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Nach nur 25 Tagen verlässt Dietrich Bonhoeffer Amerika, das Land, in dem er vor den Nazis in Sicherheit wäre. Einfach abwarten, wie es seinen Freunden ergeht, kann er nicht, tatenlos den dramatischen Veränderungen zusehen auch nicht. Er geht zurück nach Deutschland, mischt sich ein und setzt damit sein eigenes Leben auf Spiel. Alois Prinz begibt sich auf die Spuren dieses faszinierenden Mannes. Mit der Überzeugung, dass man sich als Christ nicht dem Zeitgeist und der Politik anpassen kann, wurde er zu einem der bekanntesten Widerstandskämpfer und zu einem großen Vorbild für Jung und Alt.
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Nach nur 25 Tagen verlässt Dietrich Bonhoeffer Amerika, das Land, in dem er vor den Nazis in Sicherheit wäre. Einfach abwarten, wie es seinen Freunden ergeht, kann er nicht, tatenlos den dramatischen Veränderungen zusehen auch nicht. Er geht zurück nach Deutschland, mischt sich ein und setzt damit sein eigenes Leben auf Spiel.
Alois Prinz begibt sich auf die Spuren dieses faszinierenden Mannes. Mit der Überzeugung, dass man sich als Christ nicht dem Zeitgeist und der Politik anpassen kann, wurde er zu einem der bekanntesten Widerstandskämpfer und zu einem großen Vorbild für Jung und Alt.
© Christina Häusler
Alois Prinz, geboren 1958, ist »einer der begnadetsten Biographen der Jugendliteratur unserer Zeit« (Dt. Akademie für Kinder und Jugendliteratur). Er studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Philosophie, parallel dazu absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Bekannt wurde er durch zahlreiche Biografien unter anderem über Hannah Arendt, Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, den Apostel Paulus oder Jesus. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen u.a. den Evangelischen Buchpreis für die Arendt-Biografie und den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Biografie über Ulrike Meinhof. 2017 wurde er mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet. In der Begründung heißt es: »Eindringlich und klug erzählt Prinz über Menschen und darüber, wie Menschenleben verlaufen können, auf Basis historisch-kritischer Recherchen sowie eines reflektierten Umgangs mit Quellenmaterialien.«
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»Prophecy Chamber«, Prophetenkammer, heißt das Gästezimmer des Union Theological Seminary in New York. Am 13. Juni 1939 zieht der deutsche Theologe und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer hier ein. Dietrich kennt das Seminar und die Stadt. Er war vor neun Jahren schon einmal hier gewesen, als blutjunger Stipendiat, der Land und Leute kennenlernen wollte. Sein jetziger Besuch steht unter ganz anderen Vorzeichen. Er musste aus Deutschland fliehen. Sein Jahrgang soll eingezogen werden. Als Soldat müsste er einen Eid auf Adolf Hitler ablegen und wäre gezwungen, mit der Waffe in den Krieg zu ziehen. Als Christ ist das für ihn ausgeschlossen. Verweigerern droht das Konzentrationslager oder sogar der Tod.
Dietrich hatte Glück gehabt. Sein Vater, ein anerkannter Professor für Psychiatrie, hat seine Verbindungen genutzt, um Dietrichs Musterung zu verschieben. Freunde in Amerika haben alles getan, um ihn aus Deutschland herauszuholen. Sie gehen nun fest davon aus, dass Dietrich in den USA bleibt. Hier ist er in Sicherheit. Doch schon auf der Schiffsreise war er unsicher, ob seine Flucht richtig war. »Wenn nur die Zweifel am eigenen Weg überwunden wären«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben.1
Die Zweifel lassen sich nicht vertreiben. Auch nicht, als der Präsident des Union Theological Seminary, Henry Coffin, ihn in sein Landhaus in Massachusetts einlädt. Coffin fühlt sich durch den Besuch geehrt. Trotz seiner Jugend gilt der dreiunddreißigjährige Bonhoeffer als einer der bedeutendsten deutschen Theologen und als ein führender Kopf der kirchlichen Opposition gegen Hitler. Diese Gegenkirche, die sogenannte Bekennende Kirche, ist immer mehr unter politischen Druck geraten und viele ihrer Anhänger sitzen im Gefängnis oder im KZ. Dietrich genießt die Gespräche mit Coffin und er ist begeistert von der landschaftlichen Schönheit, aber er hat das Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein. Ein Jahr will er bleiben, länger nicht. »Ich begreife nicht, warum ich hier bin«, schreibt er.2
Seine Gedanken sind bei seinen Freunden in Deutschland. In einem abgelegenen Gutshof bei Stettin hatten sie eine Gemeinschaft gebildet. Dietrich war ihr Lehrer. Er sollte sie auf ihren Beruf als Pfarrer vorbereiten. Aber er war auch ihr »Bruder«. Zusammen wollten sie eine christliche Gemeinschaft bilden. Nur auf diese Weise, das ist Dietrichs feste Überzeugung, gewinnt man die innere Stärke, an seinem Glauben festzuhalten und in einem Unrechtsstaat Widerstand zu leisten. Das illegale Seminar wurde im Juni 1938 von der Geheimen Staatspolizei geschlossen. Dietrich und seine Freunde haben sich nicht entmutigen lassen und im Untergrund weitergemacht. Jetzt müssen seine Gefährten ohne ihn zurechtkommen. Dauernd muss er daran denken, was aus den jungen Männern wird, die sich ihm anvertraut haben und ihm gefolgt waren. Wird man sie verhaften? Werden sie als Soldaten in den Krieg geschickt, der unvermeidlich scheint? Trägt er, Dietrich, Schuld an ihrem Schicksal?
