Der Brandstifter - Alois Prinz - E-Book

Der Brandstifter E-Book

Alois Prinz

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Beschreibung

Wie konnte es zu diesem Wahnsinn kommen?

Er war der geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus. Sein Name gilt als Inbegriff des skrupellosen Demagogen und der Massenmanipulation: Joseph Goebbels.

Was wir heute als »fake news« und »Verschwörungstheorien« kennen, hat er als »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda« in einer bis dahin unbekannten Weise als Mittel der Politik eingesetzt und perfektioniert. Der »Triumph der Lüge«, den er anstrebte, führte zu Terror, Krieg und Massenmord.

Wer die Mechanismen der Täuschung und Desinformation verstehen will, muss auch die Lebensgeschichte dieses Mannes kennen, der zum Meister der Verführung nur werden konnte, weil er gelernt hatte, sich selbst zu betrügen.

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Seitenzahl: 396

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Cover

Titel

ALOIS PRINZ

DER BRANDSTIFTER

DIE LEBENSGESCHICHTE DES JOSEPH GOEBBELS

MIT ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN

INSEL VERLAG

Impressum

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Erstpublikation: Beltz & Gelberg, Weinheim, Basel 2011

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5117.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: akg-images/TT News Agency

eISBN 978-3-458-78189-9

www.insel-verlag.de

Motto

»Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.«

Hannah Arendt, Brief an Gershom Sholem vom 20. Juli 1963

»Wer sich selbst belügt und seine eigenen Lügen anhört, kommt schließlich so weit, dass er keine Wahrheit mehr, weder in sich noch außer sich, zu erkennen vermag und daher sich selber wie auch andere zu missachten beginnt. Wer jedoch niemanden achtet, hört auf zu lieben.«

Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Motto

Inhalt

PROLOG. »FÜR UNSERE KINDER«

I.JÜPPCHEN. OKTOBER 1897 – APRIL 1914

II.»SIEH NACH DEN STERNEN!«. AUGUST 1914 – MAI 1918

III.DIE HÖHERE TOCHTER UND DER HABENICHTS. MAI 1918 – OKTOBER 1920

IV.GELD UND GLAUBE. NOVEMBER 1921– AUGUST 1924

V.VERHUNZUNGEN. AUGUST 1924 – OKTOBER 1926

VI.MIT TERROR UND HÄRTE ZUM ZIEL. NOVEMBER 1926 – DEZEMBER 1929

VII.DIE LÜGEN DER ANDEREN. JANUAR 1930 – JANUAR 1933

VIII.»WIDERSTAND AUSSICHTSLOS!«. JANUAR 1933 – JULI 1934

IX.»WIE SEHR MICH DIE LEUTE LIEBEN!«. MÄRZ 1936 – OKTOBER 1938

X.WIE EINE MIKROBE IM WELTALL. NOVEMBER 1938 – JUNI 1941

XI.DER SCHMIED DER DEUTSCHEN SEELE. JUNI 1941 – FEBRUAR 1944

EPILOG. TRIUMPH DER LÜGE

ZEITTAFEL

BIBLIOGRAFIE

QUELLENVERZEICHNIS

Informationen zum Buch

PROLOG[1] 

»FÜR UNSERE KINDER«

In der Nacht zum 28. Oktober 1944 heulten wieder die Sirenen. Englische Kampfbomber vom Typ Moskito näherten sich Berlin. Die Schäden, die sie anrichteten, waren gering, doch diese nächtlichen Angriffe zehrten an den Kräften der Menschen. Die feindlichen Flieger sorgten dafür, dass den Bewohnern keine langen Atempausen vergönnt waren. Sie mussten in Luftschutzräumen Zuflucht suchen, wurden um ihren Schlaf gebracht und saßen viele Stunden in dunklen Kellern, immer in der Angst, dass dieses Mal ihr Haus getroffen werden könnte.

Viel schlimmer als diese Nadelstiche der englischen Moskitos waren die flächendeckenden Bombardements der amerikanischen Luftwaffe, mit denen seit Anfang März auch tagsüber gerechnet werden musste. Verbände von Hunderten von Flugzeugen verdunkelten den Himmel und entluden ihre Bombenlast auf die Stadt. Begleitet und gesichert wurden diese Bomber von neuen Jagdflugzeugen, gegen die die schwerfälligen deutschen Jäger wenig ausrichten konnten. Auch in der Luft war das deutsche Militär in die Defensive geraten.

Viele Einwohner hatten die Stadt verlassen oder zumindest ihre Kinder aufs Land geschickt. Wer geblieben war, der versuchte irgendwie zu überleben. Die Menschen hausten in einsturzbedrohten Häusern, in Zimmern ohne Heizung und Strom. Brot war Mangelware. Die Versorgung der Bevölkerung war auf das Notwendigste beschränkt. Das gehörte zur totalen Mobilmachung, die von den nationalsozialistischen Machthabern ausgerufen worden war. Auf alles Überflüssige, nicht Notwendige sollten die Menschen verzichten, um ihre ganze Kraft und Energie einzusetzen für den Kampf gegen den Feind. Nur mit äußerster Entschlossenheit und strengster Disziplin, so die verbreitete Botschaft, sei die entscheidende Wende in diesem Krieg herbeizuführen. Aber wer glaubte noch an diese Wende, an die Wunderwaffe und an den Endsieg?

Im Stadtzentrum, im Regierungsviertel, hatte man schon vor den ersten Luftangriffen Vorkehrungen getroffen, um die Verwaltungsgebäude und kulturhistorischen Bauwerke zu schützen. Vom Brandenburger Tor bis zum Tiergaren waren riesige Tarnnetze gespannt worden. Auf dem Adolf-Hitler-Platz hatte man Hausattrappen aufgestellt, um die feindlichen Flieger zu täuschen. Genutzt hatte es nicht viel. Vom Rüstungsministerium am Pariser Platz standen nur noch ein paar Mauern. Die alte Reichskanzlei, der Firmensitz der IG Farben, das Hotel Bristol, die Zentrale der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und das Haus des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße – alle waren schwer beschädigt oder ausgebrannt.

Einige Ministerien hatten ihre Büros nach außerhalb verlagert. Doch im Propagandaministerium an der Wilhelmstraße gingen die Mitarbeiter noch ein und aus. Das altehrwürdige Gebäude hatte noch nicht viel gelitten. Kleinere Schäden waren schnell wieder repariert worden und die kaputten Fenster hatte man notdürftig mit Pappe und Brettern abgedeckt.

Chef dieser riesigen Behörde war der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Dr. Joseph Goebbels. Der kleine, schmächtige Mann mit dem Klumpfuß gehörte zu den engsten Vertrauten des »Führers« Adolf Hitler und war einer der mächtigsten Männer im nationalsozialistischen Deutschland, obwohl er selbst der Meinung war, dass seine Fähigkeiten unterschätzt wurden und er eine viel einflussreichere Position einnehmen müsste. Seit 1939 befand sich Deutschland im Krieg, und im Krieg standen die Generäle im Mittelpunkt. Er, Goebbels, hatte den Krieg in den Köpfen der Menschen vorbereitet, und er musste weiter dafür sorgen, dass sie an die Ideale der nationalsozialistischen Weltanschauung glaubten und vom Endsieg überzeugt waren. Nach der verheerenden Niederlage der deutschen Truppen in Stalingrad hatte Goebbels jedoch jeden Respekt vor den Militärs verloren. Wäre es nach ihm gegangen, dann wären die Russen nicht so weit nach Westen vorgerückt, dann würden amerikanische und englische Flieger jetzt nicht deutsche Städte bombardieren.

