen. Es wurde drauf geklopft, woraufhin sie hüstelten, ein Zeichen, dass sie im Arbeitsmodus waren. Der ältere Mann strich angespannt um die Tische, sehr konzentriert.
Schließlich kam ein moderner jüngerer Mann, schick, sichtbar tüchtig mit Windstoßfrisur. Der große ältere stand jetzt neben dem Tisch. Er hatte ein unauffälliges Aussehen, unscheinbare Kleidung, aber er wirkte gezielt und mächtig. Er war zweifellos einer der Organisatoren. Still stand er dort, seine Schultern angespannt, sein Nacken leicht nach vorne gerichtet, wuchtig wie ein Stier mit einem Ziel vor Augen. Sehr aufmerksam scannte er den Raum. War das ein Kollege von ihrem kleinen grauen Mann? Zweifellos einer, der Fäden in der Hand hielt.
Eine elegante, grauhaarige Dame, stark geschminkt, setzte sich hinter ein Mikrofon. Also wohl eine Journalistin.
Judith hatte ein wunderbares Gefühl, nur anwesend zu sein und Forschung zu betreiben, still und ohne Stress, nicht wie letzte Nacht. – Bei einer Pressekonferenz gab es keine Aliens – oder waren das alles verkleidete Aliens? – Bei Tag war auch das kein Problem. Der breite Ältere setzte sich an das Ende des Tisches als ob er den Tisch beherrschen würde.
Schließlich kam eine einfach gekleidete, schlanke Frau mit sehr großen, dunklen Augen in einem schmalen Gesicht. Sie erforschte die Menschen hinter den Mikros vorsichtig, sehr zurückhaltend, sah aber nicht in den Raum. Judith sah starke Emotion. Die Frau war angespannt und hatte ein Taschentuch in einer Hand, das sie zu einer festen Kugel gedreht hatte. Der flotte junge Mann richtete ihr einen Sessel und nahm ein Mikro in Besitz.
Sie ließ sich vorsichtig nieder, als ob Stacheln auf dem Sessel wären, und hatte noch immer keinen Blick in den Raum zu den Journalisten gleiten lassen, die Fragen stellen würden.
Das war Dr. Dilmon oder die Frau, die es sein wollte. Judith fand ihre Haltung unsicher, verhalten. Sie wirkte vorsichtig und verkrampft. Man sah der Frau an, dass sie eine heikle Aufgabe zu erfüllen hatte. Kein Jubel an die Freiheit.
Der junge Mann rückte mit seinem Mikrophon nahe an sie heran. Sie rückte ein wenig zurück. „Und was war das für ein Ort, an dem Sie gefangen gehalten wurden?“, fragte er nach einer kurzen Vorrede.
Frau Dr. Dilmon saß mit sehr geradem Rücken auf ihrem Sessel. Ihre Hände waren im Schoß gefaltet, die Schultern hochgezogen. Ihre Stimme war ruhig, sachlich, aber kam tief aus der Kehle. Etwas hielt diese Stimme im Hals fest. Sie sagte: „Es war ein Lager im Urwald.“
„Und wie war das Lager?“
„Es waren Holzhütten, kleine Holzhütten.“
„Und wie ist man dort mit Ihnen umgegangen?“
„Das war normal, einfach. Wasser war genug da, in der Nähe läuft ein Fluss. Ich war nur immer wieder beunruhigt, dass sie es nicht abgekocht hatten. Wir westlichen Menschen vertragen die Bakterien schlecht, die dort normal sind.“
„Das heißt Sie hatten große Angst, sich eine gefährliche Krankheit zuzuziehen.“
Sie rückte ein klein wenig auf der Sitzfläche und hob den Kopf: „Nun, das ist ja immer ein Problem. Wer Jahre an unwegsamen, fremden Orten verbracht hat, hat immer diese Sorge.“ Judith merkte eine Veränderung in der Stimmlage und in der Haltung der Schultern. Jetzt hielt die Frau nichts zurück, sondern sie präsentierte etwas. Was wollte sie denn wohl gesagt haben? Was genau an dem, was sie gesagt hatte, war Absicht, musste präsentiert werden?
…wer Jahre an einem unwegsamen Ort verbracht hat, hat immer diese Sorge… Sie wollte darauf hinweisen, dass sie jahrelang geforscht hatte, schon Jahre im Urwald war?
