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Das Leben des Franziskus vom preisgekrönten Biografen Alois Prinz erzählt.
Franz von Assisi – was war er für ein Mensch? Damals gingen die Meinungen stark auseinander: Die einen hielten ihn bloß für einen verrückten Aussteiger, für die anderen war er ein beeindruckender Mensch, von dem man lernen wollte. Heute ist die Bedeutung dieses Mannes, der später sogar heilig gesprochen wurde, unstrittig.
Alois Prinz reist nach Assisi und lässt uns durch seine Schilderungen in die Lebenswelt des Franziskus' eintauchen. Wir erfahren, was Franziskus prägte, aber auch, wie fortschrittlich er nicht nur für die damalige Zeit war mit seinem Bedürfnis nach Verzicht, einem einfachen Leben in Frieden und im Einklang mit der Natur und den Tieren.
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Das Buch
Franz von Assisi – was trieb den reichen Kaufmannsohn dazu, plötzlich sein privilegiertes Leben aufzugeben, um als heimatloser, armer Rumtreiber zu leben? Die einen hielten ihn für einen verrückten Aussteiger, für die anderen war er ein Vorbild, einer, der verstanden hatte, worauf es im Leben wirklich ankommt.
Alois Prinz nimmt die Leser*innen mit nach Assisi, in die Landschaften der Toskana und Umbriens. Wir tauchen ein in die mittelalterliche Welt des Franziskus‘. Wir erfahren, was ihn prägte und was er eigentlich wollte, aber auch, wie fortschrittlich er nicht nur für die damalige Zeit war mit seinem Bedürfnis nach einem einfachen Leben in Frieden und im Einklang mit der Natur und den Tieren.
Der Autor
© Volker Derlath
Alois Prinz, geboren 1958, gehört zu den hochkarätigen und viel beachteten Autoren im Bereich Biografien. Er studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Philosophie, parallel dazu absolvierte er eine journalistische Ausbildung. Bekannt wurde er durch seine Biografien über Georg Forster, Hannah Arendt, Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka, den Apostel Paulus oder Jesus. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen u.a. den Evangelischen Buchpreis für die Arendt-Biografie und den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Biografie über Ulrike Meinhof sowie 2017 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Für Fra Bernardino (1939–2022)
Anfang Juli 2021 wanderte ich auf dem Franziskusweg in Italien, von Assisi nach Rom. Franziskus begleitet mich schon seit meiner Kindheit. Dieses Naturkind, das die Sonne liebte und mit den Tieren sprechen konnte, war für mich weniger ein Heiliger als ein guter Freund. Später, als mein Kinderbild verblasste und ich an ihm ganz andere Seiten entdeckte, habe ich viel über ihn gelesen und sogar einiges über ihn geschrieben. Es blieb jedoch ein Rest, etwas Geheimnisvolles, das diesen Menschen umgab. Schließlich fragte ich mich, ob man ihm vielleicht nachfolgen muss, um ihn noch besser zu verstehen – in dem ganz konkreten Sinn, dass man sich auf seine Spuren begibt und jene Gegenden in Italien durchwandert, in denen er unterwegs war. Die Landschaften in der Toskana, in Umbrien und den Marken waren für Franziskus keine Kulisse, sondern er war mit ihnen verwachsen. Und dass er zu Fuß ging, tat er nicht aus Not, sondern aus Überzeugung. Das Zufußgehen war ein Ausdruck seines Glaubens, eine Botschaft, eine Lebensform. Also ging ich los.
Der Weg führte durch Täler, entlang von Flüssen, auf Straßen und schmalen Pfaden, durch Städte und abgelegene Gebirgsdörfer. An manchen Tagen wanderte ich stundenlang durch waldreiche, hügelige Landschaften, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Auf solchen verlassenen Wegen stellte ich mir oft vor, wie es wäre, wenn Franz von Assisi mir entgegenkäme. Ich wusste ja, wie er ungefähr ausgesehen hat. Thomas von Celano, ein gelehrter Mönch, der Franz gekannt hat und als Erster eine Geschichte seines Lebens verfasste, hat uns ein recht genaues Bild des Mannes aus Assisi hinterlassen.1 Außerdem gibt es ein Porträt von Franz, ein sehr altes Fresko im Kloster San Benedetto bei Subiaco, das die Beschreibung Celanos bestätigt. Demnach war Francesco, wie er in seiner Heimat genannt wurde, ein kleiner Mann. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass er nur einen Meter achtundfünfzig groß war. Er war schmächtig, hatte ein schmales Gesicht mit einer niedrigen Stirn, dunklen Augen, einem spärlichen Bart und abstehenden Ohren. Seine Beine waren dünn und seine Füße auffallend klein.