Im Februar 1943 hatte Goebbels in einer Rede im Berliner Sportpalast den »totalen Krieg« gefordert. Man hatte ihm dafür begeistert zugejubelt. Doch um seine Ideen auch in die Wirklichkeit umzusetzen, hatte es ihm an der nötigen politischen Macht gefehlt. Erst nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf den »Führer« Adolf Hitler war Goebbels zum »Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz« ernannt worden. Endlich konnte er geeignete Befehle geben und hart durchgreifen. Aber das alles kam, so befürchtete er, zu spät. »Zu spät«, das war die ständige Klage, die man von ihm zu hören bekam.

Trotzdem schrieb Goebbels weiter seine Artikel in der Wochen-Zeitung Das Reich und hielt Ansprachen im Rundfunk. Er wurde nicht müde, immer wieder zu erklären, dass die Menschen in Deutschland ihr Schicksal selber in der Hand hätten. Sie müssten nur mit wilder Entschlossenheit unbeirrbar an die eigenen Ziele glauben. Für Drückeberger, Zauderer und Mutlose sei dabei kein Platz. Ihnen drohte Goebbels mit den härtesten Strafen. Was er sich wünschte, das war, wie er schrieb, ein »Volk von Fanatikern«[1] .

Am Nachmittag des 28. Oktober ließ Goebbels seinen Chauffeur kommen. Er wollte den Abend mit seiner Familie und einigen Freunden verbringen. Es war der Vorabend seines Geburtstags. Am Sonntag wurde er 47 Jahre alt. Aus diesem Anlass hatte er eine kleine Runde von Weggefährten eingeladen. Die gepanzerte schwarze Mercedes-Limousine fuhr aus der Innenstadt in Richtung Norden. Eine knappe Stunde dauerte die Fahrt bis zum »Wochenendhäuschen«, wie Goebbels das weitläufige Anwesen mitten im Naturschutzgebiet nahe dem Dorf Lanke nannte. Das Grundstück war ein Geschenk der Stadt Berlin an ihren Gauleiter. Zu ihm gehörte ein Blockhaus am Bogensee, das allerdings den Ansprüchen des Ministers nicht genügte. Goebbels hatte am gegenüberliegenden Ufer einen Landsitz bauen lassen, der Platz genug bot für die Familie, für das Personal und für Gäste und der an Luxus nichts zu wünschen übrig ließ. Seit Kurzem war es, kriegsbedingt, zum Lebensmittelpunkt der Familie geworden.[2] 

Der eigentliche Familiensitz der Goebbels war ein Anwesen auf der Havel-Insel Schwanenwerder im Westen Berlins. Aber nachdem der Aufenthalt dort durch die vielen Luftangriffe immer unangenehmer geworden war, hatten Goebbels und seine Frau Magda Anfang August 1943 den Umzug in das Haus am Bogensee beschlossen. Nur von ferne sah man dort manchmal den Feuerschein über Berlin und hörte das Bellen der Flakgeschütze und den Einschlag der Bomben.

Joseph Goebbels freute sich jedes Mal, seine sechs Kinder zu sehen. Sie waren, wie er in seinem Tagebuch beteuerte, sein größter Schatz. Schon vor vielen Jahren, als er noch kein Vater war, hatte er einmal geschrieben, Kinder seien »gute Gedanken Gottes«[3] , weil er sich mit ihnen unterhalten könne, ohne das dauernde Gefühl zu haben, betrogen zu werden. Seinen vorletzten Artikel für das Reich hatte Goebbels überschrieben mit Für unsere Kinder.

Darin forderte er seine Landsleute auf, für die Zukunft ihrer Kinder alle Leiden und Entbehrungen auf sich zu nehmen und bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Die »Kräfte der Finsternis« dürften nicht den Sieg davontragen. Den Kindern sei man es schuldig, dass die Kräfte des Lichtes sich als die stärkeren erwiesen. Denn sie hätten das Recht, in einem freien, souveränen Staat zu leben. Wenn aber der Krieg verloren würde, dann wäre die Zukunft ein unerträgliches »Dasein in der Hölle«. »Es ist also mehr als eine landläufige Phrase«, so schrieb Goebbels, »dass wir diesen schweren Kampf um unsere Existenz für unsere Kinder und alle kommenden deutschen Generationen auszufechten haben.«[4] 

Goebbels hatte sich von Berlin aus schon telefonisch angemeldet, und als sein Mercedes vor dem Hause hielt, warteten zwischen den Säulen des Portals schon seine Frau Magda und die Kinder, nach Größe und Alter aufgereiht. Sie waren alle ausnehmend hübsch. Und ihre Vornamen begannen alle mit einem »H«. Helga, die Älteste, war zwölf Jahre alt und der ausgesprochene Liebling des Vaters. Mit ihr machte er lange Spaziergänge und konnte sich mit ihr schon über ernste, politische Dinge unterhalten. An Helga hatte auch Adolf Hitler einen Narren gefressen. Schon als ganz kleines Mädchen durfte sie »Onkel Führer«, wie ihn die Kinder nannten, besuchen, auf seinem Schoß sitzen und mit ihm plaudern. Hilde, zehn Jahre alt, hatte die schönsten Augen. Sie liebte Tiere, ihr gehörten auch mehrere Hunde, und es stand für sie fest, dass sie einmal eine Bäuerin werden wird.

Helmut, der einzige Sohn, war neun Jahre alt. Er war ein netter, ruhiger Junge mit einem kleinen Sprachfehler. Für den Geschmack des Vaters war er aber zu ruhig und verträumt, und es gefiel ihm auch nicht, dass Helmut, als er gefragt wurde, was er denn einmal werden wolle, nicht »Soldat« geantwortet hatte, sondern »S-Bahn-Schaffner«.

Die kleine, siebenjährige Holde, die alle nur »Holli« nannten, galt als kleines Dummchen in der Familie. Sie konnte nie ruhig sitzen und sprang und tanzte den ganzen Tag umher. Von ihren Geschwistern wurde sie oft gehänselt, weil sie schielte und weil sie sie für »doof und langweilig« hielten.

Hedda, sechs Jahre alt, war bildhübsch wie alle Goebbels-Mädchen, konnte aber auch ein kleines Biest sein und das Kindermädchen zur Verzweiflung bringen. Heide, die Jüngste, die am selben Tag Geburtstag hatte wie ihr Vater und morgen vier Jahre alt wurde, war, nach den Worten ihrer Oma, Magdas Mutter, ein »goldiges Kind«, das alle einfach gern haben mussten und das dementsprechend verhätschelt wurde.[5] 

Für die Kinder war das Haus am Bogensee ein Paradies. Sie konnten im parkähnlichen Garten mit ihren Puppen, den Katzen und Hunden spielen, mit dem Kindermädchen Spaziergänge in den Wald machen oder im See baden. Es stand sogar eine Kutsche mit zwei Ponys samt Kutscher für Ausflüge bereit und die älteren Kinder wurden damit in die Dorfschule nach Wandlitz gefahren.

Zu besonderen Anlässen wurden Reporter und Fotografen der großen Illustrierten eingeladen, um über die Vorzeigefamilie zu berichten und Aufnahmen in häuslicher Atmosphäre zu machen. Magda Goebbels ließ auch kurze Filme von ihren Kindern drehen, die dann in den Wochenschauen gezeigt wurden. Alleine im Jahr 1942 waren die Goebbels-Kinder 34-mal in den Kinos zu sehen. Joseph Goebbels benutzte diese Aufnahmen auch für einen Propagandafilm, mit dem bewiesen werden sollte, wie gerechtfertigt es war, »lebensunwertes Leben« auszumerzen. Den schönen Töchtern des Ministers wurden darin die abstoßenden Bilder von geistig und körperlich behinderten Kindern gegenübergestellt.

