Book of Night - Holly Black - E-Book
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Book of Night E-Book

Holly Black

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Beschreibung

Der erste Roman für Erwachsene von Bestseller-Autorin Holly Black – eine moderne, düstere Urban Fantasy über zwielichtige Diebe und tödliche Schatten  In Charlie Halls Welt können Schatten manipuliert  werden, zur Unterhaltung, aber auch um Macht zu gewinnen. Und manchmal haben sie ein Eigenleben. Charlie ist eine gewöhnliche Betrügerin, die als Barkeeperin arbeitet und versucht, sich von der Untergrundwelt des Schattenhandels zu distanzieren. Doch als eine Gestalt aus ihrer Vergangenheit zurückkehrt, wird Charlies Leben ins Chaos gestürzt. Entschlossen zu überleben, gerät sie in einen Strudel aus Geheimnissen und Mord, in dem sie es mit Doppelgängern, merkwürdigen Milliardären, Schattendieben und ihrer eigenen Schwester zu tun bekommt – die alle verzweifelt versuchen, die Magie der Schatten zu kontrollieren. »Black ist eine Meisterin im Erschaffen von Welten.« The New York Times Book Review

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Seitenzahl: 639

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Holly Black

Book of Night

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel und Julian Müller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In Charlie Halls Welt können Schatten manipuliert  werden, zur Unterhaltung, aber auch um Macht zu gewinnen. Und manchmal haben sie ein Eigenleben.

Charlie ist eine gewöhnliche Betrügerin, die als Barkeeperin arbeitet und versucht, sich von der Untergrundwelt des Schattenhandels zu distanzieren. Doch als eine Gestalt aus ihrer Vergangenheit zurückkehrt, wird Charlies Leben ins Chaos gestürzt. Entschlossen zu überleben, gerät sie in einen Strudel aus Geheimnissen und Mord, in dem sie es mit Doppelgängern, merkwürdigen Milliardären, Schattendieben und ihrer eigenen Schwester zu tun bekommt – die alle verzweifelt versuchen, die Magie der Schatten zu kontrollieren.

Inhaltsübersicht

Brief der Autorin

Widmung

Zitat

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Danksagung

Liebe*r Leser*in,

 

ich danke dir von Herzen, dass du dich für die Lektüre von Book of Night entschieden hast.

Symbolisch betrachtet sind unsere Schatten der unbeachtete Teil von uns, der Teil unseres Selbst, den wir lieber in der Dunkelheit versenken wollen – Wut, Scham, Verlangen. Aber wir brauchen unsere Schatten.

Es ist Magie in diesem Teil unseres Selbst, Lebendigkeit in all dem Wahnsinn und dem Schlechten.

Dieses Buch ist ein Liebesbrief an alles, was wir lieber in der Dunkelheit versenken wollen.

 

Holly Black

Für alle, die jemals am Silvesterabend in mein Haus gekommen sind.

Ich hab einen kleinen Schatten,

der geht, wohin ich geh.

Aber wozu ich ihn habe,

ist mehr, als ich versteh.

Er ist ganz ebenso wie ich,

bloß nicht ganz so schwer;

und wenn ich in mein Bettchen hüpfe,

dann hüpft er hinterher.

 

Aus »Mein Schatten« von Robert Louis Stevenson

Prolog

Jedes Kind kann mit seinem Schatten Fangen spielen. Dafür muss es nichts weiter tun, als an einem ausgelassenen Nachmittag direkt auf die Sonne zuzurennen. Bei jeder Bewegung wird sein Schatten dicht hinter ihm sein. Das Kind kann sich sogar umdrehen und versuchen, seinen Schatten zu fangen, doch wie schnell es auf seinen kurzen Beinchen auch läuft, sein Schatten wird immer ganz knapp außerhalb seiner Reichweite bleiben.

Aber nicht bei diesem Kind.

Der Junge rennt über eine löwenzahngetupfte Wiese, kichernd und kreischend, seine Finger schließen sich um etwas, was man nicht anfassen können sollte, etwas, was sich nicht vor ihm in den Klee und die Fingerhirse fallen lassen sollte. Etwas, mit dem er sich nicht balgen, das er nicht auf der Erde festnageln können sollte.

Danach setzt sich der Junge in die moosige Kühle unter einem Ahornbaum und pikt sich mit der Spitze seines Taschenmessers in die Kuppe des Ringfingers. Er wendet das Gesicht ab, damit er nicht hinschauen muss. Der erste Stich dringt nicht durch die Haut. Der zweite auch nicht. Erst als er beim dritten Mal ärgerlich wird und seine Zimperlichkeit überwindet, gelingt es ihm, sich selbst zu schneiden. Es tut weh, richtig weh, weshalb er sich ein bisschen dafür schämt, wie winzig der hervorquellende Blutstropfen ist. Er drückt seine Fingerspitze zusammen, um zu sehen, ob er nicht noch etwas mehr herausbekommen kann. Der Tropfen schwillt an. Er spürt die Ungeduld seines Schattens. Sein Finger brennt, als sich ein dunkler Nebel darum zusammenzieht.

Eine Brise streicht durch die Baumkrone über ihm, und trudelnd schweben die Ahornsamen auf ihrem einen Flügel um ihn herum zu Boden.

Nur ein kleiner Schluck jeden Tag, hatte jemand im Fernsehen über seinen Schatten gesagt. Und man hat den besten Freund der Welt.

Obwohl der Schatten keinen Mund und keine Zunge hat und seine Berührung nicht feucht ist, spürt der Junge, wie er über seine Haut leckt. Es ist kein schönes Gefühl, aber es tut auch nicht weh.

Er hatte noch nie einen besten Freund, trotzdem weiß er, dass beste Freunde so etwas eben tun. Sie werden Blutsbrüder, drücken ihre Wunden aufeinander, bis man nicht mehr sagen kann, wo der eine aufhört und der andere anfängt. Er braucht so jemanden.

»Ich bin Remy«, flüstert er seinem Schatten zu. »Und dich nenne ich Red.«

1

Hungrige Schatten

Charlies hässliche Crocs gaben bei jedem Schritt über die Fußmatten hinter der Bar ein klebriges Schmatzgeräusch von sich. Unter ihren Armen, in der Kuhle unter ihrer Kehle und zwischen den Schenkeln sammelte sich der Schweiß. Dies war ihre zweite Schicht an diesem Tag. Der Typ, der eigentlich die Nachmittage übernahm, war Hals über Kopf mit seinem Freund nach Los Angeles abgehauen, und jetzt saß Charlie mit seinen Arbeitsstunden da, bis Odette einen Ersatz einstellte.

So müde Charlie aber auch war, sie brauchte das Geld. Außerdem war es vermutlich sowieso das Beste, wenn sie beschäftigt blieb. Solange sie beschäftigt war, brachte sie sich immerhin nicht in Schwierigkeiten.

Mit Charlie Hall hatte schon immer irgendetwas nicht gestimmt. Verdreht vom Tag ihrer Geburt an. Jede schlechte Entscheidung, die ihr über den Weg gelaufen war, hatte sie unbedingt treffen müssen. Ihre Finger waren wie geschaffen dafür, Taschen leer zu räumen, ihre Zunge war zum Lügen bestimmt, und anstelle eines Herzens hatte Charlie einen vertrockneten Kirschkern.

Wenn ihr Schatten magisch gewesen wäre, dann wäre wahrscheinlich sogar er vor ihr ausgerissen.

Was aber nicht hieß, dass sie nicht wenigstens versuchen konnte, anders zu sein. Und sie versuchte es wirklich. Zugegeben, in den vergangenen zehn Monaten war es nicht leicht gewesen, ihre schlimmsten Impulse im Zaum zu halten, aber es war immer noch besser, als in einer Stadt, die sie bereits mit Benzin getränkt hatte, zu einem lodernden Streichholz zu werden.

Sie hatte einen Job – sogar mit Arbeitszeitkonto – und einen soliden Freund, der seinen Anteil an der Miete zahlte. Ihre Schusswunde heilte gut. Kleine Erfolge, aber sie war stolz darauf.

Genau bei diesem Gedanken blickte Charlie auf und sah den Prüfstein ihrer guten Vorsätze durch die Flügeltüren der »Rapture Bar & Lounge« treten.

Doreen Kowalskis Gesicht war verschwitzt und fleckig vom Weinen – offensichtlich hatte sie versucht, ihr Make-up zu richten, sich dabei aber etwas zu kräftig über den verschmierten Mascara gewischt, sodass sich auf einer Seite schwarze Schlieren bis zur Schläfe zogen. Damals in der Highschool hatte sie Charlie völlig links liegen lassen, und wahrscheinlich hätte sie das auch an diesem Abend gern getan.

Zwischen Menschen mit Geld und Menschen ohne Geld gab es zahllose Unterschiede. Einer davon war folgender: Ohne die nötigen Mittel, um einen Experten zu bezahlen, musste man ein komplexes Ökosystem aus nützlichen Amateuren zusammenstellen. Als bei Charlies Dad von seinem Arzt Hautkrebs diagnostiziert worden war, hatte er ein Fünftel einer Flasche Maker’s Mark Bourbon geleert und einen befreundeten Metzger darum gebeten, ihm ein Loch in die Schulter zu schneiden, weil er sich eine Operation niemals hätte leisten können. Als die Cousine einer Freundin von Charlie geheiratet hatte, war Mrs Silva, die drei Blocks weiter wohnte, gefragt worden, ob sie die Hochzeitstorte backen könnte, weil sie nun mal gern backte und so ein cooles Gebäck-Spritzbeuteldingsbums hatte. Und wenn die Buttercreme ein bisschen krisselig oder einer der Teigböden etwas überbacken war, na ja, dann schmeckte die Torte trotzdem süß und war genauso groß wie die aus den Zeitschriften, und sie hatte nur das gekostet, was Mrs Silva für die Zutaten ausgegeben hatte.

