Borderline bewältigen - Heinz-Peter Röhr - E-Book

Borderline bewältigen E-Book

Heinz-Peter Röhr

0,0

Beschreibung

Menschen, die in früher Kindheit massiv abgelehnt wurden, entwickeln oft eine Borderline-Störung: Ihr Leben ist gespalten. Alles ist entweder schwarz oder weiß, gut oder böse – es gibt eine Zwischentöne. Die Betroffenen verlieren sich im inneren Chaos, ihr aggressives Verhalten zerstört ihre Beziehungen. Anhand des Grimm'schen Märchens »Hans mein Igel« beschreibt Heinz Peter Röhr die wichtigsten Merkmale der Borderline-Störung und zeigt, wie diese psychische Krankheit bewältigt werden kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 219

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



NAVIGATION

Buch lesen

Cover

Haupttitel

Inhalt

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zitatnachweis

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Heinz-Peter Röhr

Borderline bewältigen

Hilfen und Selbsthilfen

Patmos Verlag

Für Frank, Michaela und Melanie

INHALT

Vorwort

Hans mein Igel

Einleitung

Das Drama

Die Spaltung

Der Mangel

Die Kreativität

Die Flucht

Die Leistung

Die Wut

Die Beziehung

Die Verletzung

Die Gemeinschaft

Die Wandlung

Die Heilung

Die Kapitulation

Das Skript

Der Wesenskern

Das Erbe

Die Rückkehr

Anhang

Zwei Fallgeschichten

Wie erleben Borderline-Patienten bestimmte Lebenssituationen?

Aspekte der Selbsthilfe

Das Borderline-Syndrom

Die aktive Spaltung

Primitive Idealisierung

Projektive Identifikation

Die Verleugnung

Weitere Kennzeichen der Persönlichkeitsstörung

Borderline und Beziehung

Borderline und Sucht

Zur Therapie des Borderline-Syndroms

Skills-Training (Fertigkeiten zur Problembewältigung)

Borderliner und ihre geheimen Programme

Die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-5®

Schlußbemerkung

Anmerkungen

Literatur

Zitatnachweis

Vorwort

Der psychoanalytischen Forschung verschiedener Richtungen ist es in erster Linie zu verdanken, daß die globale Bedeutung der ersten Lebensmonate und -jahre für die Entwicklung der Persönlichkeit allgemein anerkannt ist. Störungen und gravierende Mangelerlebnisse, die in diesen sensiblen ersten Lebensphasen erfahren werden, haben Auswirkungen auf die seelische Gesundheit – nicht nur in der Kindheit, sondern sie verursachen bleibende Schäden. In letzter Zeit kommen immer mehr Patienten in ambulante oder stationäre Psychotherapie, die durch sogenannte «Frühstörungen» geprägt sind.

Eine solche Störung bildet sich in vielen Details im Märchen «Hans mein Igel» ab. Die Bezeichnung für die mittlerweile allgemein anerkannte, eigenständige Krankheit ist: Borderline-Persönlichkeitsstörung. Fachleute erwarten, daß diese Frühstörung zukünftig noch häufiger auftreten wird, und schon jetzt wird davon ausgegangen, daß 30–70 % der Psychotherapiepatienten eine Borderline-Störung aufweisen.

