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Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben ein krankhaftes Bedürfnis nach Bewunderung: Männer stellen sich häufig rücksichtslos in den Mittelpunkt, Frauen versuchen oft, anderen alles recht zu machen. Der Autor veranschaulicht Entstehung, Verlauf und Heilungsmöglichkeiten dieses weit verbreiteten Leidens.
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Seitenzahl: 238
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Heinz-Peter Röhr
Narzissmus
Dem inneren Gefängnis entfliehen
Patmos Verlag
Vorwort
Der Eisenofen
Einleitung
Die Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat
Die magische Phase
Eine alte Hexe
Der Raub der Gefühle
Selbstliebe
Individuation
Das Gewissen wurde nicht liebevoll integriert
Das falsche Selbst
Wut, Haß und Neid
Die Flucht in die Beziehung
Die wahre Not der Königstochter
Zwei Menschen ziehen sich magisch an
Ich liebe dich, weil ich dich brauche!
Der Mut der Verzweiflung
Eine tragische Beziehung
Die harte Realität des Lebens
Glasberge und schneidende Schwerter
Die Suche nach dem Geliebten
Die ungeliebten Selbstanteile
Die drei Nadeln und die Glasberge
Therapie und therapeutische Gemeinschaft
Schwerter zu Pflugscharen machen
Die Grollsucht
Die eigene Machtlosigkeit erkennen!
Die Fahrt über den See oder Erinnern
Im Schloß der unechten Gefühle oder Das falsche Selbst
Sofortige Bedürfnisbefriedigung
Zur Liebe erwacht
Eine Übung
Die Reise zurück ins eigene Königreich
Die Reise über den See oder Die spirituelle Geburt
Die schneidenden Schwerter werden erneut überwunden
Die Reise zurück über den Glasberg
Das Schloß und die Königskinder
Zwei Königreiche oder Das wahre Selbst
Die Erlösung der Königstochter oder Der weibliche Narzißmus
Denke nicht!
Kontrolle
Schuldgefühle
Beziehungsspiele
Was der Königstochter helfen kann
Frieden mit den Eltern
Die gute Mutter, den guten Vater integrieren
Anhang
Die narzißtische Gesellschaft
Der Absturz in den Körper
Vom Umgang mit Eisenofen-Menschen am Arbeitsplatz
Der Mensch im Eisenofen in der Rolle als Chef
Der erlöste Eisenofen-Mensch in der Rolle als Chef
Was tun, wenn ein Eisenofen-Mensch der Vorgesetzte ist?
Dinge nicht überbewerten
Wehren, aber richtig!
Der Eisenofen-Mensch als Mitarbeiter
Der Gefühlsbaum – ein Modell
Die Sprache der Gefühle
Entstehung von Gefühlsblockaden
Folgen der Gefühlsblockaden
Kurzer fachlicher Überblick über die narzißtische Persönlichkeitsstörung
Charakteristika der narzißtischen Persönlichkeitsstörung
Diagnostische Kriterien der narzißtischen Persönlichkeitsstörung nach DSM-5®
Pathologischer Narzißmus und Sucht
Zur Therapie der narzißtischen Persönlichkeitsstörung
Anmerkungen
Literatur
Viele Menschen haben das quälende Gefühl, in einem inneren Gefängnis zu leben, sie fühlen sich nicht wirklich frei und wohl in ihrer Haut. In ihrer Verzweiflung entwickeln sie extreme Energien, um sich selbst zu finden oder zu verwirklichen. Dabei suchen sie die Lösung des Problems meist mit unpassenden Mitteln, wodurch die Unfreiheit noch vergrößert wird.
In dem Märchen Der Eisenofen, das die Brüder Grimm aufgeschrieben haben, bildet sich wie kaum in einem anderen Märchen die grundlegende Problematik dieser Menschen ab, die auch als narzißtische Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird.