In der Welt der Schattenmagie war Charlie eine erfolgreiche Diebin gewesen, aber für die Ortsansässigen würde sie immer nur eine nützliche Amateurin bleiben, die man brauchen konnte, um einen Ehering einzustecken oder einen entführten Pitbull zurückzuholen.

Charlie Hall. Die von schlechten Ideen angezogen wurde wie Motten von einem Wollpullover. Die jedes Durcheinander als Gelegenheit betrachtete, ihren niederen Impulsen freien Lauf zu lassen.

»Ich muss mit dir sprechen«, verkündete Doreen laut und streckte die Hand nach Charlie aus, als sie an ihr vorbeiging.

Bisher war es ein ruhiger Abend in der Lounge gewesen, aber Odette, die uralte Domina im Halbruhestand, der diese Bar gehörte, saß ganz vorn an einem Tisch und plauderte mit ihrer Clique. Sie würde es bemerken, wenn Charlie zu lange mit nur einer Person redete, und Charlie konnte es sich nicht leisten, diesen Job zu verlieren. In Anbetracht ihrer Vorgeschichte war ihr Platz hinter der Bar im Rapture ein echter Glücksfall.

Besorgt hatte ihr die Stelle Balthazar, der im Keller einen illegalen Schattensalon betrieb und guten Grund hatte, Charlie im Auge zu behalten – nicht zuletzt, weil er wollte, dass sie wieder für ihn arbeitete.

Als Charlie nun Doreen betrachtete, regte sich diese vertraute Aufregung in ihr, und sie spürte, auf welch wackeligen Füßen sie den Pfad der Tugend entlangstolperte. Wie bei einer Erfolgsstrategie, die nur aus dem Wort »Profit« bestand, mit einer Menge Ausrufezeichen dahinter.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie.

Doreen schüttelte den Kopf. »Du musst mir helfen, Adam zu finden. Er ist schon wieder verschwunden, und ich …«

»Ich kann jetzt nicht reden«, fiel ihr Charlie ins Wort. »Bestell etwas, damit meine Chefin zufrieden ist. Club Soda und Bitters. Cranberry und Limette. Egal. Geht auf mich.«

Doreens feucht glänzende, rot geränderte Augen legten nahe, dass sie nur mit Mühe ruhig würde abwarten können. Oder dass sie schon einige Drinks gehabt hatte, bevor sie hergekommen war. Oder vielleicht auch beides.

»Hey«, rief einer der Stammgäste, und Charlie ging zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen. Sie mixte einen Cosmopolitan, der rubinrot aus dem Shaker floss. Zum Schluss gab sie ein winziges Stück Trockeneis darauf, sodass der Drink rauchte wie ein Zaubertrank.

Sie ging zu einem der Tische und fragte einen Mann, der vor seinem Bier saß und sich mit zitternden Fingern ein drittes Nikotinpflaster auf die Innenseite des Unterarms klebte, ob es noch etwas sein durfte. Nein, aber zahlen wollte er auch noch nicht.

Dann goss sie einem Typen, der aussah, als hätte er in seinen Tweedklamotten geschlafen, und offenbar einen auf harten Kerl machen wollte, einen Shot Four Roses ein, nachdem er ihr erklärt hatte, dass er seinen Bourbon nicht zu süß mochte. Schließlich winkte Balthazar persönlich sie heran, und sie durchquerte die Bar, um ihm einen Whiskey Ginger zu servieren.

»Ich habe einen Job für dich«, sagte er leise. Mit seinen blitzenden Augen, der hellbraunen Haut und den Locken, die lang genug waren, um sie zu einem anrüchigen Pferdeschwanz zusammenzubinden, herrschte er über seinen Schattensalon und ließ die korrupten Träume dieser Stadt wahr werden.

»Nein«, antwortete Charlie im Vorbeigehen.

»Komm schon. Knight Singh wurde in seinem Bett ermordet, und das ganze Zimmer wurde verwüstet. Irgendjemand ist mit seinem persönlichen Notizbuch über magische Entdeckungen abgehauen«, rief ihr Balthazar hinterher. »So was war deine Spezialität.«

»Nein!«, rief sie so ungerührt zurück, wie sie nur konnte.

Zum Teufel mit Knight Singh.

Er war der erste Gloamist gewesen, der Charlies Dienste in Anspruch genommen hatte, damals, als sie noch ein Kind gewesen war. Soweit es sie betraf, konnte er in seinem Grab verrotten, was aber nicht bedeutete, dass sie besagtes Grab nicht ausrauben würde.

Charlie war raus aus dem Spiel. Sie war zu gut darin gewesen, und der Kollateralschaden war zu verheerend ausgefallen. Jetzt war sie nur noch ein ganz normaler Mensch.

Ein betrunkenes Trio von Twens im Hexenlook feierte Geburtstag, obwohl es mitten unter der Woche war. Ihr schwarzer Lippenstift war schon ganz verschmiert. Sie orderten eine Runde neongrünen, billigen Absinth, den sie mit verzogenen Gesichtern kippten. Eine von ihnen hatte sich wohl erst vor Kurzem ihren Schatten modifizieren lassen, denn sie setzte sich immer so hin, dass ihr neues Selbst vom Licht auf die Wand projiziert wurde. Der Schatten hatte Hörner und Flügel wie ein Sukkubus.

Er war schön.

»Meine Mutter findet ihn schreeeecklich«, erklärte das Mädchen ihren Freundinnen mit leicht lallendem Tonfall. Sie hopste in die Luft und schwebte einen Moment lang über dem Boden, während ihr Schatten mit den Flügeln schlug. Einige Gäste blickten bewundernd zu ihr hinüber.

»Mom sagt, wenn ich mal einen echten Job will, dann tut es mir bestimmt leid, so was zu haben, das sich nicht verstecken lässt. Ich habe ihr gesagt, dass ich mir selbst so nie untreu werden kann.«

Als Charlie zum ersten Mal einen modifizierten Schatten gesehen hatte, war ihr ein Märchen eingefallen, das sie einmal als Kind in der Schulbücherei gelesen hatte: Die Hexe und der unglückliche Bruder.

Sie konnte die ersten Zeilen des Märchens immer noch auswendig: »Es war einmal vor langer Zeit ein Junge, der mit einem hungrigen Schatten geboren wurde. Er hatte so viel Glück, wie man nur haben konnte, während alles Pech seinen Zwillingsbruder traf, der ganz ohne Schatten zur Welt gekommen war.«

Doch natürlich brachte der Schatten dieses Mädchens ihr kein Glück. Er sah cool aus und verlieh ihr ein bisschen niedere Magie. Vielleicht konnte sie ein paar Sekunden lang zehn Zentimeter über dem Boden schweben. Ein Paar Plateauschuhe hätten sie höher hinaufgebracht.

Es machte das Mädchen auch nicht zu einer Gloamistin.

Manipulierte Schatten waren die Spezialität der Alterationisten, die öffentlich bekannteste der vier Disziplinen. Alterationisten konnten Schatten kosmetisch umformen und sie benutzen, um so starke Gefühle auszulösen, dass man danach süchtig wurde. Sie konnten sogar Stücke aus dem Unterbewusstsein eines Menschen herausschneiden. Was natürlich nicht ungefährlich war. Manchmal verlor man mehr von sich, als man verhandelt hatte.

Die anderen Disziplinen der Gloamisten waren geheimnisvoller. Carapacer konzentrierten sich auf ihre eigenen Schatten und flogen mit ihrer Hilfe auf Schattenflügeln durch die Luft oder hüllten sich in Panzer. Puppeteere schickten ihre Schatten aus, um im Geheimen Dinge zu tun – Charlies Erfahrung nach handelte es sich dabei hauptsächlich um die Drecksarbeit, über die niemand sprechen wollte. Und die Masks waren nicht viel besser. Ein Haufen gruseliger Mystiker, die wild entschlossen waren, die Geheimnisse des Universums aufzudecken, ganz egal, wen sie damit verletzten.

Es gab einen Grund, warum man die Gloamisten allgemein als »Glooms« bezeichnete, es war wirklich ein dunkles Geschäft. Man konnte den Gloamisten nicht über den Weg trauen. Zum Beispiel handelten sie alle mit gestohlenen Schatten, ganz egal, was sie behaupteten.

Charlies Freund Vince war sein Schatten gestohlen worden, wahrscheinlich damit irgendein reiches Arschloch seine dritte Runde in den Gefilden der Schattenmodifizierung drehen konnte. Jetzt warf Vince überhaupt keinen Schatten mehr, nicht einmal am helllichtesten Tag. Man glaubte, dass schattenlose Menschen eine Art Leere in sich trugen, dass ihnen etwas Unbegreifliches fehlte. Manchmal bemerkten die Leute auf der Straße, was mit Vince los war, und machten einen weiten Bogen um ihn.

Charlie wünschte, ihr würde man genauso aus dem Weg gehen, aber Vince machte es zu schaffen, weshalb sie jeden Einzelnen, der es tat, finster anfunkelte.