Dieses Buch ist für alle geschrieben, die sich in dem Märchen «Hans mein Igel» und den dazugehörigen Deutungen wiederfinden. Es soll ihnen helfen, sich selbst besser zu verstehen; denn meist ist ihnen unerklärlich, warum sie mit sich selbst und ihrer Umwelt nicht zu Rande kommen. Sie finden keine Möglichkeit, sich zu verändern und weiterzuentwickeln. Nur zu oft, dies darf unterstellt werden, wurden sie auch von anderen nicht verstanden. Angehörigen und allen, die mit diesen Menschen leben und arbeiten, dürfte die Lektüre des Buches einen Zugewinn an Verständnis und Information über die Krankheit bringen. Es will ein Beitrag zur Bibliotherapie sein. Daher wurden im Anhang weitere Informationen zusammengestellt, die hauptsächlich für Betroffene, die ihre Störung vertieft zu verstehen suchen, für professionelle Helfer, aber auch für alle, die mit dem Problem konfrontiert sind, hilfreich sein können. Neben Fallbeispielen wird beschrieben, wie diese Menschen typische Lebenssituationen erleben. Der Selbsthilfe ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Die Persönlichkeitsstörung wird aus einer eher fachlichen, jedoch allgemein verständlichen Sicht beschrieben, und schließlich werden wichtige Punkte für das therapeutische Vorgehen herauskristallisiert.

Zu beachten ist, daß es sich bei den wiedergegebenen Fallbeispielen um schwere Störungen handelt; die Patienten kamen aus diesem Grunde auch in stationäre Therapie. Die Übergänge zwischen Gesund und Krank sind bekanntlich fließend, und so gibt es natürlich viele Menschen, die weniger stark gestört sind und trotzdem einige Mermale bei sich selbst finden, die an das Hans-mein-Igel-Syndrom erinnern. Jeder Mensch hat einen mehr oder weniger dicken «Igelpelz». Selbstverständlich wurden bei den geschilderten Fallbeispielen äußere Fakten so verändert, daß die Anonymität gewährleistet ist.

Ich möchte besonders den Patienten danken, die bereit waren, mir offen typische Lebenssituationen zu schildern. Dr. Mario Wernado danke ich für wichtige Anregungen und meiner Frau Annemie für das Korrigieren des Manuskripts.

Seit seiner Erstveröffentlichung 1996 bekomme ich immer wieder viele positive Rückmeldungen, daß Betroffene und Angehörige sich mit Hilfe der Lektüre dieses Buches besser verstehen lernten und viele ermutigt wurden, sich Hilfe zu suchen. Dem Walter Verlag danke ich für diese aktualisierte Neuauflage. Die Veränderungen umfassen eine Beschreibung neuerer therapeutischer Strategien zur Bewältigung der Borderline-Störung, eine Aktualisierung der Literaturhinweise sowie ein neues Adressenverzeichnis.

Bad Fredeburg, im Juli 2010

Hans mein Igel

(Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, KHM 108)