Am späten Nachmittag trafen die Gäste ein. Darunter waren Filmschauspieler, der Staatssekretär Werner Naumann und der Journalist Hans Schwarz van Berk. Es gab Kaffee, Cognac und Kuchen. Der Tisch mit den Geburtstagsgeschenken füllte sich reichlich. Ein wertvoller Druck stand darauf, ein Ölgemälde und eine Bronzefigur. Hitler hatte einen Präsentkorb geschickt mit Obst, Wein, Spirituosen und 2000 Zigaretten. Nach dem Essen begab sich die Gesellschaft in den Filmraum, um die neue Wochenschau anzusehen. Goebbels war sehr zufrieden damit, vor allem, weil darin die Verbrechen der russischen Soldaten an der Zivilbevölkerung so eindringlich angeprangert wurden.

Später saßen alle am Kamin, in dem ein Feuer prasselte, und unterhielten sich über vergangene Zeiten. Goebbels erzählte gern von seiner Kindheit in dem kleinen Städtchen Rheydt. Eine Minute vor Mitternacht läutete das Telefon. Hitler war am Apparat und gratulierte seinem Minister zum Geburtstag. Er wollte auch Magda sprechen. Zu ihr hatte er ein ganz besonderes Verhältnis. Hitler war Trauzeuge bei der Hochzeit gewesen. Und als die Ehe wegen Goebbels’ notorischer Untreue zu zerbrechen drohte, war Hitler es gewesen, der eingeschritten war und Goebbels wieder zur Vernunft gebracht hatte. Manche behaupteten sogar, dass die schöne und elegante Magda Goebbels Hitlers geheime Liebe sei. Sie blieb lange im Nebenraum am Telefon und kam dann ganz aufgeregt und mit Tränen in den Augen zu den Gästen zurück. Hitler hatte ihr versprochen, dem deutschen Volk zu Weihnachten einen großen militärischen Triumph zu schenken.

Ebenso wie seine Frau glaubte Goebbels unerschütterlich an den »Führer«. Wenn er Zweifel daran hatte, ob der Krieg gewonnen wird, dann lag das an Männern wie dem Reichsluftfahrtminister Hermann Göring oder dem Außenminister von Ribbentrop, die er für unfähig hielt. Hitler war über jeden Zweifel erhaben, und Goebbels hatte fest damit gerechnet, dass der »Führer« noch einen Trumpf aus dem Ärmel zieht und wieder die Initiative übernimmt.

Goebbels wollte als Verteidiger Berlins seinen Teil dazu beitragen. Er hatte angeordnet, alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren zur »Verteidigung des Heimatbodens« heranzuziehen. Wer sich weigerte, war, so eine Anordnung, »augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen«[6] . An den Laternenpfählen in Berlin hingen die »Verräter«, mit einem handgeschriebenen Zettel um den Hals, auf dem zu lesen war: »Ich habe meine Pflicht gegen Frau und Kinder vergessen.«

Mitte November nahm Goebbels auf dem Wilhelmsplatz eine Parade des neu gebildeten »Volkssturms« ab und hielt eine kämpferische Rede. Vor ihm angetreten waren alte Männer und Jugendliche, die fast noch Kinder waren. Manche hatten als Waffe nur einen Spaten. Wer wusste, wie nahe die russischen Truppen waren und wie gut sie ausgerüstet waren, der konnte in diesem erbarmungswürdigen Haufen nur ein Todeskommando sehen.

Das Weihnachtsgeschenk des »Führers« an sein Volk fiel enttäuschend aus. In der Ardennenoffensive mussten die deutschen Kräfte nach anfänglichen Erfolgen wieder den Rückzug antreten. Entsprechend bedrückt war die Stimmung beim Weihnachtsfest der Familie Goebbels auf ihrem Landsitz. Von den schön angezogenen Kindern wurden Aufnahmen gemacht. Es sind die letzten Fotos, auf denen die Goebbels-Kinder noch lebend zu sehen sind.

Im Januar des neuen Jahres rückten die sowjetischen Panzer bis an die Oder vor. Berlin wurde überschwemmt von verzweifelten Flüchtlingen aus dem Osten, die ihre Heimat verloren hatten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann auch die östlichen und nördlichen Außenbezirke Berlins in die Reichweite der russischen Kanonen kommen würden.

Am 21. Januar 1945 fuhr Goebbels mit seinem persönlichen Adjutanten Wilfred von Oven hinaus ins winterlich verschneite Lanke. Die Kinder spielten im Schnee oder auf dem zugefrorenen See. Goebbels hing fast ununterbrochen am Telefon. Ratlose Gauleiter aus den östlichen Gebieten baten um Hilfe oder wollten wissen, ob sie kapitulieren oder weiterkämpfen sollten. Kapitulation kam für Goebbels nicht infrage.

Abends saß er mit seiner Frau und seinem Adjutanten am Kamin. Goebbels starrte in die Flammen, fuhr sich durch die Haare und klagte immer wieder, dass alles »zu spät« sei. Magda bekannte, dass sie sich schon längst damit abgefunden habe, zu sterben, wenn das nationalsozialistische Deutschland unterginge. Und was mit den Kindern sei, wollte von Oven wissen. Die dürfe sie nicht einer »jüdischen Rachsucht« schutzlos ausliefern, meinte Magda. Jedenfalls sage ihr das ihre Vernunft. Wenn sie die Kinder allerdings vor sich sehe, wehre sich in ihr alles gegen diesen Gedanken.

Goebbels wollte seine Frau trösten und meinte: »Weißt du, Süßing, man muss sich in verzweifelten Situationen wie dieser auf den Standpunkt Friedrichs des Großen stellen, der sich in Gedanken auf einen fernen Stern versetzte, von dem aus die Ereignisse auf unserem Planeten, so ungeheuer wichtig sie uns erscheinen, ganz unbedeutend wirken.«

»Du magst recht haben«, antwortete ihm Magda, »aber Friedrich der Große hatte keine Kinder.«[7] 

In einem seiner nächsten Artikel empfahl Goebbels seinen Lesern, in diesen stürmischen Zeiten »in die fragenden Augen unserer Kinder zu schauen« und dann so zu handeln, dass man sich »für alle Zukunft nicht ihren Fluch, sondern ihren Segen« verdiene.[8]  Hatte er selbst seinen Kindern in die fragenden Augen geschaut? Und wie wollte er nun handeln, um sich ihren Segen zu verdienen?

Einen sicheren Ort in und um Berlin gab es nicht mehr. Goebbels hatte die Wahl zwischen den Panzern und Kanonen der Russen und den Bomben der Amerikaner. Am letzten Januartag holte er kurzentschlossen die Familie in die Stadtwohnung, in das Ministerpalais in der Hermann-Göring-Straße, nicht weit vom Propagandaministerium. Das Gebäude war schwer beschädigt, aber der Bunker im Keller galt als sicher.