Als Charlie bei ihrer Runde wieder an Doreen vorbeikam, sagte diese: »Ich hätte gern ein Ginger Ale, damit sich mein Magen ein bisschen beruhigt.«

Odette schien ganz mit ihren Freunden beschäftigt zu sein.

»Okay, was ist das Problem?«

»Ich glaube, Adam ist wieder auf Sauftour«, antwortete Doreen, als Charlie ein Glas vor ihr auf einer Cocktailserviette abstellte. »Das Casino hat angerufen. Wenn er am Montag nicht wieder dort auftaucht, dann wird er gefeuert. Ich habe schon tausendmal versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er geht nicht ran.«

Charlie und Doreen hatten sich nie sonderlich gut verstanden, aber sie kannten einige derselben Leute. Und manchmal war es wichtiger, jemanden schon sehr lange zu kennen, als ihn zu mögen.

Charlie seufzte. »Also, was soll ich für dich tun?«

»Finde ihn, und bring ihn dazu, wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht erinnerst du ihn auch daran, dass er ein Kind hat.«

»Ich weiß nicht, ob ich ihn überhaupt zu irgendetwas bringen kann«, erwiderte Charlie.

»Adam ist nur wegen dir so. Ständig nimmt er Aufträge an, die viel zu gefährlich sind.«

»Und warum genau ist das meine Schuld?« Charlie wischte den Tresen vor sich, nur um etwas zu tun zu haben.

»Weil Balthazar ihn immer mit dir vergleicht. Adam versucht, deinem dämlichen Ruf gerecht zu werden. Aber nicht jeder ist zum Verbrecher geboren.«

Doreens Freund Adam war ein Blackjack-Croupier drüben im Springfield Casino, und er hatte angefangen, nebenher für Balthazar zu arbeiten, nachdem Charlie den Job geschmissen hatte. Vielleicht hatte er geglaubt, seine Erfahrung mit dem zweifelhaften Kram, mit dem an den Kartentischen gedealt wurde, wäre Vorbereitung genug dafür, Glooms zu beklauen. Außerdem hatte er vermutlich gedacht, wenn Charlie das schaffte, dann konnte es ja nicht allzu schwer sein.

»Wir können uns nach meiner Schicht genauer darüber unterhalten«, sagte Charlie seufzend, während sie an all die Gründe dachte, aus denen sie lieber die Finger davon lassen sollte.

Erstens wäre sie wirklich die Letzte, die Adam würde sehen wollen.

Zweitens würde bei der Sache kein Cent für sie herausspringen.

Den Gerüchten zufolge brachte Adam die zusätzliche Kohle, die er bei Balthazar verdiente, mit Happy Trips durch – so nannte man es, wenn der eigene Schatten so justiert wurde, dass man einfach nur stundenlang ins Nichts starren konnte, während einen die wunderbarsten Empfindungen durchfluteten. Wahrscheinlich lag Adam irgendwo in einem Hotelzimmer auf dem Rücken, fühlte sich so richtig gut und hatte überhaupt keine Lust darauf, von Charlie nach Hause geschleift zu werden, bevor der Glücksrausch abebbte.

Charlie warf Doreen einen Blick zu, die am anderen Ende der Bar saß und kläglich mit ihrem Rührstäbchen spielte. Sie war das Letzte, was Charlie jetzt brauchte.

Gerade wollte sie nach dem Soda-Siphon greifen, als ein lautes Krachen sie aufblicken ließ.

Der Tweedtyp mit der Vorliebe für nicht zu süßen Bourbon kniete auf allen vieren neben der leeren Bühne und hatte sich im Samtvorhang verheddert. Einer der Schlägertypen aus dem Schattensalon, ein Mann namens Joey Aspirins, stand über ihm und dachte offenbar gerade darüber nach, ob er ihm ins Gesicht treten sollte oder nicht.

Balthazar war den beiden gefolgt und brüllte: »Bist du irre, mich dazu bringen zu wollen, so was zu verticken? Soll das eine Falle sein, damit es aussieht, als hätte ich das Liber Noctem gestohlen? Verpiss dich, du Arschloch!«

»So ist das nicht«, erwiderte der Tweedtyp. »Salt will es unbedingt wiederhaben. Er würde richtig viel Geld zahlen, sogar nur für die paar Seiten …«

Charlie zuckte bei Salts Namen zurück.

Es gab nicht viel, was sie aus der Fassung brachte, nach allem, was sie gesehen und getan hatte. Doch der Gedanke an Salt schaffte es jedes Mal.

»Halt’s Maul, und verschwinde hier.« Balthazar zeigte auf den Ausgang.

»Was ist hier los?«, fragte Doreen. Charlie schüttelte den Kopf und sah zu, wie Joey Aspirins den Tweedtypen auf die Tür zu schubste. Odette erhob sich, um ein Wort mit Balthazar zu reden, aber sie sprachen zu leise, als dass Charlie irgendetwas hätte verstehen können.

Balthazar drehte sich um und fing Charlies Blick auf, während er zum Schattensalon zurückkehrte. Er zwinkerte. Sie hätte eine Braue heben oder mit den Augen rollen sollen, doch die Erwähnung von Lionel Salt ließ sie immer noch wie angewurzelt dastehen. Bevor sie irgendeine Reaktion zustande brachte, war Balthazar schon verschwunden.

Kurz darauf folgte die letzte Runde. Charlie wischte den Tresen sauber, füllte den Geschirrspüler mit schmutzigen Shakern und Gläsern, zählte ihre Kasse nach, zog Doreens Getränk von ihrem Trinkgeld ab und heftete sämtliche Belege ab. Das Rapture schwelgte in seiner Extravaganz. Die Decke und die Wände waren in Schwarz 3.0 gestrichen, einer Farbe, die so dunkel war, dass sie dem Raum das Licht zu entziehen schien. Weihrauch hing schwer in der Luft. Dies war der Ort, an den man kam, wenn man einen Blick auf die Magie werfen oder sich wenigstens mit etwas Schrulligkeit umgeben wollte oder wenn man einfach die Nase voll hatte von den Sportbars mit Kombucha aus dem Fass. Das alles mochte so sein, aber die Rituale vor dem Abschließen waren dieselben wie überall sonst auch.

Die meisten anderen Angestellten waren schon weg, als sich Charlie ihren Mantel und ihre Handtasche aus Odettes Büro holte. Der Wind hatte aufgefrischt und kühlte den Schweiß auf ihrer Haut, während sie zu ihrem Auto ging. Das rief ihr in Erinnerung, dass es bereits Spätherbst und der Winter nicht mehr fern war. Sie würde sich wirklich etwas Wärmeres zur Arbeit mitnehmen müssen als einen dünnen Ledermantel.

»Und?«, ertönte Doreens Stimme. »Ich erfriere hier draußen noch. Suchst du ihn? Suzie Lambton hat gesagt, dass du ihr auch geholfen hast, obwohl du sie kaum kennst.«

Wahrscheinlich würde es keine allzu schwierige Aufgabe werden, und dann wäre sie Doreen los. Wenn Adam irgendwo weggetreten herumlag, dann konnte sie ihm auf jeden Fall den Geldbeutel klauen. Dann würde er mit Sicherheit ganz schnell nach Hause zurückkehren. Und seine Autoschlüssel würde sie auch mitnehmen, einfach nur weil sie es konnte. »Dein Bruder arbeitet in der Uni, oder? In der Finanzabteilung.«

Doreens Augen wurden schmal. »Er ist Kundenberater. Er schiebt Telefondienst.«

»Aber er hat Zugang zu den Computern. Kann er irgendwas drehen, damit meine Schwester einen Monat länger Zeit hat, ihre Studiengebühren zu bezahlen? Ich verlange nicht, dass er die Schulden löscht, er soll sie nur stunden.« Orientierungsgebühren, Technologiegebühren, Bearbeitungsgebühren – das alles wurde fällig, bevor der Kredit ausgezahlt wurde. Die Schrottkarre, die Posey brauchte, um zur Uni und wieder zurück zu kommen, war da noch nicht einmal einberechnet. Genauso wenig wie die Bücher.

»Ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen«, gab Doreen steif zurück, als wäre sie nicht gerade drauf und dran, eine Kriminelle dazu zu überreden, ihren kriminellen Freund zu suchen.

Charlie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete einfach ab.

Schließlich nickte Doreen langsam. »Ich kann ihn ja mal fragen.«

Was eine ganze Menge bedeuten konnte. Charlie öffnete den Kofferraum ihres schäbigen Toyota Corolla. Neben einem Gewirr aus Starthilfekabeln, einer alten Tasche voller Einbruchswerkzeug und einer Flasche Grey Goose, die sie zum Großhandelspreis in der Bar gekauft hatte, lag ihre Sammlung von Wegwerfhandys.

Charlie nahm eines der Handys heraus und tippte den Code ein, um es zu aktivieren. »Okay, lass mich mal was versuchen und sehen, ob Adam anbeißt. Wie ist seine Nummer?«

Wenn er antwortete, würde sie es tun, beschloss sie. Wenn er nicht antwortete, würde sie es sein lassen.

Sie wusste, dass sie eigentlich nur nach einem Vorwand suchte, um sich in Schwierigkeiten zu bringen. Als würde man in Treibsand hinauswaten, um zu sehen, ob man versank. Trotzdem schrieb sie ihm eine Nachricht: Ich hätte einen Job zu vergeben, und ich habe gehört, du wärst der Beste.