Viele von Dietrichs Weggefährten haben sich auf Kompromisse mit dem Staat eingelassen. Er selbst blieb unbeugsam. Oder war es nur Rechthaberei, dass er so stur war? Haben jene recht, die ihn für einen arroganten Besserwisser halten oder für einen gefährlichen Fanatiker, der der Kirche mehr schadet als nützt? Dietrich hat sich diese Fragen oft gestellt. Manchmal dachte er, dass er sich selbst nicht kennt. Doch letztendlich hat er sich von seiner Haltung nicht abbringen lassen. Vielleicht hat das mit seiner Erziehung zu tun. Schon als Kind war ihm beigebracht worden, nicht auf Phrasen hereinzufallen und standhaft zu bleiben. Das hat ihn früh immun gemacht gegen die Propaganda der Nazis. Ihr engstirniger Nationalismus war ihm fremd. Dietrich war viel gereist, nach Rom, nach Spanien und Afrika. Er war mit dem Auto durch Amerika gefahren und hatte die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung hautnah erlebt. Es war selbstverständlich für ihn, dass alle Menschen gleichwertig sind und dass die Behauptung von der Minderwertigkeit der »jüdischen Rasse« mit der Bibel nicht vereinbar ist. Man kann, so meinte er, nicht zugleich Christ und Nationalsozialist sein.
In New York wird Dietrich oft eingeladen zu Ausflügen und Partys. In den Gesprächen über Musik und Kindererziehung ist er höflich und zugewandt wie immer. Aber innerlich ist ihm alles, worüber geredet wird, völlig gleichgültig. Der Gedanke lässt ihn nicht los, dass er mit seiner Flucht einen Fehler gemacht hat. Allein in seinem Prophetenzimmer geht Dietrich auf und ab und zerbricht sich den Kopf, was er machen soll. Er raucht viele Zigaretten, macht sich Notizen und schreibt in sein Tagebuch. Immer wieder greift er zur Bibel, um dort eine Antwort zu finden. Man hat ihm das Angebot gemacht, Vorträge zu halten und Flüchtlinge aus Deutschland zu betreuen. Kann er das ablehnen? Er hat seine amerikanischen Freunde gebeten, sich für ihn einzusetzen. Wäre es nicht unverständlich, feige, schwach und undankbar, einfach wegzulaufen? Aber wo wird er wirklich gebraucht? Sind die Nachrichten aus Deutschland nicht alarmierend? »Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland«, schreibt er in sein Tagebuch. »Ich kann nicht allein draußen bleiben. Das ist mir ganz klar. Ich lebe ja doch drüben.«3 Im August will er wieder zurückreisen.
Wenn er es in seinem Zimmer nicht mehr aushält, geht Dietrich zum Times Square oder läuft stundenlang ruhelos durch die Straßen Manhattans. Er muss sich entscheiden. Aber wie? Seine erste eigenständige Entscheidung war es gewesen, Theologie zu studieren. Jene Schulstunde kurz vor dem Abitur, als er seinen Entschluss vor der ganzen Klasse äußerte, wird er nie vergessen. Im Studium war er anfangs sehr ehrgeizig. Schon mit zweiundzwanzig ein Doktor. Mit vierundzwanzig hielt er seine erste Vorlesung an der Universität. Immer der Jüngste, immer der Beste.
Doch dann hatte sich etwas mit ihm verändert. Er hat angefangen, die Bibel anders zu lesen. Nicht mehr seine eigenen Gedanken und seine Karriere waren ihm wichtig, sondern die Frage, was Gott von ihm erwartet. Diese Wende in seinem Leben hat ihn glücklich gemacht, und er wusste nun, dass er endlich »auf die richtige Spur«4 gekommen ist. Diese Spur hat ihn zu dem Entschluss gebracht, ein Leben nach den Werten der Bibel zu führen. »Nachfolge« nannte er das. Diese Nachfolge gründet im Glauben, aber sie wird zwangsläufig politisch dann, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Dietrich Bonhoeffer war lange Zeit ein unpolitischer Mensch gewesen. Erst als Theologe und Christ wurde er zum politischen Rebellen. Und sein Widerstand lässt sich nur aus seinem Glauben und seinen theologischen Gedanken verstehen.
Soll er bleiben oder das nächste Schiff in die Heimat nehmen? Dietrich wägt alles Für und Wider ab. Er sollte froh sein, der Gefahr in Deutschland entronnen zu sein. Auch seine Schwester Sabine musste mit ihrem Mann, der aus einer jüdischen Familie kommt, ins Ausland fliehen. Viele Menschen, deren Leben in Deutschland bedroht ist, können nicht wie er das Land verlassen. Und andere, die geflohen sind oder fliehen mussten, unterstützen jetzt vom Ausland aus den Widerstand gegen das Hitler-Regime. Sollte er, Dietrich, das auch tun? Er hat viele Kontakte zu kirchlichen und politischen Kreisen in anderen Ländern.