Es war einmal ein Bauer, der hatte Geld und Gut genug, aber wie reich er war, so fehlte doch etwas an seinem Glück. Er hatte mit seiner Frau keine Kinder. Öfters, wenn er mit den anderen Bauern in die Stadt ging, spotteten sie und fragten, warum er keine Kinder hätte. Da ward er endlich zornig, und als er nach Haus kam, sprach er: «Ich will ein Kind haben, und sollt’s ein Igel sein.» Da kriegte seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein Junge, und als sie das Kind sah, erschrak sie und sprach: «Siehst du, du hast uns verwünscht.» Da sprach der Mann: «Was kann das alles helfen, getauft muß der Junge werden, aber wir können keinen Gevatter dazu nehmen.» Die Frau sprach: «Wir können ihn auch nicht anders taufen, als Hans mein Igel.» Als er getauft war, sagte der Pfarrer: «Der kann wegen seiner Stacheln in kein ordentlich Bett kommen.» Da ward hinter dem Ofen ein wenig Stroh zurecht gemacht und Hans mein Igel daraufgelegt. Er konnte auch an der Mutter nicht trinken; denn er hätte sie mit seinen Stacheln gestochen. So lag er da hinter dem Ofen acht Jahre, und sein Vater war ihn müde und dachte: ‹Wenn er nur stürbe.› Nun trug es sich zu, daß in der Stadt ein Markt war, und der Bauer wollte hingehen, da fragte er seine Frau, was er ihr mitbringen sollte. «Ein wenig Fleisch und ein paar Wecke, was zum Haushalt gehört», sprach sie. Darauf fragte er die Magd, die wollte ein paar Toffeln und Zwickelstrümpfe. Endlich sagte er auch: «Hans mein Igel, was willst du denn haben?» «Väterchen», sprach er, «bring mir doch einen Dudelsack mit.» Wie nun der Bauer wieder nach Haus kam, gab er der Frau, was er ihr gekauft hatte, Fleisch und Wecke, dann gab er der Magd die Toffeln und die Zwickelstrümpfe, endlich ging er auch hinter den Ofen und gab Hans mein Igel den Dudelsack. Und wie Hans mein Igel den Dudelsack hatte, sprach er: «Väterchen, geht doch vor die Schmiede und laßt mir meinen Gockelhahn beschlagen, dann will ich fortreiten und nie wiederkommen.» Da war der Vater froh, daß er ihn loswerden sollte, und ließ ihm den Hahn beschlagen, und als er fertig war, setzte sich Hans mein Igel darauf, ritt fort, nahm auch Schweine und Esel mit, die wollt’ er draußen im Walde hüten. Im Walde aber mußte der Hahn mit ihm auf einen Baum fliegen, da saß er und hütete die Esel und Schweine und saß lange Jahre, bis die Herde groß war, und sein Vater wußte nicht von ihm. Wenn er aber auf dem Baum saß, blies er seinen Dudelsack und machte Musik, die war sehr schön. Einmal kam ein König vorbeigefahren, der hatte sich verirrt und hörte die Musik. Da wunderte er sich darüber und schickte seinen Bedienten hin, er sollte sich einmal umgucken, wo die Musik herkäme. Er sah ein kleines Tier auf dem Baum sitzen, das war wie ein Gockelhahn, auf dem ein Igel saß, und der machte die Musik. Da sprach der König zum Bedienten, er sollte fragen, ob er nicht wüßte, wo der Weg in sein Königreich ginge. Da stieg Hans mein Igel vom Baum und sprach, er wolle den Weg zeigen, wenn der König ihm verschreiben und versprechen wollte, was ihm zuerst begegnete am königlichen Hofe, sobald er nach Hause käme. Da dachte der König: ‹Das kann ich leicht tun, Hans mein Igel versteht’s doch nicht, und ich kann schreiben, was ich will.› Da nahm der König Feder und Tinte und schrieb etwas auf, und als es geschehen war, zeigte ihm Hans mein Igel den Weg, und er kam glücklich nach Haus. Seine Tochter aber, wie sie ihn von weitem sah, war voll Freuden, daß sie ihm entgegenlief und ihn küßte. Da gedachte er an Hans mein Igel und erzählte ihr, wie es ihm gegangen wäre und daß er einem wunderlichen Tier hätte sich verschreiben sollen, was ihm daheim zuerst begegnen würde, und das Tier hätte auf einem Hahn wie auf einem Pferd gesessen und schöne Musik gemacht; er hätte aber geschrieben, es sollt’s nicht haben; denn Hans mein Igel könnt’ es doch nicht lesen. Darüber war die Prinzessin froh und sagte, das wäre gut; denn sie wäre doch nimmermehr hingegangen.