Wenn er sich Sorgen darüber machte, nicht gut genug zu sein, dann würde ein bisschen Schmeichelei ihn bestimmt motivieren. Das war das Wesen der Trickbetrügerei, man spielte die Schwächen der anderen aus. Es war nicht schön, sein Gehirn darauf zu trainieren, so über seine Mitmenschen zu denken.

»Schauen wir mal, ob er antwortet, und …« Schon war ein leises »Ping« von ihrem Handy zu hören.

Wer bist du?

Amber, schrieb Charlie zurück. Sie hatte mehrere Identitäten, die sie sich zu Betrugszwecken zugelegt, aber bisher noch nie verwendet hatte. Davon war jedoch nur Amber eine Gloamistin. Tut mir leid, dass ich dich so spät noch störe, aber ich brauche wirklich deine Hilfe.

Amber mit den langen braunen Haaren?

Einen langen Moment starrte Charlie ihr Handy nur an und überlegte, ob das vielleicht ein Trick war.

Du bist ja wirklich gut. Sie fügte noch ein Zwinker-Emoji hinzu und hoffte, dass sie seine Fragen so umschiffen konnte.

»Ich fasse es nicht, dass er dir wirklich antwortet. Was schreibt er?«

»Lies es selbst.« Charlie reichte Doreen das Handy. »Siehst du? Er lebt. Geht ihm prima.«

Doreen kaute auf einem Fingernagel herum, während sie die Nachrichten überflog. »Du hast nicht gesagt, dass du mit ihm flirten willst.«

Charlie rollte mit den Augen.

Auf der anderen Seite des Parkplatzes erschien Odette, in einen gewaltigen Mantel gehüllt, und steuerte auf ihren lila Mini Cooper zu.

»Glaubst du wirklich, du bringst ihn dazu, dir zu verraten, wo er ist?«

Charlie nickte. »Klar. Ich kann auch hinfahren und ihn festsetzen, wenn du das willst. Für diesen Gefallen verlange ich dann aber was extra.«

»Suzie sagt, dich um Hilfe zu bitten ist, als würde man den Teufel heraufbeschwören. Der Teufel erfüllt dir zwar vielleicht deinen Wunsch, aber hinterher steht man mit einer Seele weniger da.«

Charlie biss sich auf die Lippe und sah zur Straßenlaterne hinauf. »Wie du schon gesagt hast, ich kenne Suzie kaum. Damit muss sie jemand anderen gemeint haben.«

»Vielleicht«, gab Doreen zurück. »Aber das, was du getan hast – sogar damals schon, das Zeug, was die Leute über dich erzählt haben –, du musst auf irgendjemanden ganz schön wütend sein.«

»Oder vielleicht habe ich es ja auch nur zum Spaß getan«, warf Charlie ein. »Was bedeuten würde, dass ich ziemlich verrückt bin, richtig? Da ich dir aber gerade einen Gefallen tue, wäre es höflich von dir, das nicht zu erwähnen.«

Doreen stieß einen jener erschöpften Seufzer aus, die Müttern von kleinen Kindern ständig auf den Lippen zu liegen schienen. »Okay. Klar. Bring ihn einfach nach Hause, bevor er genauso durchknallt wie du.«

Charlie sah Doreen nach, und sobald sie fort war, stieg sie in ihren Corolla. Sie schnallte sich an und versuchte, nicht an den Auftrag zu denken, den Balthazar ihr angeboten hatte. Und auch nicht daran, wer sie einmal gewesen war. Stattdessen dachte sie an die Ramen, die sie kochen wollte, sobald sie zu Hause war. Sie hoffte, ihre Schwester hatte daran gedacht, die Katze zu füttern. Sie stellte sich die Matratze vor, die auf dem Boden ihres Schlafzimmers auf sie wartete. Sie stellte sich Vince vor, wie er schlief, die Füße in die Bettdecke eingewickelt. Sie schob den Zündschlüssel ins Schloss.

Das Auto sprang nicht an.

2

Der König der Kelche, umgekehrt

Der Wind pfiff durch die schmale Cottage Street, biss Charlie in die Wangen und wirbelte ihr das Haar ins Gesicht.

Ihr Corolla war stur auf dem Parkplatz vor dem Rapture stehen geblieben, egal wie oft sie den Schlüssel gedreht oder mit beiden Händen auf das Armaturenbrett geschlagen hatte. Das Starthilfeset hatte den Wagen ebenfalls nicht wieder zum Leben erwecken können, und der Abschleppdienst war teuer.

Sie hatte darüber nachgedacht, Vince anzurufen oder sich sogar ein Taxi zu nehmen, aber stattdessen hatte sie den Wodka aus dem Kofferraum geholt und trotzig ein paar Schlucke direkt aus der Flasche genommen, während sie dagestanden und sich sehr leidgetan hatte. Sie hatte zum Himmel hinaufgesehen.

Die letzten Herbstblätter hatten sich braun verfärbt, und nur ein paar hingen noch schlapp von den Ästen herab wie schlafende Fledermäuse.

Ein Auto hielt am Stoppschild, und der Fahrer brüllte ihr ein vulgäres Angebot zu, bevor er wieder aufs Gas drückte. Sie zeigte ihm den Stinkefinger, bezweifelte aber, dass er es noch gesehen hatte.

Nicht dass Charlie so etwas noch nie gehört hätte. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in den Fensterscheiben des Autos. Dunkles Haar. Dunkle Augen. Viel von allem anderen: Brüste und Hintern und Bauch und Schenkel. Viel zu oft benahmen sich die Leute so, als wären ihre Kurven eine Art eingravierte Einladung. Sie schienen zu vergessen, dass jeder in einem Körper geboren wurde, den man nicht einfach abstreifen konnte wie ein Paar Slipper. Der sich nicht transformieren ließ wie ein Schatten.

Ein weiterer Windstoß wirbelte ein paar Blätter auf, der Großteil klebte jedoch in nassen Haufen an den Straßenrändern fest.

Da hatte Charlie beschlossen, dass es doch eine tolle Idee wäre, die eineinhalb Meilen nach Hause einfach zu Fuß zu gehen.

Immerhin war das wirklich keine Strecke. Ein kleiner Spaziergang.

Oder jedenfalls wäre es ein kleiner Spaziergang gewesen für jemanden, der nicht schon den ganzen Tag und die halbe Nacht auf den Beinen war.

Der Begriff »Säufer-Courage« kam ihr leider etwas zu spät in den Sinn.

Sie ging an einem dunklen Buchladen vorbei, dessen Schaufenster herbstlich mit Kürbissen geschmückt war, in deren geschnitzte Münder man Plastikvampirzähne gesteckt hatte. Alles war dekorativ mit Candy Corn bestreut. Breit grinsten die Kürbisse zwischen den Gruselromanen hervor und waren erst ein kleines bisschen faulig und zusammengesunken.

Die ganze Straße war dunkel, alle Häuser verschlossen. Charlie zog den Mantel enger um sich und wünschte sich, Easthampton wäre ein bisschen mehr wie die Universitätsstädte in der Umgebung – Northampton oder Amherst –, voller beschwipster Studenten, die auch spätnachts durch die Straßen torkelten und somit rechtfertigten, dass zumindest eine einzige Pizzeria nach Barschluss noch geöffnet hatte. Oder wenigstens ein Coffeeshop für Rund-um-die-Uhr-Streber.

Diese Stille ließ ihr zu viel Zeit zum Nachdenken.

Allein auf den dunklen Straßen konnte Charlie nicht mehr verdrängen, was Doreen gesagt hatte. Aber das, was du getan hast – sogar damals schon, das Zeug, was die Leute über dich erzählt haben –, du musst auf irgendjemanden ganz schön wütend sein.

Sie trat gegen einen herumliegenden Betonbrocken.

Als Mädchen war Charlie ein Bündel aus schwarzem Haar, braunen Augen und schlechtem Benehmen gewesen. Sie hatte sich von einer Schwierigkeit in die nächste gestürzt, aber immerhin hatte sie dabei gelernt, dass sie gut darin war, Dinge auseinanderzunehmen. Puzzle zum Beispiel. Oder Menschen. Es gefiel ihr, daran herumzurätseln. Es gefiel ihr, herauszufinden, was sich dahinter verbarg. Zu dem zu werden, woran die anderen glauben wollten.

Was sie wieder zu Adam brachte. Es konnte nicht schaden, die Sache einmal durchzuspielen. Sich von der Nacht abzulenken.

Charlie zog das Wegwerfhandy hervor und tippte: In der Mortimer Rare Book Collection im Smith College gibt es einen Band, in dem bestimmt etwas sehr Wichtiges steht. Ich kann dich bezahlen. Oder wir handeln etwas aus.

Gloamisten waren ständig auf der Jagd nach alten Büchern, in denen Techniken der Schattenmodifizierung beschrieben wurden. Sie brachten sich sogar gegenseitig dafür um. Sie bot Adam einen leichten Auftrag an.

Immerhin musste es verlockend wirken.

Zehn Jahre lang hatte sie für diesen oder jenen Gloamisten gestohlen. Bücher und Schriftrollen und gelegentlich auch andere, schlimmere Dinge. Zehn Jahre lang hatte sie ihre Identität geheim gehalten. War unauffällig geblieben, hatte hin und wieder zur Tarnung in Restaurants und Bars gearbeitet und Balthazar als Mittelsmann benutzt. Vor etwas über einem Jahr hatte sie eine Anzahlung auf ein Haus geleistet und Posey dazu überredet, sich bei einigen Colleges zu bewerben.

Dann hatte sie alles vermasselt.

