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Eine Burg soll Kulisse werden für einen Film. Auch eine Modefirma wurde eingeladen, die der Burgherr als Teil der Filmkulisse zur Verfügung stellt und für seine eigenen Bedürfnisse nutzen möchte. Er denkt nur daran, wie er die Zügel in der Hand behalten kann, und merkt nicht, was sich zusammenbraut.
Dann wird der Burgherr ermordet.
Der Produzent des Filmes freut sich sehr, weil er der Werbekampagne einen echten Mord hinzufügen kann. Er freut sich über Geschichten von Geistern in einem grünlichen Licht, von Autos, die verschwinden, von mordenden Kindern. Werbung muss gemacht werden, bevor das Projekt beginnt, sagt er.
Seine Begeisterung kann nicht anhalten, denn die Dinge, die passieren, sprengen den Werberahmen bei weitem.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
EIN KLEID AUS SEIDE
SPÄT NACHTS
VORMITTAG DANACH
NACHMITTAG DES NÄCHSTEN TAGES
SPÄTER NACHMITTAG
ABEND
FRÜH
VORMITTAG
MITTAG
NACHMITTAG
NACHMITTAG
SPÄT
FRÜH
VORMITTAG
VORMITTAG
NACHMITTAG
NACHMITTAG
ABEND
MORGEN
MITTAG
NACHMITTAG
SPÄTER NACHMITTAG
NACHT
AM NÄCHSTEN MORGEN
VORMITTAG
VORMITTAG
FRÜHER NACHMITTAG
NACHMITTAG
NACHTS
ZEITLICHER MORGEN
FRÜH
MITTAG
MITTAG
ABEND
ABEND
NACHT
NACHT
MITTERNACHT
MORGEN
MORGEN
SPÄTER NACHMITTAG
MORGEN
MORGEN
VORMITTAG
SPÄTER VORMITTAG
ABEND
ABEND
MORGEN
MITTAG
NEUE SZENE
FRÜHER NACHMITTAG
NACHMITTAG
NACHMITTAG
FRÜHER ABEND
MORGEN
MITTAG
FRÜHER NACHMITTAG
NACHMITTAG
NACHMITTAG
NACHMITTAG
NACHMITTAG
SPÄTER NACHMITTAG
ABEND
NACHT
MORGEN
Therese saß auf der Bank, die Falten der goldfarbenen Seide mit den dünnen, blauen Streifen lagen weich auf ihren Armen, auf ihren Beinen, zarter Stoff, der Liebe machte mit ihrer Haut.
Sie war vor allem heilfroh, dass er ihre Beine bedeckte. Die Schmerzen sah man ja nicht, aber die dunklen Flecken. Am Jochbein und am Hals und auf den Rippen hatte sie auch einen. Den am Jochbein hatte sie mit einer extradicken Schicht von Makeup verdecken müssen. Sie konnte fast nicht mehr lächeln, hatte das Gefühl, die dicke Schicht würde Risse bekommen und abblättern. Mit Panik hatte sie festgestellt, dass man den Fleck auf den Rippen sogar durch eine sehr dicke Schicht Farbe sah. Und wenn sie ein bauchfreies Modell anziehen musste, ging das nicht.
Vielleicht ließ Inge weiter mit sich reden in Bezug auf die Kleider?
Die meisten Mädchen hatten eine ähnliche Figur und eine ähnliche Größe wie sie. Manchmal wurde der Stoff speziell auf eine von ihnen aufgenäht, wie ein Hautersatzteil nach Verbrennung, dachte sie. Die meisten Modelle waren aber austauschbar. So war es ihr gelungen, für diesen Tag das Seidenkleid zu erobern. Es hörte erst knapp über dem Boden auf und hatte halblange Ärmel. Die Oberarme konnte sie ja auch nicht herzeigen. Den Fleck am Hals verdeckte sie mit der Frisur. Das fühlte sich wie Sicherheit an. Es war ein bisschen heikel geworden, weil Udo sich eingebildet hatte, dass die Frisur so nicht richtig war. Die schützenden Haare wurden von dem Fleck weggezogen. Das hatte Angst bei ihr ausgelöst.
Udo betrachtete die Mädchen als Kleiderständer seiner überwältigen Kreationen. Daher hatte er nur Augen für die Form der Frauen, die Farbe, die Frisur, die sein Kleid zur Geltung bringen würde – der Fleck wäre Störung gewesen, er hatte ihn Gott sei Dank nicht bemerkt, weil sie sich wegdrehte. Nachher fand er die Frisur doch besser, so wie sie war. Die Haare fielen wieder über Theresas dunkle Stelle, sie war erleichtert. Zurückgestellt in die Warteschlange der Modelle, die begutachtet wurden, atmete sie aus und drückte die Haare über den Fleck.
Hauptsache, keiner wollte was von ihr.
Der Job brachte es mit sich, dass es nur sportlich Forderungen gab. Heftige Bewegung mit den Beinen war verlangt. Nur das Gehen war im Moment ein Problem. Die Schmerzen waren sehr deutlich. Immer wieder gab es Momente, in denen sie die akute Schmerzwelle weg atmen musste.
Der Gedanke, dass sich Schweiß Tröpfchen auf ihrer Stirne bilden könnten, machte ihr Angst. Sie spürte keine feuchten Tropfen, versuchte aber trotzdem, sich aus der Reihe davonzuschleichen, um einen schnellen Blick in einen der Spiegel werfen zu können.
Ein quälendes Bild nahm Platz in den schwelenden Resten ihrer Gedanken – Schweiß Tröpfchen. Ihr gepeinigtes Hirn fraß sich an dem Wort fest, an der Vorstellung – Schweiß Tröpfchen. Schweiß Tröpfchen gingen gar nicht, waren eine echte Bedrohung. Sie würden auf ihrer Stirne schwerer und schwerer werden und würden sich auf den Weg ins Tal machen wie kleine Bäche. Unterwegs höben sie dann Täler in der Puderschichte aus und dunkle, manchmal auch rötliche Streifen würden sichtbar werden. Die Folge war ein zerstörtes Puppengesicht. Ihr Puppengesicht war aber ihr Kapital. Es passte mit ihren großen, dunklen Augen und ihrem winzigen Mund gut zu den Kleidern. Bei fast jeder Auswahl war sie dabei, sie musste nur dafür sorgen, möglichst ausdruckslos zu bleiben. Das bedeutete Geld am Konto.
Ihr Gedankensumpf hatte sich seit dem Vorabend nicht geformt. Sie konnte aus dem schlammigen Bodensatz keine Klarheit schälen. Aber Geld auf dem Konto war das erklärte Ziel, gestern, heute, morgen. Das wenigstens war klar.
Ihre Gedanken schwammen undefiniert in einer roten Zone wandernder Schmerzen, und fast hätte sie das Kommando nicht befolgt: Alle wieder auf die Stationen – Foto in einer halben Stunde. Ihr Puppengesicht verschaffte ihr Zugang zu den Jobs, aber sie behielt sie, weil sie diszipliniert war. Da gab es kein Verschlafen, kein Ausweichen, keine Entschuldigung.
Die Station nahm sie und Ariane auf. Ariane war dunkel und langhaarig. Manchmal wurde ihre Frisur gezaust, um ihr ein wildes Aussehen zu geben. Die sportliche Mode brauchte das. Wind ist wild. Ariane war weder sportlich noch wild. Sie war auch ein blasses Bild, das Kleider zur Geltung bringen musste. Ihr Leben durfte nicht sichtbar sein.
Ein Aufruhr drei Stationen weiter. Es war laut und bösartig. Sowas ging nicht durch. Nein. Zwei cm zu viel – Raus und scheißen, bis das Modell passt. Wie sie das mache, sei wurscht, sie habe einen Vertrag unterschrieben!
Solche Szenen waren immer sehr belastend und drangen auch an diesem Tag durch bis in Theresas Nebelland. Die Gefahr kam immer ganz nah an ihr Ufer, wie ein Krokodil, das ja auch sie fressen würde, mit seinem dunkelgelben, Zähne besetzten Maul. Zwei panische Zentimeter Verstopfung und das Krokodil hatte sie. Es schnappte nach ihr. Und sie konnte heute nicht laufen.
