Die Angst vor Zurückweisung - Heinz-Peter Röhr - E-Book + Hörbuch

Die Angst vor Zurückweisung E-Book

Heinz-Peter Röhr

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Beschreibung

"Du bist ja hysterisch", sagt man, wenn jemand übertrieben gefühlsbetont reagiert und aus der Mücke einen Elefanten macht. In der Psychotherapie bezeichnet Hysterie jedoch eine ernst zu nehmende Störung. Betroffene machen ihr Leben zu einer Inszenierung. Sie dramatisieren, manipulieren oder legen ein labiles kindliches Verhalten an den Tag. Das alles dient dazu, Trubel und Konfusionen zu erzeugen, womit hysterische Personen ihre tiefsitzende Angst vor Zurückweisung übertünchen. Einfühlsam zeigt Heinz-Peter Röhr, wie der unbändige Hunger nach Aufmerksamkeit entsteht und wie Betroffene einen Weg finden, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, ohne "Theater zu spielen".

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Heinz-Peter Röhr

Die Angst vor Zurückweisung

Was Hysterie wirklich ist, und wie man mit ihr umgeht

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Das Märchen Die kluge Else

Einleitung

1. Hysterische Phänomene

Eine unbewusste Inszenierung

Ein schmerzender Arm

Was ist das typisch Hysterische?

Psychische Funktionsstörungen

Konversion

2. Die hysterische Persönlichkeitsstruktur

Hysterische Persönlichkeitsmerkmale

Die lebensgeschichtliche Entwicklung

Die Angst vor Zurückweisung

Die Sucht nach Anerkennung

Weitere Merkmale der hysterischen Persönlichkeit

Fantasie ersetzt Realität

Die Sucht nach Perfektion

Körperdysmorphe Störungen

Hysterie und Kommunikation

Die männliche Hysterie

Hysterie und Partnerschaft

Gegensätze ziehen sich an – Hysteriker und Narzissten

Rache

Die Wut auf den Vater und auf das männliche Geschlecht

Die Rolle des Partners

Anklammernde Beziehungen

Die Retterrolle

Manipulation

Pseudostabilität

Sexualität

Sexuelle Entwicklung

Der Ödipuskomplex

Frigidität

Erektionsstörungen

Hysteriker in der Elternrolle

Hysterie und Esoterik

Gefühlsfalle Dramatisierung

Kontrollverlust über Gefühle

Verlust der Kontrolle über Angst

Verlust der Kontrolle über Wut und Ärger

Die Angst vor dem Nichts

Die hysterische Depression

Die multiple Persönlichkeit

Depersonalisation – die Frage »Bin ich’s?«

3. Die Heilung

Die (Er-)Lösung im Märchen

Was Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeit helfen kann

Das hysterische Muster erkennen

Das Theaterspiel beenden

Rational-emotionale Therapie

Dramatisierungen erkennen und vermeiden

Vermeidung absoluter Forderungen

Absolute Solidarität

Geduld einüben

Verantwortung für das eigene Leben übernehmen

Ödipale Fixierungen auflösen

Unrealistische Überzeugungen bearbeiten

Selbstliebe entwickeln

Verlassen der Opferrolle

Akzeptanz der eigenen Machtlosigkeit

Leben im Hier und Jetzt

Angst vor dem eigenen Tod

Meditation

Typische Probleme in der Therapie

»Konfusion einschmeißen«

Schlussbemerkungen

Hysterie ist eine »Hungerkrankheit«

Der hysterische Modus

Hysterische Merkmale der Gesellschaft

Destruktive Abhängigkeiten

Unbewusste Handlungsmotivation

Hysterie und Sucht

Benzodiazepin-Abhängigkeit

Verwöhnung

Der Autonomie-Abhängigkeitskonflikt

Die Bearbeitung des Autonomie-Abhängigkeitskonflikts

Diagnose der hysterischen (histrionischen) Persönlichkeitsstörung

Literatur

Zitatnachweise

Anmerkungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.

Martin Buber

Vorwort

»Du bist ja hysterisch!« – ein abfälliger Ausspruch, den sich häufig Frauen anhören müssen. In der Umgangssprache ist Hysterie ein Schimpfwort. Zu einer gesunden Persönlichkeit gehören auch hysterische Strukturanteile. Sie machen das Leben bunt und gefühlsbetont. Das Hysterische gehört zum Menschen wie das Depressive, Phobische, Narzisstische und Zwanghafte. Jeder Mensch zeigt ab und zu hysterische Symptome, meist ohne dass ihm dies bewusst ist.