Es war, als wäre da ein Glutofen in ihr, der immer schwelte. Vor einem Jahr hatte sie selbst gesehen, wie leicht sie alles um sich herum zu Asche verbrennen konnte.

Adam schrieb nicht zurück. Vielleicht schlief er. Oder er war high. Oder einfach nicht interessiert. Sie steckte das Handy in die Tasche zurück.

Aus dem Augenwinkel glaubte sie eine Art öliges Schimmern in der Lücke zwischen zwei Gebäuden zu sehen.

Das lenkte sie immerhin von der Vergangenheit ab, wenn auch nicht auf angenehme Art.

Wenn die Leute über körperlose Schatten redeten, die durch die Welt streiften, dann so wie über den Slender Man oder das Mädchen mit der Wange voller Spinnen, aber Charlie wusste, dass Blights nicht nur Geschichten waren. Sie waren das, was übrig blieb, wenn ein Gloamist starb, sein Schatten aber nicht. Sehr real und sehr gefährlich. Onyx funktionierte, wenn man sie abwehren wollte, und Feuer, aber das war auch alles, wenn man nicht selbst ein Gloamist war.

Ihr echtes Handy summte, und Charlie zuckte zusammen. Es war eine Nachricht von Vince: Alles okay?

Bin gleich zu Hause, schrieb sie zurück.

Sie hätte ihn anrufen sollen, vom Rapture aus. Er hätte sie abgeholt. Wahrscheinlich hätte es ihm nicht einmal etwas ausgemacht. Trotzdem gefiel ihr der Gedanke nicht, von ihm abhängig zu sein. Das würde es nur noch schlimmer machen, wenn er fort war.

Ein Geräusch kam von weiter vorn, wo der Nashawannuck Pond in den Rubber Thread Pond mündete, gegenüber von den verlassenen Mühlengebäuden. Irgendjemand war dort.

Sie ging schneller, schob die Hände tief in die Taschen und schloss die Finger um den Griff eines Klappmessers, das an ihrem Schlüsselbund hing. Es war immer noch scharf, obwohl sie es dafür benutzte, Cornflakespackungen aufzuschneiden und Kitt von alten Fenstern abzukratzen. Eigentlich hatte sie keine Ahnung, wie sie sich damit verteidigen sollte, aber wenigstens war es spitz und hatte einen Onyxgriff, um die Schatten zu schwächen.

Ein Flackern lenkte ihren Blick eine Gasse hinab. Vor einem der Geschäfte brannte eine Laterne, und ihr Licht fiel auf einen Haufen fleckiger Kleider und weißer Knochen. Und auf eine Mauer voller schwarzer Blutspritzer.

Charlie blieb stehen, ihre Muskeln spannten sich, ihr Magen rebellierte, während ihr Verstand zu verarbeiten versuchte, was sie da sah. Ihr Hirn bot ihr diverse alternative Erklärungen dafür an, was sie vor sich hatte: eine weggeworfene Requisite aus einer Geisterbahn, eine Schaufensterpuppe, ein Tier.

Aber nein, die Überreste waren menschlich. Rohes Fleisch, aufgerissen und genauso zerfetzt wie die Kleider, als hätte es das, was auch immer dies getan hatte, auf die Eingeweide dieses Menschen abgesehen gehabt. Charlie trat einen Schritt vor. Die Kälte dämmte den Geruch ein, dennoch lag ein süßlicher Hauch von Leichenhaus in der Luft. Das Gesicht des Mannes war zur Seite gedreht. Offene, glasige Augen. Sein Rippenkasten war aufgebrochen und teilweise abgerissen. Gezackte weiße Knochen erhoben sich aus dem blutigen Fleisch wie ein Kreis aus silbernen Birken.

Da war sie wieder, die Bewegung. An der Mauer. Sein Schatten, der genauso reglos hätte sein sollen wie die Leiche, wehte zerfetzt in der Brise wie zerrissene Wäsche auf der Leine. Als könnte der nächste starke Windstoß ihn losreißen.

Das Gesicht des Mannes sah im Tod so anders aus, dass Charlie ihn zuerst an den Kleidern erkannte. Tweed, zerknittert und ein bisschen schmutzig, als hätte der Träger darin einiges durchgemacht. Dies war der Mann, den Balthazar aus dem Schattensalon des Rapture hatte werfen lassen. Der Typ, der ihm angeboten hatte, etwas an Salt zurückzuverkaufen.

Vor gerade mal zwei Stunden hatte sie ihm ein Glas Four Roses hingestellt. Und jetzt …

Sie hörte etwas, ein Geräusch am anderen Ende der Gasse. Sie riss den Kopf hoch und schnappte nach Luft. Ein Mann mit Hut und einem langen schwarzen Mantel starrte sie aus Augen an, die dunkler als Einschusslöcher waren.

Mit seinen Händen stimmte etwas nicht.

Ganz und gar nicht.

Sie waren aus Schatten gemacht, von den vernarbten Stümpfen seiner Handgelenke an.

Er begann, auf Charlie zuzugehen, seine Schritte auf dem Asphalt hallten scharf und klar durch die Nacht. Ein Teil ihrer Instinkte schrie ihr zu, sie solle wegrennen, der andere Teil wollte hingegen, dass sie erstarrte, weil sie mit einer Flucht nur den Raubtierreflex der Jagd in ihm auslösen würde. Würde sie wirklich kämpfen? Das Messer in ihrer Hand kam ihr lächerlich klein vor, kaum besser als eine Nagelschere.

In der Ferne heulten Sirenen.

Bei diesem Klang blieb der Mann stehen. Sie sahen einander an, die Leiche zwischen ihnen. Dann wich er zurück, glitt um eine Ecke und war außer Sicht. Charlie war schwindlig vor Schreck, und mit einem Mal war sie entsetzlich nüchtern.

Sie zwang sich dazu, sich in Bewegung zu setzen, stolperte aus der Gasse und eilte in Richtung Union Street. Wenn sie beim Eintreffen der Polizei in der Nähe einer Leiche entdeckt wurde, dann würde sie eine Menge Fragen beantworten müssen – und vermutlich würde ihr niemand ihre Geschichte über einen Mann mit Schattenhänden glauben. Besonders nicht, da es Charlie war, die diese Geschichte erzählte, Charlie, die im Alter von achtzehn Jahren bereits zweimal wegen Betrugs festgenommen worden war.

Ihre Beine trugen sie voran, aber ihre Gedanken rasten wild im Kreis.

Seit dem Boxford-Massaker vor zwanzig Jahren, als die Welt mit einem Schlag begriffen hatte, dass es Gloamisten gab, wimmelte es in Western Massachusetts geradezu von ihnen. Das Silicon Valley der Schattenmagie.

Von Springfield mit seinen stillgelegten Waffenfabriken und brettervernagelten Villen über die Universitäten und Colleges bis hin zu den eigenwilligen Farmen der Bergdörfer, den verschmutzten Flüssen und der sumpfigen Schönheit des Quabbin Reservoir war das Valley billig genug und nah genug an New York und Boston, um durchaus verlockend zu sein. Außerdem hatte man Verrückten hier schon immer viel Toleranz entgegengebracht. Man konnte Ziegen als Rasenmäher mieten und einen von einem Schützenverein jährlich veranstalteten Mittelaltermarkt besuchen. Man konnte ein Bettgestell aus dem achtzehnten Jahrhundert, einen handgetöpferten Pott in Form einer Vagina oder Heroin von einem Typen an der nächsten Bushaltestelle kaufen – alles in einem bequemen Fünfzehn-Minuten-Radius.

Seit Neuestem konnte man auch in einen Schattensalon stolpern und einen Alterationisten dazu bringen, einem das Verlangen nach einem der gerade erwähnten Dinge zu nehmen oder der Liste noch einen weiteren Wunsch hinzuzufügen. Das Geschäft mit den Happy Trips ging durch die Decke. Je mehr Gloamisten es gab, desto mehr veränderten sich die Städte, und auf der ganzen Welt gab es nicht genug Onyx, um das aufzuhalten.

Trotz allem hatte dieser Mord etwas einzigartig Grausames an sich. Wer oder was auch immer das getan hatte, musste unfassbar stark sein, um einen menschlichen Körper einfach aufknacken zu können wie eine Walnuss.

Sie schob die zitternden Hände tiefer in die Taschen. Der ihr so vertraute Weg kam ihr fremd vor, voller gezackter Schatten, die sich bei jeder Windböe bewegten. Immer wieder war ihr, als würde sie den Gestank nach verdorbenem Fleisch wahrnehmen.

Zwei weitere atemlose Häuserblocks, dann eilte sie ihre Einfahrt hinauf.

Das Glöckchen über der Tür klingelte, als sie die hässliche gelbe Küche ihres Mietshauses betrat. Im Spülbecken lagen eine Bratpfanne und zwei schmutzige Teller. Neben der Mikrowelle stand ein weiterer mit einer Schüssel abgedeckter Teller. Ihre Katze Lucipurrr schnupperte hoffnungsvoll daran.

Als Charlie das Wohnzimmer betrat, fand sie Vince schlafend vor dem leise gestellten Fernseher, seinen großen Körper auf ihrem Secondhandsofa ausgestreckt, ein Taschenbuch auf dem Bauch. Während sie ihn betrachtete, spürte sie einen sehnsuchtsvollen Stich. Das unangenehme Gefühl, jemanden zu vermissen, der noch gar nicht weg war.

Unwillkürlich landete ihr Blick an der Stelle, wo sein Schatten hätte sein sollen. Doch da war nichts.