Sie war nicht ganz sicher, wie sie den Laufsteg schaffen konnte. Ihre Beine, der Motor stotterte, schlotterte und war heute kraftlos.
Sie merkte, dass sie den Bildern vom Vorabend auswich. Die Bilder langten nach ihr und sie entzog sich. Zurückziehen war möglich, laufen nicht.
Das Problem war die Atmung.
Es hatte eine Zeit am Vorabend gegeben, da hatte sie keine Luft holen können. Sie hatte das Gefühl gehabt, nie wieder Luft holen zu können. Ihre Brust war eingedrückt gewesen. Tatsächlich, bis ans Rückgrat. Sie hatte nicht so viel davon – von der Brust. Sie musste das, was sie hatte, immer ausstopfen. Sie hatte kein Polster, keinen Airbag. Vielleicht hatte es sich deshalb so angefühlt – bis zum Rückgrat?
Viel Brust war auch nicht immer gut für den Job. Es gab Kleider, die waren froh über wenig.
Die anderen Mädchen diskutierten ständig darüber, ob sie sich die Brust „machen ließen“. Sie hatte zugehört und überlegt, genau beobachtet, ob sie dadurch mehr Angebote erhalten könnte. Bei der Unterwäsche war’s gut. Man hatte etwas zum Hineintun in die Spitzen. Aber Wäsche war ein kleiner Bereich. Genau betrachtet hatte sie eher den Eindruck, dass mehr Busen bei den Modellen störte. Machte es Sinn all das schöne Geld investierte, um sich mehr Busen machen zu lassen?
Antoin arbeitete in dem Moment an ihrem Haar. Das Blond war dermal sehr gelbstichig geworden. Ob sie eine fast weiße Variante ausprobierte? Es war aber nicht gut, etwas zu wollen. Das hatte sie gelernt. Sie war dafür da, sich formen zu lassen, durch Kleider, durch die Kunst des Friseurs, durch Udo. Sie gab den diversen Künstlern die Illusion einer formbaren Welt, das war ihre von allen akzeptierten Aufgaben. Selbst zu sagen, ich will Weißblond ausprobieren, war nicht gefragt. Andrerseits hatte sie das Problem, dass auch niemand an der Verbesserung ihrer Einkünfte interessiert war. Sie selbst musste sich so herrichten, dass sie jeden Job bekam, den sie wollte. Nach dem Vorabend war es einfach notwendig, dass sie ihre Extrajobs mehr auswählen konnte.
Das Konto war gut gefüllt. Vielleicht konnte sie jetzt eine Zeit aussetzen? Sie fühlte den schmerzenden Körper und wusste, sie würde so schnell nicht wieder zu einer Veranstaltung wie gestern gehen können.
Blöde Zimperliese!! So ging das nicht. Sie konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass irgendwer sie füttern würde. Und jeder Job konnte morgen vorbei sein. Geld am Konto war Überleben. Vor drei Jahren noch war Krieg um sie her. Mutter tot. Vater irgendwo verschollen. Sie war mit ihrem kleinen Bruder bei Nacht und Nebel Richtung Grenze unterwegs gewesen. Hatte sich in der Flüchtlingsschlange zu einer Familie gestellt, als ob sie dazugehören würde. Das half, sie wurde in der Woge über die Barrieren geschwemmt. Institutionen und Papiere und Zelt und Institutionen und Papiere und Namen und Fingerabdruck. Und warten und wieder warten. Und sie wollte doch endlich arbeiten. Dann war sie auf die Modebranche gestoßen und deren Möglichkeiten - den Aufgaben eines Kleiderständers mit Motor.
Sie hatte die Sache noch nicht wirklich ganz im Griff. Die Gagen waren noch zu niedrig. Aber verhandeln kam im Moment nicht in Frage. Mit den blauen Flecken musste sie jetzt sehr still und angepasst sein. Wenn man so aussah, konnte man keine Forderungen stellen.
Rod kam auf sie zu. Rod war Assistent, der der alles wusste, alles ordnete, alles bereit hatte in einem dicken schwarzen Buch. „Sonder-Fototermin“, sagte er. „Machst du mit? Heute 23 Uhr in der Burg hier. Ist nicht offiziell.“
Sie schaute ihn nur ruhig an. Es würde die ganze Nacht durchgehen. Sie hatte zu ihrem Schrecken bemerkt, dass ihr rechtes Knie gerade am Anschwellen war. Diese Termine waren aber immer erstklassig bezahlt und steuerfrei. Ob sie das schaffen würde?
Er bemerkte ihren ruhigen Blick. Er wusste auch, wie die Frage war, die unausgesprochene. Aber er ließ sie noch ein wenig dunsten. Schließlich sagte er mit breitem Grinsen: „1000 – Echt.“
Das konnte sie nicht auslassen. Angeschwollenes Knie hin oder her. Problem war: Würden die Flecken noch dunkler werden? Sie schaute Rod ernst und ruhig an.
Der überlegte, was sie noch wollen könnte. „Kein Quartier, wenn sie soviel zahlen, gibt’s Zimmer nur unter bestimmten Umständen.“ Rod meinte das nicht zynisch. Wenn sie sich einen Kerl mit Quartier reinziehen wollte, war das ihre Sache. Sie hatte den Termin perfekt zu absolvieren, das war alles.
Perfekt absolvierte Termine verlangten eine halbwegs stabile Konstitution.
Nicht, dass es wichtig war, wie sie sich fühlte. Sie war keine Schauspielerin. Aber sie musste sich auf Wunsch verbiegen können, ganz unwahrscheinliche Körperhaltungen einnehmen. Wenn sich ein Teil nicht biegen ließ, war das ein Minus. Abzug. Verachtung, die anhielt. Manchmal dachte sie, dass es so etwas wie ein Schwarzbuch der Körperhaltungen gab. Wenn was nicht ging, war sie eingetragen, eingeschränkt verwendbar – Wertminderung. Das war der Punkt, an dem Mädchen nicht völlig austauschbar waren. Wichtig war, bei einer sehr anstrengenden, schwierigen Körperhaltung keinen roten Kopf zu bekommen, lässig zu lächeln. Das ging fast nicht, wenn man keine Luft bekam.
Da war es wieder, das scheußliche Gefühl vom Vortag. – Keine Luft. Fast so schlimm wie kein Essen, kein Wasser, aber schneller in der Bedrohung, gewaltiger im Moment. So sehr sie versuchte, es abzuschütteln, es war da, riss plötzlich ein Loch in den Vorhang vor dem Gestern.
Sie versuchte, wie beweglich ihre Finger waren, immer ein Auge auf die gerade anlaufende Fotosession. Die Finger ließen Bewegung zu, obwohl ihre Handgelenke schmerzten. Aber das angeschwollene Knie ließ sich nicht ganz abbiegen.
Tennisspieler durften weinen, wenn ein Bein krampfte. Sie durften Timeout nehmen. Alles undenkbar in ihrem Fall. Schon zu sagen, dass Abbiegen nicht möglich wäre, war so etwas wie Vertragsbruch. Sie musste das Knie bei der Nachtsession beichten und irgendeinen harmlosen Grund erfinden. Nicht die Wahrheit, nein keinesfalls. Kein Mensch in einem Fotostudio war an der Wahrheit interessiert. Die wollten herrliche Bilder, Eindrücke schaffen, wunderbare Impressionen. Ein kaputtes Knie war ein Hindernis, sonst nichts.
„ Sag Rod, wer macht denn bei der Nachtsession Kamera?“ Sie hatte sich an Rod angeschlichen und zupfte an seinem Ärmel.
Er, mit rot geränderten Augen, hatte nach dem Stress der Organisation auch keine gute Nacht gehabt. Er befragte seine Seele, seine Erinnerung, sein gesamtes System, sein dickes Buch. „Heinz“, sagte er schließlich. Rod war immer höflich und bereitwillig, sogar zu einem Kleiderständer.
Heinz war ok. Eigentlich mochte sie Heinz sehr gerne. Sensibel und realistisch, eine gute Mischung.
Die erste Kamera-Einstellung, die ersten Bilder waren geschafft, aber sie wusste, dass sie im Moment keine mehr schaffen würde. Sie setzte einen sehr verlorenen Blick in ihre Augen und ging aus dem Raum in eine dunkle Halle. Flucht vor der Wiederverwendung, scheinbar Richtung WC.