Hans mein Igel aber hütete die Esel und Schweine, war immer lustig, saß auf dem Baum und blies den Dudelsack. Nun geschah es, daß ein anderer König gefahren kam mit seinen Bedienten und Läufern und hatte sich verirrt und fand nicht mehr nach Haus, weil der Wald so groß war. Da hörte er gleichfalls die schöne Musik von weitem und sprach zu seinem Läufer, was das wohl wäre, er sollte einmal zusehen. Da ging der Läufer hin unter den Baum und sah den Gockelhahn sitzen und Hans mein Igel obendrauf. Der Läufer fragte ihn, was er da oben vorhätte. «Ich hüte meine Esel und Schweine; aber was ist Euer Begehren?» Der Läufer sagte, sie hätten sich verirrt und könnten nicht wieder ins Königreich, ob er ihnen den Weg nicht zeigen wollte. Da stieg Hans mein Igel mit dem Hahn vom Baum herunter und sagte zu dem alten König, er wolle ihm den Weg zeigen, wenn er ihm zu eigen geben wolle, was ihm zu Haus vor seinem königlichen Schlosse als erstes begegnen würde. Der König sagte «Ja», und unterschrieb sich dem Hans mein Igel, er solle es haben. Als das geschehen war, ritt er auf dem Gockelhahn voraus und zeigte ihm den Weg, und der König gelangte glücklich wieder in sein Reich. Wie er auf den Hof kam, war große Freude darüber. Nun hatte er eine einzige Tochter, die war sehr schön, die lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn und freute sich, daß ihr alter Vater wiederkam. Sie fragte ihn auch, wo er so lange in der Welt gewesen wäre, da erzählte er ihr, er hätte sich verirrt und wäre beinahe gar nicht wiedergekommen, aber als er durch einen großen Wald gefahren wäre, hätte einer, halb wie ein Igel, halb wie ein Mensch, rittlings auf einem Hahn in einem hohen Baum gesessen und schöne Musik gemacht, der hätte den Weg gezeigt, er aber hätte ihm dafür versprochen, was ihm am königlichen Hofe zuerst begegnete und das wäre sie, und das täte ihm nun so leid. Da versprach sie ihm aber, sie wolle gern mit ihm gehen, wann er käme, ihrem alten Vater zuliebe.

Hans mein Igel aber hütete seine Schweine, und die Schweine bekamen wieder Schweine, und es waren ihrer so viel, daß der ganze Wald voll war. Da wollte Hans mein Igel nicht länger im Wald leben und ließ seinem Vater sagen, sie sollten alle Ställe im Dorf räumen; denn er käme mit einer so großen Herde, daß jeder schlachten könnte, der wollte. Da war sein Vater betrübt, als er das hörte; denn er dachte, Hans mein Igel wäre schon lange gestorben. Hans mein Igel aber setzte sich auf seinen Gockelhahn, trieb die Schweine vor sich her ins Dorf und ließ schlachten. Danach sagte Hans mein Igel: «Väterchen, laß mir meinen Gockelhahn noch einmal vor der Schmiede beschlagen, dann reit’ ich fort und komme mein Lebtag nicht wieder.» Da ließ der Vater den Gockelhahn beschlagen und war froh, daß Hans mein Igel nicht wiederkommen wollte.

Hans mein Igel ritt fort in das erste Königreich, da hatte der König befohlen, wenn einer käme auf einem Hahn geritten und hätte einen Dudelsack bei sich, dann sollten alle auf ihn schießen, hauen und stechen, damit er nicht ins Schloß käme. Als nun Hans mein Igel dahergeritten kam, drangen sie mit den Bajonetten auf ihn ein, aber er gab dem Hahn die Sporen, flog auf über das Tor hin zu des Königs Fenster, ließ sich da nieder und rief ihm zu, er sollt’ ihm geben, was er versprochen hätte, sonst wollt’ er ihm und seiner Tochter das Leben nehmen. Da gab der König seiner Tochter gute Worte, sie möchte zu ihm hinausgehen, damit sie ihm und sich das Leben rettete. Da zog sie sich weiß an, und ihr Vater gab ihr einen Wagen mit sechs Pferden und herrlichen Bedienten, Geld und Gut. Sie setzte sich ein, und Hans mein Igel mit dem Hahn und Dudelsack neben sie, dann nahmen sie Abschied und zogen fort, und der König dachte, er kriegte sie nicht wieder zu sehen. Es ging aber anders, als er dachte; denn als sie ein Stück des Wegs von der Stadt waren, da zog ihr Hans mein Igel die schönen Kleider aus und stach sie mit seiner Igelhaut, bis sie ganz blutig war, und sagte: «Das ist der Lohn für Eure Falschheit, geh hin, ich will dich nicht», und jagte sie damit nach Haus, und sie war beschimpft ihr Lebtag.