Insgesamt kann man also sagen, dass er keine imposante Erscheinung war und kein anziehendes Äußeres hatte. Sein Mitbruder Elias beschreibt ihn als »unscheinbar«2. Und Thomas von Split, der Franz als junger Student in Bologna erlebte, bezeichnet sein Gewand als »schmutzig« und sein Gesicht als »nicht gerade schön«.3 Was er an Kleidung anhatte, ist schnell erzählt. Er trug eine braune Kutte mit einem Strick, darunter eine Unterhose. Das war’s. Mehr hatte er nicht an. Auf Strümpfe und Schuhe verzichtete er, weswegen seine kleinen Füße eine dicke Hornhaut gehabt haben müssen. Denn Franz ging meistens barfuß, auch im Winter.
So sah ich ihn in meiner Fantasie auf mich zukommen. Vermutlich hätte er mich gegrüßt mit jenen Worten, mit denen er immer auf Menschen zuging: »Buon giorno, buona gente!« – Guten Tag, ihr lieben Leute! Wobei er mich wahrscheinlich als »lieber Freund« angeredet hätte. Und dabei hätte er mich mit jenem Blick angesehen, der die Menschen zu seiner Zeit so berührt hat. »Entwaffnend« hat jemand diesen Blick genannt, womit er sagen wollte, dass man sofort von der Sanftmut dieses Mannes eingenommen war und augenblicklich jeden Argwohn, jedes Misstrauen ablegte.
Vermutlich hätte Franz bei meinem Anblick milde gelächelt. Denn offensichtlich war ich so ziemlich das Gegenteil von ihm – ein moderner Mensch, ausgestattet mit allem Möglichen, das die Freizeitindustrie zu bieten hat, von der Sonnenbrille über den Rucksack bis zu den neuen Trekkingschuhen. Ganz zu schweigen vom Handy samt Powerbank und der Brieftasche mit Kreditkarte. Ich war für alle Fälle gerüstet.
Mit seinem milden Lächeln hätte Franz vermutlich sagen wollen: Aha, das brauchst du also alles!? Er jedenfalls hatte sich dafür entschieden, das alles nicht zu brauchen. Einen Vorwurf hätte er mir aber nicht gemacht. Höchstens mich ein bisschen aufgezogen wegen meiner perfekten Ausrüstung. Nie oder höchst selten hat er andere verurteilt. Immer ging es ihm darum, zuerst selbst das zu leben, was er für richtig hielt. Wenn er wirken wollte, dann durch sein Beispiel. Dabei folgte er keiner Idee oder einer Lehre. Es waren die eigenen Erfahrungen, die ihn dazu brachten, sein Leben zu ändern.
Die ersten fünfundzwanzig Jahre verbrachte er als verwöhnter Kaufmannssohn in Reichtum und Überfluss. Als junger Mann war er ein Partylöwe, der mit seinen Freunden die Nächte durchfeierte, das Geld seines Vaters mit vollen Händen ausgab und allerlei verrückte Dinge machte. Irgendwann fiel ihm auf, dass er sich unmerklich von vielem entfernt hat – vom Leben, von den anderen Menschen, von der Natur, von sich selbst. Blitzartig war der Gedanke in ihm aufgetaucht, dass ein ganz anderes Glück, eine ganz andere Freiheit möglich ist. Auf all das zu verzichten, was bisher für ihn zu einem schönen, angenehmen Leben gehörte, fiel ihm plötzlich nicht schwer. Er entdeckte, dass das Leben, das er durch diesen Verzicht gewann, unvergleichlich schöner und wertvoller war als das, was er hinter sich ließ. Franz folgte dieser Erleuchtung, erst zögerlich, dann immer entschlossener und schließlich radikal. Er wurde ein Aussteiger, ein poverello, ein armer Minderbruder, der wie ein fröhlicher Vagabund durch die Welt wanderte, der nichts besaß, nicht an den nächsten Tag dachte, jede Form von Macht ablehnte und niemandem überlegen sein wollte.