Da standen Rüstungen und Glaskästen mit aufgespießten Käfern, Tote an der Wand und Tote unter Glas in übrig gebliebenen Panzern aus Eisen oder Chitin mit dem Speer noch mittendurch. Alle diese Rüstungen, die Leben schützen sollten, entlang der Wände und in den Vitrinen aufgereiht als Schauobjekte, aufgespießt. Die Schutzhüllen waren einmal Lebensgrundlage gewesen, jetzt nur mehr Deko, abgewirtschaftet, mit Staub drauf, Ritter wie Käfer.
Was die Männer in Rüstung wohl damals gedacht hatten, wenn sie entlang dieser Vitrinen zum Tournier geschritten waren, überlegte Therese. Für sie war die Burg alter Bestand und hatte immer schon so ausgesehen. Ob sie sich auch so aufgespießt gesehen hatten? Zuerst tot und dann Dekoration wie diese Käfer. Der Tod - ein interessantes Ereignis für Leute in eleganten Kleidern. Der Tod beim Tournier war wohl Rahmen für die Kleider, die ja Anlässe brauchten, um angezogen zu werden. Das Ende eines Lebens als nebensächliches Ereignis am Rande einer Modenschau. Therese fragte sich, ob das die Ritter in dieser Burg auch als so komisch gefühlt hätten wie sie jetzt.
Sie schaute um sich, als ob sie gerade ein WC suchen ging. Für wen? Keiner sah sie. Da war niemand. Gottseidank sie wollte ja nur ein paar Minuten Pause. Sie schaute an den Wänden entlang in die Nischen.
Sie hatte mit Heinz einen Flüsteraustausch wegen des Knies gehabt, fertig in eine auberginefarbene, glatte Robe gehüllt, mit glatten, langen, auberginefarbenen Handschuhen, die ihre Flecken an den Armen gut verdeckten. Sie hatte ihm gesagt, dass sie gerade über den Randstein gekippt war und ihr Knie anschwelle. Er verstand – keine Extremstellungen mit dem Knie. So etwas gab es eben, konnte passieren. Sie war vorübergehend in Sicherheit. Der kühle Gang ließ ihre Angst vorm Schwitzen kleiner werden. Sie musste nur aufpassen, dass das Kopftuch nicht verrutschte. „Wie Samenkapseln“, hatte Udo gesagt. Diese gewickelten Kopftücher waren Spezialität in Udos neuer Modelinie. Es verdeckte die Haare und gleichzeitig lugten sie an Ecken und Spitzen sichtbar hervor aus der kunstvollen Pracht am Kopf, manchmal in einer anderen Farbe als die Haare darunter. Kopftücher als Zentrum der Modelinie. „Wird ein riesen Erfolg werden“, hatte sie Udo zu einer Assistentin sagen gehört. „Man spart den Friseur und schließlich haben wir auch Kundinnen, die Moslem sind.“
Sie sah in das Glas einer Vitrine, um zu klären, ob eine ihrer Schadstellen sichtbar geworden war. Sie bildete sich ein, dass der Fleck am Hals sich deutlicher abzeichnete. Wenn der noch dunkler wurde, war er nicht mehr zu übersehen. Vielleicht konnte sie Udo infiltrieren, Streifen für den Hals, Halskrausen oder Spitzenstreifen der Kopftuchlinie hinzuzufügen?
Sie schaute in eine andere Vitrine, um sich von ihren Schmerzen abzulenken.
Da lag eine Maske, das Bild eines sehr alten Mannes. Die Maske eines Greises, sehr hell, fast weiß, Porzellan vielleicht. Mit geschlossenen Augen lag er da, wie schlafend, zwischen ausgestopften Tieren und seltsamen Musikinstrumenten. Ein leises Lächeln auf den Lippen, schien er friedlich zu schlafen, still, ohne Forderung. Sie versenkte ihren Blick in sein ruhiges Gesicht, in die feinen Falten, wie Plissees vom zu heißen Bügeln. Ein sehr altes, weises Vatergesicht. Die Bilder vom Vortag kreisten fern wie im Reigen. Sie in der Mitte hielt die Gesichter auf Abstand, ein Zauberbann, der viel Kraft kostete. Sie ließ sich sanft in den Schutz dieses Vatergesichtes gleiten. Fünf Minuten Ruhe, bevor sie sich wieder der siedenden Welt gegenübersah. Seine stillen Züge genießend, wie eine weiche, leichte Decke – da öffnete er die Augen.
Die Maske öffnete die Augen – sehr hellblaue Augen. Sie schauten aus den Plissees wie frisch erwacht.
Therese war elektrisiert. Fing sie jetzt schon an zu spinnen? Das konnte sie sich nicht leisten. Spinnereien musste man sich leisten können.
Die Maske schloss die Augen wieder, und es war, als ob nichts gewesen wäre.
Sie verharrte noch zwei Minuten.
Zwei Minuten sind sehr lange, wenn man in Erwartung auf einen bestimmten Punkt starrt. Die Augen blieben geschlossen, als ob nichts gewesen wäre. Ihr hungriger Blick wartete auf ein Zucken der Lider, ein Verändern des Mundes. Da war nichts.
Hatte sie Halluzinationen?
Sie musste zurück.
Sie musste zurück und hatte noch immer keine Ahnung, wo das WC war. Und da gab es blaue Augen, die sie ansahen, oder gab es die nicht?
Der hell erleuchtete Saal hatte sie wieder. Überall heiße Scheinwerfer, darüber weiße Lichtpunkte im Hitzenebel. In der Mitte stand eine Gruppe um einen Mann, den sie nicht kannte. War es gut hinzugehen, oder sollte sie sich besser still in eine Ecke setzen?
Er war hellgrau und einheitlich angezogen. Wer war der? Kein Star. Sie hatte gelernt, grau angezogen waren meist nicht männliche Stars, sondern Organisatoren. Stars waren weiß glitzernd, schwarz oder bunt. Sie war noch zu keinem Entschluss gekommen, als Heinz aus der Gruppe rief: „Theresa komm, du bist gefragt.“
Langsam ging sie hin, eine starke Spannung im Steißbein. Sie musste sich völlig gerade halten, ihr Gang sollte leicht wirken, schwerelos. Die Schmerzen bremsten den Schritt. Kunstgriff der Leichtigkeit, sie hatte es gelernt: Sie hob die Beine wie eine Marionette an Fäden. Es war wichtig, denn da schien es einen Job zu geben. Sie wusste, da würde ein Angebot kommen. Die Schmerzen schütteten Stoffe in ihren Körper, wie Alkohol. Sie wurde leichtfertig. Schwerelos leichtfertig, völlig unrealistisch. Sie würde jetzt und hier um die Gage pokern.
Udo sagte: „Das ist Walter von Ponhomy. Ihm gehört die Burg. Hier wird ein Film entstehen. In den Mauern und im Park wird gedreht werden und wir sind mit dabei. Er hat uns engagiert und wir werden unsere Modeschau als Teil des Filmes zur Verfügung stellen. Aber außerdem möchte er, dass einige von unseren Damen sich beim Dinner unter die Gäste mischen. Dekor, Glamour, die Freude am Schönen, natürlich mit Kleidern von der neuen Linie.“
Das war eine andere Form von zusätzlicher Arbeit zu den üblichen Preisen. Nein! Diesmal nicht. Sie raffte alles an Selbstbewusstsein zusammen, das sie greifen konnte und fragte still: „Wie soll das sein?“
Theresa überragte die Runde, weil kein anderes Mannequin dabeistand. Sie wirkte überzeugend in dem dunklen, glatten Kleid und ihrer Samenkapsel-Krone. Aufrecht, ausdruckslos und einen Kopf größer als die anderen.
Udo sah Walter von Ponhomy an und reichte die Frage weiter – wie sollte das sein?
Nun, der war ein wenig überrannt, ein wenig zu schnell gefragt. Aber er war Geschäftsmann genug, um solchen Situationen gewachsen zu sein, dachte er. Er begann, sich festzulegen. „Gewohnt wird im Haupthaus, die Dreharbeiten beginnen in der Früh und laufen bis Abend durch, manchmal bis in die Nacht. Jeder bekommt einen Zeitplan, wann er anwesend zu sein hat, am Filmset und für Empfänge im Haus. Einen Termin nicht erfüllen bedeutet Vertragsbruch. Die Dreharbeiten werden ungefähr vierzehn Tage dauern“, ratterte er herunter.