Bei ihrer ersten Begegnung war Charlie aufgefallen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, als wäre er ein bisschen verschwommen, etwas unscharf an den Rändern. Vielleicht hatte ihr betrunkener Zustand sie abgelenkt oder die Tatsache, dass er ein kräftiges Kinn und klare Gesichtszüge hatte, was man von den Männern, die sich zu ihr hingezogen fühlten, im Allgemeinen nicht sagen konnte. Erst am nächsten Morgen, als sie seine Silhouette im Türrahmen hatte stehen sehen und es ihr vorgekommen war, als würde das Licht durch ihn hindurchscheinen, hatte sie begriffen, dass er keinen Schatten hatte.

Posey hatte es sofort bemerkt.

Nun saß Charlies Schwester auf dem abgewetzten grauen Wollteppich und starrte konzentriert auf ihren Laptop, auf dem sich ein körniges Bild bewegte. Vor ihr lag ein ausgebreitetes Kartendeck. Sie trug denselben Pyjama wie schon am Morgen, als Charlie zur Arbeit aufgebrochen war. Die Ärmelaufschläge waren abgetragen und schmutzig. Kein BH. Ihr hellbraunes Haar hatte Posey zu einem unordentlichen Knoten auf dem Kopf zusammengebunden. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ihr Septum-Ring aus Onyx und Gold, den sie nie abnahm. Bei ihren Zoom-Sitzungen ließ Posey ihre Kamera meistens ausgeschaltet, weshalb sie sich dafür nicht extra zurechtmachen musste.

Sie klang durch und durch professionell und beruhigend, während sie ihre Tarotlesung fortführte. Dass Charlie hereingekommen war, merkte sie kaum. »Neun der Stäbe, umgekehrt. Sie sind erschöpft. Sie wollen viel von sich geben, aber in letzter Zeit haben Sie das Gefühl, dass Sie nichts mehr zu geben haben …«

Offenbar begann die Person am anderen Ende daraufhin, ihr das Herz auszuschütten, denn Posey schaltete ihr Mikro stumm und hörte einfach zu.

Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte ihre Mutter sie zu einer ganzen Menge Hellseher und medial begabter Personen geschleppt. Charlie erinnerte sich daran, wie sie im Vorraum eines Hauses am Highway mit Poseys Kopf auf dem Schoß auf staubige Samtkissen und Perlenvorhänge gestarrt und dabei zugehört hatte, wie jemand ihre Mutter über ihre Zukunft belog.

Trotzdem, auch wenn alles nur Betrug gewesen war, hatte ihre Mutter jemanden gebraucht, mit dem sie hatte reden können, immerhin öffnete sie sich nie jemand anderem. Medien waren Therapeuten für Leute, die nicht zugaben, dass sie eine Therapie brauchten. Sie waren Magie für diejenigen, die sich verzweifelt nach ein bisschen Zauber sehnten, damals, bevor Magie zur Wirklichkeit geworden war.

Charlie glaubte zwar nicht, dass Posey über echte hellseherische Fähigkeiten verfügte, aber sie war überzeugt davon, dass Poseys Kunden jemanden bekamen, der ihre Probleme ernst nahm und der ihnen wirklich helfen wollte. Das schienen die fünfzig Dollar pro Sitzung und das Abonnieren ihres Patreon-Accounts wert zu sein.

Charlie kehrte in die Küche zurück und deckte ihren Teller auf. Vince hatte Rührei-Tacos gemacht, mit Avocadoschnitzen und Tabasco und Sriracha darauf. Den Tellern in der Spüle nach zu schließen hatte er sogar für Posey mitgekocht. Charlie setzte sich zum Essen an den rostigen Klapptisch und lauschte ihrer Schwester.

»König der Kelche, auch umgekehrt. Sie sind eine kluge Frau, aber manchmal treffen Sie nicht die besten Entscheidungen.«

Ein Restschauer des Adrenalins durchlief Charlie, und kurz musste sie die Gabel weglegen und mehrmals tief durchatmen. Sie versuchte, sich auf die Stimme ihrer Schwester zu konzentrieren, auf die Vertrautheit der Geschichte, die Posey erzählte.

Der Großteil der Leute, die eine Lesung buchten, hatte Probleme mit der Liebe. Vielleicht wollten sie wissen, ob sie bei jemand Bestimmtem eine Chance hatten, oder sie waren einsam und wollten hören, dass es nicht ihre Schuld war, dass sie noch nicht den richtigen Menschen gefunden hatten. Meistens aber ging es darum, dass sie in einer üblen Beziehung gelandet waren. Einige von ihnen wollten, dass man ihnen sagte, es wäre das ganze Elend wert, andere wollten die Erlaubnis zu gehen.

Auch bei ihrer Mutter war es während der Sitzungen meist um Beziehungen gegangen. Wenn sich die Hall-Frauen verliebten, war es, als würden sie sich von einer Klippe stürzen. Sie waren furchtbar darin, sich Männer auszusuchen. Als würde ein uralter Fluch auf ihnen lasten, der mit Nanas Hochzeit mit einem Mann begonnen hatte, der so grausam gewesen war, dass Nana immer noch im Gefängnis saß, weil sie ihm in den Hinterkopf geschossen hatte, während er in seinem Liegesessel gesessen und ferngesehen hatte. Mit Mom war es weitergegangen, die Charlie und Posey auf den Rücksitz ihres Kia gesetzt und stumm durch die Stadt gefahren hatte, um den Vater der Mädchen mit einer anderen Frau zu erwischen. Dann war der Stiefvater gekommen, der Posey das Handgelenk gebrochen hatte, und ein Ex-Freund von Charlie, der so dringend Geld gebraucht hatte, um seine Spielschulden zu begleichen, dass er sie dazu überredet hatte, Steuererklärungen für Tote auszufüllen und ihm die Rückerstattungen zu geben. Posey hatte einmal gesagt, ein Mann müsse entweder ein Loch im Kopf, im Herzen oder in der Tasche haben, damit sich die Hall-Frauen bis über beide Ohren in ihn verliebten.

Vielleicht stimmte das. Vielleicht musste einem Mann irgendetwas fehlen, damit Charlie das Gefühl hatte, sie könnte sich selbst in diese Leere gießen und ihn heilen wie ein Elixier. Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass Charlie selbst das Gefühl hatte, etwas verloren zu haben, und deshalb den Verlust des anderen nachfühlen konnte.

Vince war ein zuverlässiger Mann. Tough, hart arbeitend. Die zögerliche Art, mit der er ihr Geschichten über seine Familie erzählt hatte, machte deutlich, wie ungern er über seine Vergangenheit sprach, aber sie hatte ihn lange genug beobachtet, um einige fundierte Vermutungen anstellen zu können. Die Schwielen an seinen Händen waren neu, und seine Zähne waren so gerade, wie sie es nur wurden, wenn man als Kind eine Spange getragen hatte. Er wusste Dinge, die man im College lernte, aber er hatte keine Schulden. Seine Familie war vermögend.

Charlie fragte sich, ob sie sich von ihm abgewandt hatten, nachdem er seinen Schatten verloren hatte. Sie hatte versucht, ihn danach zu fragen, doch er hatte ihr nur ausweichend geantwortet, und sie hatte nicht nachgebohrt, weil sie nicht sicher war, ob sie wirklich etwas über dieses bessere Leben hören wollte. Und darüber, wie er es verloren hatte.

Immerhin war er bereit wegzusehen, wenn die wahre Charlie Hall auftauchte. Die Charlie Hall, die sich von Problemen angezogen fühlte, die zu Anfällen von Trostlosigkeit neigte, während deren sie kaum aus dem Bett kam. Die jahrelang versucht hatte, die Ouroboros ihrer Gedanken mit zu viel Alkohol zu bekämpfen, mit zu vielen Männern und einer nicht endenden Reihe von Raubzügen. Man sagte, dass Menschen ohne Schatten Gefühle nicht mehr so tief und allumfassend erlebten wie andere. Vielleicht war das der Grund dafür, dass es Vince nicht zu kümmern schien, was sie war und was sie getan hatte.

Zu Hause mit Vince versuchte sie, sowohl die Fabeldichterin als auch die Fabel zu sein, eine Frau, deren Vergangenheit als Betrügerin längst vorbei war und die nicht ständig gegen das Verlangen ankämpfen musste, wieder auf die schiefe Bahn abzubiegen.

Und falls er ihr manchmal etwas zu gut zuhörte, falls sie manchmal ahnte, dass er den verletzlichen, wilden Teil in ihr erkannt hatte, der sich danach sehnte, alles kaputt zu schlagen, dann drängte er sie zumindest zu nichts.

»Na, komm«, sagte Charlie und stieß Vinces Bein leicht mit dem Fuß an. Sie wollte, dass er mit ihr ins Bett kam. Sie brauchte seinen Atem in ihrem Haar und das Gewicht seines Arms auf ihrer Brust, um sie vor den Gedanken an weiße Knochen und trocknendes Blut und Männer ohne Hände zu beschützen.

Vince öffnete die Augen. Streckte sich. Schaltete den Fernseher aus. Wie viele große Männer hatte er die Angewohnheit, leicht die Schultern hängen zu lassen, als würde er versuchen, weniger Furcht einflößend zu wirken.

»Hast du dein Essen gefunden?«, fragte er und ging auf dem Weg zum Schlafzimmer an ihr vorbei. Mit den Fingerspitzen strich er leicht über ihren Rücken. Sie erschauerte vor Verlangen und sog den Geruch nach Bleiche ein, der nach der Arbeit immer noch an seiner Haut haftete.