Das Ziel meiner Wanderung war Rom, wo im Vatikan ein Papst saß, der sich auch Franziskus nannte. Nie zuvor hatte sich ein Papst diesen Namen gegeben, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass Franz von Assisi einer der angesehensten Heiligen der katholischen Kirche ist. Offenbar wussten die Päpste, dass es ein Risiko gewesen wäre, sich nach ihm zu benennen. Sie lebten in Palästen, herrschten über eine Institution, die viel Macht und Geld besaß, sie führten Kriege und verfolgten Andersgläubige. All das lehnte Franz von Assisi ab. Er wollte eine arme Kirche und eine klassenlose Gesellschaft, in der sich alle zueinander wie Brüder und Schwestern verhielten. Was klingt wie ein schöner Traum, hat Franz zusammen mit seinen Freunden gelebt, allen Realisten und Pessimisten zum Trotz.
Nach seinem Tod wurde versucht, diese Botschaft des Franz von Assisi zu unterdrücken oder zu entschärfen und ein Bild von ihm zu schaffen, das weniger radikal und herausfordernd ist. Man erklärte sein Testament für ungültig und befahl, alle Schriften zu vernichten, in denen seine ursprünglichen Ideen zu erkennen waren. Aus Franz wurde ein harmloser Heiliger, der die Vögel liebt und die schöne Sonne besingt. Glücklicherweise blieben viele der verbotenen Berichte über ihn erhalten, sodass man immer noch herausfinden kann, wofür Franz lebte und was er eigentlich wollte. Papst Franziskus in Rom wollte mit seiner Namenswahl wieder an diesen Franz erinnern, vor allem an einen Franziskus, der Tiere, Pflanzen oder das Wasser als »Bruder« oder »Schwester« betrachtete, die nicht dazu da sind, von uns benutzt, verwertet oder ausgebeutet zu werden. Für Papst Franziskus war es diese »Achtsamkeit« gegenüber der Natur, die den Mann aus Assisi zu einem Vorbild für ein verändertes ökologisches Bewusstsein macht. Moderne Autoren gehen sogar noch weiter und behaupten, dass Franz von Assisi uns den Weg weisen kann aus einer Sackgasse, in die uns ein moderner Fortschrittsglaube geführt hat.
Eine Frage ging mir bei meiner Wanderung durch die Landschaften Umbriens nicht aus dem Kopf: Warum gerade er? Warum hat gerade dieser unscheinbare kleine Aussteiger, der nichts besaß und nichts sein wollte, der sich selbst als »Idiot« sah und »Spaßmacher Gottes« – warum kann dieser bedürfnislose, fröhliche Rumtreiber bis heute noch die Menschen bewegen und begeistern? Was war an ihm so besonders? Können wir modernen Menschen diesen mittelalterlichen Heiligen überhaupt verstehen?
Für den Theologen Adolf Holl bleibt Franz von Assisi eine »Sehnsuchtsgestalt«, die bei uns »eine Art ziehenden Schmerzes« auslöst und ein »Heimatgefühl« weckt.4 Was ist das für ein Schmerz? Welche Zwänge, die wir uns auferlegt haben, welche Verluste, an die wir uns gewöhnt haben, lässt er uns schmerzlich spüren? An welche anderen Lebensmöglichkeiten erinnert er uns wie an eine verloren gegangene »Heimat«? Um eine Antwort zu finden, muss man vielleicht mit ihm mitwandern – und sich dabei die Geschichte dieses Mannes erzählen lassen.
Endstation Assisi. Als der Bus am Abend auf dem großen Parkplatz ankommt, bin ich der einzige und letzte Fahrgast. Alle anderen sind schon vorher ausgestiegen, in Bologna oder Florenz. Als ich mir den Rucksack auf den Rücken schwinge, erschrecke ich ein wenig darüber, wie schwer er ist. Für die nächsten Tage ist eine Hitzewelle angesagt. An die vierzig Grad sollen es werden. Ich halte mich für ziemlich fit, aber auf den Treppen und in den steilen Gassen hinauf in die Oberstadt komme ich ins Schwitzen. Eine Steintafel auf der Mauer weist mir den Weg: »Zu den deutschen Schwestern von S. Croce«.