Dieses Buch soll dazu beitragen, hysterische Symptome und Charaktereigenschaften besser zu verstehen. Mit Hilfe des Grimm’schen Märchens Die kluge Else untersuchen wir die typischen Ausdrucksformen dieser Störung. Vor allem werden Lösungen aufgezeigt; sie spiegeln sich ebenfalls im Märchen.

Die Hysterie war als Krankheit schon im alten Ägypten und in Griechenland bekannt. Man glaubte, dass die Gebärmutter im Körper herumwandere und dass es deshalb zu den auffälligen Verhaltensweisen komme. Zu dieser Annahme führte die Beobachtung, dass es meist allein lebende Frauen oder Witwen waren, die auffällige Krankheitsmerkmale zeigten. Im Mittelalter galten Frauen mit hysterischen Symptomen als vom Teufel besessen; oft wurden sie als Hexen verbrannt. Später, im 19. Jahrhundert, glaubte man an eine Geisteskrankheit. Erst ­Sigmund Freud gelang es, gemeinsam mit Josef Breuer die Symptome als das zu verstehen, was sie wirklich sind, nämlich die neurotische Verarbeitung eines inneren Konflikts. Die Ent­deckung des Unbewussten und die Entwicklung der Psychoanalyse nahmen ihren Ausgang bei der Auseinandersetzung mit hysterischen Symptomen.

Am Anfang standen die Bemühungen Freuds, bestimmte Phänomene zu verstehen, die auf den ersten Blick rätselhaft blieben. Er erkannte, dass gewisse körperliche Symptome etwas Wichtiges, Schwerwiegendes, aber Unsagbares zum Ausdruck bringen wollten: etwas, das nicht ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden durfte, weil man sich zu sehr schämte oder weil ein heißer Wunsch sowieso nicht zu erfüllen war. Freud erkannte, dass Symptome mitunter symbolhaft etwas zur ­Sprache bringen, das verdrängt, unbewusst oder vorbewusst ist.

Die Entdeckung des Unbewussten revolutionierte die Psychologie, die Psychopathologie, die Medizin sowie das gesamte Weltbild. Immer noch müssen wir einräumen, dass die Wissenschaft hier am Anfang steht. Wir können sicher sein, dass unsere Zeit in 100 Jahren mit dem gleichen Unverständnis bewertet wird, wie wir dies heute mit den Gedankengebäuden des Mittelalters tun.

Viele Menschen bleiben unglücklich oder leiden, weil sie unter einem Übermaß an hysterischen Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmalen leiden. Sind diese Merkmale dauerhaft und betreffen sie die Person umfassend, ist die Rede von einer hysterischen Persönlichkeitsstörung. Während die Forscher in früheren Jahrzehnten davon ausgingen, dass es sich bei der hysterischen Persönlichkeitsstörung um eine weniger gravierende Beeinträchtigung handele, weiß man mittlerweile, dass es eine tiefe Störung ist, die ihre Wurzeln bereits in der frühen Kindheit hat. Es handelt sich hier zudem um eine recht häufige Störung, die nicht selten einen chronischen Verlauf nimmt, also sich im Laufe der Zeit verschlimmert. Davon zu unterscheiden ist eine hysterische Persönlichkeitsstruktur, die Menschen in sich tragen, ohne dass von einer Störung die Rede ist. Eine Struktur bildet das Muster, nach dem Probleme vorwiegend gelöst werden: So wird ein Mensch mit einer depressiven Struktur auf Probleme überwiegend mit depressivem Rückzug reagieren; ein anderer mit einer zwanghaften Struktur wird auf Probleme mit verstärkter Zwanghaftigkeit antworten; ein Mensch mit hysterischer Persönlichkeitsstruktur wird Probleme nach typisch hysterischen Verhaltensmerkmalen zu lösen versuchen. Die Persönlichkeitsstruktur prägt sich insbesondere während der frühen Kindheit ein. Gemäß seiner Struktur versucht ein Mensch auf die Welt zu re­agieren und seine Lebensbedingungen erträglich zu gestalten.

Weil die Bezeichnung »hysterisch« häufig als Schimpfwort Verwendung findet, wurde in der Fachsprache der Begriff ­»histrionisch« eingeführt. »Histrio« war im alten Rom der Komödiant, der Possen oder derbe Späße vorführte. So bleibt es zweifelhaft, ob sich durch die Veränderung des Begriffs Vorurteile mindern. Ich habe mich entschieden, den alten Begriff zu wählen, weil sich ­histrionisch im alltäglichen Sprachgebrauch wenig durchsetzen konnte.