»Du bist ein guter Mann«, erklärte sie ihm.

Er lächelte, verwirrt, aber erfreut.

Vince bezahlte seine Rechnungen. Er brachte den Müll raus. Er war freundlich zu der Katze. Und auch wenn er sich nach einem anderen Leben sehnte, war er jetzt bei Charlie. Was in seinem Herzen vorging, war genauso unwichtig wie das, was in ihrem geschah.

3

Damals

Als Charlie dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie ihrer Mutter erzählt, sie hätte eine Erscheinung gehabt.

Nach der Scheidung war ihre Mutter tief in die Welt der Kristalle und Weissagungen eingetaucht, und sie hatte eine Freundin, die »Nachrichten von Engeln« erhielt, also war es nicht so, als wäre diese Idee aus dem Nichts gekommen. Charlie behauptete, dass der Geist einer Hexe, die während der Inquisition gestorben war, begonnen hätte, mit ihr zu sprechen. Dann auch durch sie.

Rückblickend war das keine besonders gute Idee gewesen. Anders hörte Mom ihr jedoch einfach nicht zu. Und Charlie war verzweifelt.

Auftritt Elvira de Granada – eine Gestalt, die halb auf einer Animeserie basierte, die Charlie spätabends immer anschaute, und halb auf dem Gruselroman-Mist aus dem Supermarkt. Elvira konnte jedoch alles sagen, was Charlie Hall nicht sagen konnte. Elvira konnte die ganze aufgestaute Wut eines bereits vernarbten Herzens hinausschleudern.

Das Problem war, dass Mom wirklich, wirklich, wirklich davon überzeugt werden musste, dass ihr neuer Ehemann ein böser Mensch war – und zwar dringend. Travis war gemein, und er konnte Charlie und Posey nicht ausstehen.

Dumm war er jedoch nicht. Als er Posey schlug – wegen nichts, nur weil sie ihm mit ihrem Herumgehopse auf die Nerven gegangen war und sich geweigert hatte, ins Bett zu gehen –, da tat er es, als Mom nicht da war. Später verhielt er sich, als wäre nichts gewesen und als wäre es Charlie gewesen, die ihre Schwester geschlagen hatte. Er behauptete, dass Posey log, um ihre Schwester zu decken.

Natürlich wurde Charlie bestraft. Genau wie Posey für ihre Lügen.

Von da an wusste Travis, dass er die Oberhand hatte. Er erklärte ihrer Mutter, dass sie ihren Kindern mehr Grenzen setzen müsse, dass ihr Dad ihnen auch einen »verdammten Mord« hätte durchgehen lassen, dass sie hinterhältig seien, dass sie logen, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und dass sie ihm Geld aus der Brieftasche stahlen. Er sagte, wenn Mom nicht bald etwas täte, dann würden die Mädchen sie nie respektieren und wahrscheinlich irgendwann im Gefängnis landen.

Als er Charlie schlug, versuchte sie nicht einmal, ihrer Mutter etwas davon zu sagen.

Mom war fasziniert von der Vorstellung, ihre Tochter könnte ein Medium sein. Sie war verblüfft, als Charlie ihr bestimmte Dinge über ihre Verwandtschaft berichtete, obwohl das alles nur Geschichten waren, an die sich Charlie aus Erzählungen erinnerte. Manchmal erzählte sie auch einfach Lügen über die Toten, weil niemand sie widerlegen konnte.

Doch nicht einmal Elvira de Granada konnte Charlies Mutter davon überzeugen, dass Travis böse war. Charlies Mutter entschied, dass Elvira verbittert und nicht vertrauenswürdig war, immerhin hatte man sie zu Tode gefoltert. Da dachte sich Charlie Alonso Nieto, den Zauberer, aus. Im Gegensatz zu Elvira war ihm nicht nur vorgeworfen worden, Magie einzusetzen, er gab es offen zu.

Wie sich herausstellte, verfügten Männer eben einfach über mehr Autorität, auch wenn es ausgedachte Männer waren.

Mom liebte es, sich mit Alonso zu unterhalten. Charlie hatte geglaubt, schon als Elvira ziemlich überzeugend gewesen zu sein, aber bei Alonso wollte Mom überzeugt werden.

Natürlich wusste Charlie, dass sie trotzdem vorsichtig sein musste. Wenn Alonso Mom dazu bringen sollte, Travis zu verlassen, dann musste der Zauberer ihr etwas Konkretes liefern.

Es schadete auch nicht, dass sich Travis’ miese Seite allmählich zeigte. Kurz nach der Hochzeit hatte er eine große Show daraus gemacht, Mom zu sagen, wie perfekt sie sei und was für ein großartiges Leben sie führen würden, aber er konnte den Schein nicht aufrechterhalten. Wenn sie sich stritten, rutschten ihm nun Bemerkungen über ihr Gewicht heraus und darüber, dass sie wohl nicht die Allerhellste wäre. Blumen und Ausgehabende wurden spärlicher, genau wie seine Beiträge zu ihren monatlichen Ausgaben.

Charlie wusste, dass sie eine Chance hatte, aber sie brauchte Hilfe. Also weihte sie ihre kleine Schwester in den Plan ein.

Posey war reichlich verwirrt wegen Elvira und Alonso, aber zugleich war sie froh darüber, dass wenigstens irgendjemand Klartext über den Stiefvater redete, den sie so hasste. Trotzdem hatte es ihr eindeutig Angst eingejagt, dass ihre Schwester besessen war. Als sie erfuhr, dass es nur ein Spiel war, änderte sich alles.

Professionelle Hellseher spezialisierten sich meistens auf eine von zwei Arten von Lesungen, auch wenn das keine der beiden Schwestern damals wusste. Die eine Art waren die kalten Lesungen, die Art, der Posey als Online-Wahrsagerin nachging. Sie erfand Dinge aus dem Stegreif, basierend auf ihren Beobachtungen. Die zweite Art von Lesungen war heiß.

Während einer kalten Lesung achtete ein Medium beispielsweise darauf, wie oft ein Kunde auf sein Handy sah, ob sein Finger einen hellen Streifen von einem fehlenden Ehering aufwies, wie neu die Schuhe waren oder wie sichtbar die Tätowierungen. Online oder am Telefon musste sich das Medium auf die Wortwahl verlassen, auf den Akzent und den Grad der Aufregung in der Stimme. Eine gute kalte Lesung leistete die Überzeugungsarbeit, die notwendig war, damit sich der Kunde entspannte und begann, Informationen preiszugeben.

Eine heiße Lesung war etwas ganz anderes. Dabei sammelte man bereits vorab Informationen über eine Person. Einige gefeierte Hellseher verwanzten sogar ihre Pausenräume oder schickten Assistenten los, damit sie sich bei ihren Vorstellungen durch das Publikum bewegten und lauschten.

Das war es, was Charlie vorhatte, eine heiße Lesung.

Posey und sie durchsuchten Travis’ Taschen. Sie kamen hinter sein Computerpasswort und scrollten sich durch seinen Browserverlauf, seine E-Mails und seine Facebook-Nachrichten. Sie durchstöberten seinen Porno-Ordner, der ekelhaft war, aber nichts enthielt, was abartig genug gewesen wäre, um ihn zu Fall zu bringen. Wie sich herausstellte, flirtete er mit keiner anderen und unterschlug auch kein Geld. Travis war böse – und langweilig.

Obwohl Charlie in der Schule nicht sonderlich brillierte und längst zu der Gruppe Kinder gezählt wurde, die nie aufs College gehen würden, las sie eine Menge und war aufmerksam. Sie war klug.

Allerdings konnten auch kluge Kinder sehr dumme Dinge tun.

Da sie bei Travis nichts finden konnte, erschuf sie die nötigen Beweise eben. Sie erstellte eine neue Facebook-Seite mit seinem Namen und seinem Foto, dann begann sie, mit allen möglichen Frauen zu flirten. Bald schon kamen auch Textnachrichten von einem Wegwerfhandy dazu. Sich die Hälfte der Zeit als Travis und die andere Hälfte als Alonso auszugeben, war anstrengend. Wie Rollenspiele auf Steroiden.

Anstatt es jedoch leid zu werden, stellte sie fest, dass ihr vor allem auf die Nerven ging, wie oft sie noch Charlie Hall sein musste, ein Mädchen mit einer Menge Mathehausaufgaben. Sie freute sich zunehmend auf ihr Improvisationstheater, denn es schien, als würden genau die richtigen Worte aus einem Teil ihrer selbst kommen, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass er da war.

Es war ihr zwar gelungen, Beweise zu fälschen, aber sie war nicht sicher, ob es ausreichen würde, um ihre Mutter zu überzeugen. Also trug sie Posey auf, ihre Umgebung zu manipulieren. Lichter auf der anderen Seite der Wohnung aufblitzen zu lassen, den Herd einzuschalten und kleine Gegenstände dort zurückzulassen, wo ihre Mutter sie finden konnte. Um Alonsos Macht zu demonstrieren. Sie erfanden den viktorianischen Spiritualismus ganz neu.

Charlie war in eine der berauschendsten aller Illusionen hineingestolpert – Alonso versicherte Mom, dass sie wichtig war, besonders, auserwählt. Was die Details betraf, blieb er vage, aber die Details waren auch nicht wichtig.