Alle diese Überlegungen sind vernünftig. Für andere mögen sie richtig sein. Aber für ihn? Was ist für ihn das Richtige? Dietrich ist überzeugt, dass man die letzten Motive seines Handelns nicht erkennen kann. Sicher kann man alles begründen. Aber letztendlich ist jede Entscheidung eine Entscheidung ins Dunkle. Es bleibt einem nur die Hoffnung und der Glaube, dass man von einem höheren Willen geführt wird und man sich diesem Willen anvertrauen darf. Ohne das Vertrauen, dass einem die Fehler, die man macht, und die Schuld, die man auf sich lädt, vergeben werden, könnte man sich nicht entscheiden, nicht handeln.
Dietrich hat Angst vor dem entscheidenden Gespräch mit Professor Henry Leiper, der sich wie kein anderer für ihn eingesetzt hat. Am 20. Juli treffen sich die beiden zum Mittagessen. Leiper hat konkrete Pläne, wie Dietrichs Zukunft in den Staaten aussehen könnte. Dietrich lehnt alles ab. Leiper ist enttäuscht und auch verstimmt. Aber Dietrich lässt sich nicht mehr von seiner Entscheidung abbringen. »Für mich bedeutet es wohl mehr, als ich im Augenblick zu übersehen vermag. Gott allein weiß es«, schreibt er abends in sein Tagebuch. »Es ist merkwürdig, ich bin mir bei allen meinen Entscheidungen über die Motive nie völlig klar. Ist das ein Zeichen von Unklarheit, innerer Unehrlichkeit, oder ist es ein Zeichen dessen, dass wir über unser Erkennen hinausgeführt werden, oder ist es beides?«5
Am 7. Juli ist Dietrich auf dem Schiff, das ihn wieder zurück nach Deutschland bringt. Kurz nach Mitternacht legt es ab. Nach einem hochsommerlichen Tag ist es immer noch sehr warm und der Mond steht über den Wolkenkratzern Manhattans. Sechsundzwanzig Tage war er hier. Er bereut seine Reise nicht. Doch jetzt ist er erleichtert. Sein innerer Zwiespalt hat sich gelöst. Er weiß, dass er etwas Wichtiges gelernt hat, das seine zukünftigen Entscheidungen beeinflussen wird. »Wahrscheinlich wird sich diese Reise sehr bei mir auswirken«, schreibt er in sein Tagebuch.6
Als Dietrichs Nachfolger, der neue Gastdozent, in das Prophetenzimmer einzieht, wundert er sich über die Unordnung. Volle Aschenbecher stehen auf dem Tisch. Überall verstreut liegen beschriebene Papierbögen. Er kann nicht wissen, dass Dietrich Bonhoeffer sich hier zur wichtigsten Entscheidung seines Lebens durchgerungen hat.
Zehn Minuten vor dem Essen ertönte der Gong. Das war das Zeichen für die Kinder, sich die Hände zu waschen und in das Esszimmer zu kommen. Der Sommer in diesem Jahr 1911 war ungewöhnlich heiß. An manchen Tagen erreichten die Temperaturen fast vierzig Grad Celsius. Auch in Breslau, der Hauptstadt der Provinz Schlesien, die damals zum Deutschen Reich gehörte, stöhnten die Menschen unter der Hitze. Das große Haus der Familie Bonhoeffer lag am Scheitniger Park, neben einem Seitenarm der Oder, unweit der neu erbauten Klinik, wo der Vater Karl Bonhoeffer als Arzt tätig war. Die Bonhoeffer-Kinder hatten im Garten, im Schatten der Bäume gespielt und rannten nun ins Haus. Nur eines fehlte noch. Der fünfjährige Dietrich. Erst als das Kindermädchen mehrmals nach ihm rief, tauchte er zwischen den Sträuchern auf, mit gerötetem Kopf, nach den lästigen Mücken schlagend. Sein Lieblingswort war »wahnsinnig«, und bei jeder Gelegenheit betonte er in diesen Tagen, wie »wahnsinnig heiß« es sei und wie »wahnsinnig durstig« er sei.7 Er hatte in dem verwilderten Garten ein schattiges Plätzchen gefunden und dort gespielt. Nur widerwillig folgte er dem Rufen des Kindermädchens. Aber für ihn gab es keine Ausnahme. Im Hause Bonhoeffer galten feste Regeln, die alle einzuhalten hatten.