Die Schwestern sind Nonnen des Klarissenordens, die in Assisi ein Kloster gegründet haben und ein Gästehaus unterhalten, in dem ich mich angemeldet hatte. Sie berufen sich auf die heilige Klara von Assisi. Chiara – so ihr italienischer Name – war eine Freundin von Francesco. Die beiden kannten sich schon seit Kindertagen und manche behaupten, sie seien ineinander verliebt gewesen. Nachdem Franz sein altes Leben aufgegeben hatte und in die Wälder gezogen war, riss Klara, die einer adligen Familie entstammte, von zu Hause aus, um sich Franz anzuschließen. Ein Wanderleben wie Franz hat Klara nie geführt. Das war für Frauen undenkbar. Sie lebte zusammen mit ihren Mitschwestern bis zu ihrem Tod zurückgezogen im Kloster San Damiano vor den Toren Assisis.
An der Pforte werde ich von einer Schwester, die für das Gästehaus zuständig ist, freundlich empfangen. Sie zeigt mir mein Zimmer. Es geht hinaus auf eine Terrasse und einen kleinen Garten. Von dort hat man einen weiten Blick in die umbrische Ebene. Im Gespräch erfahre ich, dass die Schwestern von Santa Croce in Klausur leben, das heißt, sie dürfen das Areal des Klosters nur in Ausnahmefällen verlassen. Ihr Alltag besteht darin, in der Küche oder im Garten zu arbeiten und die festgelegten Zeiten für das Gebet einzuhalten. Ich gestehe der Schwester, die ich auf Mitte sechzig schätze, dass ich mir ein solches Leben für mich nicht vorstellen könne. Sie lächelt und meint, dass sie von Gästen immer wieder gefragt werde, ob das Leben, das sie und ihre Mitschwestern führen, noch zeitgemäß sei. Sie kann verstehen, dass es für Außenstehende schwer ist zu begreifen, warum die Schwestern in dieser Gemeinschaft sich nicht eingesperrt fühlen und durchaus glücklich sind. Das Kloster ist für sie ein Schutz vor den Zerstreuungen der modernen Welt draußen. Nur wer eine Berufung zu diesem Leben in der Kontemplation erfahren habe, so heißt es auf der Homepage des Klosters, könne es in seiner »tiefsten Dimension« begreifen.
Im Speisesaal des Gästehauses sitzt an dem langen Tisch eine Pilgergruppe aus der Nähe von München. Zu ihr gehört ein älteres Ehepaar, mit dem ich ins Gespräch komme. Die beiden erzählen mir, dass sie ihre Tochter im Kloster besuchen. Vor vielen Jahren hat sie als junge Frau eine Reise nach Assisi gemacht. Eines Tages rief sie zu Hause an und teilte ihren Eltern mit, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde und ins Kloster eintreten wolle. Seither besuchen sie die Eltern ein Mal im Jahr. Anfangs, die ersten Jahre, durften sie mit ihrer Tochter nur durch ein Gitter sprechen. Später wurde ihnen ein Treffen im klösterlichen Garten erlaubt. Die Tochter scheint ihren Entschluss nie bereut zu haben. Überhaupt haben die Schwestern von Santa Croce keine Nachwuchssorgen.
Den nächsten Tag will ich in Assisi verbringen und dann zu meiner Wanderung aufbrechen. Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Die Schaufenster der Läden, an denen ich vorbeikomme, sind voll mit Souvenirs, auf denen Franziskus abgebildet ist: Amulette, Teller, Aschenbecher oder Feuerzeuge. Besonders beliebt scheinen die Franziskus-Figuren zu sein. Die meisten halten Vögel auf dem Arm oder ein Wolf sitzt zu ihren Füßen. Franz, der Freund aller Tiere.
Mein erstes Ziel am Morgen ist die Chiesa Nuova, eine Kirche, die an dem Platz errichtet wurde, wo Franz Ende des Jahres 1181 oder Anfang 1182 geboren worden sein soll. Ob sein Elternhaus wirklich hier stand, weiß man nicht so genau. Sicher ist jedenfalls, dass die Bernardones, wie die Familie hieß, eine angesehene und sehr reiche Familie waren, denen mehrere Häuser in und um Assisi gehörten.