Jetzt neigte sich die elegante Dame vor: „Hatten Sie oft Hunger in der Gefangenschaft?“
„Das Essen war kein Problem.“ Die Schultern hatten sich gesenkt und wanderten dann wieder ein wenig hoch, registrierte Judith. „Ich brauche nicht viel.“ Sie saß weiter mit sehr geradem Rücken. Es entstand eine lange Pause, weil der tüchtige junge Mann sichtbar nicht wusste, ob die elegante Dame noch mehr Fragen hatte… Dr. Dilmon registrierte die Pause und sagte dann schnell: „Man muss nur immer aufpassen, dass man keine Mangelerscheinungen bekommt…“
Alle warteten auf mehr. Der ältere Mann erbarmte sich und fragte: „Hatten Sie Mangelerscheinungen?“ Er hatte eine besonders tiefe Stimme, die hallte klar im Raum. Gleichzeitig besann sich der tüchtige junge Mann auf seine Rolle und fragte: „Und wie war das dann mit ihrer Befreiung?“
„Die Mangelerscheinungen sind ein bekanntes Problem“, antwortete die Biologin, als ob es nur eine Frage gegeben hätte. „Aber Gott sei Dank gibt es einige Pflanzen in der Region, die man gut einsetzen kann, um Ausgleich zu schaffen. Verschiedene Abarten der Liane und auch Bodenwuchs…“ Es entstand wieder eine Pause, der junge Mann holte Luft, um seine Frage erneut zu stellen, da sagte die Biologin schnell: „Einige davon sind ziemlich giftig, man muss mit der Dosierung sehr aufpassen. – An diesem Ort vor allem gab es viele Giftgewächse, die aber genau den Mangel ausgleichen konnten, der durch die eintönige Kost immer entsteht.“ Es entstand wieder eine Pause. Judith hatte den Eindruck, Frau Dr. Dilmon wollte diese Pause nicht, es war, als ob sie sich einen Stoß geben würde, wie ein Sprung über einen Abgrund: „Es ist nicht zu vermeiden, dass Giftanreicherung im Körper entsteht“, sagte sie mit fester Stimme. „Das baut sich dann nur langsam wieder ab. Ich bekomme dadurch immer Hautprobleme. Aber gerade an diesem Ort gab es keine andere Möglichkeit.“ Hastig fuhr sie fort: „Mir geht es auch im Moment nicht so gut. Ich glaube, ich kann nicht mehr Fragen beantworten…“ Sie sagte das sehr sachlich – es war keine Veränderung an ihrer Atmung oder ihrer Haltung zu bemerken.
„Probieren wir vielleicht noch drei Fragen aus dem Publikum?“, versuchte der ältere Mann, die Pressekonferenz am Leben zu erhalten.
Eine junge, blonde Frau hob die Hand: „Fühlten Sie sich durch sexuelle Übergriffe bedroht?“
Frau Dilmon sah sie intensiv an. Schließlich sagte sie langsam – mit einer anderen Stimme: „Übergriffe – nein, so war das nicht.“
Ein junger Reporter fragte: „Waren die Menschen im Lager hauptsächlich einheimisch oder mehr Weiße?“
„Es schien mir, als ob einige wechselnde weiße Personen sich in einem Dorf mit der dort üblichen Dorfstruktur eingenistet hätten. Es waren nicht immer die gleichen…“
„Wie viele Leute waren dort?“, rief einer aus der dritten Sesselreihe.
Dr. Dilmon ließ sich Zeit mit der Antwort: „Genau kann ich das nicht sagen. Ich denke, zu dem Dorf gehörten vielleicht 30 Personen, und dann waren immer so zwischen vier und acht Menschen, die anders aussahen.“
„Und wie war das nun mit Ihrer Befreiung?“, fragte einer.
Frau Dilmon veränderte ihre Haltung ein wenig: „Mir geht es wirklich nicht gut.“ Sie sagte das abschließend. „Ich lege mich jetzt hin.“ Sie stand vorsichtig auf. Sie ging vorsichtig zur Türe, als ob sie nicht auf festem Boden ginge. Dann blieb sie stehen und sagte zu dem älteren Mann: „Vielleicht könnten Sie mir helfen, etwas Schriftliches herzustellen, mit Ihrer Hilfe schaffe ich das wohl, wenn es mir besser geht, und das schicke ich dann an ihre Redaktionen…“ Leise schloss sie die Türe auf der Flucht.