Theresa hatte einmal gehört, dass solche Dreharbeiten nie so verliefen wie geplant. Am Anfang, so hatte ihr eine Schauspielerin erzählt, hatten der Regisseur und der Produzent immer sehr klare Vorstellungen davon, in welch kurzer Zeit alles gut und geordnet in die Kamera zu bringen war. Diese Vorstellungen überholten sich nach einer Woche, waren nach zwei Wochen meistens indiskutabel. Das hieß, hier ging es um einen längeren Job, dessen Dauer nicht abzusehen war. Und die anfangs geplanten Einsätze stimmten nicht. Das Zauberwort hieß Tagesgage, keine Pauschale.
Sie sah Herrn von Ponhomy daher mit großen Augen vertrauensvoll an und sagte: „Aber ich nehme an, ich muss einen Vertrag für einzelne Tage unterschreiben.“
Von Ponhomy hatte sich darüber noch nicht den Kopf zerbrochen. Er war schließlich weder der Regisseur noch der Produzent. Er stellte seine Burg und die Mode zur Verfügung, und auch sein Hotel, und er würde beim Filmteam ein- und ausgehen und auch ab und an mit einer Schauspielerin oder einem Model schlafen... Aber er war nur teilweise Organisator. Zwischendurch würde er die Models für seine eigenen Veranstaltungen einsetzen, oder für seine eigenen Bedürfnisse, die Kosten trug der Film. So war das geplant. Er stimmte daher zu.
Theresa wirkte nachdenklich, sie strich ihre Handschuhe glatt. „Ich denke, dass ich in der Zeit kein anderes Engagement annehmen kann, und jetzt müsste ich wissen, wann das stattfinden wird und wie viel ich jeden Drehtag bekomme.“ Ruhig und sachlich.
Von Ponhomy war überfordert, hatte das Bedürfnis, sie einfach niederzubrüllen, aber gleichzeitig das Gefühl, dass er das unter den Augen all der Anwesenden nicht tun konnte, nicht ohne Prestigeverlust. Er hatte sich aber mit den Details noch nicht auseinandergesetzt. Wie sollte er eine Entscheidung treffen, wenn er keine Ahnung hatte. Er musste aber antworten, diesem dummen Luder. Gott, waren diese Modepuppen dämlich! „Liebes Fräulein, das wird auch nicht anders sein wie eben jetzt. Sie haben hier auch einen Tagesvertrag und eine Tagesgage und so wird es auch am Filmset sein“, meinte er scharf und ungehalten, wie man mit blöden Fragen eben umging.
„ Ich wollte nur klarsehen, ob weiter zu gleichen Bedingungen gearbeitet wird hier in der Burg. Aber wenn Sie es mir sagen, dann bin ich beruhigt, dass die gleichen Bedingungen weiterlaufen“, lispelte Theresa mit kleinem Stimmchen. „Wann muss ich denn unterschreiben und wann beginnen die Dreharbeiten?“
Sich mit geistig Minderbemittelten herumzuschlagen, gehörte wohl zu solchen Projekten, sagte sich Ponhomy. „Morgen früh reist eine Jagdgesellschaft an, die bleiben übers Wochenende und ab Montag kommt das Filmteam. Die Arbeit beginnt also morgen“, sagte er schroff. Im Hinausgehen meinte er noch: „Verträge also zeitlich morgen früh.“ Er hatte hier das Sagen und wollte die Sache schnell in den Kasten bekommen.
Theresa dachte, dass sie die Situation für ihren augenblicklichen Zustand ziemlich gut hingekriegt hatte. Immerhin hatte Ponhomy vor allen, auch vor Udo gesagt, dass er zu den gleichen Bedingungen wie in dieser Nacht Verträge abschließen wollte. Besser ging es nicht. Sie wusste zwar nicht, was sie tun würde, wenn er sich dann an nichts erinnern konnte, aber sie hoffte auf Udo, und darauf, dass er auch interessiert war. Er sollte darüber wachen, dass die Abmachung eingehalten wurde.
Inge hatte ihr ein nachtblaues, kurzes Modell aus Samt ausgehändigt, ärmellos. Nicht nur ärmellos, stellte sie fest, mit großen Löchern wo der Ärmel hätte beginnen sollen und ihren Körper und seine Schadstellen vor kritischen Blicken schützen. Das war ein Problem. Inge hatte das letzte Modell an sie vergeben, für sie aufgehoben, weil sie nicht im Raum war. Panik kreiste im Hinterkopf. Das Modell so anzuziehen, war nicht möglich!
Theresas armes, müdes Hirn brummte. Es kam ihr vor wie eine uralte Lok, die einen elendig langen Zug auf den Berg ziehen sollte, einen steilen Berg. Ihr war schlecht, Müdigkeit umschlang sie wie eine Anakonda. Sie brauchte lange Handschuhe. Bei einem Samtkleid waren Handschuhe ja durchaus eine Möglichkeit, auch wenn sie eigentlich nicht vorgesehen waren. Es gab aber keine nachtblauen, das wusste sie. Ihr Kopf suchte fieberhaft nach Möglichkeiten, während ihr Körper sich in den Samt hineinwand.
Ihr Samenkapsel-Kopftuch war in mattem graugrün mit nachtblauen Samteinsätzen. Sie wusste, wo Inge ihren Handschuhfundus hatte. Sie schlich durch die Kleiderständer-Alleen. Während Inge eine Samenkapsel feststeckte, krallte sie sich den Karton.
Schnelle Durchsicht aller Lagen - nur ein einziges Paar Handschuhe kam farblich in Frage. Die waren zu kurz für ihren Defekt am Oberarm, reichten nur bis zum Ellenbogen, konnten daher den schwarzblau schimmernden Fleck nicht verdecken. Keine Zeit für komplizierte Lösungen. Sie schnitt ein Stück des Ansatzes von einem der Handschuhe ab und befestigte den über der Schadstelle. Eine Oberarmspange wie eine Keltin, ein längerer Handschuh links, der kurze rechts, und Udo musste man klar machen, dass das seine Kreation war. Asymmetrisch, bewegt, extrem…
Schnell – das nächste Problem. Es waren farblose Strümpfe vorgesehen. Knapp über ihren Knöcheln gab es rote Druckringe, wo die Hände an ihr gezerrt hatten. Sie wusste, Inge hatte nachtblaue Strümpfe in ihrem Fundus, die wenig durchsichtig waren. Sie verschwand zwischen den Kleidern, stellte die Handschuhschachtel zurück und lief mit der Strumpfschachtel davon. Nachtblaue mit Naht, wenig durchsichtig – schnell, die Zeit war am Auslaufen. Sekundengenau kam sie zwischen den Kleiderständern heraus. Da war schon wieder Besichtigung. Unschuldig stellte sie sich in die Reihe, den Arm über dem großen Fleck an der Rippe.
Udo hatte seinen Künstlerblick. Bei Theresa verharrte er. Theresa schaute so leer wie möglich. Drehte sich ein wenig, spielte mit der Handschuhkreation. Udo versuchte sich zu erinnern, wann er auf diese Form gekommen war. Es fiel ihm nicht ein, war wahrscheinlich ein Missverständnis, aber sah eigentlich interessant aus. Er musste nochmals darüber nachdenken.
Da kam Ponhomy zurück. Ihm war eingefallen, dass auch bei Ankunft der Gäste am Vormittag Damen in Udos Kreationen bei den Gästen stehen sollten, irgendwas würde er von Udo dafür verlangen. Und am Abend wäre dann die richtige Modeschau, Reklame für seine Burg und eine gute Einleitung zu dem neuen Filmprojekt. Udo sollte darüber nachdenken.