Hysterie wurde von Ärzten schon vor über 2000 Jahren beschrieben. Sie passt sich den jeweiligen kulturellen Bedingungen an. In den typischen Vorabendserien im Fernsehen geht es häufig um die Darstellung hysterischer Charaktere. Das Leben dreht sich um Sex, Aussehen, Sensationen, extreme Gefühlsschwankungen, Intrige, Neid, Eifersucht, Unentschlossenheit etc. Sie sind so erfolgreich, weil sie einen gewissen Wiedererkennungseffekt bieten. Die Hysterie fasziniert und lässt niemanden kalt. Bereiche der Seele werden angesprochen, die jeder kennt, aber längst nicht jeder wagt es, sie auszuleben. Im Grunde bleibt beim Zuschauer eine gewisse Schadenfreude zurück, weil sich das große Glück, die ideale Liebe schließlich doch nicht einstellen wollen. Die Personen führen ein aufregendes Leben, sie sind schön, aber unfähig zur Liebe und damit unfähig, glücklich zu sein oder zu werden. Wenig wirkliche Beachtung erfährt das tiefe Leid, das mit Beziehungsunfähigkeit einhergeht.

Wie alle meine Bücher ist auch dieses ein Beitrag zur Bibliotherapie. Sie soll helfen, innere Konflikte und Schwierigkeiten im Alltag besser zu verstehen. Das Märchen ist die Projektionsfläche, auf der sich die typischen Probleme, Verhaltensweisen sowie auch Lösungen abbilden. Fallbeispiele tragen zur Verdeutlichung bei. Bibliotherapie kann psychotherapeutische Prozesse wirkungsvoll unterstützen, und Betroffene sollen aktiver am therapeutischen Prozess beteiligt werden.

Eine Verbesserung der Beziehungsfähigkeit ist für Menschen mit hysterischem Charakter erst möglich, wenn sie ihr eigenes Drama besser verstehen und beginnen, an sich selbst zu arbeiten, und nicht mehr andere für eigene Schwierigkeiten verantwortlich machen. Das Märchen Die kluge Else kann hier sehr hilfreich sein: Es zeigt, dass es für innere Probleme keine äußere Lösung geben kann – eine Verhaltensänderung ist unerlässlich.

Danken möchte ich allen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Vor allem schulde ich meinen Patienten Dank, sie sind mir immer die besten Lehrmeister.

Meinen Töchtern Melanie und Michaela danke ich herzlich für viele wesentliche Hinweise, Anmerkungen und profunde Kommentare; meiner lieben Frau Annemie wieder besonders für ihre wertvollen Gedanken und konstruktiven Anregungen sowie für die Textkorrekturen und stilistischen Verbesserungen bei der Durchsicht des Manuskripts.

Die außerordentlich positive Resonanz auf dieses Buch freut mich sehr. Seit seinem Erscheinen 2006 bekomme ich viele Rückmeldungen, die mir zeigen, dass Betroffene und Angehörige sich mithilfe der Lektüre selbst besser verstehen lernen und viele ermutigt werden, professionelle Hilfe zu suchen. Vielfach ist das Buch Begleiter während einer stationären oder ambulanten Therapie.

Dem Patmos Verlag danke ich für die vorliegende Neuauflage.