Auf dem Platz vor der Kirche stehen Statuen der Eltern: Pietro Bernardone und seine Frau Pica. Die beiden halten sich an den Händen. Über seinem Arm hängt ein Gewand. Sie hat eine zerbrochene Kette in der Hand. Beides sind Hinweise auf ein Drama, das sich in der Familie abgespielt hat und das damit endete, dass Franz mit seinen Eltern brach. Es verwundert mich ein wenig, dass man den beiden ein Denkmal gesetzt hat. Ihr Ruf ist nämlich nicht gerade der beste. Nicht nur wegen des Bruchs mit ihrem Sohn. Thomas von Celano stellt in seiner Lebensbeschreibung den Eltern ein schlechtes Zeugnis als Erzieher aus.5 Ihm zufolge übten sie einen schädlichen Einfluss auf ihren Sohn aus und Celano macht sie dafür verantwortlich, dass Francesco in seinen jungen Jahren ein verwöhnter Playboy war, der nur schöne Kleider, gutes Essen und nächtelange Feiern im Kopf hatte. Als Celano den Auftrag bekam, ein Buch über Franz zu schreiben, war der schon zum Heiligen erklärt oder – richtiger – verklärt worden. Von einem Heiligen erwartete man, dass er von Geburt an heilig ist. Wilde Partys und Luxus passten da nicht hinein. Und so hat Celano die Schuld an Francescos lasterhaftem Treiben den Eltern zugeschoben.
Thomas von Celano hat später eine zweite Lebensgeschichte verfasst und darin sein hartes Urteil über die Eltern abgemildert. Das tat er gezwungenermaßen, weil Francescos ehemalige Gefährten inzwischen ihre eigenen Erinnerungen niedergeschrieben hatten und ihre Sicht auf die Eltern eine ganz andere war. Sie »liebten ihren Sohn mit Zärtlichkeit«, heißt es in ihren Aufzeichnungen.6
Man darf Francescos Freunden mehr Glauben schenken als dem Biografen Celano. Demnach war das Verhältnis von Franz zu seinen Eltern lange Zeit ein sehr liebevolles. Und »lange Zeit« heißt, bis Franz fünfundzwanzig Jahre alt war. Das ist mehr als die Hälfte seines Lebens! Franz war in diesen Jahren kein schwieriger Sohn, der gegen seine Eltern rebellierte. Im Gegenteil, alles spricht dafür, dass er sich mit seinen Eltern bestens verstand, seinen Vater bewunderte und seine Mutter liebte. Wie konnte es dann zum Bruch kommen?
Wenn ich durch die engen Gassen Assisis gehe, versuche ich mir vorzustellen, wie es hier zur Zeit von Francesco ausgesehen haben mag. Sicher, es fuhren keine Autos und Vespas herum, die Leute waren anders angezogen und es gab keine Touristen und Souvenirläden. Aber am Straßenbild hat sich so viel nicht verändert. Wie auch andere Städte in Italien war Assisi in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Man schätzt, dass in und um die Stadt etwa zwanzigtausend Menschen gelebt haben. Die sozialen Unterschiede waren groß. In der Unterstadt lebte die arme Bevölkerung, Tagelöhner, Landarbeiter, Bedienstete. In der Oberstadt hatten die Bessergestellten und Wohlhabenden ihre Häuser. Zu ihnen gehörten die Adligen, die nicht arbeiten mussten, und die Handwerker wie Metzger, Schuhmacher oder Bäcker. Ihre Läden gingen teilweise auf die Straße hinaus, weswegen es dort sehr lebhaft zugegangen sein muss.
Die Welt, in die Francesco hineingeboren wurde, war eine Welt im Umbruch. Das Feudalsystem, in dem es Herren und Leibeigene gab, und die Gesellschaft, die nach einer festen, gottgegebenen Ordnung gestaltet war, wurden erschüttert. Etwas Neues bahnte sich an. Frei gewordene Bauern, arbeitslose Ritter und verarmte Adlige strömten in die Städte, die nun aufblühten und nach Unabhängigkeit von Kaiser und Papst strebten. Die Städte wurden zu Zentren des sozialen und wirtschaftlichen Lebens.
Eine neue Klasse entstand: das Bürgertum. Die Angehörigen dieser Klasse ließen sich nicht mehr auf einen durch Stände festgelegten Platz in der Gesellschaft verweisen, sondern produzierten eigene Waren und trieben damit einen freien Handel. »Was jetzt zählt«, so beschreibt es der Theologe Leonardo Boff, »ist weder Landbesitz noch feudale Titulatur, sondern Arbeit, Geld, Gold, Handel und materieller Wohlstand.«7 Was sich hier in ersten Ansätzen entwickelte, sind die Kennzeichen einer modernen Welt, wie sie sich in den kommenden Jahrhunderten voll entfaltete und wie wir sie bis heute kennen. Pietro Bernardone war ein typischer Vertreter dieses neuen Bürgertums.