Im großen Esszimmer saßen nun alle acht Kinder am langen Tisch: der zwölfjährige Karl-Friedrich, der unumstrittene Anführer der Kinderschar. Der ein Jahr jüngere Walter, der sich am liebsten in der Natur aufhielt und alle Tiere und Pflanzen kannte. Neben ihm Klaus, zehn Jahre alt, der in der Familie als »kleiner Philosoph« galt. Die neunjährige Ursula war die Älteste und Hübscheste der Mädchen. Ihre Schwester Christine, die alle Christel nannten, war nur ein Jahr jünger. Sabine war Dietrichs Zwillingsschwester und war, wie er immer stolz betonte, am 4. Februar 1906 zehn Minuten nach ihm auf die Welt gekommen. Vor zwei Jahren war das Jüngste der Kinder geboren worden, die kleine Susanne. Nach ihrer Geburt hatte der Vater Karl Bonhoeffer in das Familienbuch geschrieben: »Trotz der Kinderzahl 8, die in jetzigen Zeiten vielen erstaunlich erscheint, haben wir den Eindruck, dass es nicht zu viel sind. Das Haus ist geräumig, die Kinder normal entwickelt, wir Eltern noch nicht zu alt und darum bemüht, sie nicht zu verwöhnen und ihnen die Jugend freundlich zu gestalten.«8
Dietrich stach unter seinen Geschwistern hervor. Man hätte ihn für eines der Mädchen halten können. Während seine Brüder mit ihren dunklen, kurz geschnittenen Haaren, den schmalen Gesichtern und den drahtigen Körpern dem Vater ähnelten, schlug Dietrich eindeutig nach der Mutter. Von ihr hatte er die helle Haut und die blauen Augen, und lange, lockige hellblonde Haare umrahmten sein weiches Gesicht. Auf früheren Fotos der Familie hatte er, wie damals bei kleinen Jungen üblich, ein weißes Kleid an und sah damit aus wie ein kleines pummeliges Mädchen. Jetzt trug er eine Lederhose oder einen blauen Kittel, den die Mutter selbst geschneidert hatte.
Paula Bonhoeffer gab Anordnung, das Essen aufzutragen, und das Kindermädchen Maria Horn, das alle nur »Hörnchen« nannten, achtete darauf, dass die Kinder sich bei Tisch richtig benahmen. Sie war kurz nach Dietrich und Sabines Geburt ins Haus gekommen und gehörte schon zur Familie. Pünktlich zum Essen erschien auch der Vater Karl Bonhoeffer. Er war ein viel beschäftigter Mann. Er leitete die nahe gelegene psychiatrische Klinik und lehrte als Professor an der Universität. Trotz seiner vielen Verpflichtungen ließ er es sich nicht nehmen, an den Mahlzeiten der Familie teilzunehmen.
Paula Bonhoeffer war ohne Zweifel die Seele der Familie. Sie dirigierte umsichtig das große Personal, zu dem Kindermädchen, Erzieherinnen, Haushaltshilfen und eine Köchin gehörten. Sie leitete die Erziehung der Kinder, organisierte die Feste und Ausflüge. Dietrichs älterer Bruder Klaus, der nicht nur ein kleiner Philosoph, sondern auch ein gewitzter Spaßmacher war, verglich später die Familie mit einer Firma, die nach einer bestimmten Verfassung funktionierte. Die Mutter sei darin die alleinige Geschäftsführerin, der Vater aber der »Inhaber« der Firma.9 In der Tat geschah nichts, was Karl Bonhoeffer nicht wollte. Es genügte, wenn die Mutter sagte: »Papa möchte das nicht gern«, und jede Diskussion war damit beendet.10 Dabei war Karl Bonhoeffer ein gutmütiger und toleranter Mann. Schon sein Beruf als Psychiater brachte es mit sich, dass er verständnisvoll und einfühlsam mit Menschen umgehen konnte. Allerdings war er auch ein Mann der Wissenschaft, er lehnte alles Wissen ab, das nicht auf gesicherten und beweisbaren Einsichten beruhte. Seelenforschern wie dem Wiener Siegmund Freud, die die geheimen Antriebe des Menschen im Unbewussten suchten, begegnete er mit größter Skepsis, wenn nicht mit Ablehnung. In solche dunklen Bereiche der Seele wollte er nicht vordringen. Wer es trotzdem tat, der war für Karl Bonhoeffer nicht ernster zu nehmen als Scharlatane, die mit Kartenlegen und Gesundbeten Menschen heilen wollten. Für ihn war bei der Behandlung von psychisch Kranken die Persönlichkeit des Arztes und Therapeuten von ausschlaggebender Bedeutung. Wer ein guter Psychiater sein wollte, der musste neben dem fachlichen medizinischen Wissen Verständnis für Andersdenkende aufbringen, vor allem aber sollte er die nötige Distanz wahren können und seine eigenen Gefühle im Griff haben. Diese »Beherrschung des Affektiven«, wie Karl Bonhoeffer diese für ihn unverzichtbare Eigenschaft nannte, war ihm auch als Familienvater wichtig. Nicht als Erzieher wollte er seinen Kindern gegenüber auftreten, sondern durch sein Vorbild wirken.