Die Stimmen waren in weiter Ferne für Theresa. Müdigkeit hüllte sie inzwischen ein wie ein Kokon. Sie spürte, wie sie langsam wegbrach. Die Gesichter vom Vortag drängten sich ins Bild. Ihre Abwehr schwächelte. Alle lachten durch ihre Schmerzen hindurch, besoffen, schrill. Sie konnte sehr schlecht sitzen, vor allem nicht auf diesem Hocker. Die Gesichter veränderten sich, bösartig schreiend. Es war ein Fehler gewesen, sich als Dekoration auf dieser Party anheuern zu lassen. Im gleichen Moment spürte sie die Hände an den Fußknöcheln, die Hände, die die schmerzenden, roten Druckstellen erzeugt hatten – und gleichzeitig kam wieder die Atemnot, der Druck auf der Brust. Dann war der da, den sie aus ihrem Kopf heraushalten wollte. Der, der auf ihrem Rückgrat kniete und ihr die Luft wegpresste. Er saß plötzlich vor ihren Augen, knöpfte sich die Hose auf und durch den Riss im Vorhang musste sie ihm zuschauen. Eisige Kälte breitete sich über ihren Körper aus.
Eine Fotorunde noch. Und was dann?
Udo kam zu ihr. „Sag den anderen, die beim Filmprojekt mitmachen, dass es Zimmer gibt – und morgen Abend ist ein Auftritt geplant.“ Dann lief er weiter. Ende der Durchsage, sie hatte keine Ahnung, wo die Zimmer waren.
Wer war wohl bei dem Projekt dabei, und wo konnten Zimmer sein? Sie suchte Rod im Saal, ließ den Blick über die betriebsamen Menschen im Licht gleiten, bis sie ihn gefunden hatte. Dann kroch sie schwerfällig von dem Hocker und versuchte, einen geraden Schritt vor den anderen zu setzen. „Udo sagt, wir sollen allen, die beim Filmprojekt mitmachen, sagen, dass es Zimmer gibt, und morgen Abend ist Auftritt. Ich kann nicht – muss zum Foto. Wo sind denn die Zimmer?“
„ Zimmer sind oben.“ Rod eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Wo oben? Zimmer klang wie Ruhe, wie Schlaf, aber sie wusste es, sie konnte noch nicht nachlassen, noch nicht dem schmerzenden Körper nachgeben. Wo genau war oben? Kein Mensch würde dafür sorgen, dass sie das Zimmer fand. Sie musste sehr genau darauf achten, wo die anderen hingingen, damit sie nicht vergessen zurückblieb.
Sie hatte tatsächlich das Zimmer mit Ariane gefunden, indem sie versucht hatte, Udo und Rod nicht aus den Augen zu lassen, die beiden verbissen zu beschatten. Immer wieder hatte sie der Gedanke verfolgt, dass sie, zwischen Kameras und ausgeschalteten Scheinwerfern übriggeblieben, auf diesem scheußlichen Hocker oder am Boden schlafen musste.
Unter Aufbietung aller Kräfte hob sie glücklich lächelnd beide Arme, das gesündere Bein angewinkelt – ein Scheinwerfer simulierte die Sonne dazu - und sie hörte das letzte leise Klicken der Kamera. Schnell, ganz schnell ihre Tasche aufheben und in den Seidenkimono wickeln, und alles, ohne Udo und Rod aus den Augen zu lassen. Das Zimmer hatte inzwischen eine ungeheure Wichtigkeit, eine immense Bedeutung. Es fühlte sich an, als ob Blut aus ihr herausrinnen würde.
Das Zimmer und die Badewanne waren ihr Anker um 5 Uhr früh gewesen in dem „Haupthaus“, das war das Gebäude neben der Burg. Wie eine Erlösung war das, Stunden der Ruhe.
Um 10 Uhr rappelte es heftig an der Zimmertüre. Udo brüllte: „Fertig in 25 Minuten.“ Er hatte vergessen, zu brüllen, wo sie sich einfinden mussten. Theresa zog etwas Simples an. Ariane stand vor dem Spiegel. Sie hatte immer das Gefühl, sie musste mit Sorgfalt auftreten. Ariane war schon ein bisschen älter – so wahrscheinlich 26 – und jedes Jahr mehr machte ihr mehr Panik, den Job zu verlieren. Daher dauerte es länger. Theresa wurde unruhig. Sie hatte Angst, zu spät zu kommen.
Dann machten sie sich auf den Weg hinunter.
Die oberste Etage mit ihren Zimmern war niedrig, aber tiefer unten wurde in diesem Haupthaus alles größer und mächtiger, genau wie in der Burg. Riesige Gänge in Stein. Die Zimmer waren vor allem im obersten Geschoß sehr klein mit enorm dicken Wänden. Ein bisschen weniger Wand und dafür mehr Zimmer hätte Theresa besser gefunden. Dann wäre vielleicht auch Platz für mehr Badezimmer geblieben. Sie alle mussten ein Gemeinschaftsbad am Gang benützen, und sie hatte am Vorabend rücksichtslos die Türe abgesperrt, um alles abzuwaschen, was abzuwaschen war.
Als sie nun in die Tiefe stiegen, hörte sie fernes Stimmengemurmel. Wo nur konnten sie Udo finden? Ariane war auch ratlos. Rita irrte am Gang herum und schloss sich ihnen an. Rita brauchte man gar nicht fragen, die wusste sicher nichts. Die wollte immer selbst geführt werden.
Sie schauten in den Raum, wo das Gemurmel herkam. Sollten sie dort Udo treffen? Großer Saal, großer Empfang mit Gläsern in der Hand. Theresa begann zu überlegen, dass Udo wahrscheinlich doch die Gelegenheit wahrnehmen wollte, um seine Tageskreationen herzuzeigen. Sonst hätte er sie nicht aufgeweckt. Sie nahm Ariane und Rita an der Hand. „Ich glaube, ich weiß es, wir müssen doch zur Mode in die Burg hinüber.“
Sie liefen über den Hof in das düstere Gemäuer mit den vielen Zinnen und Türmchen zum Kleiderfundus. Keuchend kamen sie an, gerade nur ein kleines bisschen zu spät. Inge händigte die Tagesmodelle aus. In jeder Hand eines, stand sie vor den Mädchen. Theresa schaltete blitzschnell und griff nach dem mit den Ärmeln, das eigentlich für Ariane gedacht war. Das war günstig. Blickdichte gelbe Strümpfe und eine rostfarben und gelb gestreifte Samenkapsel auf den Kopf, mehr Kopftuch als Krone. Sie schaute in den Spiegel. Die Augenfarbe war nicht optimal. Sie hatte sich für solche Momente einen Fundus an farbigen Kontaktlinsen angelegt. Rostbraun fand sie am besten, rostbraune Augen zu den rostbraunen Streifen auf der Samenkapsel, - schließlich wollte sie das Modell behalten, nicht umziehen müssen.
Udo war zufrieden. Sie konnte zum Empfang, Ariane musste umziehen. Zwei Mädchen mussten gehen, weil sie zu spät gekommen waren.
Sie ging durch den Saal mit den Käfern und den Rüstungen. Eines von den Eisengewändern hatte einen Speer in der Brust stecken. In der Nacht war das noch nicht gewesen. Oder doch? Sie wusste das nicht ganz genau. Sie hatte beim Anblick der aufgespießten Käfer geschaut, ob denn die Rüstungen auch aufgespießt waren. War da der Speer schon in der Eisenbrust? Nein. Oder doch? Jetzt jedenfalls war eine aufgespießt wie ein Käfer…
Sie musste einen Blick auf die seltsame Maske in der Vitrine werfen, bevor sie arbeiten ging. Es zog sie förmlich dorthin. Die lag ganz still. Theresa schaute sehr genau – immerhin hing der Zustand ihres Geistes davon ab. Hatte sie die hellblauen Augen in der Nacht geöffnet gesehen oder war das Erlebnis eine Folge ihrer geistigen Verwirrung? Die Maske war ganz still, tat gar nichts, so sehr Theresa sie auch anstarrte.
Der Cocktailempfang hatte die Aufgabe, die anreisenden Jagdgäste zu sammeln. Theresa sah ihre Arbeit darin, als Dekoration anwesend zu sein, wie die Bilder an der Wand. Sie wusste sehr genau, wie man sich wie ein Bild verhielt. Man stellte sich vor einen Hintergrund, der passte und vom Licht her richtig war, und schaute freundlich aber leer. Das war genau der richtige Job, denn die Schmerzen waren seit dem Vortag nicht weniger geworden. Elegant herumstehen war ein guter Zustand.