In einer Gasse neben der Chiesa Nuova gibt es eine Kammer, die als Verkaufsraum zum Laden des Kaufmanns Bernardone gehört haben soll. Das lässt sich nicht beweisen, ist aber durchaus möglich. Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, wie solche Läden, die zur Gasse hinausgingen, ausgesehen haben. Unbestreitbar ist dagegen, dass Bernardone ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann war. Er handelte mit Tüchern und Kleidern und es war nur Ware der besten Qualität, die man bei ihm kaufen konnte. Es gibt Dokumente, nach denen Bernardone einer Kaufmannsfamilie aus der Stadt Lucca entstammt, die nach Umbrien umsiedelte.8 Demnach konnte er die Tradition seiner Familie fortführen. Dass er aber zu einem der reichsten Männer Assisis wurde, das verdankte er allein seinem Ehrgeiz, seiner Disziplin, seinem Fleiß und seinem Geschäftssinn.
Heute würde man Pietro Bernardone als einen neureichen Selfmademan bezeichnen. Ein englischer Autor nennt ihn einen »hard-headed businessman«9, was man übersetzen kann mit »knallharter Geschäftsmann«. Das klingt nicht besonders sympathisch, doch es erkennt an, dass Bernardone jene Eigenschaften besaß, die nötig waren, um zu der neuen aufstrebenden Schicht zu gehören – dem Bürgertum. Ohne die Privilegien des Klerus und der Adligen bezog dieser Teil der Bevölkerung sein Selbstbewusstsein und seine Macht aus seinem wirtschaftlichen Erfolg – und der bemaß sich am verdienten Geld und den Gütern und Annehmlichkeiten, die man damit erwerben konnte.
Pietro Bernardone war mit seinen Geschäften nicht beschränkt auf Assisi und die Umgebung. Er unternahm weite Reisen, um seine Waren einzukaufen. Ein oder zwei Mal im Jahr machte er sich auf nach Frankreich, in die südlichen Provinzen, wo große Messen stattfanden. Bestimmt hat er sich dabei von bewaffneten Männern begleiten lassen. Da er viel Geld und wertvolle Stoffe mit sich führte, war die Gefahr, überfallen zu werden, groß. Bei diesen Reisen ging es natürlich darum, gute Geschäfte zu machen. Daneben aber lernte Pietro Bernardone auf den Märkten Menschen aus fernen Ländern kennen, er kam in Kontakt mit anderen Kulturen und fremden Sitten. Wenn er dann nach Assisi zurückreiste, hatte er nicht nur kostbare Stoffe, Schmuck und Kunstgegenstände im Gepäck, sondern auch jede Menge Geschichten und Neuigkeiten.
Er wird ein begehrter Gesprächspartner gewesen sein. Und vielleicht erzählte er seinen staunenden Zuhörern von jenen fröhlichen jungen Männern, den Troubadouren, die durchs Land zogen und über ferne schöne Frauen sangen. Oder von den abgerissenen Gestalten, die sicher nicht als seine Kunden infrage kamen, weil sie absichtlich arm sein wollten und verschlissene Wollkleider trugen. Katharer oder Waldenser nannten sie sich und behaupteten, keine Kirche und keine Priester zu brauchen, um zu leben, wie es die Bibel fordert. Bernardone empfand für diese Männer und Frauen durchaus Sympathie. Während er durch harte Arbeit sein Geld verdienen musste, schoben sich Kirchenleute gegenseitig ihre Ämter und Titel zu und ließen sich das teuer bezahlen. Überall sang man Spottlieder auf Priester, die mit Frauen zusammenlebten, Kinder zeugten und in Saus und Braus lebten, während in ihren Gemeinden die Leute hungerten.
Es wird vermutet, dass Pietro Bernardone auf einer seiner Reisen nach Frankreich seine spätere Frau kennenlernte. Ihr Name Pica, der in Italien unüblich war, deutet auf ihre französische Herkunft hin. Dafür spricht auch, dass ihr Sohn Francesco auch Französisch sprechen konnte. Es muss im Herbst 1181 gewesen sein, als Pietro Bernardone wieder zu einer seiner Frankreichreisen aufbrach. Dass Pica schwanger war und bald ihr erstes Kind zur Welt bringen würde, hielt ihn nicht auf. Das Geschäft war wichtiger. Als er nach langer Abwesenheit zurückkam, war das Kind, ein Junge, schon geboren und es hatte auch schon einen Namen. Pica hatte ihn Giovanni taufen lassen, also Johannes.