Narzißmus bedeutet «Selbstliebe». Jeder Mensch benötigt ein gesundes Maß an Selbstliebe. Die Fähigkeit, sich in positiver, liebevoller Weise sich selbst zuzuwenden, ist eine Voraussetzung für ein glückliches, erfülltes Leben. Der biblische Satz «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» drückt dies aus. Er wird allerdings nur zu leicht verkürzt wahrgenommen, viele Menschen hören nur: «Du sollst deinen Nächsten lieben», der Rest – «wie dich selbst» – geht verloren. Selbstvertrauen, Selbstachtung, Selbstbewußtsein sind aber wesentliche Bestandteile einer stabilen Persönlichkeit. So ist es wichtig, daß echte Freude über eigene Leistungen möglich ist. Lob, Bewunderung und Anerkennung sind, wenn sie aufrichtig gemeint sind, positive Ausdrucksformen menschlichen Miteinanders, sie wollen mit Freude aufgenommen werden. Die Fähigkeit, Lob und Anerkennung anzunehmen, ist ein Hinweis auf ein stabiles Selbstwertgefühl.
Jeder strebt nach Bedeutung, es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Im alltäglichen Miteinander wird dies leicht vergessen. Halten wir inne, um in uns hineinzuhören, werden wir uns dieser Bestrebung bewußt: sei es beispielsweise, daß wir wichtig sein wollen für Menschen, die uns nahestehen, daß wir Ziele verfolgen, die uns Bewunderung einbringen, oder daß wir an unserer Selbstverwirklichung arbeiten, die uns innere Bedeutung gibt. Das Suchen von Aufmerksamkeit und Anerkennung gehört – in einem gewissen Ausmaß – ebenso zu einem gesunden Narzißmus und damit zur seelischen Gesundheit wie das Wohlfühlen in unserem Körper.
Von einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung ist immer dann die Rede, wenn das Bedürfnis nach Liebe, Bewunderung und Anerkennung auf krankhafte Weise übersteigert ist. Wie sich zeigen wird, haben Menschen, die von dieser Störung betroffen sind, in ihrer frühen Entwicklung zuwenig wirkliche Liebe erfahren. Sie versuchen, dieses Defizit auf unterschiedliche Weise auszugleichen, ohne Erlösung von ihrem Drama zu erfahren. Daß tatsächliche Heilung möglich ist, davon erzählt das Märchen Der Eisenofen.
Häufiger sind es Männer, die das Eisenofen-Syndrom entwickeln mußten. Selbstverständlich erkranken auch Frauen an einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung. Aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation bei Jungen und Mädchen entfaltet sich die Störung häufig in gegensätzlicher Weise: Die Gefährdung bei Mädchen ist weniger, daß sie sich gefühlsmäßig abkapseln, als daß sie mit dem anderen «verfließen» wollen – auch dies spiegelt sich in dem Märchen.
Die narzißtische Persönlichkeitsstörung hat viele Facetten und Ausdrucksformen, so daß die verschiedensten Symptome auftreten. Zur diagnostischen Erfassung sind im Anhang Hinweise zu finden. Auch der Grad der Störung kann sehr unterschiedlich sein. Er reicht von leichten Formen gestörter Selbstliebe, die im Alltag kaum bemerkt werden, bis hin zu Fällen schlimmster krankhafter Charakterveränderung. Immer findet die Störung darin ihren Ausdruck, daß diese Menschen unter sich selbst leiden, Symptome körperlicher und seelischer Art entwickeln und vor allem im zwischenmenschlichen Bereich große Probleme haben. Viele trifft eine mittelschwere Störung, und gerade diese findet sich in dem Märchen Der Eisenofen wieder.
Adressaten dieses Buches sind in erster Linie die Betroffenen. Häufig wirken Menschen mit einer solchen Störung nach außen nahezu normal und nicht wie Individuen, die außergewöhnlich unter sich selbst leiden, zumal nur allzuoft ihre Mitmenschen unter ihnen leiden müssen. Ein Anliegen des Buches ist demnach auch, daß Angehörige und alle, die mit Menschen zu tun haben, die «im Eisenofen sitzen» müssen, diese besser verstehen.