Die Pressekonferenz blieb zurück…
Ezra stand an den Tischen vor den Resten der Pressekonferenz und musste aufräumen. Ein Tablett mit Gläsern klirrte leise auf seiner Hand denn er machte wieder einmal einen seiner unmöglichen Jobs. Er fühlte sich nicht sicher, denn es war ihm klar, dass er an diesem Ort ein Wespennest behüten sollte. Der Job war durch Wolfgangs Verbindungen zustande gekommen. Wolfgang, der Freund seiner Kindertage, war Techniker in einem System, das im weitesten Sinne der Landesverteidigung zugeordnet wurde. Und kürzlich erst war er zurückgekommen - von irgendwo aus dem Nahen Osten, und hatte sich sofort gemeldet, dringend, kein Aufschub: „Bist du frei oder machst du was? Nur Studium? Gut. Du wirst gebraucht. Sofort. Wir haben ein massives Problem und alles muss schnell gehen – große Orientierung ist leider nicht möglich. Du musst improvisieren und wahrscheinlich alle deine Systeme einschalten. Streng geheim und akut. Zu wenig Zeit für ordentliche Planung, und die Geheimhaltung macht eine größere Organisation unmöglich.“
Seit fünf Tagen behütete Ezra nun sein Wespennest. Er hatte noch nicht wirklich Überblick und Wolfgang wusste zuerst einmal auch nichts Genaues und hatte ihn vertröstet – er käme bald – musste noch etwas regeln.
Es gab ein langes Telefonat mit der Stimme seines Auftraggebers und die ganze Aktion wurde gestartet, dringend, sehr dringend. Ezra musste sofort aufbrechen, vor fünf Tagen, sehr zeitig in der Früh, zu einem „Waldhotel“. Die staatliche Sicherheit war verunsichert. Man war an höchster Stelle beunruhigt. So viel war klar, sonst nichts. Ezra musste einspringen, musste all seine Fähigkeiten einsetzen, an einem Ort im Wald, weit weg von allem, was die Zivilisation geschaffen hatte.
Von was allem? Denn das war es genau, wofür er zuständig war. Er musste ein Hotel herstellen. Man hatte ihm großzügig Geld gegeben und …
Ein Ort fernab von unkontrollierbaren Menschenströmen musste aktiv werden und unverdächtig. Das Waldhotel hatte eine Aufgabe, war Zentrum… Wovon? Keiner hatte ihn wirklich aufgeklärt. Er hatte eine Reihe von Personen zu betreuen und es war etwas im Gange, aber keiner sagte ihm genau, was.
Da war einmal Frau Dr. Dilmon. Es ging darum, ob sie wirklich Frau Dr. Dilmon war oder nicht, so viel wusste er. Sie war nach ihrer Befreiung in dieses Waldhotel gebracht worden – um sich auszuruhen?
Eine gefährliche Frau? Sie musste betreut und gleichzeitig beobachtet werden. Sie durfte aber nie auf die Idee kommen, dass sie beobachtet wurde. Das was er da zu gestalten hatte, musste aussehen wie ein abgelegenes Hotel, musste sich anfühlen wie ein abgelegenes Hotel und keiner durfte auf die Idee kommen, dass es kein Hotel war. Das sagten die Anweisungen am Telefon.
Wolfgang würde am nächsten Nachmittag eintreffen, oder irgendwann, wenn er wegkonnte. Vielleicht kam dann Klarheit?
Ezra trug Krüge und Gläser zurück in den Raum, den sie Küche nannten, und blickte dabei aufmerksam um sich. Jeder kleinste Hinweis, jedes ungewöhnliche Moment konnte später von großer Bedeutung sein. Die letzten Journalisten tröpfelten aus dem Saal. Da kam wieder dieser Mann herein, den er seit dem frühen Morgen beobachtete. Er schlich herum und schrieb ständig konzentriert in ein kleines, schwarzes Buch. Dieses Buch musste einen, großen Wert darstellen, denn der ließ es keine Sekunde aus den Augen. Immer lag es neben seiner rechten Hand. Beim Frühstück, beim Sitzen in der Halle… Zwischendurch machte er Eintragungen. Er schrieb immer einige Zeilen und legte es dann wieder weg. Möglichst unschuldig hatte Ezra versucht, einen Blick auf das Heiligtum zu erhaschen. Das war aber nicht gelungen… Schließlich stand der Mann vor seinem Pult und wollte ein Zimmer. Gut, das war schließlich der Zweck eines Hotels.