Hans mein Igel aber ritt weiter auf seinem Gockelhahn und mit seinem Dudelsack nach dem zweiten Königreich, wo er dem König auch den Weg gezeigt hatte. Der aber hatte bestellt, wenn einer käme wie Hans mein Igel, sollten sie das Gewehr präsentieren, ihn frei hereinführen, Vivat rufen und ihn ins königliche Schloß bringen. Wie ihn die Königstochter sah, war sie erschrocken, weil er doch gar zu wunderlich aussah, sie dachte aber, es wäre nicht anders, sie hätte es ihrem Vater versprochen. Da ward Hans mein Igel von ihr bewillkommt und ward mit ihr vermählt, und er mußte mit an die königliche Tafel gehen, und sie setzte sich zu seiner Seite, und sie aßen und tranken. Wie’s nun Abend ward, daß sie wollten schlafen gehen, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln; er aber sprach, sie sollte sich nicht fürchten, es geschehe ihr kein Leid, und sagte zu dem alten König, er solle vier Mann bestellen, die sollten wachen vor der Kammertür und ein großes Feuer anmachen, und wann er in die Kammer einginge und sich ins Bett legen wollte, würde er aus der Igelshaut herauskriechen und sie vor dem Bett liegenlassen. Dann sollten die Männer hurtig herbeispringen und sie ins Feuer werfen, auch dabeibleiben, bis sie vom Feuer verzehrt wäre. Wie die Glocke nun elf schlug, da ging er in die Kammer, streifte die Igelshaut ab und ließ sie vor dem Bett liegen. Da kamen die Männer, holten sie geschwind und warfen sie ins Feuer; und als sie das Feuer verzehrt hatte, da war er erlöst und lag da im Bett ganz als ein Mensch gestaltet, aber er war kohlschwarz wie gebrannt. Der König schickte zu seinem Arzt, der wusch ihn mit guten Salben und balsamierte ihn, da ward er weiß und war ein schöner junger Herr. Wie das die Königstochter sah, war sie froh, und am anderen Morgen ward die Vermählung erst recht gefeiert, und Hans mein Igel bekam das Königreich von dem alten König.

Wie etliche Jahre herum waren, fuhr er mit seiner Gemahlin zu seinem Vater und sagte, er wäre sein Sohn; der Vater aber sprach, er hätte keinen, er hätte nur einen gehabt, der wäre aber wie ein Igel mit Stacheln geboren worden und wäre in die Welt gegangen. Da gab er sich zu erkennen, und der alte Vater freute sich und ging mit ihm in sein Königreich.

Mein Märchen ist aus,und geht vor Gustchen sein Haus.

Einleitung

«Es war einmal...» – so fangen die meisten Märchen an. Es drängt sich damit der Gedanke auf, daß die Geschichte, die hier erzählt wird, in der Vergangenheit spielt. «Es war einmal...» ist jedoch keine Zeitangabe üblichen Zuschnitts, sondern ein Hinweis auf etwas anderes: Märchen, Mythen und Sagen sind zeitlos, das heißt, sie sind immer gültig und von einer übergeordneten Wahrheit, die sich der Ratio zunächst zu entziehen weiß, denn vieles ist unlogisch, magisch und unverständlich. Der Beginn «Es war einmal...» soll den Hörer in eine besondere Stimmung versetzen und ihn hineingeleiten in eine fremde und trotzdem vertraute Welt. Märchen kommen tief aus der Seele eines Volkes. Fragt man nach ihren Ursprüngen, dann kann man sagen, daß sie wohl zunächst einmal erzählte Träume waren – große Träume – oder Imaginationen. Sie lassen sich deshalb in kaum veränderter Form weitererzählen, weil sie offensichtlich in vielen Mitgliedern eines Gemeinwesens etwas Wichtiges anrühren und ansprechen. Nur so ist es zu verstehen, daß Märchen ihre Gestalt trotz mündlicher Überlieferung kaum veränderten. In ihnen drückt sich etwas aus, was als eine übergeordnete Wahrheit und Gültigkeit angesehen werden kann. Sie sind somit eine Quelle weiser Einsichten und Erkenntnisse.