Bad Fredeburg, im März 2018

Heinz-Peter Röhr

Das Märchen Die kluge Else

Es war ein Mann, der hatte eine Tochter, die hieß die kluge Else. Als sie nun erwachsen war, sprach der Vater: »Wir wollen sie heiraten lassen.« »Ja«, sagte die Mutter, »wenn nur einer käme, der sie haben wollte.« Endlich kam von weither einer, der hieß Hans, und hielt um sie an, er machte aber die Bedingung, dass die kluge Else auch recht gescheit wäre. »O«, sprach der Vater, »die hat Zwirn im Kopf«, und die Mutter sagte: »Ach, die sieht den Wind auf der Gasse laufen und hört die Fliegen husten.« »Ja«, sprach der Hans, »wenn sie nicht recht gescheit ist, so nehm ich sie nicht.« Als sie nun zu Tisch saßen und gegessen hatten, sprach die Mutter: »Else, geh in den Keller und hol Bier.« Da nahm die kluge Else den Krug von der Wand, ging in den Keller und klapperte unterwegs brav mit dem Deckel, damit ihr die Zeit ja nicht lang würde. Alssie unten war, holte sie ein Stühlchen und stellte es vors Fass, damit sie sich nicht zu bücken brauchte und ihrem Rücken etwa nicht wehe täte und unverhofften Schaden nähme. Dann stellte sie die Kanne vor sich hin und drehte den Hahn auf, und während der Zeit, dass das Bier hineinlief, wollte sie doch ihre Augen nicht müßig lassen, sah oben an die Wand hinauf und erblickte nach vielem Hin- und Herschauen eine Kreuzhacke gerade über sich, welche die Maurer da aus Versehen hatten stecken lassen. Da fing die kluge Else an zu weinen und sprach: »Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und wir schicken das Kind in den Keller, dass es hier soll Bier zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt’s tot.« Da saß sie und weinte und schrie aus Leibes­kräften über das bevorstehende Unglück. Die oben warteten auf den Trank, aber die kluge Else kam immer nicht. Da sprach die Frau zur Magd: »Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else bleibt.« Die Magd ging und fand sie vor dem Fasse sitzend und laut schreiend. »Else, was weinst du?« fragte die Magd. »Ach«, antwortete sie, »soll ich nicht weinen? Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und soll hier Trinken zapfen, so fällt ihm vielleicht die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt es tot.« Da sprach die Magd: »Was haben wir für eine kluge Else!«, setzte sich zu ihr und fing auch an, über das Unglück zu weinen. Über eine Weile, als die Magd nicht wiederkam und die droben durstig nach dem Trank waren, sprach der Mann zum Knecht: »Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else und die Magd bleibt.« Der Knecht ging hinab, da saß die kluge Else und die Magd, und weinten beide zusammen. Da fragte er: »Was weint ihr denn?« »Ach«, sprach die Else, »soll ich nicht weinen? Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und soll hier Trinken zapfen, so fällt ihm die Kreuz­hacke auf den Kopf und schlägt’s tot.« Da sprach der Knecht: »Was haben wir für eine kluge Else!«, setzte sich zu ihr und fing auch an laut zu heulen. Oben warteten sie auf den Knecht, als der aber immer nicht kam, sprach der Mann zur Frau: »Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else bleibt.« Die Frau ging hinab und fand alle drei in Wehklagen und fragte nach der Ursache, da erzählte ihr die Else auch, dass ihr zukünftiges Kind wohl würde von der Kreuzhacke totgeschlagen werden, wenn es erst groß wäre und Bier zapfen sollte, und die Kreuzhacke fiele herab. Da sprach die Mutter gleichfalls: »Ach, was haben wir für eine kluge Else!«, setzte sich hin und weinte mit. Der Mann oben wartete noch ein Weilchen, als aber seine Frau nicht wiederkam und sein Durst immer stärker ward, sprach er: »Ich muss nun selber in den Keller gehn und sehen, wo die Else bleibt.« Als er aber in den Keller kam und alle da beieinander saßen und weinten, und er die Ursache hörte, dass das Kind der Else schuld wäre, das sie vielleicht einmal zur Welt brächte, und von der Kreuzhacke könnte totgeschlagen werden, wenn es gerade zur Zeit, wo sie herabfiele, darunter säße, Bier zu zapfen, da rief er: »Was für eine kluge Else!«, setzte sich und weinte auch mit. Der Bräutigam blieb lange oben allein; da niemand wiederkommen wollte, dachte er: »Sie werden unten auf dich warten, du musst auch hingehen und sehen, was sie vor­haben.« Als er hinabkam, saßen da alle fünfe und schrien und jammerten ganz erbärmlich, einer immer besser als der andere. »Was für ein Unglück ist denn geschehen?« fragte er. »Ach, lieber Hans«, sprach die Else, »wann wir einander heiraten und haben ein Kind, und es ist groß, und wir schicken’s vielleicht hierher, Trinken zu zapfen, da kann ihm ja die Kreuzhacke, die da oben ist stecken geblieben, wenn sie herabfallen sollte, den Kopf zerschlagen, dass es liegen bleibt; sollen wir da nicht weinen?« »Nun«, sprach Hans, »mehr Verstand ist für meinen Haushalt nicht nötig; weil du so eine kluge Else bist, will ich dich haben«, packte sie bei der Hand und nahm sie mit hinauf und hielt Hochzeit mit ihr.