Jetzt zeigte sich, wer im Hause Bernardone das Sagen hatte. Dem Vater gefiel der Name nicht und er bestimmte, dass sein Sohn Francesco heißen solle. Dieser Vorname war noch ungewöhnlicher als Pica, denn kein italienischer Vater wäre auf die Idee gekommen, seinen Sohn »kleiner Franzose« oder »Franzmann« zu nennen. Aber Pietro Bernardone stand noch ganz unter dem Eindruck seiner Reise nach Frankreich und diese Umbenennung war Ausdruck seiner Wertschätzung für jenes Land oder vielmehr seiner geschäftlichen Beziehungen dorthin. Und ohne Zweifel waren mit diesem Namen Erwartungen verbunden – die Erwartung vor allem, dass Francesco einmal im Familienbetrieb mitarbeiten und seinen Vater auf dessen Reisen nach Frankreich begleiten würde.
Dieses Machtwort bei der Namensgebung seines ersten Kindes sagt sehr viel aus über Pietro Bernardone und sein Verhältnis zu seinem Sohn. So wie er ihm den Namen gab, den er wollte, so bestimmend sollte er in Francescos Leben eingreifen, jedenfalls in der ersten Hälfte von dessen Leben. Dabei war Pietro Bernardone kein Despot. Wenn Francescos Gefährten später behaupteten, die Eltern hätten ihn zärtlich geliebt, so darf man das glauben. Nur müsste man einwenden, dass diese Liebe nicht ganz selbstlos war. Und darin liegt ein Widerspruch. Denn Liebe sollte ihrem Wesen nach ohne Wenn und Aber sein und nicht abhängig gemacht werden von einem gewünschten Verhalten. Ist sie an Erwartungen gebunden, entsteht eine geradezu teuflische Mischung. Einerseits wird eine vorbehaltlose Annahme versprochen, andererseits mit Liebesentzug gedroht. Die Folge ist eine Liebe, die fesselt und nicht befreit.
Die Fesseln dieser zwiespältigen Liebe hat wohl niemand schmerzhafter empfunden als ein anderer Franz, der siebenhundert Jahre nach Franz von Assisi lebte und Franz Kafka hieß. Auch sein Vater hatte ein Geschäft, in dem er modische Artikel verkaufte. Auch er war der Sohn, der zum Nachfolger bestimmt war. Dabei war sein größter Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen und seine Geburtsstadt Prag zu verlassen. Was ihn davon abhielt, war die Liebe seiner Eltern, die er als »Krallen« empfand. Jeder Fluchtversuch wurde durch schlechtes Gewissen vereitelt. Das »Entsetzliche« war für Franz Kafka, dass sich die Eltern nicht aus böser Absicht so verhielten, sondern aus Liebe.
Von der Chiesa Nuova sind es nur wenige Schritte bis zur Basilica di Santa Chiara, die der heiligen Klara geweiht ist. Es geht schon auf Mittag zu und die Sonne sticht von einem wolkenlos blauen Himmel. Auf dem großen Platz vor der Kirche suchen die Menschen nach Schatten. Nur einem kleinen Jungen scheint die Hitze nichts auszumachen. Beobachtet von seiner Mutter, läuft er einer Taube hinterher, die aufflattert, wenn er ihr zu nahe kommt. Der Junge dürfte drei oder vier Jahre alt sein und gibt nicht auf. Sobald die Taube wieder auf dem Pflaster landet, rennt er ihr nach.
Ich frage mich, ob auch der kleine Francesco hier Tauben gejagt hat. Es gibt so viele Legenden über ihn. Eigentlich müsste es auch eine geben, in der erzählt wird, wie er, der später ein so inniges Verhältnis zu Vögeln hatte, schon als Kind mit ihnen gespielt hat. Aber eine solche Legende würde ihm etwas andichten, was er als Kind noch nicht hatte, noch nicht war. Ich glaube, Francesco war ein ganz normaler Junge, der sich mit seinen Freunden in den Gassen herumtrieb. Irgendwann begann auch für ihn der Ernst des Lebens und er musste in die Schule gehen. Da, wo jetzt die Basilica di Santa Chiara steht, stand früher die kleine Kirche San Giorgio, in der die Kinder von Geistlichen unterrichtet wurden. Anhand biblischer Texte lernten sie Lesen und Schreiben und die Grundlagen der lateinischen Sprache.