Das große Vorbild für Karl Bonhoeffer selbst war immer noch sein eigener Vater. Der erst vor zwei Jahren verstorbene Friedrich Bonhoeffer war ein juristischer Beamter im Schwäbischen gewesen und in seinen letzten Berufsjahren Landgerichtspräsident in Ulm. Sein Sohn Karl hatte an seinem Vater immer dessen Einfachheit und Ehrlichkeit bewundert. Nichts war Friedrich Bonhoeffer mehr zuwider gewesen als Menschen, die mehr sein wollten, als sie waren. Alles Unnatürliche, Aufgesetzte und Gedankenlose lehnte er ab. Das fing für ihn schon bei der Sprache an. »Niemals habe ich von ihm eine Phrase gehört«, schrieb Karl Bonhoeffer in Erinnerung an seinen Vater.11
Bei Tisch durften die Bonhoeffer-Kinder nicht untereinander reden. Zu den Eltern durften sie nur etwas sagen, wenn diese sich nicht unterhielten. Der Vater achtete dann genau darauf, dass sie nicht einfach etwas daherschwätzten, sondern sich vorher überlegten, was sie fragen oder erzählen wollten, und das dann auch in einfachen und angemessenen Worten taten. Manchmal gab ihnen der Vater auch Begriffe vor, die sie definieren sollten. War er unzufrieden mit den Ergebnissen, äußerte er das nicht wortreich, sondern zog nur seine linke Augenbraue hoch und schaute sein Gegenüber mit hochgeschobener Brille an. Die Kinder fühlten sich dann durchschaut, wenn auch auf eine sehr freundliche Weise durchschaut. Die Achtung vor dem Vater war groß, sie konnte aber manchmal auch eine einschüchternde Wirkung haben. Wie Dietrichs Schwester Sabine später berichtete, war man als Kind gegenüber diesem Vater oft unsicher und gehemmt und sagte dann lieber nichts als etwas Falsches.
Karl Bonhoeffer war kein Vater, auf dessen Schoß man als Kind sitzen konnte, der einen streichelte und dem man Kosenamen geben konnte. Das heißt nicht, dass er sich nicht um seine Kinder kümmerte und regen Anteil an ihrer Erziehung nahm. Wenn er nach einem langen Arbeitstag müde nach Hause kam, las er ihnen oft noch etwas vor. Dann saßen alle um ihn versammelt im großen Wohnzimmer, das voll war von Erbstücken. Dazu zählten auch die zahlreichen Gemälde an den Wänden. Die großformatigen Alpenlandschaften stammten von Stanislaus Graf Kalkreuth, dem Großvater der Mutter. Und einen besonderen Platz hatte ein Porträt ihres Großvaters väterlicherseits. Dieser Karl August von Hase war Professor für Theologie gewesen und hatte wegen seiner radikalen politischen Ansichten als junger Mann ein Jahr im Gefängnis gesessen. Die Geschichten dieser Vorfahren kannten die Bonhoeffer-Kinder von klein auf, und Geschichten gab es viele. In den Familien der Mutter wie des Vaters gab es viele bedeutende Männer, Professoren, Offiziere, Künstler, Ärzte, Ratsherren und Bürgermeister. Diese Abstammung war für Karl und Paula Bonhoeffer jedoch kein Grund, besonders stolz darauf zu sein. Zwar hing der Stammbaum der Familie im Treppenhaus, doch ein übertriebener Ahnenkult widersprach ihrer bürgerlichen Bescheidenheit. Im Gegenteil. Ein Onkel, der die Verdienste der Familie von Hase bei jeder Gelegenheit rühmte, wurde im Stillen belächelt. Dennoch wuchsen die Kinder auf in dem Bewusstsein, in einer alten bürgerlichen Tradition zu stehen. Damit verbunden war die unausgesprochene Verpflichtung, diese Tradition fortzuführen, einmal bedeutende Leistungen zu erbringen und hohe Ämter anzustreben. Wer in einer solchen Tradition verwurzelt ist, so wird es Dietrich Bonhoeffer einmal beschreiben, dessen Denken und Handeln wird davon bestimmt, noch ehe ihm diese Prägung bewusst wird.
Karl Bonhoeffer ging davon aus, sein weiteres Leben in Breslau zu verbringen. Dabei war er als junger Assistenzarzt ungern hierhergekommen. Von seiner schwäbischen Heimat aus gesehen schien Breslau sehr weit entfernt, fast schon in der »Polakei«. Erst als er seine zukünftige Frau kennenlernte, wurde er in der Stadt heimischer. Nach der Heirat hatte er mit seiner Frau und den ersten Kindern Breslau kurzzeitig verlassen, weil man ihm in Königsberg und Heidelberg Stellungen angeboten hatte. Doch schließlich hatte er sich entschieden, nach Breslau zurückzukehren. Die Arbeitsbedingungen, die man ihm hier bot, entsprachen völlig seinen Wünschen. Und das geräumige Haus neben dem Birkenwäldchen war für die immer größer werdende Familie wie geschaffen. Die Kinder hatten hier die größten Freiheiten. Den Garten ließ man verwildern. Sie konnten darin nach Lust und Laune Höhlen und Verstecke bauen. Ein Tennisplatz gehörte zum Haus, den man im Winter mit Wasser begoss, um auf dem Eis Schlittschuh zu laufen. Die Mädchen hatten einen eigenen Raum für ihre Puppenstuben. In einem anderen stand eine Hobelbank, und jede Menge Werkzeug war vorhanden, damit die Buben hämmern, schneiden und sägen konnten. In einem Schuppen, in dem früher Kutschen und Pferde gestanden hatten, durften die Kinder Eidechsen, Schlangen, Mäuse, Vögel, Käfer und Eichhörnchen halten.