Als sie den Hans eine Weile hatte, sprach er: »Frau, ich will ausgehen arbeiten und uns Geld verdienen, geh du ins Feld und schneid das Korn, dass wir Brot haben.« »Ja, mein lieber Hans, das will ich tun.« Nachdem der Hans fort war, kochte sie sich einen guten Brei und nahm ihn mit ins Feld. Als sie vor den Acker kam, sprach sie zu sich selbst: »Was tu ich? Schneid ich eh’r oder es ich eh’r? Hei, ich will erst essen.« Nun aß sie ihren Topf mit Brei aus, und als sie dick satt war, sprach sie wieder: »Was tu ich? Schneid ich eh’r, oder schlaf ich eh’r? Hei, ich will erst schlafen.« Da legte sie sich ins Korn und schlief ein. Der Hans war längst zu Haus, aber die Else wollte nicht kommen; da sprach er: »Was hab ich für eine kluge Else, die ist so fleißig, dass sie nicht einmal nach Haus kommt und isst.« Als sie aber noch immer ausblieb und es Abend ward, ging der Hans hinaus und wollte sehen, was sie geschnitten hätte: aber es war nichts geschnitten, sondern sie lag im Korn und schlief. Da eilte Hans geschwind heim und holte ein Vogelgarn mit kleinen Schellen und hängte es um sie herum; und sie schlief noch immer fort. Dann lief er heim, schloss die Haustüre zu und setzte sich auf einen Stuhl und arbeitete. Endlich, als es schon ganz dunkel war, erwachte die kluge Else, und als sie aufstand, rappelte es um sie herum, und die Schellen klingelten bei jedem Schritte, den sie tat. Da erschrak sie, ward irre, ob sie auch wirklich die kluge Else wäre, und sprach: »Bin ich’s, oder bin ich’s nicht?« Sie wusste aber nicht, was sie darauf antworten sollte, und stand eine Zeit lang zweifelhaft; endlich dachte sie: »Ich will nach Haus gehen und fragen, ob ich’s bin oder ob ich’s nicht bin, die werden’s ja wissen.« Sie lief vor ihre Haustüre, aber die war verschlossen; da klopfte sie an das Fenster und rief: »Hans, ist die Else drinnen?« »Ja«, antwortete Hans, »sie ist drinnen.« Da erschrak sie und sprach: »Ach Gott, dann bin ich’s nicht«, und ging vor eine andere Tür; als aber die Leute das Klingeln der Schellen hörten, wollten sie nicht aufmachen, und sie konnte nirgends unterkommen. Da lief sie fort zum Dorfe hinaus, und niemand hat sie wieder gesehen.1

Einleitung

Märchen sind kunstvolle, zauberhafte Geschichten, die mit un­seren Träumen verwandt sind. Aus der Traumforschung ist bekannt, dass jeder Traum mit Hilfe der Bildersprache persön­liche Probleme des Träumers bearbeitet. Um ein inneres Gleich­gewicht herzustellen, sucht der Traum spiralförmig über die Weisheit des Unbewussten eine Lösung. Ähnlich verhält es sich mit Märchen; sie spiegeln die Probleme der Menschen. Auch hier finden wir Inszenierungen von Schwierigkeiten, die viele Menschen mehr oder weniger stark in sich tragen. Die Sprache der Träume und Märchen ist die »Bildersprache«; diese muss man übersetzen, damit man die tieferen Inhalte versteht.

Das Geheimnis eines Märchens verbirgt sich immer in den ersten Sätzen. Um das Thema eines Märchens zu erschließen, ist es hilfreich, die ersten Zeilen unter die Lupe zu nehmen und diese genau zu untersuchen. Das Märchen Die kluge Else beginnt mit dem Satz »Es war ein Mann, der hatte eine Tochter.« Märchen sind an vielen Stellen verdichtet. Ein einziger Satz kann eine Ge­schichte erzählen, ein soziales Gefüge beschreiben und eine bestimmte Dynamik schildern. So fragt man sich, warum es nicht heißt, dass »Eltern eine Tochter haben.« Es heißt auch nicht, dass »ein Vater eine Tochter hat«, sondern »ein Mann«. Dieser Mann scheint es schwer mit seiner Tochter zu haben, und so spricht er zu seiner Frau, dass sie einen Bräutigam für sie suchen wollen. Auch die Mutter scheint nicht viel von ihrer Tochter zu halten, denn gleich bezweifelt sie, dass sie jemanden für sie finden. Die kluge Else ist ja offensichtlich nicht klug, sondern sie hat Prob­leme, die sie als Ehefrau wenig brauchbar erscheinen lassen. Sie ist vor allem bequem, ja, sie ist faul. So müsste das Märchen eigentlich »die faule Else« heißen. Worum geht es also? Offensichtlich doch darum, dass etwas inszeniert wird; es geht um »Theater«. So ist es schon eine Ironie, die Else »klug« zu nennen. Oder leiden die Eltern an Realitätsverlust?