Zwei Tage später tauchten die Bomber wieder am helllichten Tag über Berlin auf. Der Angriff war ungeheuer heftig. Im Bunker des Ministerpalais herrschte drangvolle Enge. Auch das Personal der Familie und Mitarbeiter des Ministeriums suchten hier mit ihren Kindern Schutz. Als die Bomber wieder abzogen, war die Innenstadt ein brennender Trümmerhaufen. Eine schwarze Rauchwolke verdüsterte den Himmel. Verbrannte und umgestürzte Straßenbahnen versperrten die Wege. Menschen mit voll beladenen Kinderwagen oder Karren irrten umher. Rettungsmannschaften bargen Leichen oder gruben Zugänge zu verschütteten Kellern.

Auf das Dach des Propagandaministeriums waren Brandbomben gefallen und alle Fenster waren zersprungen. Goebbels ließ sofort Zwangsarbeiter einsetzen, um die Schäden zu reparieren. Währenddessen mussten alle Angestellten, eingehüllt in Mäntel und Decken, weiterarbeiten. Andere Ministerien hatten sich längst aufgelöst. Führende Nazis wie Hermann Göring hatten sich in den Süden abgesetzt und ließen sich in Lastwagen ihre persönlichen Besitztümer nachliefern.

Der »Führer« Adolf Hitler saß seit Mitte Januar im Bunker unter der Reichskanzlei. Und auch Joseph Goebbels wollte bis zum bitteren Ende in Berlin ausharren. Hitler war für ihn der Verteidiger der zivilisierten Welt. An seiner Seite wollte er für diese Welt kämpfen – oder untergehen. Jetzt, in dieser schwierigen Situation, erwies sich für Goebbels, wer wirklich an den »Führer« und seine Mission glaubte. Goebbels hatte schon als junger Mann Hitler Treue bis in den Tod geschworen, und diese Treue wollte er jetzt, da ein Weggefährte nach dem anderen das Weite suchte, unter Beweis stellen. Er teilte dem »Führer« mit, dass auch seine Frau »unter allen Umständen« mit den Kindern in Berlin bleiben wolle.[9] 

Eisern hielt Goebbels an seinem gewohnten Tagesablauf fest und duldete bei seinen Mitarbeitern keine Nachlässigkeiten und schon gar keine Fluchtversuche. Eine Sekretärin, die nicht zum Dienst erschien, ließ er von der SS zu Hause abholen und zur Flugabwehr versetzen, wo sie zwei Tage später ums Leben kam. Goebbels selbst hielt weiter Konferenzen ab, sprach im Rundfunk und diktierte jeden Tag einem Stenografen seine Tagebucheintragungen. Dieses Tagebuch war ihm ungemein wichtig. Es sollte erhalten bleiben und späteren Generationen zeigen, wie sich die historischen Ereignisse wirklich abspielten und welch prägende Rolle er darin einnahm.

Mitte März wurde das Propagandaministerium durch eine Bombe zerstört. Goebbels ließ einen Teil der Büros in den Keller verlagern und zog mit seinem engsten Mitarbeiterstab in das Ministerpalais. Zwischen Feldbetten und Schreibtischen spielten seine Kinder und freuten sich, dass sie nun schulfrei hatten. Im Palais wurde es für die Familie bald zu eng und zu gefährlich. Goebbels schickte seine Frau und die Kinder Ende März nach Schwanenwerder. Der erneute Umzug ging über Magdas Kräfte. Sie bekam wieder ihre Herzbeschwerden und musste sich ins Bett legen.

Ihrem Mann ging es gesundheitlich noch schlechter. Er litt an Magengeschwüren, und seine Haut juckte zeitweise so stark, dass ihm schon das Tragen seiner Kleider Schmerz bereitete. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, ernährte sich nur noch von Keksen und trank Liköre, um seine Bauchschmerzen zu lindern. Nach außen hin erlaubte er sich jedoch keine Schwäche und duldete sie auch bei anderen nicht. Als im Stadtteil Rahnsdorf eine ausgehungerte Menge einen Bäckerladen stürmte, ließ er zwei der Beteiligten noch in der Nacht enthaupten. »So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will«, diktierte er in sein Tagebuch.[10] 

Am 16. April um halb vier Uhr morgens setzte das Trommelfeuer der russischen Artillerie ein. Die letzte Phase im Kampf um Berlin hatte begonnen. Für Goebbels war dieser Kampf noch lange nicht entschieden. In seiner Rede zum 56. Geburtstag von Adolf Hitler beschrieb er den »Führer« als »Werkzeug Gottes«, der mit göttlicher Hilfe »Luzifer« wieder in den Abgrund schleudern werde.[11]  Die Werkzeuge Hitlers sollten wiederum die deutschen Frauen und Männer sein und, in dieser äußersten Gefahr, auch Kinder. In seinem letzten Artikel stellte Goebbels sich vor, wie »Knaben und Mädchen« todesverachtend den Feind mit Handgranaten und Tellerminen bewerfen oder ihn aus Kellerlöchern beschießen.[12] 

Im Haus auf Schwanenwerder waren Goebbels’ Kinder noch relativ sicher. Bisher war auf diese Gegend noch keine Bombe gefallen. Am Abend des 19. April schliefen die Kinder schon in ihren Betten, als gegen zehn Uhr das Telefon läutete. Es war Joseph Goebbels. Er wollte, dass seine Frau die Kinder weckt und sofort mit ihnen zu ihm nach Berlin kommt. Magda packte das Nötigste zusammen. Ein bereitgestelltes Auto fuhr sie und die Kinder durch die dunkle, nur von Einschlägen und Bränden erleuchtete Stadt zum Regierungsviertel.

Im Stadtpalais war nur noch ein kleiner Kreis von Mitarbeitern und Personal übrig geblieben. Die Fenster waren vernagelt und nur Kerzenlicht erhellte die Räume. In den Feuerpausen hielten sich die meisten der Mitarbeiter im Wandelgang des Hauses auf. Im Garten wurden Berge von Dokumenten verbrannt. Am Samstag, dem 21. April hielt Goebbels seine letzte Ministerkonferenz im Filmsaal des Palais ab. Offenbar wusste er genau, dass das Ende unmittelbar bevorstand. Vor seinen Mitarbeitern machte er auch keinen Hehl daraus, was sie alle zu erwarten hätten, sollten sie ihren Feinden in die Hände fallen. »Jetzt wird Ihnen das Hälschen durchgeschnitten«, verkündete er mit makabrem Humor.[13] 

Der nächste Tag, der Sonntag, war chaotisch. Viele Angestellte im Palais warteten darauf, endlich fliehen zu dürfen. Solange der Minister im Haus war, wagte das niemand. Zu tun gab es nichts mehr. Goebbels’ persönliche Adjutanten von Oven und Günther Schwägermann schossen im Garten mit ihren Maschinenpistolen auf die tief fliegenden russischen Jagdflugzeuge. Goebbels telefonierte mit Hitler und eilte dann in den Führerbunker, um mit dem aufgebrachten und verzweifelten Hitler hinter verschlossenen Türen zu reden.

Zurück in seinem Palais, wies Goebbels seinen Adjutanten von Oven an, alle Vorbereitungen zu treffen für den Umzug seiner Familie in den Führerbunker. Dem Kindermädchen wurde befohlen, die Kinder fertig zu machen. Sie freuten sich darauf, zu »Onkel Führer« in dessen Bunker zu dürfen, und unterhielten sich darüber, ob sie dort Schokolade und Kuchen bekommen würden. Nur das Nötigste wolle sie mitnehmen, meinte Magda Goebbels, mehr brauche man jetzt nicht mehr. Sie machte einen apathischen Eindruck. Und als sich von Oven von ihr verabschieden wollte, hob sie nur verzweifelt ihre Arme und sagte: »Wir müssen uns alle vergiften.«[14] 

Zwei Mercedes-Limousinen warteten vor dem Haus. Goebbels, seine Frau und Helga, das älteste der Kinder, stiegen in den ersten Wagen. Hilde, Helmut, Holde, Hedda und Heide nahmen im zweiten Platz. Die Autos fuhren durch das Eingangstor, dessen eiserne Flügeltüren hinter ihnen scheppernd zufielen.