Ein Zimmer im Haus wurde als Schulzimmer eingerichtet, mit einer Tafel und richtigen Pulten. Paula Bonhoeffer hatte sich in jungen Jahren zur Lehrerin ausbilden lassen und zeigte großes Interesse für alternative Erziehungsformen. Von den üblichen Methoden in den Schulen hielt sie wenig. Den Kindern werde, so meinte sie, nur früh das Rückgrat gebrochen. Sie bestand darauf, den ersten Unterricht selbst zu geben. Dazu nahm sie auch gleichaltrige Kinder aus befreundeten Familien auf, sodass zeitweise drei kleine Klassen zusammenkamen, die sie nacheinander unterrichtete. Unterstützt wurde sie dabei von Maria Horn. Nur in Religion durfte »Hörnchen« die Kinder nicht unterrichten. Das behielt sich Paula Bonhoeffer selber vor.
Sie war die Tochter des Theologieprofessors Karl Alfred von Hase und hatte in ihrer Jugend einige Zeit bei den Herrnhutern verbracht, einer Gemeinschaft, in der ein sehr frommer und gefühlsbetonter christlicher Glaube gepflegt wurde und man Wert auf tätige Nächstenliebe legte. Auch Maria Horn war in dieser pietistischen Glaubenswelt aufgewachsen. Im Hause Bonhoeffer, wo die eher nüchterne Einstellung des Vaters maßgeblich war und allzu starke Gefühlsäußerungen verpönt waren, musste »Hörnchen« mit ihrer Frömmigkeit zurückhaltend sein. Aber weil es zu den Grundsätzen des Vaters gehörte, andere Meinungen und Lebensweisen zu respektieren, wurde auch Maria Horns gelegentlich etwas aufdringlicher religiöser Übereifer »ertragen«. Die Kinder, die »Hörnchen« heiß und innig liebten, waren empfänglich für ihre schwärmerische Gottesliebe und lernten viele Lieder und Gebete der Herrnhuter von ihr.
Ob auch Paula Bonhoeffer sich Zurückhaltung auferlegen musste? Eberhard Bethge, der spätere Freund von Dietrich, meinte, dass die religiösen Ideale ihrer Jugend in der Ehe »unter der Oberfläche« blieben.12 Dennoch war Paula Bonhoeffer die ideale Ergänzung zu ihrem Mann. Die Nähe, die der Vater nicht wollte, nicht erlaubte, fanden die Kinder bei der Mutter, auch wenn es eher eine disziplinierte Nähe war. Zu ihr konnten sie mit ihren Sorgen und Nöten kommen. Ihre Lebensfreude und ihr Temperament waren ansteckend. Ihre Kreativität, wenn es galt, Feste zu feiern und neue Spiele zu erfinden, erlahmte nie. Und ihr Vorrat an Versen und Liedern war unerschöpflich.
Von der Mutter bekam Dietrich die biblischen Geschichten erzählt. Sie zeigte ihm dazu die Bilder aus einer illustrierten Bibel, die seine Fantasie anregten und Fragen in seinem Kopf entstehen ließen wie die, ob der liebe Gott auch zu Mittag esse oder ob er auch Schornsteinfeger lieb habe.13 Noch tiefer bewegten ihn die Kirchenlieder, die er von seiner Mutter und »Hörnchen« lernte und die er mit Hingabe sang, wobei er unterschied zwischen den »roten« Liedern, die fröhlich klangen, inniger waren und er lieber sang, und den »schwarzen«, die sich feierlicher und ernster anhörten. Von einem Zimmer des Hauses konnte Dietrich auf den nahe gelegenen Friedhof sehen, wo sich ab und zu ein Trauerzug zu einem offenen Grab bewegte. Nachts, wenn er im Bett lag, stellte er sich vor, er liege sterbend auf dem Bett, um das die ganze Familie versammelt ist, und er überlegte, welche letzten Worte er sagen würde.14 Das war ein schöner Gedanke, aber dann schämte er sich, dass er eine so »theatralische Vorstellung« von sich machte und sich auf eine Art in den Mittelpunkt stellte, die sein Vater sicher verurteilen würde.
Es war schwer für Dietrich, seinen Platz unter seinen Geschwistern zu finden. Anfangs hatte er noch mit seinen Schwestern in deren Zimmer gespielt und war ein begehrter Puppenvater gewesen. Später, als er kein Kleid mehr trug, wollte er zu seinen großen Brüdern gehören. Doch es war offensichtlich, dass er nicht nur anders aussah als Karl-Friedrich, Walter und Klaus, sondern auch sonst anders war. Er schämte sich, weil er oft nicht so mutig war, wie es sich für einen Jungen gehörte. Er hatte Angst vor dem Nikolaus, der niemand anderes war als die aufwendig verkleidete Mutter mit verstellter Stimme. Er hatte Angst vor dem Wasser. Als er schwimmen lernen sollte und man ihn an einer großen Angel festhielt, schrie er so hysterisch, dass man ihn wieder losmachte. Nur weil seine Zwillingsschwester Sabine sich tapferer verhielt, ließ er sich überreden, es weiter zu probieren.