Wenn wir den Hintergrund ihrer Bequemlichkeit beleuchten, werden die Folgen von Verwöhnung eine entscheidende Rolle spielen. Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstörung haben in aller Regel eine verwöhnende Erziehung durchlebt. Früh lernten sie, sich vor unliebsamen Arbeiten zu drücken, vor allem sind sie geschickt im Erfinden von Ausreden, die sie vor Anstrengung schützen. Die Fähigkeit, sich ins rechte Licht zu rücken, wurde jedoch besonders entwickelt. So darf das Verhalten der Eltern, in ihrer Tochter etwas Besonderes zu sehen, gleich als ­­Le­benshaltung verstanden werden: Ich bin etwas Besonderes, das müs­sen die anderen akzeptieren, und vor allem muss ich es insze­nieren.

Im Märchen ist es für die Eltern offensichtlich nicht leicht, einen passenden Mann für ihre Tochter zu finden. Nur einer aus der Ferne, der die häuslichen Verhältnisse nicht kennt, kommt als Freier in Frage. Wahrscheinlich ist niemand aus der Nähe bereit, eine Verbindung einzugehen. Die Eltern müssen die Qualitäten ihrer Tochter ordentlich anpreisen: »Die hat Zwirn im Kopf«, sagen Vater und Mutter. »Ach, die sieht den Wind in der Gasse laufen und hört die Fliegen husten.« Die Faulheit muss kaschiert werden, denn die kluge Else soll auf den Bräutigam einen guten Eindruck machen. Hier ist der Urkonflikt der hysterischen Persönlichkeit zu erkennen: Die Hysterikerin will gefallen und verführen, lebt aber in der tiefen Angst, am Ende den eigenen Erwartungen und denen anderer nicht gewachsen zu sein. Dieses Schauspiel ist das Wesentliche – immer lebt man auf der Basis, das Ganze nur inszeniert zu haben.

Aber Hans legt Wert darauf, eine kluge Frau zu bekommen, eine dumme mag er nicht. Die Geschichte will aber, dass er genau eine solche bekommt!

Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeit haben meist Probleme bei der Partnerwahl. Sie suchen das Besondere, das ­Ideale. Der eine ist zu groß, der nächste zu klein oder nicht genügend reich, schön oder klug. Der große Unbekannte aus der Ferne kommt eher als Partner in Frage, weil ihn das Neue, das Flair des Fremden und Besonderen interessant erscheinen lässt.

Die ganze Welt ist eine große Bühne, und alle spielen mit. Schauspieler besonderer Art finden wir jedoch in Menschen mit hysterischer Charakterstruktur. Hier ist das Schauspiel übertrieben und wirkt mitunter wenig echt. Wie sich zeigen wird, will der Mensch mit hysterischer Struktur über sein Schauspiel seine Prob­leme lösen. Dies ist für die Mitmenschen nicht immer leicht zu ertragen. Wenden wir uns zunächst wieder dem Märchen zu und lassen uns von der klugen Else beeindrucken. Ihr Verhalten liefert einen Schlüssel zum Verständnis von Hysterie.

1. Hysterische Phänomene

Eine unbewusste Inszenierung

Schon wie sich das Drama anbahnt, verdient Beachtung: Wären Vater oder Mutter doch selbst Bier holen gegangen! Else hat offensichtlich überhaupt keine Lust, den Auftrag auszuführen. Damit es ihr nicht langweilig wird, klappert sie mit dem Deckel des Bierkrugs. Innerlich scheint sie nicht bei der Sache, sondern ganz woanders.

Was jetzt vor dem Bierfass geschieht, muss als etwas beson­ders Typisches angesehen werden: Zunächst beeindrucken Elses blühende Fantasie und ihre Neigung, alles zu dramatisieren. Man möchte lachen über ihre Einfalt. Aber Vorsicht! Das Spektakel hat einen tieferen Hintergrund, dies ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Erst die Frage, worum es denn eigentlich geht, hilft, Elses Situation besser zu verstehen. Dazu muss man sich in ihre Lage hineinfühlen: Sie ist kindlich geblieben, verwöhnt und daher nicht reif für eine Partnerschaft; sie hat Angst davor, muss aber so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Sie darf nicht sagen oder zeigen, dass sie Angst vor der neuen Situation hat; Angst davor, nicht zu genügen oder zu versagen. Viel zu eifrig haben die Eltern sie dem möglichen Bräutigam angepriesen. Ist das Theater vor dem Bierfass etwa Ablenkungsmanöver vor den eigentlichen Schwierigkeiten? Ihre Fantasie geht mit ihr durch, und sie schreit immer lauter vor Angst, dass dem zukünftigen Kind etwas zustoßen könnte. Bleiben wir bei der Frage, worum es denn eigentlich geht, dann ist es nicht verwunderlich, dass es in Wirklichkeit um sie selbst geht, um ihre Angst vor dem Neuen und vor Überforderung. Tatsächlich scheint das Symptom zu entlasten. Alle sind beschäftigt – natürlich nicht mit dem Eigentlichen.