Zehn Tage später, am 2. Mai 1945, entdeckten sowjetische Offiziere vor dem Eingang zum Führerbunker die angekohlten Leichen eines Mannes und einer Frau. Die Leiche des Mannes war von niedrigem Wuchs und der Fuß des rechten Beines steckte in einer Metallprothese. Die Hand des Toten war mit gekrümmten Fingern nach oben gereckt. Die beiden Leichen wurden zweifelsfrei als Joseph und Magda Goebbels identifiziert. Sie hatten sich, wie sich später herausstellte, das Leben genommen und waren anschließend von Helfern mit Benzin übergossen und angezündet worden. Im Bunker wurden in einem Nebenraum sechs tote Kinder gefunden. Sie waren mit leichten Nachthemden bekleidet und waren offenbar vergiftet worden.[15] 

Was sich in den letzten Stunden im Führerbunker abgespielt hat und wie die Kinder getötet wurden, darüber gibt es verschiedene Berichte, die sich teilweise widersprechen. Wahrscheinlich ist aber, dass Magda Goebbels den Kindern erzählt hat, sie würden eine »Traumreise nach Schwanenwerder« machen, woraufhin der SS-Arzt Helmut Gustav Kunz ihnen Morphium spritzte. Die älteren Kinder sollen sich gewehrt haben und mussten mit Gewalt festgehalten werden. Als die Kinder eingeschlafen waren, wollte Magda Goebbels, dass Kunz ihnen das tödliche Gift verabreicht. Doch der weigerte sich und so musste die Mutter diese Aufgabe selbst übernehmen. Sie ging ins Zimmer, wo die Kinder schlafend in ihren Stockbetten lagen, schob jedem Kind eine Zyankali-Kapsel in den Mund und zerdrückte sie dann.

Der Vater Joseph Goebbels hatte sich an der Tötung seiner Kinder nicht beteiligt, jedenfalls nicht aktiv, aber alles geschah mit seinem Einverständnis, ja, nach seinem Willen. Er selbst hielt sich während dieser schaurigen Vorgänge im Hintergrund. Es war bekannt, dass der Minister den Anblick von Toten und Verletzten nicht ertragen konnte und sich auch abwandte, wenn in einem Wochenschaufilm allzu blutige und brutale Szenen gezeigt wurden. Joseph Goebbels versuchte, Haltung zu bewahren, und das gelang ihm offenbar auch. Sein Adjutant Günther Schwägermann gab später zu Protokoll, dass sein Chef trotz spürbarer innerer Spannung nach außen völlig »ruhig und sicher« geblieben sei.[16] 

Nur wenige Stunden nach dem Tod der Kinder stiegen Joseph und Magda Goebbels Arm in Arm die Treppen hoch zum Ausgang des Bunkers. Sie hatten Zyankali-Kapseln bei sich, die sie sich auf dem Vorplatz in den Mund steckten und zerbissen. Vermutlich schoss sich Goebbels noch eine Kugel in den Kopf.

Dass Joseph Goebbels seine Kinder mit in den Tod genommen hat, trug wesentlich dazu bei, dass seiner Person fortan etwas Teuflisches, Dämonisches anhaftete. Die erste deutschsprachige Biografie über ihn erschien mit dem Untertitel Dämon einer Diktatur, eine spätere bezeichnete ihn als Dämon der Macht, eine weitere sogar als Joseph Satan.[17]  Mit dem Teufel wurde Goebbels oft in Verbindung gebracht, nicht zuletzt wegen seiner körperlichen Behinderung. Einen »klumpfüßigen Teufel« nannte man ihn oder einen »Hinketeufel«.

Dabei hatte dieses Dämonische durchaus etwas Zwiespältiges. Einerseits gestand man Goebbels zu, der intelligenteste unter den führenden Nazis gewesen zu sein. Ja, man bewunderte seinen Charme, seine Menschenkenntnis und sein fachliches Können. Sogar seriöse Wissenschaftler mussten anerkennen, dass Goebbels als einer der Ersten erkannt hatte, welche Bedeutung den modernen Massenmedien in Politik und Wirtschaft zukommt. Andererseits waren diese »positiven« Eigenschaften sozusagen vergiftet durch Goebbels’ Charakter, seinen Zynismus, seinen Fanatismus. Der Name Goebbels stand und steht für die unheilvolle Verbindung von Intelligenz und Bosheit, von Klugheit und skrupellosem Fanatismus, von einfühlsamer Menschenkenntnis und hemmungsloser Manipulation. Goebbels wurde zum Inbegriff des Verführers, der die satanische Begabung besitzt, Menschen zu willenlosen Marionetten einer Weltanschauung zu machen.

Dieses Bild kam einer verbreiteten Stimmung im Nachkriegsdeutschland entgegen. Mit dem Ende des Krieges, in der »Stunde null« vollzog sich in den Köpfen vieler Überlebender eine erstaunliche Wandlung. Es kam ihnen vor, als würden sie erwachen aus einem bösen Albtraum, und sie konnten sich nicht mehr vorstellen, wie sie sich jemals so in die Irre hatten leiten lassen. Viele beteuerten, nichts gewusst zu haben von den Konzentrationslagern und dem millionenfachen Mord an den Juden. Sie sahen sich nicht als Täter, sondern als Opfer, verführt von einer Bande von Verbrechern und Mördern.

Dementsprechend monströs waren die Bilder vom »Führer« und seinen Helfern. Adolf Hitler wurde zur Verkörperung des Bösen in der Weltgeschichte, Joseph Goebbels zum diabolischen Verführer der Massen an seiner Seite. Ihm warf man vor, mit seiner teuflischen Kunst der Propaganda ein ganzes Volk verhext zu haben.

Diese Reduzierung der Person Joseph Goebbels auf den Prototyp des gewissenlosen Agitators birgt aber eine Gefahr. Wenn man den Faschismus in Deutschland nur als ein schreckliches Schauspiel von Verbrechern, fanatischen Hetzern, Blut-und-Boden-Rassisten und perversen KZ-Wächtern darstellt, dann schafft man monströse Feindbilder und Sündenböcke, blockiert aber ein tieferes Verständnis des Phänomens. Von solchen Monstern, Unmenschen oder Teufeln kann man sich nämlich leicht distanzieren.

Was bleibt, ist im Fall von Goebbels das Bild von einem raffinierten Agitator, der das Volk »verführt« hat und auf den die Menschen »hereingefallen« sind. Es reicht dann die empörte Verurteilung, um sich auf die moralisch und politisch richtige und sichere Seite zu bringen. Was dabei aber ungeklärt bleibt, ist, warum Goebbels eine so große Faszination ausüben konnte, warum er als Redner Tausende Menschen anlockte und in Bann zog, warum seine Ansprachen, Artikel und Filme Menschen aus allen Schichten zu gläubigen Gefolgsleuten des Nationalsozialismus machten.

Eine solche Wirkung ist nur erklärbar, wenn man in Betracht zieht, dass die Menschen nicht gegen ihren Willen verführt worden sind, sondern sich mehr oder weniger leicht haben verführen lassen. Das war nur möglich, weil er aussprach, was viele dachten, weil er hasste, was viele hassten, und weil er hoffte, was viele erträumten.