Im Sommer machte die Familie Ferien im Glatzer Gebirge, südlich von Breslau, an der Grenze zu Mähren und Böhmen, die noch zu Österreich-Ungarn gehörten. Nahe dem Ort Wölfelsgrund hatte Karl Bonhoeffer ein Haus gekauft. Es lag an einem Waldhang, mit einer Wiese davor, einem kleinen Bach und einem riesigen Obstbaum, auf dem ein Hochsitz mit einer Bank gebaut war. Die Familie ließ sich vor diesem Baum fotografieren. Karl und Paula Bonhoeffer stehen auf der Wiese unter dem Baum, der Vater mit der kleinen Susanne auf den Schultern. Die anderen Kinder über ihnen auf dem Hochsitz. Mittendrin Dietrich mit seinem hellblonden Haarschopf.
Wie schon sein Vater war auch Karl Bonhoeffer ein leidenschaftlicher Wanderer. Und wie sein Vater ihm auf langen Spaziergängen alle Bäume, Getreidearten und Pflanzen gezeigt und erklärt hatte, so lernten nun seine Kinder von ihm alles kennen, was im Wald und auf den Wiesen wuchs und blühte. Was Dietrich auch vom Vater lernte und was ihn tief beeindruckte, war dessen Haltung in allem, was er tat und sagte. Zu ihr gehörte, dass man seine Gefühle und Sorgen nicht an die große Glocke hängt, sondern besser für sich behält, und dass man seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche nicht in den Vordergrund stellt und an andere denkt. Sicher war es der Einfluss des Vaters, der bewirkte, dass Dietrich ein sehr »ritterlicher« Junge wurde, besonders seiner Zwillingsschwester Sabine gegenüber. Er bot ihr seine Hand an, wenn sie im Wald einen steilen Abhang hinuntergingen, wo man leicht ins Rutschen kam. Wenn sie auf der Wiese Himbeeren sammelten, füllte er heimlich das Töpfchen der Schwester auf, damit sie nicht weniger hatte als er.15
Karl Bonhoeffer hatte nicht gedacht, jemals wieder von Breslau wegzugehen. Doch dann erhielt er eines Tages das Angebot, nach Berlin zu wechseln. Der Professor für Psychiatrie und Neurologie, Theodor Ziehen, hatte überraschend sein Amt niedergelegt, um sich ganz seiner Leidenschaft, der Philosophie, zu widmen. Bonhoeffer sollte sein Nachfolger werden. Obwohl die Stelle an der Charité in Berlin die erste Adresse seines Faches war, hatte Karl Bonhoeffer keinerlei Ehrgeiz, beruflich aufzusteigen. Doch in langen Gesprächen mit seiner Frau bekam der Gedanke immer mehr Gewicht, dass die Kinder in der deutschen Hauptstadt mehr Entwicklungsmöglichkeiten hätten. Die Kinder wurden gefragt und sie waren einverstanden.
Ob auch Dietrich zugestimmt hat? Oder war er vielleicht »wahnsinnig traurig«? Hatte ein skeptischer Blick des Vaters schon genügt, um ihm diese sprachliche Übertreibung abzugewöhnen? Viele Jahre danach, am Ende seines Lebens, wird Dietrich bekennen, dass er sich zum ersten Mal wirklich verändert hat, als er bewusst die Persönlichkeit seines Vaters wahrnahm. Diese Veränderung geschah dadurch, dass es ihm nicht erlaubt wurde, einfach seinen Gefühlen nachzugeben und seinen ersten Antrieben zu folgen, sondern ihm Hindernisse aufgebaut wurden. In einem Brief schreibt er: »Ich habe es als einen der stärksten geistigen Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, dass man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten. […]. Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat, und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte.«
Dietrich wird sein Leben lang an der Überzeugung festhalten, dass man es sich nicht zu einfach und leicht machen darf, sondern dass man Hindernisse überwinden muss. Andererseits hat Dietrich von seiner Mutter und »Hörnchen« erfahren, dass man seine Gefühle frei und ungezwungen äußern darf, in Liedern, Versen und Gedichten. Muss man beides immer auseinanderhalten? Müssen Gefühle »unter der Oberfläche« bleiben? Oder gehören Gefühl und Verstand doch zusammen?
Dietrich war sechs Jahre alt, als die Familie Ostern 1912 nach Berlin zog. Von dem großem Haus mit dem weiten Garten in Breslau hatten sie schweren Herzens Abschied genommen. Nun mussten sie sich an die vergleichsweise bescheidene Wohnung im Erdgeschoss eines Hauses in der Brückenallee, nahe der Spree, gewöhnen. Gewöhnen mussten sie sich auch daran, dass über ihnen eine ältere Dame wohnte, die weit nach Mitternacht so geräuschvoll zu Bett ging, dass das ganze Haus davon aufwachte.16 Zum Haus gehörte ein kleiner Garten, der von einer Mauer umschlossen war. Jenseits lag der Park des Schlosses Bellevue, wo die Familie Wilhelms II., des deutschen Kaisers, mit dem Hofstaat residierte. Der Kaiser liebte Pomp und große Worte, weswegen Karl Bonhoeffer nicht viel von ihm hielt. Dass Wilhelm die Flotte aufrüsten ließ, um Deutschland im Wettlauf um die Kolonien einen »Platz an der Sonne« zu verschaffen, war für Bonhoeffer ein gefährliches Säbelrasseln. Trotzdem glaubte er wie viele Deutsche, dass der Kaiser im Grunde Frieden wollte und ein Krieg aufgrund der internationalen wirtschaftlichen Interessen ausgeschlossen war.