Eine besondere Leuchte scheint Francesco nicht gewesen zu sein. Als Erwachsener scheute er das Schreiben, und die wenigen Briefe, die von ihm erhalten sind, sind voller Fehler. Seinen Eltern dürften die mäßigen schulischen Leistungen wenig ausgemacht haben. Schließlich sollte Francesco kein Gelehrter oder Priester werden, sondern ein Kaufmann. Und dazu brauchte er kein Latein.
In San Giorgio wird Francesco von den Übungen in lateinischer Grammatik gelangweilt gewesen sein. Hellwach wurde er dagegen sicherlich, wenn die Padres davon erzählten, wie ihre Kirche zu ihrem Namen kam. Es ist die Geschichte vom heiligen Georg, einem strahlenden Ritter, der einen Drachen tötet und eine Prinzessin befreit. »Ritter« – das war für alle Kinder im Mittelalter ein magisches Wort, ein Ideal, von dem sie träumten. Für Francesco scheint diese schillernde Gestalt von großer Faszination gewesen zu sein und sie muss tiefe Sehnsüchte in ihm geweckt haben. Nicht anders ist es zu erklären, dass er als junger Mann wie besessen war von dem Wunsch, ein Ritter zu werden. Noch als armer Vagabund verglich er sich und seine Kameraden mit König Artus und seinen Gefährten, den Rittern der Tafelrunde.
Das Kind Francesco hat also schon mehr im Kopf gehabt als den vom Vater angestoßenen Wunsch, ein guter Kaufmann zu werden. Francesco war ein Träumer. Und er versuchte, seine Träume zu verwirklichen, auch den, ein Ritter zu werden. Wenn man sich vor Augen hält, was er dazu alles unternommen hat, wird man den Eindruck nicht los, dass hinter diesem Traum etwas anderes steckt, eine Art Durst nach etwas Idealem, Großem. Eine unbestimmte Sehnsucht treibt ihn an, die sich an einem Bild, einer Gestalt festmacht, die ihn lockt wie ein fernes Ziel. Dass Menschen eine solche vorwärtstreibende Kraft in sich haben können, ist oft beschrieben worden. Teresa von Ávila, die zweihundert Jahre nach Franziskus lebte, spricht von einem »Lockruf«, von »Durst« oder »Sehnsucht«.10 Der Dichter Hermann Hesse nennt dieses innere Drängen »Eigensinn« und vergleicht es mit einer Stimme, der man folgen muss, um zu werden, der man werden soll. Für den Philosophen Jean-Paul Sartre ist es ein Gefühl, als würde man von irgendjemandem ersehnt: »Man erwartet dich.«11Wer oder was einen erwartet, weiß man allerdings nicht, zu vage ist dieser Antrieb. Und es kann durchaus sein, dass ein Ziel, das man verfolgt hat, sich als Trug erweist. Man hat sich getäuscht. Das war es noch nicht. Die Suche geht weiter.
Kindheit im Mittelalter war kurz. Spätestens mit vierzehn Jahren galt man als erwachsen und wurde als Erwachsener behandelt. Francesco stand in diesem Alter im Geschäft und bediente die Kunden. Sehr zur Zufriedenheit seines Vaters, wie man annehmen darf. Nicht nur wusste er über die Beschaffenheit aller Tücher und Stoffe bestens Bescheid, er hatte auch eine besondere Art, mit den Leuten umzugehen. Alle Zeugnisse stimmen darin überein, dass Francesco eine Frohnatur war, und das machte sich bestimmt auch im Geschäft bezahlt. Ließen sich die Kunden nicht gern von jemandem beraten, der immer gut aufgelegt war und seine Späße machte?
Dem Vater, der eher ernst und sachlich war, konnte das nur recht sein. Weniger recht war es ihm, dass der Sohn auch nach der Arbeit so ruhelos war. Er konnte nicht ruhig am Familientisch sitzen, so ungeduldig war er, sich mit seinen Freunden zu treffen, die schon auf ihn warteten. Und wenn er dann spät nach Hause kam, schliefen alle schon. Solange Franz am nächsten Tag an seinem Arbeitsplatz war, sagte der Vater nichts. Insgeheim war er wohl auch ein wenig stolz auf seinen Sohn, der das Leben so genießen konnte.