Joseph Goebbels war nicht zeit seines Lebens der Teufel, als der er vom Ende her erscheint. Als junger Mann war er ein Idealist, der sich über eine Welt empörte, die nur von Geld und Profit beherrscht wurde. Er wollte dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, die von Schönheit und sittlichen Werten bestimmt ist. Er wollte eine Aufgabe und bekam keine. Er sehnte sich nach der Liebe von Frauen und erntete meistens nur Mitleid.

Sein Schicksal war so normal und gewöhnlich, dass er es mit dem Schicksal seines eigenen Landes verbinden konnte. So wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg am Boden lag, verraten und gedemütigt, so verraten und gedemütigt fühlte sich auch der junge Goebbels. Und so, wie er zum großen Mann aufstieg, zum Gauleiter und dann zum Minister, so wollte er auch Deutschland zu alter oder neuer Größe verhelfen.

Die Frage ist, warum nach diesem Aufstieg am Schluss ein menschliches Wrack übrig blieb, Millionen Tote, ein verwüsteter Kontinent, ein zerstörtes Deutschland – und sechs vergiftete Kinder in einem Bunker in Berlin. Wie konnte aus jenen normalen Eigenschaften des Joseph Goebbels ein normaler Wahnsinn werden, der ein nicht fassbares Ausmaß an Zerstörung und Leid zur Folge hatte?

Und um dies zu ergründen – wie soll man sich einem Menschen wie Goebbels nähern? Welchen Ton soll man ihm gegenüber anschlagen? Ein Biograf, so sagt man, sollte der Person, mit der er sich monate- und jahrelang beschäftigt, zumindest einen Hauch von Nähe und Sympathie entgegenbringen. Ist das im Falle Goebbels überhaupt möglich?

Thomas Mann beschäftigte sich mit Adolf Hitler, den er verachtete, ja hasste. Moralisch höher als die Verachtung und der Hass steht für Thomas Mann jedoch eine andere Einstellung, nämlich das »Interesse«.[18]  Wer sich für jemanden interessiert, den er ablehnt oder sogar hasst, distanziert sich nach Thomas Mann nicht nur, sondern geht das Wagnis ein, sich eventuell auch wiederzuerkennen. In diesem Sinne sprach Mann vom »Bruder Hitler«, um darauf hinzuweisen, dass bestimmte Eigenschaften des »Führers« dem Künstler Thomas Mann durchaus bekannt waren, dass er um ihre Zwielichtigkeit wusste und sich ständig gegen die darin lauernden Gefahren wehren musste. Kann man auch von einem »Bruder Goebbels« sprechen?

Eine wichtige Grundlage für dieses Buch sind der größtenteils unveröffentlichte Nachlass des Joseph Goebbels und seine umfangreichen Tagebücher, die erst in den letzten Jahren vollständig ediert worden sind und eine der wichtigsten Quellen zum Verständnis des Nationalsozialismus darstellen. Tagebücher, Briefe, literarische Texte schaffen immer eine gewisse Nähe, die gerade bei einer Person wie Joseph Goebbels gefährlich sein kann. Leicht erscheint der Verfasser wie ein normaler Mensch mit guten und schlechten Eigenschaften – und wer hätte die nicht? Weit weg liegt dann die Schuld, fremd wie ein Meteor, der von einem anderen Stern auf unsere Erde gefallen ist. Aber die Schuld kommt nicht von irgendwoher. Sie kommt in die Welt als Folge menschlichen Handelns.

Und so gefährlich zu viel Nähe bei der Betrachtung eines Menschen wie Joseph Goebbels wäre, so bedenklich und fragwürdig wäre auch das Gegenteil. Je sauberer man eine Trennung ziehen will zwischen Gut und Böse, zwischen ihm und uns, zwischen uns heutigen und »denen damals«, desto mehr verkennt man sich selbst.

Es gibt einen Sog ins Dunkle, in das Amoralische, Zerstörerische. Dieser Zustand hat seine eigene Wirklichkeit, in der ein merkwürdiges Zwielicht herrscht. Es gibt anscheinend jene Kraft, die das Gute will und das Böse schafft. Dieser Kraft nachzuspüren, sie zu beschreiben, ihr gegenüber sensibel zu werden, um sie auch in der Gegenwart zu entdecken und ihr zu widerstehen, das ist die Absicht dieses Buches.

I.JÜPPCHEN

OKTOBER 1897 – APRIL 1914

Als Joseph Paul Goebbels am 29. Oktober 1897 im niederrheinischen Städtchen Rheydt geboren wurde, war er ein schwächliches Kind. Knapp ein Jahr vorher hatten seine Eltern, Fritz und Katharina Goebbels, eine Tochter verloren. Die kleine Maria war nicht lange nach ihrer Geburt gestorben. Als der zweijährige Joseph eine Lungenentzündung bekam, rechneten die Eltern schon mit dem Schlimmsten. Joseph wurde tagelang von Fieberanfällen geschüttelt. Er erholte sich wieder, blieb aber im Wachstum zurück. Nur sein Kopf schien zu wachsen. Er war im Verhältnis viel zu groß für den kleinen, kraftlosen Körper, einen Körper, der ihm auch weiterhin das Leben schwer machte.

Der Vierjährige klagte plötzlich über Schmerzen im rechten Bein. Über die Ursache waren sich die Eltern offenbar nicht im Klaren. Heute weiß man, dass Joseph Goebbels an einer Knochenmarkentzündung erkrankt war. Die Schmerzen ließen wieder nach, und man dachte schon, dass dieses Leiden überstanden sei. Er konnte sogar ohne Beschwerden einen langen Spaziergang mitmachen, den die Familie an einem Sonntag ins nahe gelegene Geistenbeck unternahm.

An den darauffolgenden Tag sollte sich Joseph Goebbels sein Leben lang erinnern. Er lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Mutter wusch Wäsche im großen Trog. Joseph wimmerte und weinte zunächst, dann schrie er. Die Schmerzen im Fuß waren wieder da, schlimmer als je zuvor. Der Masseur Scheuring wurde geholt. Er behandelte Joseph nun regelmäßig, konnte aber nicht verhindern, dass der Fuß gelähmt blieb und sich das Gelenk versteifte.

Auch die Ärzte in der Bonner Universitätsklinik waren ratlos. Sie konnten nichts dagegen tun, dass Josephs rechtes Bein allmählich verkümmerte und sich sein Fuß nach innen krümmte.[1]  Eine Apparatur wurde für ihn gefertigt, die er nun tragen musste, um seinen Fuß zu stützen und gerade zu halten. Ohne diese Prothese konnte er nicht gehen, mit ihr konnte er nur humpeln. Joseph musste sich damit abfinden, dass er ein »Krüppel« war mit einem Klumpfuß. Von da ab, so erinnerte er sich später, sei seine Jugend »ziemlich freudlos«[2]  verlaufen.

Ein körperlich behindertes Kind wächst anders auf als ein normales. Schlimmstenfalls fühlt es sich ausgestoßen oder »wie gefangen in einer fremden Welt«[3] . Seine ganze Hoffnung ist es, irgendwann als »normal« zu gelten. Wenn das nicht möglich ist, muss es sein Anderssein akzeptieren und, wie man so sagt, das Beste daraus machen. Eine andere Lösung besteht darin, die eigene Behinderung nicht als Nachteil zu sehen, sondern als Vorteil oder sogar als Auszeichnung.