Wenn wir die Situation genauer untersuchen, dann lässt sich hier der Vorgang der Verdrängung erkennen. Else hat die Angst vor der bevorstehenden Partnerschaft einfach verdrängt. Vielleicht ist da ein diffuses Gefühl von Unsicherheit, das sie allerdings überspielt. Else klappert mit dem Deckel des Bierkrugs und ist gelangweilt. Aber in Wirklichkeit befindet sie sich an einer entscheidenden Stelle ihres Lebens – eine sehr aufregende Situa-tion, geht es doch auch darum, ob Hans sie zur Frau nimmt –, in einem Augenblick voller Spannung und Aufregung. Die Un­gewissheit ist eigentlich unerträglich, und dann ist da auch noch die Angst, abgelehnt zu werden, ein ganz schrecklicher Gedanke! Und wenn sie Hans bekommt – wie wird sie mit der neuen Situation fertig? Was bedeutet es, die Nähe der Eltern zu verlieren, aus ihrer kindlichen Rolle herauszumüssen, Ehefrau zu sein, mög­licherweise bald Mutter zu werden? Else hat demzufolge viele Gründe, erregt und beklommen zu sein.

Furcht oder ängstliche Gefühle scheint sie jedoch nicht wirklich wahrzunehmen; sie sind hinter einer Maske der Gleichgültigkeit verborgen. Der psychische Abwehrmechanismus der Verdrängung hilft ihr, die unliebsamen Gefühle zunächst nicht zuzulassen. Allerdings ist dafür auch ein Preis zu zahlen, der bald erkennbar wird. Sie gerät in Panik, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Else erlebt in ihrer Angstattacke verschlüsselt die eigentliche Besorgnis, die da lautet: Angst vor dem Unbekannten, vor Überforderung, dem übermächtigen Schicksal, dass vieles passieren wird, was sie nicht beherrschen kann; kurz: Alles ist zu viel, zu gewaltig und zu gefährlich, als dass man damit fertig werden könnte; besonders Else nicht, die in ihrer bequemen, kindlichen Welt nicht gelernt hat, selbständig zu werden. Vor dem Bierfass kommt sie zur Ruhe, und damit bekommt das Unbewusste Zeit zu reagieren. Was sich durch ihre Fantasie ihrer bemächtigt, ist andererseits durchaus eine »kluge« Botschaft ihres Unbewussten: Tatsächlich muss das Kind sterben, damit die erwachsene Frau leben kann. Else müsste Abschied nehmen von der Kindheit mit all den Bequemlichkeiten und Abhängigkeiten. Das kann aber nur ein Mensch, der den Prozess des Reifens und Verantwortlichwerdens durchlaufen hat. Else ist fixiert auf ihre Eltern, insbesondere auf den Vater, der tonangebend für sie ist. Er hat entschieden, dass sie heiraten soll – sie selbst scheint dies­bezüglich keine eigene Meinung zu haben.

Der Vater will Else loswerden, und in Wahrheit erlebt sie dies wie eine tödliche Bedrohung. In ihrer kindlichen Abhängigkeit verliert sie alles, was Halt und Sicherheit gibt: Die Hacke, ein grobes Arbeitsgerät für den Mann, fällt auf den Kopf des Kindes und tötet es. Sie ist ein Symbol für derbe, rücksichtslose männliche Identität. Else inszeniert somit genau das, was ihr Vater aus ihrer Sicht mit ihr tut: Er schickt sie fort, in den Tod; denn wie soll sie zurechtkommen ohne ihn, der ihr Halt und Sicherheit gibt? Aber sie traut sich nicht, es laut zu sagen. Sie schämt sich oder viel wahrscheinlicher: Sie weiß, dass es sinnlos ist, sich gegen den Willen des Vaters aufzulehnen.