Seit einigen Jahren finden Märchen sehr zu Recht auf eine neue Art Beachtung. Tiefenpsychologische Autoren haben sie für die Psychotherapie (wieder-)entdeckt. Märchen lassen tiefe Einblicke in die menschliche Seele zu und weisen damit einen, wie mir scheint, neuen Weg zum allgemeinen und speziellen Selbstverständnis der Menschen und ihrer Probleme. Wer sie liest oder erzählt bekommt, wird auf tiefe Weise von den Bildern und Handlungen angesprochen, denn den tiefen Schichten der

Seele – dem sogenannten kollektiven Unbewußten, das allen Menschen gemeinsam ist – sind diese Bilder vertraut. Das bedeutet, daß alle Menschen in der Tiefe durch einen gemeinsamen Erfahrungsschatz miteinander verbunden sind, der sich in Bildern ausdrückt. Märchen haben eine nicht zu überschätzende Bedeutung: Sie sind die Antwort der Seele auf Probleme der Menschen, die in einem Gemeinwesen leben. Im Märchen lassen sich Schritt für Schritt die Lösungswege erschließen, die die Seele für Heilung und Erlösung als geeignet ansieht. Daher ist es äußerst sinnvoll, sich der Weisheit der Märchen zu bedienen und sich von den Wahrheiten, die sich auftun, einnehmen zu lassen. Darüber hinaus sprechen Märchen die Sprache des Unbewußten, da sie sich in einer Bildersprache ausdrücken.

Die Traumforschung betont nachdrücklich die Bedeutung der Träume für die seelische Gesundheit. Nicht alle Träume zeigen eine gute Lösung auf; manche übersteigern den Konflikt, damit er dem Träumer bewußt wird. Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, daß sein Traum für einen Konflikt keine Lösung fand, und ein Alptraum brachte ihn zum Erwachen. Ebenso wie Träume in Form dramatischer Inszenierung einen Konflikt des Schläfers bearbeiten, sind auch Märchen dramatische Inszenierungen, allerdings immer mit einem Happy-End. Spiralförmig bewegen sie sich auf eine Lösung zu.

Märchen sind in der Lage, tiefe Schichten der Persönlichkeit anzusprechen – besonders wenn die innerseelische Problematik des Betroffenen sich mit der Thematik, die im Märchen bearbeitet wird, deckt. Die Erfahrungen, die ich mit Märcheninterpretationen in der Psychotherapie machen konnte, haben mich von ihrer Wirksamkeit für den therapeutischen Prozeß überzeugt. Das Märchen «Hans mein Igel» sprach mich in besonderer Weise an, denn schon bald wurde mir klar, daß sich hier eine Persönlichkeitsstörung abbildet, unter der viele meiner Patienten leiden. Die Klinische Psychologie, deren Aufgabe es ist, seelische Störungen zu erkennen und zu behandeln, hat in den letzten Jahren sogenannte Frühstörungen immer deutlicher beschreiben können, da immer mehr Menschen davon betroffen sind und Hilfe suchen. Im Märchen «Hans mein Igel» läßt sich eine davon, die Borderline-Persönlichkeitsstörung, unschwer erkennen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Märchen in den folgenden Kapiteln wird sich zeigen, daß alle wesentlichen Merkmale der Störung auftreten, zum Teil ausgedrückt in der Bildersprache des Märchens.