Joseph war anders als die anderen. Das konnte er schon innerhalb der Familie feststellen. Er hatte zwei ältere Brüder, Konrad und Hans. Später, 1901 und 1910, kamen noch zwei Schwestern dazu, Elisabeth und Maria. Alle diese Geschwister waren mehr oder weniger »normal«. Nur Joseph fiel aus der Reihe. Im engen Kreis der Familie bekam er das nicht zu spüren. Freunde von außerhalb hatte er nicht. Ihm genügten seine Brüder, die seine besten Spielkameraden waren. Konrad und Hans nahmen Rücksicht auf ihn, ja er war sogar der umsorgte »Liebling« der Familie. Dass es ihm an Zuneigung und Pflege nicht fehlte, dafür sorgte vor allem seine Mutter.

Katharina Goebbels stammte aus sehr einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war ein Hufschmied gewesen in dem kleinen holländischen Grenzort Übach. Er starb früh, und seine Frau übersiedelte nach Deutschland, nach Rheindahlen, wo sie mit ihren sechs Kindern bei einem verwandten Pfarrer unterkam, dem sie den Haushalt führte. Katharina musste schon als junges Mädchen zum Unterhalt der Familie beitragen und wurde als Magd zu Bauern geschickt. Eine Schule konnte sie nie besuchen und hatte ihr Leben lang mit dem Schreiben und Lesen die größten Probleme. Darauf legte aber Fritz Goebbels anscheinend keinen Wert, als er die 25-jährige junge Frau in Rheindahlen kennenlernte und 1892 heiratete.

Katharina Goebbels wurde eine stille, aber nie untätige Ehefrau. Von früh bis spät war sie im Haushalt beschäftigt. Wenn es allen in der Familie gut ging, dann war auch sie zufrieden und glücklich. Tiefgläubig, wie sie erzogen war, nahm sie es auch demütig hin, dass eines ihrer Kinder benachteiligt war. Sie sah es als ihre mütterliche und christliche Pflicht, gerade diesem Kind besonders viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Fast täglich ging sie in die Marienkirche in Rheydt und nahm ihr »Jüppchen« mit. Vom Gerede der Nachbarn blieb sie aber nicht unberührt. Im katholischen Rheinland hatte ein Klumpfuß immer noch etwas Verdächtiges und Anrüchiges. War nicht der Teufel in vielen Abbildungen mit einem Klumpfuß dargestellt? Um derlei Gerede zu zerstreuen, soll Katharina Goebbels behauptet haben, dass die Behinderung ihres jüngsten Sohnes von einem unglücklichen Unfall herrühre. Er sei mit dem Fuß in einer Bank hängen geblieben, als man ihn herausheben wollte.

Ob Joseph bemerkt hat, dass auch seine Eltern und Geschwister nicht unbefangen waren, wenn die Rede auf seinen kranken Fuß kam? Die mitleidigen Blicke der Erwachsenen, wenn er an der Hand seiner Mutter zur Kirche humpelte, sind ihm sicher nicht entgangen. In der Nähe seiner Mutter fühlte er sich beschützt und geborgen. Sie war sein »fester Halt«[4]  und sie blieb es auch in den folgenden Jahren. Unter den vielen Gedichten, die der spätere Student Joseph Goebbels verfasste, befindet sich auch eines an seine Mutter mit den Worten:

»Dein Gutes Wort und Deinen Segen

Gabst Du mit auf meinen Wegen,

Und rein das Herz und froh der Mut,

Und was Du mitgabst, das war gut.«[5] 

Was Katharina Goebbels ihrem »Jüppchen« mitgab, war die Sicherheit, dass sie immer zu ihm hielt, egal was er machte oder dachte. Kritik oder gar Ablehnung hatte Joseph von seiner Mutter nie zu befürchten. Den mütterlichen Rückhalt brauchte er, als sein Lebenskreis sich erweiterte und er mit sechs Jahren in die Schule kam. Die Volksschule von Rheydt lag direkt neben dem kleinen Reihenhaus der Goebbels in der Dahlener Straße. Für Josef waren es nur ein paar Schritte zu gehen, aber dort betrat er eine andere Welt, in der andere Gesetze als zu Hause galten und in der er nicht mehr mit Schonung rechnen konnte. Freunde fand er nicht und die Lehrer konnten ihn nicht leiden. Er sei, so erklärte er es sich später, eben zu »eigensinnig« und frühreif gewesen.

Diese Erklärung gehört wohl schon zum Selbstschutz, den Joseph Goebbels im Laufe der Jahre entwickelte. Wer früh zum Außenseiter wird, der flüchtet sich in den Gedanken, den anderen überlegen zu sein, um seine Lage erträglich zu machen. Der Wahrheit näher dürfte man kommen, wenn man sich den kleinen Joseph als einen recht unansehnlichen und verschüchterten Jungen vorstellt. Die Lehrer jedenfalls sahen ihn als verstockt und faul und setzten dagegen die Mittel ein, die damals pädagogisch gebräuchlich waren, das heißt, sie schlugen ihn. Als die Mutter ihn einmal badete, entdeckte sie auf seinem Rücken die roten Striemen. Katharina Goebbels hätte es aber nie gewagt, sich zu beschweren, dazu war sie zu unterwürfig und hatte viel zu viel Respekt vor den Lehrern.

Anders war da schon ihr Mann, Fritz Goebbels. Er war zwar nur ein kleiner Angestellter, jedoch ehrgeizig und durchaus selbstbewusst gegenüber den sogenannten hohen Herren. Fritz Goebbels’ Vorfahren waren Bauern gewesen. Sein Vater Konrad hatte den Sprung vom Bauernhof bei Jülich in den aufstrebenden Industrieort Rheydt gewagt. Er hatte es freilich nur zum Fabrikarbeiter gebracht und dementsprechend schwer waren auch die Anfänge für seinen Sohn Fritz gewesen. Fritz Goebbels hatte als Laufbursche bei der Dochtfabrik Lennartz angefangen und war Schritt für Schritt aufgestiegen. Kurz nach der Geburt seines Sohnes Joseph war er zum Handelsgehilfen befördert worden. Sein Gehalt war immer noch gering, aber er konnte immerhin die engen Wohnungen hinter sich lassen und für die wachsende Familie das Reihenhaus in der Dahlener Straße erwerben.

Dieser Aufstieg war nur möglich gewesen, weil Fritz Goebbels sich als pflichtbewusster und sparsamer Familienvater verstand. Für ihn gab es nur die Arbeit und die Sorge um Sicherung seiner kleinbürgerlichen Existenz. Er führte ein blaues Kontoheft, in das er penibel jede Ausgabe eintrug, auch die sechs Pfennige, die er am Sonntag in der Kirche in den Klingelbeutel warf. Die Familie saß abends oft zusammen und fertigte am Küchentisch in Heimarbeit Lampendochte, um ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Auch im Winter wurde die »gute Stube« nur an Sonntagen geheizt und Hering mit Pellkartoffeln galt im Hause Goebbels als ein Festessen.