Sigmund Freud und Josef Breuer erkannten als erste, dass es sich bei hysterischen Symptomen um eine Art von Bewusstseinsspaltung handelt. Da ist etwas Bedrohliches, Peinliches, Ängstigendes, aber Unaussprechliches: etwas, das nicht gesagt werden kann, aber großen inneren Druck verursacht. Die psychische Energie kann auf direktem Wege nicht abreagiert werden, stattdessen entwickelt sich ein Symptom, welches das Problem trotzdem zur Sprache bringt. Dabei wird die Botschaft auf kreative Weise zum Ausdruck gebracht. Wie in einem Traum, der auch in Symbolen und Bildern spricht, meldet sich jetzt das Unbewusste selbst zu Wort. In der Fachsprache nennt man das, was die kluge Else vor dem Bierfass vorführt, eine unbewusste Inszenierung. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Dissoziation, von Spaltung.

Freud erkannte, dass dies auch bei Versprechern mitunter der Fall ist: Einer Person ist etwas herausgerutscht, das sie eigentlich gar nicht sagen wollte. Was sie da sagt, ist ihre eigentliche Meinung, die sie verborgen halten wollte. Ein typischer Freud: ein Versprecher also, eine Fehlleistung, bei dem das Unbewusste dem Betroffenen einen Streich spielt.

Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass das Märchen Die kluge Else ausgesprochen realistisch ist. Das hysterische Theaterspiel bildet sich hier ab und funktioniert nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Das Eigentliche wird verborgen, und zwar für den Betroffenen selbst sowie auch für die Beobachter. Erst wenn es gelingt, die Sprache des Unbewussten zu verstehen, wird die wahre Bedeutung eines Symptoms sichtbar.

Wer nüchtern und aus der Distanz die Szene beobachtet, wird spüren und wahrnehmen, dass es sich da vor dem Bierfass um ein Schauspiel handelt. Hier wird bühnenreif inszeniert. Die Folge ist, dass der Beobachter die Aufführung nicht ernst nimmt. Vielleicht macht er sich darüber lustig, oder er wird ärgerlich, weil er sich belästigt fühlt, etwa davon, dass hier jemand Aufmerksamkeit erzwingen will. Im letzteren Fall wird er versuchen, sich der unliebsamen Situation so schnell wie möglich zu entziehen. Eine weitere Möglichkeit, auf dieses Theater zu reagieren, erkennen wir im Märchen, nämlich das Theater einfach mitzuspielen. Alle lassen sich anstecken, alle sind infiziert. Man fragt sich, warum? Sind denn alle wirklich so dumm? Einer Magd und einem Knecht traut man vielleicht noch zu, dass sie sich leicht identifizieren, aber die Mutter und zuletzt sogar der Vater? Wenn wir versuchen, dies zu verstehen, tritt etwas allgemein Menschliches zu Tage, das vermutlich jeder kennt. Manchmal ist es viel einfacher, das Theater mitzuspielen, als sich dagegen aufzulehnen, weil sonst alles noch viel schlimmer wird: Da ist der Chef, der sich übertrieben über einen Kunden ärgert – es ist viel einfacher, in das gleiche Horn zu stoßen, als den Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, dass er übertreibt. Man spielt das Theater mit, um möglichst schnell seine Ruhe zu bekommen. So wird es auch im Falle der klugen Else sein, die es geschafft hat, alle anderen zum Mitspielen zu bewegen. Jeder weiß, dass es sinnlos ist, sich nicht zu beteiligen, ja vielleicht gefährlich, weil man sich Elses Zorn und den Unwillen des Vaters oder der Mutter zuzieht. Wer Else kennt, weiß, dass sie problemlos das Drama weiter steigern kann, wenn andere ihr Schauspiel nicht ernst nehmen. Else hat einen Sieg errungen, allerdings, wie man später erkennen kann, keinen wirklichen Sieg.

Untersuchen wir jetzt den gesamten Vorgang noch einmal, sozusagen aus der Vogelperspektive, dann wird deutlich, dass Else einen inneren Konflikt hat, den sie verbirgt, vor sich selbst und vor anderen. Unbewusst inszeniert sie diesen Konflikt, und es gelingt ihr eine Scheinlösung. In der Fachsprache ist die Rede vom hysterischen Modus der Konfliktverarbeitung. Ein Konflikt wird bearbeitet, allerdings auf hysterische, auf neurotische Art und Weise. Der eigentliche Konflikt wird nicht wirklich gelöst, aber es kommt zu einer Entlastung, zu einer Scheinlösung. Jetzt könnte man glauben, dass es Else darum geht, Aufmerksamkeit und Zuwendung von den anderen Akteuren zu erlangen, und dass sie dadurch einen gewissen Krankheitsgewinn hat. Dies ist sicher richtig, denn