Die Therapie von Patienten, die diese frühe Störung in ihrer Persönlichkeitsstruktur aufweisen, ist besonders schwierig und belastet Therapeuten nicht selten bis an die Grenzen des Erträglichen. In meiner Arbeit mit solchen frühgestörten Patienten hat es sich bewährt, ihnen ihre Störung zu erklären. Eine gewisse Einsicht in die Problematik erleichtert und entlastet. Wer das Märchen versteht, versteht die Störung besser und wahrscheinlich viel tiefer, denn Märchen eignen sich hervorragend als Projektionsflächen. Wie auf einer Leinwand wird das Thema inszeniert. Betroffene identifizieren sich mit den handelnden Personen und werden bis in tiefe Schichten ihrer Persönlichkeit erreicht, da ihrem Unbewußten die «Sprache», die hier gesprochen wird, vertraut ist. Ein faszinierender Aspekt der Auseinandersetzung mit Märchen ist zudem, daß sich Richtlinien für die Therapie ableiten lassen, weil Wesentliches sich vom Unwesentlichen unterscheiden läßt.

Als erstes stellt sich die Frage: Welches sind die Bedingungen für die Therapie?

Das Drama

Das Drama eines Menschen beginnt mit dem Drama seiner Eltern. Dies ist die erste Feststellung, die übrigens aus vielen Märchen abgeleitet werden kann, so auch aus dem Märchen «Hans mein Igel». Das Drama der Eltern spiegelt sich immer mehr oder weniger im Leben eines Menschen. Eltern sind Übermittler des Erbgutes und üben – mit all ihren positiven und negativen Eigenschaften – starken Einfluß aus, besonders in den ersten Lebensjahren.

In «Hans mein Igel» hat der Vater ein Problem, genauer: zwei Probleme. So ist es schon ein Fluch für einen Bauern, wenn er keine Kinder hat, besonders, wenn sonst alles vorhanden ist, Geld und Gut. Wem soll er alles vererben? Wer sorgt für ihn, wenn er alt geworden ist? Wie sehr würde er sich an den heranwachsenden Kindern freuen! In der bäuerlichen Gesellschaft sind Erben von immenser Bedeutung – da, wo mitunter geheiratet wird, allein, um das Vermögen zu erweitern und zu sichern. Besonders männliche Erben bedeuten, daß das Vermögen in der Familie bleibt, denn so leben der Name und die Tradition der Familie weiter. Die Kinderlosigkeit ist daher eine wichtige Quelle der Unzufriedenheit und der wirklichen Not des Bauern. Dauert der Zustand der Kinderlosigkeit weiter an, wird die Lage immer schwieriger. Daß das Problem lebensbestimmend werden kann, sehen wir an Paaren, die sich nach einem Kind sehnen. Sie haben mitunter kein anderes wichtiges Thema als dieses. Tag und Nacht drehen sich ihre Gedanken um eine eventuelle Schwangerschaft. In unserer Zeit hat die Medizin immer kompliziertere Methoden und Verfahren zur Verfügung gestellt, um eine mögliche Unfruchtbarkeit zu beheben. Meist sind es die Frauen, die sich mitunter extrem schmerzhaften Prozeduren und Operationen unterziehen, nicht selten ohne Erfolg. Da die Beteiligten so viel Energie darauf verwenden, ist es kein Wunder, daß das Thema gefühlsmäßig stark aufgeladen ist. Nicht selten zerbrechen Beziehungen unter diesem immensen Druck.