Jetzt gerade konnte er dem kleinen schwarzen Buch nicht weiter auf den Grund gehen. Er musste zuerst einmal diese Psychologin finden und sie in ihr Zimmer bringen. Sie war in den Garten gegangen, hatte er bemerkt, oder dorthin, wo einst Garten gewesen war.
Ezra fragte sich, was man ihr erzählt hatte. Ihm hatte man gesagt, dass eine Psychologin käme und dabei helfen sollte, die Situation mit Frau Dr. Dilmon richtig einzuschätzen. Mehr nicht. Er fühlte sich in einem Sumpf von Geheimhaltung gefangen und hatte sein Wespennest zu hüten…
Er traf die Gesuchte langsam zwischen den Häusern wandernd. Gerade war sie stehen geblieben und schaute mit Staunen auf das Haus, durch das der Baum gewachsen war. In den Hang hinein gebaut war eines dieser Fachwerk-Konstrukte. Daneben lagen noch Balken und Steine von einst verstreut. Man hatte sie in der Wiese vergessen. Sie waren liegen geblieben und inzwischen waren Bäume gewachsen und zogen ihre Wurzeln durch den Boden. Sie hatten sich breite Stämme zugelegt und mächtige Laubdächer umschlossen die alten Häuser.
Man baute die Häuser einst wofür? Meierhof, Wirtshaus, oder Hotel? Schichtmauern: Einige schwere Quader lagen noch zwischen den Waldriesen, früher ein günstiger, solider Unterbau. Darüber wuchsen leichtfüßig die Holz-unterteilten Wände in die Höhe mit Fenstern in dunklen Rahmen. Auf jeden Fall hatten sie einst eine Aussicht gehabt – wohl auf den Fluss und das Dorf, das in der Tiefe unter den Häusern lag – eine schöne Aussicht. Dann waren vielleicht unruhige Zeiten gekommen und das Haus wurde vergessen - es wuchs in den Wald ein. Er überwucherte in Jahrzehnten die Wände, die Dächer und, wie man sehen konnte, sogar das Innere der Gebäude, weil die Menschen es verlassen hatten waren Berggeister eingezogen. Waren die Bäume Parasiten? Nein. Der Berggeist hatte Samen gebracht, hatte sein Kind an den Ort gesetzt und es spielen lassen. Es schaute aus jedem Baum und erzählte von seinem Alter: Neunmal Wiese und neunmal Wald – bin neunmal so viel Jahre alt… Menschenwerk war in die Zeit eingewachsen, Blatt für Blatt, Jahr für Jahr.
Häuser waren letztendlich für Menschen da. Das ganze hatte aber lange geschlafen, unbewohnt. Als er kam, hatte er dort eher ein Geisterschloss gefunden als ein Hotel. Er hatte drei Tage Zeit gehabt und auf der Spinnweben-beladenen Theke lag damals ein Gästebuch mit einer Reihe Namen. Das waren Gäste, die er erwarten sollte. Kräftige Damen aus dem nahen Dorf standen bereit mit Gummihandschuhen, Kübeln, und was man sonst noch benötigt, um die Räume von Spinnweben zu befreien und mit neuer Wäsche zu versehen… Jemand hatte Vorbereitungen getroffen – den Rest musste Ezra selbst erledigen.
Ein perfektes Hotel in drei Tagen, wie sollte er das schaffen? Er verbesserte: Er würde versuchen, etwas herzustellen, das zumindest als Hotel durchgehen konnte, vielleicht als romantisches Hotel?
Ezra hatte sich zuerst die fünf Gebäude angesehen und die beiden großen zur Reinigung bestimmt. Die waren am ehesten verwendbar. Die anderen drei waren dunkle Höhlen, Löcher, deren Wiederbelebung einen Zauberer benötigt hätte. Eines hatte einen Backofen, ein dunkles Monster. In den beiden besten gab es so etwas wie Badezimmer am Gang, in einem Waldhotel kann man nicht mit einer Ausstattung rechnen wie im Ritz, tröstete sich Ezra und war besorgt. Wenn Badezimmer Jahrzehnte lang geschlafen hatten, war wohl mit Unannehmlichkeiten zu rechnen… Vielleicht war einer der Bäume durch den Abfluss gewachsen?