Udo kam zu ihr. Sie wäre lieber allein geblieben, aber er brauchte immer ein Modell als Darstellung seiner selbst. Was für andere Autoschlüssel, Designeranzüge, Häuser waren, war für ihn ein Modell an seiner Seite. Wichtig war in diesem Fall besonders, dass das Kleid sehr auffallend sein musste, die Dame darin aber nicht wesentlich, nicht persönlich. Kein Auge sollte sich zu ihrem Gesicht verlaufen, an ihrer Schulter hängen bleiben. Ein völlig neutraler Ausdruck, bewegungslos, denn das Verziehen der Gesichtsmuskel lockte Blicke an, lockte sie weg von den Kleidern.
So stand sie und hielt ihr Glas. Theresa hatte dafür gesorgt, dass ihr Getränk in der Farbe passte.
„ Das ist die Frau von Ponhomy“, sagte Udo neben ihr. Theresa sah eine sehr große, dünne Blondine. Sie küsste ihren Mann zärtlich. War wohl früher Model gewesen. Sie überragte ihn um einen halben Kopf und bewegte sich ziemlich hektisch. Es schien fast, als ob sie ein paar charmante Bemerkungen rechts und links in die Menge warf, wie ein Tennisspieler seine Schweißtücher. Dann eilte sie wieder aus dem Saal in den Hof, Leute empfangen.
Theresa wechselte langsam das Bein. Das durfte man, dadurch wurde das Kleid sanft bewegt.
Ariane war da, in taubenblau. Und Rita hatte ein Rotes. Ihre Samenkapsel war besonders frech.
Theresa und Udo standen neben einer Türe. Ponhomy ging an ihnen vorbei. Er blickte düster, wahrscheinlich wollte er einen Kellner demütigen. Gleich hinter der Türe hörte sie ihn einen wütenden Satz zischen. Er bekam daraufhin eine kalte Frage – „Und wie stellst du dir das vor?“ – von einer weiblichen Stimme. Hatte wohl ein Problem mit der Gattin, oder?
„ Nicht ich stell mir was vor, du stellst dir etwas vor. Du brauchst nicht glauben, dass du alles umsonst bekommst. Du wirst schon selber auch etwas tun müssen.“ Das klang kalt und bösartig, schon oft gesagt.
„ Das geht aber nicht, ich könnte nicht genug Bargeld auftreiben“, sagte die Frauenstimme ruhig aber angespannt.
Leise und bösartig zischte Ponhomy: „Das ist mir wirklich völlig wurscht. Du machst das einfach und lässt dir etwas einfallen. Sonst, denke ich, werden dir die Folgen unangenehm sein.“
Theresa neben der Türe hatte Ohrenklirren, schrillen Alarm. Geld!
Ob Udo den Dialog auch gehört hatte? Er stand weiter weg von der Türe als sie. Wenn die Geldprobleme hatten, war die Gage in Gefahr! Udo war aber gerade im siebenten Himmel, weil seine Modelle bewundert wurden, und konnte sich mit so weltlichen Banalitäten wie Geld nicht abgeben. Theresa war gestresst. Wie konnte sie sich besseren Überblick verschaffen? Einfach ihre Position verlassen ging nicht.
Sie beruhigte sich, so gut es ging. Es wäre ja schließlich auch möglich, dass das, was sie da gehört hatte, bloß eine Erpressung war. Das war dann nicht gefährlich. Oder schon, möglicherweise, aber nicht für ihre Gage. Sie musste sich nicht gleich aufregen, nur weil irgendjemand von irgendjemandem Geld wollte.
Zwischen den Menschen der Jagdgesellschaft liefen Reporter herum. Reporter erkannte sie inzwischen schon von weitem. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum sie über diese Mode, die sich im Saal versammelte, berichtet mussten. Irgendwelche unförmigen Sachen mit vielen sehr komplizierten Nähten. Die Reporter bekamen wahrscheinlich ein bisschen etwas für den Bericht. Es gab wohl auch so etwas wie Sponsoren für Zeitungen, überlegte sie.
Dann fiel ihr auf, dass Udo gerade sein „unberührtes“ Gesicht machte. Eine Reporterin kam auf ihn zugerauscht. Bei Interviews sprach er immer so durch die Nase. Theresa machte auf Statue, sie wusste, das war jetzt während dieses Interviews wichtig.
Was er denn zu der neuen Kollektion von Gaultier sage, wurde er gefragt. Theresa fand das eine sehr freche Frage. Udo bewältige es aber gut. „Hübsch, sehr hübsch“, sagte er durch die Nase. „Schöne Kleider. Nur Frau Wagenbrecht hat ein wenig zu alt darin ausgesehen.“ Frau Wagenbrecht war immer wieder einmal Kundin. War sie fremd gegangen? In einem Modell von Gaultier?
Rita kam und stellte sich zu Udo. Sie wusste auch, was Udo verlangte, prachtvoll in Rot, deutlich sichtbar die Leute überragend. Blonde Haarsträhnen lugten schick aus der roten Samenkapsel–Krone. Sie machte so auch ein schönes Bild, genau wie Theresa an Udos Seite. Umrahmt von seinen Modellen war er zufrieden.
Theresas Gedanken nahmen Wanderung auf. Am Vortag hatte Rita wieder von ihrem Leben erzählt. Rita war einfach, sie dachte gar nicht kompliziert, meist gar nicht. Sie kam von einem Bauernhof, aus einer Welt von Regeln. Dort hatte, scheint es, keiner von ihr gewollt, dass sie dachte. Es gab Arbeit und Vorschrift und sie hatte zu tun, was ihr gesagt wurde. Was sie wollte, war kein Thema gewesen, deshalb machte sie den Job gut. Sie erfüllte Forderungen widerspruchslos. Aber heimlich hatte Rita große Sehnsucht nach einer gesellschaftlichen Ordnung, denn sie wollte gerne einen Mann. Lange Monate hatte sie von dem Mangel berichtet, es war ein Problem und immer wieder ein Problem gewesen. Aber jetzt war sie sehr glücklich. Irgendein Südländer mit wichtiger Familie hatte sie begehrt und begehrte sie weiterhin. Er warb seit einem Monat um sie, mit Einladungen und schönen Geschenken, höflich, elegant und sehr bemüht…
Die Reporterin fragte Theresa, ob das Kopftuch von Ghana stamme. Sie habe solche Tücher dort gesehen.
War Ghana eine andere Modelinie? Da musste Theresa sehr aufpassen, sonst hatte das Udo–Krokodil sie am Kragen. Was um Gottes Willen war Ghana? Sie schaute so leer wie möglich. War das etwas, das man kennen musste? Das Sicherste war „nein“, simpel nein zu sagen, war am ungefährlichsten.
Gott, sind diese Mannequins dämlich, dachte die Dame von der Zeitung.
Da kam Frau von Ponhomy wieder in den Saal gestürmt, an Theresa vorbei lief sie zu Udo. Sie schien immer ein bisschen außer Atem. Ihre weißlich helle Mähne war zerzaust. „Sie haben mir gestern ein Angebot gemacht.“
Jetzt schaute Udo leer, er konnte sich wohl nicht mehr erinnern.
„ Ich darf mir eines aussuchen“, half sie ihm. Da hatte er sogleich den Verkaufsblick – völlig auf die Kundin konzentriert. Ihre Figur mit seinen geschulten Augen umfassend, ihre Wünsche erfühlend, alle Fäden in der Hand. Sie zeigte auf Rita: „Dieses Modell.“
Udo versprach beflissen Änderung, Anpassung an ihren Körper. – Nein, sie musste morgen zu einer Modeschau ins Ritz. Da wollte sie sein Modell tragen, extra seines, das passte wohl, so wie es war – was wäre der Nachlass?
Neben Theresa waren Verhandlungen in Gang. Es wogte hin und her. Langsam krochen die Schmerzen an ihr hoch. Jeder Zentimeter ihres Körpers begann an ihrer Seele zu nagen, sie zu schwächen, niederzudrücken, ihr die Schäbigkeit ihrer Existenz bewusst zu machen. Half das dem Verkauf, wenn sie hier und jetzt zusammenbrach?