Das Märchen schildert, wie der Bauer von den anderen Bauern gefoppt, auf den Arm genommen wird. Sie treffen ihn an einer besonders empfindlichen Stelle, indem sie fragen, warum er keine Kinder habe. – Eine deutliche Anspielung auf seine männliche Potenz! Das trifft ihn bis ins Mark. Dieses, sein zweites Problem, ist für ihn mindestens so wichtig wie die Kinderlosigkeit an sich. Er wird wütend und läßt sich zu einer irrwitzigen Forderung hinreißen: «Ich will ein Kind haben, und sollt’s ein Igel sein!» Er bekommt einen Sohn, der ist oben wie ein Igel und unten wie ein Mensch. Die Bestürzung ist groß, und seine Frau erinnert sich sofort an den Ausspruch, zu dem sich ihr Mann im Zorn hinreißen ließ. Ihre Feststellung «Siehst du, du hast uns verwünscht» trifft zu, denn in der Tat hat sich der Bauer etwas Verkehrtes gewünscht. Kinder sind nicht dazu da, die Probleme der Eltern zu lösen. So verständlich die Not der Kinderlosigkeit auch ist, so sind Kinder immer um ihrer selbst willen auf der Welt. Sie sollen keine Beweise für männliche Potenz sein, und man soll sie nicht in irgendwelche vorgegebenen Schablonen pressen, zum Beispiel als Hoferben. Sie wollen geliebt werden, einfach so, wie sie sind, und nicht, um elterliche Minderwertigkeitsgefühle zu beheben. Das zeigt das Märchen eindringlich.

Stellen wir uns vor, was in dem Bauern vor sich ging, als er Hans mein Igel zum erstenmal sah! Hat er sich vorher sehnlichst einen Sohn gewünscht, dann wird ein Mann vom Zuschnitt des Bauern sich jetzt wünschen, überhaupt keinen Sohn zu haben. So ist es auch im Märchen, der Bauer wünscht sich sehnlich den Tod von Hans mein Igel.

Das Schicksal erteilt dem Bauern eine harte Lektion, die er jedoch nicht lernen oder akzeptieren will. Die Lektion würde etwa heißen: Sei zufrieden mit dem, was du hast – akzeptiere, daß du nicht alles machen kannst – nimm die Dinge so, wie sie sind – mach dich unabhängig von den Meinungen anderer!

Auf den ersten Blick scheint die Ironie des Schicksals wie zufällig, doch ist sie im Grunde folgerichtig. So ist es oft im Leben, wenn Menschen glauben, daß die Seligkeit sich einstellt, wenn ein bestimmter Wunsch in Erfüllung geht. Gier ist eine zerstörerische Energie, die in ihrer Bedeutung viel zu sehr unterschätzt wird. Daher hat das Märchen recht, wenn es deren Folgen besonders drastisch darstellt.

Die Spaltung

Das Märchen bedient sich der Bildersprache, die die Sprache des Unbewußten ist. Wenn im Märchen zum Beispiel ein Kind auftritt, dann ist oft eine kindliche, unreife Persönlichkeit gemeint, die sich von der elterlichen Autorität und Fürsorge noch lösen muß und hineinwachsen soll in Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, möglicherweise soll damit aber auch auf die Seite eines Menschen hingewiesen werden, die noch spontan und entwicklungsfähig ist und noch nicht so stark geprägt von den gesellschaftlichen Normen wie ein Erwachsener.

Wenden wir uns Hans mein Igel zu, so müssen wir uns fragen: «Was ist das für eine Person, die oben wie ein Igel und unten wie ein Junge aussieht?»; denn es ist klar, daß es in der Realität so etwas nicht gibt. Zunächst einmal ist die merkwürdige Gespaltenheit der Figur in zwei extrem verschiedene Hälften zu erkennen: oben die Igelhaut, die für Unberührbarkeit, Aggression, Abwehr, für Archaisches und Tierhaftes steht, unten der kleine menschliche Junge, der für Aspekte steht wie bedürftig, zart, verletzlich. Beide Teile bilden in ihrer Gegensätzlichkeit eine starke Spannung. Bei der Begegnung mit Hans mein Igel fällt zunächst immer nur die Igelhaut auf, die die Gestalt dominiert. Der verletzliche, bedürftige und menschliche Teil wird nur zu leicht übersehen. Auf die Realität übertragen heißt dies, daß bei Menschen mit dem Hans-mein-Igel-Syndrom zuerst die abwehrende, oft aggressive Seite wahrgenommen wird, während die zarte, verletzliche Seite versteckt ist.