Joseph wuchs wie selbstverständlich in dieser kargen Anspruchslosigkeit auf. Später hat er diese Herkunft nicht geleugnet, war sogar stolz darauf und sprach auch über seinen Vater in den höchsten Tönen. Nur in seinen Tagebüchern oder in privaten Gesprächen sah er seine Kindheit und vor allem seinen Vater in einem anderen Licht. Er nannte ihn einen Bier trinkenden, kleinkarierten »alten Knicker«, der nur an das Geld gedacht habe, das ihm sein schwächlicher und missgestalteter Sohn kostete. »Es erbitterte ihn maßlos«, soll Goebbels über seinen Vater gesagt haben, »dass ich, auf den er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte, statt zu büffeln und zu pauken (wie sich das gehört hätte) häufig im Bett bleiben musste.«[6]  Waren es vielleicht weniger Vaterliebe als persönlicher Ehrgeiz und wirtschaftliche Überlegungen, die Fritz Goebbels zu dem Entschluss brachten, noch einmal einen Versuch zu unternehmen, seinen jüngsten Sohn von seiner Krankheit zu befreien?

In seinem letzten Jahr in der Volksschule wurde Joseph ins Krankenhaus nach Mönchengladbach gebracht, um seinen Fuß zu operieren. Die Wochen in der Klinik waren für Joseph ein Albtraum. Tief eingegraben in sein Gedächtnis haben sich die nachts an seinem Fenster vorbeiratternden Züge, die Minuten vor der Narkose und die Verzweiflung, als die Mutter nach einem Besuch wieder gehen wollte. Der einzige Lichtblick waren die Märchenbücher, die seine Tante Stina ihm ins Krankenhaus brachte. Sie machten Joseph zu einem leidenschaftlichen Leser.

Die Operation war ein Misserfolg. Nun stand fest, dass Joseph seinen verkrüppelten Fuß ein Leben lang behalten würde. Durch die lange Zeit im Krankenhaus und die Tage, die er danach zu Hause im Bett verbringen musste, hatte er monatelang nicht in die Schule gehen können. Sein Vater wollte aber unbedingt, dass Joseph im neuen Schuljahr in die Oberrealschule mit weiterführendem Gymnasium wechselt. Sein Zeugnis ließ das eigentlich nicht zu. Die Noten waren nicht gut genug und er hatte zu viel Stoff versäumt.

Es zeigte sich, dass Fritz Goebbels durchaus in der Lage war, sich durchzusetzen. Er wandte sich an Josephs Klassenlehrer und schaffte es tatsächlich, dass der das Zeugnis änderte. Herr Hennes, so hieß er, verringerte die Anzahl der versäumten Tage erheblich und machte aus allen Zweien eine Eins. Und so wurde es ein Zeugnis für einen zukünftigen Gymnasiasten.

Wie war es Fritz Goebbels gelungen, den Lehrer umzustimmen? Hat er ihn darauf hingewiesen, dass Joseph mit seiner Behinderung nie einen körperlich anstrengenden Beruf würde ausüben können? Hat er ihn davon überzeugt, dass sein Sohn begabt war, aber wegen seiner vielen Monate im Bett und im Krankenhaus nie hatte seine Begabung beweisen können? Oder war es doch so, wie Joseph Goebbels später immer wieder behauptet hat, dass sein Vater einen festen Plan für die Zukunft seines Sohnes im Kopf hatte und sich auch von einem Lehrer nicht davon abhalten lassen wollte?

Als einziger seiner Söhne sollte Joseph das Abitur machen und dann studieren. Dass er vielleicht einmal ein Priester werde, war der heimliche Wunsch von Fritz und Katharina Goebbels. Einen Geistlichen in der Familie zu haben, das wäre für die Goebbels ein riesiger Schritt auf der sozialen Leiter gewesen. Bei einem Priester fiel eine Behinderung nicht so ins Gewicht. Abgesehen davon wurde das Studium von der Kirche bezahlt.

Joseph Goebbels dachte noch nicht an die Zukunft. Er hatte andere Sorgen. Davon berichtete er in der Rückschau, als er elf Jahre nach seinem Eintritt in die Rheydter Oberrealschule an Ostern 1908 einen Roman schrieb, in dem er seine Kindheit und Jugend schonungslos und »ohne Schminke« erzählen wollte.[7]  Der Held jenes Romans heißt Michael Voormann und er hat wie Goebbels ein verkrüppeltes rechtes Bein. Wegen dieser Behinderung wird er von den anderen Kindern verspottet und ausgelacht.

Michael wird ein Einzelgänger, aber richtig verbittert wird er erst, als ihm bewusst wird, dass er seine Einsamkeit nicht freiwillig gewählt hat, sondern dass die Menschen mit ihm nichts zu tun haben wollen, weil sie sich seiner schämen. In solchen Augenblicken zweifelt Michael auch an Gott, an den zu glauben seine Eltern ihn erzogen haben. »Warum hat Gott ihn so gemacht, dass die Menschen ihn verlachten und verspotteten?«, heißt es in Goebbels’ Roman über Michael. »Warum durfte er nicht wie die anderen sich und das Leben lieben? Warum musste er hassen, wo er lieben wollte und lieben musste?«[8] 

Michael hasst die Menschen, weil sie ihn verachten und ihm bei jeder Gelegenheit Verletzungen zufügen. Doch mit den Büchern, die er leidenschaftlich liest, tut sich ihm ein Weg auf, seiner trostlosen Lage zu entkommen. Hier, in der Welt der Literatur und Fantasie, kann er sich in andere Leben hineinversetzen. Hier kann es sein, dass sich wie im Märchen das Schicksal von Menschen, die hässlich und ausgestoßen sind, auf wundersame Weise wendet und sie mit Reichtum und Glück überhäuft werden.

Michael entdeckt nun auch die Vorteile, die es haben kann, in der Schule gut zu sein. War er vorher ein fauler und träger Schüler, so ist er jetzt im Unterricht jede Minute aufmerksam und lernt zu Hause intensiv. Und wie genießt er dann das triumphierende Gefühl, wenn er die anderen spüren lassen kann, dass er ihnen überlegen ist. Am liebsten würde er ihnen zurufen: »Ihr seid dumm und roh, ich, der Krüppel, der arme Elende, den ihr gestern mit Spott und Hohn übergossen habt, ich will euch zeigen, was ich kann.«[9] 

Joseph Goebbels (re.) am Tag seiner Erstkommunion, 3. April 1910

Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Michael ist derjenige, der sich über die anderen lustig machen kann. Dass er sich in seiner neuen Rolle auf eine bedenkliche Weise verändert, entgeht ihm nicht. Er tritt nun arrogant und eingebildet auf. Manchmal kann er sich selber nicht leiden und ist sich fremd. Denn eigentlich wollte er ja lieben, nicht hassen. Aber lieben, das hätte bedeutet, sich anderen schutzlos öffnen zu können. Das ist für ihn zu riskant oder vielleicht sogar unmöglich.

Michael vertraut lieber auf die bewährte Strategie. Er kann sich wehren, wenn er den Spieß umdreht und die anderen ihm unterlegen sind. Es gibt in diesem Kampf nur ein Oben und Unten, nur Sieger und Verlierer. Und Michael will kein Verlierer mehr sein. Also muss er den entdeckten »Weg« weitergehen.

Bei Joseph Goebbels ist die Veränderung, die er an seiner Romanfigur Michael beschrieb, erst relativ spät eingetreten. Er war schon in der achten Klasse des Gymnasiums, als er das erlebte, was er seine »Häutung«[10]  nannte. Zu dem Fach Latein, das für ihn in den ersten Klassen ein Buch mit sieben Siegeln gewesen war, bekam er nun langsam einen Zugang. Nach und nach eroberte er sich mit intensivem Lernen und eisernem Willen auch die anderen Fächer und schließlich war er der Klassenbeste.

Sein Vater verfolgte Josephs Wandlung mit stolzer Zufriedenheit. Sie passte in den »Lebensplan«[11]