Nicht lange, und sie hatte Mom am Haken. Tatsächlich kam es Charlie manchmal so vor, als hätte ihre Mutter mehr Interesse an Alonso als an ihr. Als würde sie lieber Zeit mit ihm als mit ihrer Tochter verbringen. Manchmal hatte Charlie das Gefühl, das Wichtigste an ihr wäre die Tatsache, dass sie ein Gefäß für Alonso war.

Nach einem schlimmen Abend, an dem Travis sie angebrüllt, ihr befohlen hatte, ihr Zimmer aufzuräumen, und schließlich, als dies nicht zu seiner Zufriedenheit erledigt worden war, ihre Ausgabe von Das wandelnde Schloss in der Mitte durchgerissen hatte, entschied sie, dass es Zeit war. Drei Tage später wies Alonso ihre Mutter an, in das Handschuhfach von Travis’ Auto zu sehen, wo Posey bereits das Wegwerfhandy deponiert hatte.

Danach ging alles ziemlich schnell.

Mom las die Nachrichten auf dem Handy und sah, was »Travis« diesen anderen Frauen versprochen und was für scheußliche Dinge er über sie gesagt hatte. Travis leugnete alles und wurde immer wütender, als ihm niemand glaubte.

Echt ätzend, was?, dachte Charlie zufrieden und erinnerte sich an die vielen Male, als Mom ihm geglaubt hatte statt ihren Töchtern.

Charlie war froh, als Mom, Posey und sie schließlich auszogen, und sogar noch froher, als ihre Mutter die Scheidung einreichte. Sie war begeistert, als sie ihre neue kleine Wohnung einrichteten, obwohl sie noch weniger Geld hatten als jemals zuvor. Allerdings fürchtete sie sich auch ein bisschen vor dem, was sie getan hatte. Es war eine schwere Last, zu wissen, dass sie einen so großen Betrug begangen hatte und dass ihre Mutter ihr vielleicht niemals verzeihen würde, falls sie es je herausfand.

Außerdem war sie nicht bereit dafür, dass ihre Mutter Alonso ihren Freunden vorstellen wollte. Charlie weigerte sich. Sie weinte und beharrte darauf, dass sie nicht gehen und Alonso nicht mehr durch sich sprechen lassen wollte.

Sie stand an der Schwelle zur Pubertät. Drei Viertel Kind, ein Viertel Sehnsucht. Ihre Träume waren verwirrende Kaleidoskope aus Fantasien darüber, wie sie über die Filmsets diverser Serien schlenderte und Cocktails trank, die aussahen wie Wodka Martini und schmeckten wie Sprite; wie sie Lippenstift und rote Glitzerpumps trug und jemanden heiratete, der halb Popstar und halb Stofftier war.

Sie wusste, dass sie aufhören musste, Alonso zu sein, bevor man sie erwischte, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte, ohne ihre Mutter zu enttäuschen.

Lass ihn einfach durch. Das wird das letzte Mal. Versprochen, Schatz.

Ihre Mutter überredete sie dazu, einmal mit ihren Freunden zu sprechen. Dann ein zweites Mal. Bei ihrem dritten Besuch begriff Charlie, dass einige von ihnen skeptisch geworden waren. Rand, ein stattlicher Mann mit einem schönen gewachsten Schnurrbart, versuchte, sie mit historischen Fragen in die Falle zu locken, und Charlie geriet in Panik. Sie redete zu viel. Auf der Autofahrt nach Hause spürte sie den Blick ihrer Mutter auf sich, entmutigt und nah an der Desillusionierung. Charlies ganzer Körper war bleischwer.

Beim vierten Mal hatte sie nichts mehr gegen den Besuch einzuwenden, auch wenn ihre Mutter verunsichert zu sein schien. Charlie hatte geschichtliche Fakten gebüffelt und glaubte, sich damit und mit dem Wissen, dass Alonso vermutlich nie von Dingen wie Antibiotika und Schwerkraft gehört hatte, noch ein weiteres Mal durchschlagen zu können.

Vor allem aber hatte sie sich daran erinnert, was bei ihrer Mutter funktioniert hatte. Charlie musste niemanden von irgendetwas überzeugen.

Sie musste sie dazu bringen, glauben zu wollen.

Also antwortete sie nicht mehr auf ihre Fragen, sondern spann eine scharfkantige Fantasie. Sie kannte die Freunde ihrer Mutter gut genug, um erraten zu können, wer von ihnen hoffte, dass in einer Zeitschrift ein Artikel über ihre Skulpturen erscheinen würde, wer sich nach Liebe sehnte und wer wollte, dass ihre Kinder näher zu ihr zogen.

Alonso erzählte ihnen allen, was sie hören wollten, begleitet von einem Tritt in den Hintern.

Du bist dem Mann, der für dich bestimmt ist, bereits begegnet, und du weißt, wer er ist und warum ihr nicht zusammen seid.

Deine Kinder wären in der Nähe eines Sees am glücklichsten, aber sie werden sich gegen dieses Wissen sperren.

Deine Arbeit wird nach deinem Tod gefeiert werden.

Dann verkündete Alonso ihnen, dass er seine Aufgabe erfüllt habe und endlich weitergehen dürfe. Nach einem feierlichen, tränenreichen Abschied ließ Charlie ihren ganzen Körper erschlaffen. Sie fiel zu Boden und tat eine volle Minute so, als wäre sie ohnmächtig – bis sie schon Angst hatte, die anderen würden einen Krankenwagen rufen.

Selbst die Skeptischsten unter den Freunden ihrer Mutter verhätschelten sie danach mit Keksen und Kräutertee.

Sie hatte nie wieder eine »Erscheinung«.

Manchmal sah ihre Mutter sie seltsam an, aber Charlie versuchte, nicht darauf zu achten. Und Posey, eifersüchtig auf all die Aufmerksamkeit, die Charlie zuteilgeworden war, begann damit, Tarotkarten zu legen und ihr entrücktes Starren zu kultivieren.

Während Charlie das Gefühl hatte, dass ihr nur noch die uninteressantesten Teile ihrer selbst geblieben waren, wohingegen sie alles andere verloren hatte.

4

Mehr Kaffee

Helles Morgenlicht flutete die Küche. Lucipurrr stand im Spülbecken, die Pfoten auf einem schmutzigen Teller balancierend, und leckte am tropfenden Wasserhahn.

Charlie schenkte Kaffee ein, wobei ihr der Glanz in Poseys blutunterlaufenen Augen auffiel und ihr nervös wackelndes Bein unter dem Tisch. Sie trug immer noch den Pyjama vom Vorabend, dazu Einhornslipper, deren Fell fleckig grau war.

»Bist du die ganze Nacht aufgeblieben?«, fragte Charlie, obwohl die Antwort offensichtlich war.

»Ich habe einen neuen Kanal abonniert.« Poseys Tonfall zufolge erwartete sie, dass Charlie mit ihr diskutieren würde. In den Foren, die Posey frequentierte, und in den Videos, die sie sich ansah, wurden gefährliche Ratschläge darüber erteilt, wie man seinen Schatten beleben konnte, der erste Schritt auf dem Weg, ein Gloamist zu werden.

In den meisten Mainstream-Artikeln, die über Schattenmagie geschrieben wurden, ging es um Modifizierungen – Klickköder wie: Ist Magie die neue 1%-Methode? Hollywoodschauspielerin startet neuen Schattentrend. Wie man das Verlangen nach Junkfood direkt an der Wurzel ausreißt. Die nützlichsten Schattenmodifizierungen für junge Mütter. Ist das Entfernen von Verlangen eine neue Art der Lobotomie? In diesen Geschichten waren Gloamisten die Lieferanten. Die Händler. Die Magie-Supermärkte. Die Magie-Nikoläuse.

Stars und Sternchen ließen ihre Schatten inzwischen immer häufiger modifizieren und wechselten sie, wie man seine Frisur änderte. Sie stylten sich für die Met-Gala mit Schatten in der Form von Drachen, Schwänen oder Raubkatzen. Sie ließen ihre Emotionen triggern, um sich besser auf eine Rolle vorbereiten oder um berührendere Songs schreiben zu können.

Und wenn dabei ein paar Leute verhungerten oder sich von Brücken stürzten oder so viel von sich entfernen ließen, dass sie nur noch durch ihre Tage zu treiben schienen, dann war das ein vergleichsweise kleiner Preis. Wenn Schatten verkümmerten oder verbrannten oder sich nicht transplantieren ließen, dann konnten sich die Reichen einfach einen neuen kaufen.

Wer jedoch ein bisschen tiefer in den Morast aus Links und Artikeln eintauchte, unter den Glanz des allgemeinen Interesses, der kam zu den Theorien darüber, wie man zu einem Gloamisten wurde. Seriöse Quellen meldeten sich mit mäßigendem Einfluss zu Wort. Ein Wissenschaftler des Helmholtz Research Centre wurde in einem mittlerweile viralen Video des »The New Yorker« mit den Worten zitiert: »Schatten sind wie die Totengeister Homers, die Blut brauchen, um sich zu beleben.« Allerdings wollte anscheinend wirklich jeder Influencer und Möchtegernzauberer seinen Senf dazugeben. YouTube und TikTok wurden mit gefälschten Tutorials zugemüllt. Wie ich meinen Schatten durch Schmerz erweckt habe, Schattenbelebung nach Faustkampf, Magische Fähigkeiten nach Ertrinken entdeckt, Sichere Atemkontrollmethode mit Plastiktüte – garantierte Ergebnisse. Und in den Tiefen von 8kun wurden die Ideen noch viel abartiger und viel schlimmer.