Nach dem Cocktailempfang war Ruhe eingekehrt bis am Abend. Sie hatte in dem Bett gelegen und die saubere Bettwäsche genossen. Einfach, weich, breit, ein Bett nur für sie, und keine Erinnerungen an den Beginn der Schmerzen. Einfach löschen, jedes Bild, das auftauchen wollte, wurde sofort gelöscht, sofort weggeschickt.
Am Abend hatten sie eine der üblichen Shows. Sie hatte hin- und herüberlegt und sich schließlich entschlossen, Inge den Fleck am Oberarm zu zeigen – angeblich von dem Randstein, über den sie gestolpert war. Inge war gar nicht wütend auf sie, und sie hatten die Modelle entsprechend ausgesucht. Es war noch immer schwierig mit dem Gehen, aber doch inzwischen Routine. Die dunklen Flecken an den Fußgelenken mussten nicht besprochen werden, denn sie hatten keine Erklärung.
Dann wieder Bett, herrliches weißes Bett. Und ein sehr später Morgen. Warum Jagdgesellschaften so seltsame Geräusche mit irgendwelchen Blechinstrumenten machten, war Theresa nicht erklärlich. Es schien sie alle anzuturnen, wenn irgendjemand in eine Trompete blies. Aber dann waren die alle weg und es war still gewesen. Herrlich, absolut still, man hörte sogar die Vögel zwitschern.
Rita war zu ihr gekommen, in bequemen, weichen Sachen. Sie war auf rosa Wölkchen und hatte ein Problem: Futzi, der Mann ihrer Zukunft, hatte ihr gesagt, sie solle zu ihm kommen. Sie hätten am Nachmittag etwas Besonderes vor und er wünschte sich sehr, sie bei sich zu haben. Vielleicht etwas Kirchliches? Futzi war doch so katholisch. Nur zarte Küsse auf die Wange hielt er für angebracht. Die vornehme Familie war auch sehr katholisch, das war so in Italien.
Sie hätte gesagt, sie müsste zum Auftritt am frühen Abend. Und er: „Das brauchst du dann vielleicht nicht wieder, wenn du nicht willst.“ Und jetzt dachte sie zwar, dass das ein Heiratsantrag war, aber sicher konnte sie nicht sein. War das ein Heiratsantrag?
Theresa sagte ihr, dass das wie Heiratsantrag klang, aber man sollte besser nicht seinen Job riskieren wegen fröhlicher Nachmittagsstunden. Rita schaute unglücklich. Hin- und hergerissen, zwischen ewiger Liebe und Job war sie überfordert.
Theresa merkte das und schlug ihr vor: „Ich decke dich. Wenn du zu spät kommst, sage ich, dir ist schlecht, und dass du dich ständig übergibst, und dass du kommst, wenn es dir besser geht. Schaut eh keiner nach.“ Rita war erleichtert.
Theresa war dann im Haus ein wenig herumgeschlendert, hatte ihre Maske besucht und durchs Fenster die Dame Ponhomy mit schicker, roter Samenkapsel in ein vornehmes Auto steigen gesehen, einen dunkelgrünen Jaguar. Frieden, keine Forderung an sie, wieder kurz ruhen.
Die Rückkunft der Jäger war gedrückt, fremd, eigenartig. Kein Lärm, keine Blasinstrumente. Man hörte nur ein Scharren im Hof. Sie hätte so gerne nachgeschaut, aber sie konnte nicht ans Fenster. Der Widerstand war so stark, dass sie einen Meter Abstand halten musste.
Schnell zog sie sich an, einfach, keine Arbeitsausstattung.
Im Hof lag eine Form mit einer Plane zugedeckt. Metall und Räder sah sie, und eine weiße Plastikdecke darüber. Was da lag, erinnerte sie an einen Menschen. Die Gesellschaft schlich bedrückt herum. Dann kam ein Polizeiwagen mit Leuten mit Uniform und ohne. Es dämmerte ihr, dass irgendjemand einem Unfall zum Opfer gefallen war. Kein Wunder, wenn so viele Personen im Wald herumliefen, und jeder hatte eine Waffe.
Einer in einem Schutzanzug ging hin und schaute unter das Tuch. Dann bedeutete er zweien, dass sie das Ganze ins Haus bringen sollten.
Sie konnte Ponhomy nicht sehen, aber es war vielleicht besser, nicht ihn zu fragen, er war am Vortag so ungehalten gewesen. Sie schaute über die Menschen und ihr Blick fand einen alten Herrn, der geeignet schien. Er steckte unglücklich in einem Jagdgewand und stand im Hof hilflos herum. Zu dem ging sie. „Entschuldigen…“, murmelte sie und zupfte an seinem Ärmel. Er drehte sich zu ihr um. Ohne Schminke und Verkleidung sah Theresa wie 17 aus, was sie ja fast noch war. Sein Blick wurde heller, freundlicher und interessiert.
„ Ich wollte nur wissen, was da passiert ist“, sagte Theresa mit leisem Stimmchen.
„ Ponhomy ist erschossen worden“, sagte der Herr.
Oh verdammt, dachte Theresa, das schöne Projekt weg. Das war schlimm. Aber er hatte sich wohl auch nicht erschießen lassen wollen.
„ Wer bist denn du?“, fragte der Herr, offensichtlich hielt er Theresa für jünger als 17, obwohl er ihr nur bis ans Brustbein reichte.
„ Ich bin eins von den Models hier bei der Modenschau, bin nur nicht hergerichtet“, erklärte sie.
„ Musst du denn in deinem Alter so etwas machen? Du gehörst doch in die Schule.“ Der Vorwurf war nicht zu überhören.
Sie lachte. „Ja, Schule…“, sagte sie träumerisch.
„ Bist rausgeflogen?“, fragte er mit grimmig zusammengezogenen Brauen.
Sie lächelte ihn an wie eine Sphinx, weil sie sich entscheiden musste, wie sie damit umging. Der war ganz sicher nicht aus der Modebranche. Da musste man nicht so aufpassen, was man erzählte: „Ich hab meine Schule in Bugoyne fertiggemacht. Mit 15 musste ich dann weg.“
„ Wo ist Bugoyne?“, fragte er.
„ In Bosnien.“ Ihm wurde einiges klar. Sie kam aus dem Krieg…
Da kam ein Polizist und bat den Herrn, hineinzugehen, wegen der Befragung. Der alte Herr ging widerwillig, drehte sich immer wieder zu ihr um. Er hätte gerne noch mit ihr gesprochen, das merkte sie. Sie blieb zurück. Ponhomy erschossen? Was bedeutete das für sie? Konnte sie irgendetwas tun, um die Situation zu verbessern?
Ein Pickup kam in den Hof gefahren. Voll beladen. Zwei jüngere Männer stiegen aus. Der eine kleiner als Therese und blond. Der andere größer, fest und dunkel. Die beiden schauten sich um, mussten sich orientieren.
Der Pickup stand an der Mauer. Ezra überlegte, was zuerst zu tun wäre. Er hatte gerade noch gesehen, wie die tote Form ins Haus geschoben wurde, als er ausstieg.
Den Job als Assistent, Bühnenbildner und Mädchen für alles hatte er aufgetrieben, weil er ja schon öfter Film mit Saphyr gemacht hatte. Vielleicht konnte er sich Produktionsassistent nennen? Die Gage war von ihm dieses Mal ein wenig tiefer angesetzt worden, weil er die Arbeit unbedingt haben wollte, und es hatte geklappt.
So konnte er Wolfgang helfen. Der Freund seiner Kindertage brauchte einen Begleiter, einen verlässlichen Helfer, auch einen Grund, anwesend zu sein. Wolfgang hatte Ezra vor fünf Tagen nur mitgeteilt, dass er einen Auftrag von der Zentrale hatte, sehr wichtig und vielleicht gefährlich, und er musste technisches Equipment einbauen und bräuchte einen Grund, warum er auf Leitern stehend Dinge in Burg und Haupthaus montierte. Seine eigenen Arbeitskollegen konnte er nicht brauchen. Ihnen war nie wirklich zu trauen. Alles zwiespältige Typen, raffiniert, hart, tüchtig, aber wohl nicht verlässlich und vor allem nicht bedingungslos auf seiner Seite. Die würden nicht für ihn einstehen, wenn es eng wurde…
Die Arbeit sei nicht sicher, sagte er noch dazu. Alles klänge sehr bedrohlich, hatte Wolfgang zu Ezra gesagt. Wahrscheinlich ganz übel, und keiner wüsste, wie weitreichend die Folgen wären. Sie beide wären dann Teil eines Projektes, das wahrscheinlich schon Menschenleben gefordert hatte.