Die Damen kamen in Bewegung und am Ende des ersten Tages hatten sie Raum für Raum im Erdgeschoß vom Belag der Zeit geschält und die Holzteile mit Bienenwachspolitur eingelassen. Es roch gut. Ezra hatte Teppiche für die Böden organisiert – das Budget war ja großzügig. Nachher hatte es ausgeschaut wie ein frisch gereinigtes Zisterzienser-Kloster, in dem der letzte Mönch vor einigen Jahren gestorben war. Zwischen den hohen Bäumen herrschte weiterhin eine düstere Atmosphäre. Eigentlich erwartete er, nachts um zwölf den riesigen Geist des Mönches über den Hof schweben zu sehen. Daraufhin fuhr Ezra eilig in die nächste größere Stadt und stellte Pflanzkübeln mit Blumen vor die Eingänge. Nun sah es aus wie ein ausgestorbenes Kloster mit Blumen.
Ezra hatte ein Problem, und noch immer hatte ihm niemand erklärt, welchen Ansprüchen dieses „Hotel“ eigentlich gerecht werden musste. Da besorgte er eine Standtafel, auf die er mit Kreide Preise für Imbiss und Getränke schrieb. Nun sah das Ganze aus, wie ein romantischer Geheimtipp fürs Wochenende. Das kam der Sache schon näher. Viel mehr war in der kurzen Zeit eben nicht drin. Die Badezimmer blieben ein Riesenproblem. Dann kamen auch bald die Menschen, deren Namen im Gästebuch vorgemerkt waren. Frau Dr. Dilmon bezog Zimmer 2. Wer war sie?
Und der Mann mit dem kleinen schwarzen Buch musste dann auch sein Zimmer bekommen. Der ältere Journalist, der die Pressekonferenz organisiert hatte, war untergebracht in seinem vorgemerkten Zimmer 5, und dann war da die elegante Journalistin, auch vorgemerkt. Die sollte auch ein Zimmer haben, und das ältere Pärchen, war schon am Vortag angereist mit vielen Koffern ... Waren die alle Menschen vom Geheimdienst? Oder waren das ganz normale Bürger, die ein paar ruhige Tage verbringen wollten? Waren sie tatsächlich Journalisten oder Schauspieler, vielleicht waren sie von der Regie bestellt als ahnungslose Komparsen? Oder führte einer oder der andere selbst Regie? Für welches Bühnenstück?
Die Damen mit Kübeln und Mobb waren inzwischen schon im zweiten Stockwerk unterwegs. Die Gebäude waren hoch. Es war nicht zu erwarten, dass Ezra Zimmer im zweiten Stock vergeben musste. Es war aber immerhin möglich, dass sich einer von den Gästen aus dem ersten Stock im Haus verlief, und der durfte kein Geisterschloss treffen – es konnte ja ein echter Gast sein. Die Türen der anderen drei Gebäude hatte Ezra sauber gereinigt, teilweise selbst außen neu gestrichen und abgesperrt. Das war die relativ beste Lösung. Passende Schlüssel hatte es natürlich keine gegeben. Er hatte den Schlosser erpresst und am gleichen Tag neue Schlösser einbauen lassen. Hinter diesen Türen war Niemandsland. Unter anderem wuchs eben da ein Baum durch das Erdgeschoss die Treppe hoch und beim einstigen Fenster, das keine Scheibe mehr hatte, hinaus.
In manchen Bereichen hatten sich Spuren von Benützung gefunden. Das waren wahrscheinlich die Jugendlichen aus dem Ort. Vielleicht Liebespaare, romantisch, heimlich und ohne hohe Ansprüche an Reinlichkeit oder Luxus. Opfer der Lust auf kalten, sandigen Böden …
Er zeigte der Psychologin das Zimmer und ging zurück an seinen „Empfang“. Da kam der ältere Mann, Organisator der Pressekonferenz. Der von Zimmer 5 war das. Er lehnte sich vertraulich an das Möbel, das Ezra zur Empfangstheke bestimmt hatte, und fragte mit seiner tiefen vibrierenden Stimme: „Haben Sie was Hochprozentiges für mich?“ Diesen Mann ordnete Ezra der Organisation im Hintergrund zu – der war eindeutig Regie, und er dachte: Der braucht Trost bei der vielen Geheimhaltung … Der Mann machte den Eindruck, als wüsste er, um was es ging. Breit lehnte der an dem Pult. Ezra war bemüht, denn vielleicht kam er an gute, wichtige, hilfreiche Informationen. Vielleicht konnte er einen kleinen Lichtschein in den Nebel bringen. - Für Hochprozenter hatte er als „Manager“ natürlich gesorgt, ein wichtiger Faktor in einem „Hotel“. Er hatte für sehr guten Hochprozentigen gesorgt, denn so viel Freiheit war gegeben.