Um Dietrich und seine Zwillingsschwester Sabine kümmerte sich jetzt Käthe Horn, die Schwester von »Hörnchen« Maria Horn, die ebenfalls in einer sehr frommen Gemeinde der Herrnhuter aufgewachsen war. Mit ihr gingen sie spazieren in den Grünanlagen des Tiergartens, und manchmal konnten sie den Wagen mit dem Königspaar und dessen Kindern zuwinken, die zum Schloss Bellevue fuhren oder von dort weg. Wenn sie zu Hause davon erzählten, wurden sie ausgelacht. Ein Kult um die Königsfamilie galt als ebenso »ungebildet« wie falscher Ehrgeiz, über Geld zu reden, sein Wissen vorzuführen oder sich sonst wie über andere zu erheben. Benahm sich jemand so ungebildet, wurde er mit Schweigen bedacht oder still belächelt, jedoch nicht kritisiert oder gar bloßgestellt, weil das ja geheißen hätte, sich selbst für etwas Besseres zu halten.
So wäre es Karl und Paula Bonhoeffer nie eingefallen, offen etwas gegen das Kaiserreich, die Schule oder die Kirche zu sagen. Man respektierte diese Einrichtungen, vertraute aber den eigenen Überzeugungen. Die Kinder wurden christlich erzogen, doch niemand ging am Sonntag in die Kirche. In den ersten Jahren wurden sie vom Schulbesuch befreit und zu Hause unterrichtet, was nach dem Umzug nach Berlin bei den Zwillingen Käthe Horn übernahm. Für die Kinder war das Haus der Familie ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Vor den Einflüssen einer Großstadt wie Berlin sollten sie so lange wie möglich geschützt werden. Wie die Welt draußen aussah, davon bekamen sie nur selten Eindrücke. Etwa in der Weihnachtszeit, wenn die Mutter arme und Not leidende Menschen in das Haus einlud, sie beschenkte und die Kinder ein Krippenspiel aufführten. Oder wenn der Vater sie mitnahm in die Klinik und sie dort Kinder sahen, die keine Familie hatten, die unkontrolliert mit den Armen und Beinen zuckten und auf dem Boden kauerten. Diese kleinen Patienten bekamen dann Bücher und Spielsachen geschenkt, die die Bonhoeffer-Kinder nicht mehr brauchten.17
Dietrich fiel es anscheinend besonders schwer, die gewohnte, behütete Welt seines Elternhauses zu verlassen. Im Oktober 1913 begann für ihn der Schulalltag. Er wurde auf dem Friedrichs-Werderschen Gymnasium angemeldet. Das war nicht weit entfernt, auf der anderen Uferseite der Spree. Dietrich hatte Angst, den kurzen Schulweg über die große Brücke alleine zu gehen. So musste ihn anfangs ein Kindermädchen begleiten, unauffällig, damit er sich nicht vor seinen Schulkameraden blamierte.
Dietrich war durch den häuslichen Unterricht schon so weit im Stoff fortgeschritten, dass er in dem humanistischen Gymnasium eine Klasse überspringen konnte. Seine Ängste und Unsicherheiten scheint er schnell überwunden zu haben. Zu seinem wachsenden Selbstbewusstsein trug sicher auch bei, dass er gewachsen war und ein kräftiger Junge wurde. Seine Schwester Sabine ließ er gern seine harten Muskeln prüfen. Im Sport war er den anderen überlegen, und auch wenn er auf Fairness großen Wert legte, so war er doch ehrgeizig und verlor nicht gern. Den Triumph, den er fühlte, wenn er andere besiegte, hat Dietrich in manchen Momenten wohl ganz unbefangen und ohne schlechtes Gewissen genossen. Doch auch hierin wurden ihm durch die Erziehung Hemmungen auferlegt. Als er einmal von einem Wettkampf mit einem Siegerkranz auf dem Kopf nach Hause kam, erntete er den Spott und die Häme der großen Brüder, und er nahm den Kranz beschämt wieder ab.18 Gewinnen war ja ganz schön. Aber damit gab man nicht an! Ein solcher Stolz galt bei den Bonhoeffers als dumme Eitelkeit, wie alle Übertreibungen, mit denen man die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Wenn eines der Kinder hinfiel, entging es dem strengen Blick des Vaters nicht, wenn es zu lange liegen blieb und den Schmerz übertrieb, um bemitleidet zu werden. Es reichte dann sein kurzes »Pfui!«, um jede wehleidige Schauspielerei zu beenden. Die Mutter allerdings konnte oft nicht verhehlen, wie tief es sie traf, wenn einem ihrer Kinder etwas passierte. Dietrich sah sie zum ersten Mal weinen, als er sich in der Schule beim Turnen einen Vorderzahn ausgebrochen hatte. So erlebte er sie nur am Weihnachtsabend, wenn Paula Bonhoeffer von den frommen Liedern so ergriffen war, dass sie Tränen in den Augen hatte. Der Anblick der weinenden Mutter berührte und bedrückte Dietrich zugleich, und er war erleichtert, wenn ihre Augen wieder »klar« waren.19