Sie schienen gerade zu einer der weitreichenden Folgen zurechtgekommen zu sein – ein Kegel in dem Spiel war umgefallen, weggeschossen. Ein Kegel weniger, das nannten die dann wohl Jagdunfall.
Ezra sah überall im Hof betretene Leute mit Gewehren stehen. Schrotflinten mehrheitlich, soviel er sah. Ein Jagdunfall? Konnte das tatsächlich ein Jagdunfall sein?
Wolfgang murmelte: „Der Dritte.“
„ Wieso der Dritte?“
„ Ein Autostopper ist abgängig und ein Bauer auf unklare Art in seinem Stadel verbrannt.“ Das klang sehr ungut in Ezras Ohren.
Ein blasses, sehr großes, dünnes Mädchen in grauen Sachen stand allein. Hatte sich mit einem alten Herrn unterhalten, der gerade von einem Polizisten ins Haus geführt wurde.
Ezra holte sein Handy aus der Tasche und rief in der Produktion an. Saphyr selbst hob ab. „Wir sind gerade in der Burg angekommen und da ist jemand tot“, meldete Ezra. „Polizei rundum. Was sollen wir machen?“
„ Wer ist tot?“, fragte Saphyr interessiert. Das Mitgefühl des Produzenten war begrenzt. Sein inneres Auge sah eine Werbekampagne gewaltigen Ausmaßes für seinen Film. Dramatische Entwicklungen waren ihm gerade recht.
Wen konnte Ezra fragen? Handy am Ohr ging er zu einer breiten Dame mit einer weißen Locke im dunklen Haar, sie trug ein auffallendes Jagdkostüm und hatte einen sehr beunruhigten Blick. Er fragte einfach: „Wer ist tot?“
Sie schaute ihn unglücklich an. „Ponhomy“, sagte sie schließlich.
Saphyr hatte mitgehört. „Verdammt, das bringt das Projekt in Schwierigkeiten.“ Ezra hörte ihn heftig und reichhaltig fluchen. „Finde sofort raus, wer erbt“, brüllte er ins Handy, dass die Luft zitterte. „Wir können das Projekt nicht einfach fallenlassen, nur weil der beschließt, zu sterben.“
Wie sollte das gehen? Ezra konnte nicht von Mensch zu Mensch gehen und fragen, wer Ponhomy beerbt.
Eine kurze Besprechung mit Wolfgang. „Wir tragen die Sachen vielleicht am besten in die Burg und legen sie dorthin, wo sich die Mode von Sanguin eingenistet hat.“
Als sie den Raum gefunden hatten, war dort eine Besprechung in Gang. Das blasse, dünne Mädchen kam auch gerade bei der Türe herein. Udo stellte das Programm auf Trauermode um, grauschwarze Kopftuchkreationen. „…Blumenköpfe wie nach dem ersten Frost“ tönte er gerade „…der Tod ist anwesend, um Schönheit zu schauen und sie dann verwelken zu lassen“, verkündete er.
Wolfgang hatte zwei sehr schwere, sehr große Taschen hereingebracht. Das Mädchen stellte sich hin und hob einen hellen, dünnen Arm. Ein blaurötlich schillernder Fleck auf ihrem Oberarm erinnerte Ezra an den Abdruck einer Hand.
Ein Scheinwerfer wurde aufgedreht. Udo probierte mit einem leichten, grauen Material, steckte Form an ihrem Körper, und Ezra konnte im Scheinwerfer nur diesen bösartig schillernden Fleck sehen, auf einem extrem dünnen Mädchenarm.
Wolfgang ließ die Taschen krachend auf den Boden fallen. Sein Blick war zornig, unwillig. Schließlich kam er zu Ezra und murrte: „Du musst heimfahren. Das geht so nicht. Wenn schon wieder ein Mord passiert ist, kannst du nicht bleiben.“ Ezra überlegte gerade, wie ein solcher Fleck an eine solche Stelle gekommen sein konnte, außer von einer Hand. Es war fast nicht möglich, sich an diesem Punkt anzuschlagen. Er probierte Bewegungen, bei denen ein solcher Fleck entstehen konnte. „Warum sollte ich jetzt fahren?“, meinte er, während er seinen Arm in verschiedenen Winkeln vom Körper wegschwang. „Ich weiß ja gar nicht, wie das mit dem Film jetzt weitergeht. Vielleicht gibt’s einen anderen Job hier, damit ich dir helfe.“
„ Nein, du sollst fahren, weil die Sache stinkt. Ich will nicht auf dich auch noch aufpassen müssen“, sagte Wolfgang grimmig.
Ezra musste lachen. Wolfgang verhielt sich gelegentlich ihm gegenüber wie eine Glucke. Hatte offensichtlich immer wieder das Gefühl, dass ein so verwöhnter Knabe nicht widerstandsfähig sein konnte.
„ Ja aber, die Zentrale hat mich gewarnt. Hat gesagt, das da stinkt ganz übel, und dann kommen wir grade zu einem Unfall zurecht. – Kein Mensch glaubt an einen Unfall.“
Wolfgang regte sich sonst nicht leicht auf. Er hatte besonderes Wissen seit seiner Kindheit. Sein Vater hatte viel Zeit hinter Gittern verbracht, und als Knabe begegnete ihm überreichlich Erfahrung mit dem kriminellen Teil der Menschheit. Es gab kaum Sicherheit im Kinderzimmer. Mit acht Jahren bereits war er in der Lage gewesen, Schlösser zu knacken und eine Waffe zu laden und war völlig illusionslos. Einbruch, Hehlerei, Fälschungen kamen damals täglich bei ihm vorbei. Rotlichtmilieu und Drogenhandel waren ihm mit zwölf vertraut gewesen wie sein Badezimmer. Ezra hätte davon in seiner heilen Bürgerwelt nie erfahren, hätte es nicht seine Freundschaft mit Wolfgang gegeben. Er hatte sehr viel Wissen von ihm profitiert, fand er selbst, denn dieses Wissen wäre anders nie in seine Nähe gekommen. Seine beiden Mütter hatten sorgfältig darüber gewacht und alles vertrieben, was zwielichtig und interessant war.
Er hatte durch Wolfgang bereits in der Grundschule begonnen, Informationen zu sammeln, die sonst nicht zu haben waren. Nur seine Mutter und seine Tante hatten das anders gesehen – leicht panisch. Dieser Junge ist kein Umgang! Das ist ein übles Pack. Der Vater war schon mehrfach im Gefängnis. Solche Aussagen hatten die Freundschaft sehr vertieft.
„ Wo fangen wir an?“, fragte Ezra Wolfgang entschlossen. Er dachte noch immer an das dünne Mädchen. Der Fleck musste von einer Hand sein, er konnte sich keine andere Möglichkeit vorstellen. Er mochte Grobheiten nicht.
„ Ich muss das ganze Haus verwanzen und mit Kameras bestücken und keiner darf mich dabei erwischen“, sagte Wolfgang zu seiner Tasche und begann, darin zu kramen. Er war noch immer unsicher, ob er das Risiko für seinen Freund eingehen konnte. Andrerseits, wenn er jetzt seine Arbeit flott vorantrieb, konnte er weitgehend fertig sein, bis klar wurde, was mit dem Filmprojekt geschah. „Ich muss aufpassen, dass keiner auf die Idee kommt, was ich da tue.“
Ezra sagte: „Ach, das ist doch kein Problem. Wir sind beim Filmteam, treffen Vorbereitungen für den Film. Alles was du tust ist Vorbereitung für die Dreharbeiten. Saphyr ist beschäftigt, den Tod von Ponhomy zu vermarkten. Der interessiert sich für die Vorbereitungen nicht, nur für die Erben.“
„ Was für Erben?“
„ Er wollte, dass ich herausfinde, wer nach Ponhomy erbt. Wegen der Verträge, denke ich. Ich überlege noch, wie ich das angehen könnte.“
Bepackt mit allem Notwendigen, verschwanden sie in den dunklen Gängen der Burg. Udo drapierte gerade dunkelgraue Stoffbahnen auf Theresas Körper.