Der Mann wählte sorgfältig eine Flasche. Die betrachtete er nun wohlgefällig. Dann füllte er seinen Brustkorb bis zum Bersten und ließ die Luft langsam ausströmen: „Gott, geht mir das alles auf die Nerven“, wisperte er in Ezras Ohr. Er schien das Gefühl zu haben, dass Ezra eingeweiht war.
Der schaute daraufhin so wissend wie möglich. Aalglatt legte er sich ein weißes Tuch über den Arm und begann ein Glas blank zu putzen, dabei lächelte er absolut sicher. Der Mann vor ihm wirkte erschöpft. Dieser Mensch hatte sich übernommen in den letzten Tagen. Hier wurde von der Macht im Hintergrund hart gearbeitet und improvisiert, Geheimhaltung in der Hektik einer wesentlichen Aufgabe. Einer wusste nicht, was der andere wusste. Über nichts wurde wirklich gesprochen und nichts war so wichtig wie das Nichts. Dieser Mann hatte eine harte Zeit hinter sich, das war zu sehen. Er wirkte dennoch mächtig. Seine Schultern brauchten viel Platz, seine Augen unter tiefen Brauen waren scharf und seine Bewegungen gerade und direkt. Der war sicher in der Lage einige bedeutende Lichtblicke zu liefern. Welche Fragen waren die interessantesten?
Ezra konnte sich nicht erklären, wieso keiner wusste, ob Dr. Dilmon Dr. Dilmon war. Was war da in Südamerika abgegangen? Wer hatte ein Interesse an der Biologin? Wer wollte sie austauschen und warum?
„Ich bin Red Warhol“, sagte der Mann in diesem Moment.
Bei Ezra klingelte es laut in der Informationsabteilung. Red Warhol war eine journalistische Größe. Er hatte ihn persönlich noch nie getroffen, aber trotzdem war der Name allgegenwärtig. In Presse, in Politik – Aufdeckung, Aktionen … Red Warhol saß am Steuer. Saß er auch hier am Steuer?
Der berühmte Mann saugte langsam an seinem Glas mit dem goldgelben Inhalt. Dann sagte er: „Das da ist gut, aber es tut mir nicht gut – ich brauche es nur einfach.“ Sein Gesicht wirkte zerknittert. War zu viel Alkohol das Problem? Ezra arbeitete an einer Frage, die aufdeckend aber nicht zu intim war. Auf zu Intimes würde er keine Antwort bekommen und er war schließlich auf Antworten angewiesen beim Blinde -Kuh-Spielen. „Wie könnten wir das hier bestmöglich regeln?“, fragte er daher in der Rolle des gut Informierten so lässig wie möglich.
Red Warhol hob den Blick müde aus seinem Glas: „Das Problem ist – wir können im Moment nur abwarten, bis einige Fragen geklärt sind. Passt mir auch nicht, aber so ist es.“ Er sagte das tief traurig. Ezra hatte sich den Mann immer vorgestellt wie einen Jockey, der das wildeste aller Pferde ritt. So wie der da vor ihm stand, konnte er kaum einen alten Haflinger reiten – so erschöpft.
Ezra nahm ein anderes Glas und begann, es mit seinem Tuch glänzend zu reiben. Voll konzentriert hielt er es gegen das Licht und blickte durch: „Warum ist denn der Fehler passiert?“, fragte er so unschuldig wie möglich. Seiner Erfahrung nach war das eine gute Frage, die meistens eine Antwort bekam, auch wenn man nicht wusste, was sie bedeutete.
„Ein Fehler war‘s ja nicht, eigentlich“, sagte der Journalist auch sofort. „Ich hatte ihn völlig aus den Augen verloren.“ – Diese Antwort war eine Herausforderung.
Ezra konzentrierte sich wieder auf sein Glas, die nächste Frage war besonders heikel. Sie durfte nicht in die falsche Richtung gehen. Schließlich meinte er: „… nach der gemeinsamen Zeit?“
„Ich hatte genug. Das muss man doch verstehen. Ich hatte die ganze Geschichte satt.“ Der Journalist nahm einen tiefen Schluck und hielt Ezra das Glas wieder hin. „Ich habe mich einfach um ihn nicht mehr gekümmert, und jetzt verbreitet er Unsinn.“