In der Forschung werden unterschiedliche Konzepte zum Verständnis der narzißtischen Störung vorgelegt, die sich zum Teil widersprechen. In erster Linie orientiere ich mich an den systematischen Arbeiten von Otto Kernberg, die aus meiner Sicht die überzeugendsten für den Bereich früher Persönlichkeitsstörungen sind. Aber auch die Arbeiten von Heinz Kohut und anderen bilden den theoretischen Hintergrund der Märchendeutung. Als Therapeut in einer großen Suchtklinik gehört die Begegnung mit diesen Menschen zu meinem Alltag. Dies kommt in den Fallbeispielen zum Ausdruck. Folgen wir der Märchendeutung, wird eine typisch männliche und eine typisch weibliche Form der narzißtischen Persönlichkeitsstörung beschrieben. In der Realität wird der klare Unterschied nicht immer vorzufinden sein; nicht selten erkennen wir Mischformen. Zu betonen ist, daß auch manche Frauen ein typisches Eisenofen-Syndrom entwickeln mußten, also eine «männliche» Form der narzißtischen Störung, und umgekehrt Männer eine «weibliche».
Die Therapie der frühen Persönlichkeitsstörungen gestaltet sich, abgesehen von leichteren Fällen, nicht selten schwierig. Erleichterung können diese Patienten zunächst dadurch erreichen, daß sie ihre Störung besser verstehen. Dazu will das Buch in erster Linie beitragen. Erfahrungsgemäß wird so die Motivation für eine Therapie deutlich verbessert.
Das Märchen Der Eisenofen bildet nicht nur exakt Entstehung und Erscheinungsbild des krankhaften Narzißmus ab. Es findet auch Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit, die als Wegweiser für die Therapie und das Leben danach angesehen werden können. Es wird sich zeigen, daß gerade dieses Märchen zu Unrecht zu den weniger bekannten gehört und somit meist nur in Gesamtausgaben der Grimmschen Märchen zu finden ist. Wie kaum in einem anderen Märchen spiegelt sich hier auch das Dilemma unserer Zeit.
Danken möchte ich zunächst meinen Patienten, die mir immer wieder – sicherlich meist, ohne daß sie es merkten – den Spiegel vorhielten. Damit wurde es mir möglich, meine eigene Eisenofen-Problematik besser kennenzulernen. Vieles verdanke ich meinem Freund und Kollegen Diplompsychologe Werner Pappert, der mich mit Hinweisen und Ideen unterstützte. Besonders danke ich meiner lieben Frau Annemie für die Überarbeitung des Manuskripts und für die Geduld, die sie in dieser Zeit mit mir hatte.
Heinz-Peter Röhr
(Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, KHM 127)
Zur Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat, ward ein Königssohn von einer alten Hexe verwünscht, daß er im Walde in einem großen Eisenofen sitzen sollte. Da brachte er viele Jahre zu, und konnte ihn niemand erlösen. Einmal kam eine Königstochter in den Wald, die hatte sich irre gegangen und konnte ihres Vaters Reich nicht wiederfinden: neun Tage war sie so herumgegangen und stand zuletzt vor dem eisernen Kasten. Da kam eine Stimme heraus und fragte sie ‹wo kommst du her, und wo willst du hin?› Sie antwortete ‹ich habe meines Vaters Königreich verloren und kann nicht wieder nach Haus kommen.› Da sprachs aus dem Eisenofen ‹ich will dir wieder nach Haus verhelfen, und zwar in einer kurzen Zeit, wenn du willst unterschreiben zu tun, was ich verlange. Ich bin ein größerer Königssohn als du eine Königstochter, und will dich heiraten.› Da erschrak sie und dachte ‹lieber Gott, was soll ich mit dem Eisenofen anfangen!› Weil sie aber gerne wieder zu ihrem Vater heim wollte, unterschrieb sie sich doch zu tun, was er verlangte. Er sprach aber ‹du sollst wiederkommen, ein Messer mitbringen und ein Loch in das Eisen schrappen.› Dann gab er ihr jemand zum Gefährten, der ging nebenher und sprach nicht: er brachte sie aber in zwei Stunden nach Haus. Nun war große Freude im Schloß, als die Königstochter wiederkam, und der alte König fiel ihr um den Hals und küßte sie. Sie war aber sehr betrübt und sprach ‹lieber Vater, wie mirs gegangen hat! ich wäre nicht wieder nach Haus gekommen aus dem großen wilden Walde, wenn ich nicht wäre bei einen eisernen Ofen gekommen, dem habe ich mich müssen dafür unterschreiben, daß ich wollte wieder zu ihm zurückkehren, ihn erlösen und heiraten.› Da erschrak der alte König so sehr, daß er beinahe in eine Ohnmacht gefallen wäre, denn er hatte nur die einzige Tochter. Beratschlagten sich also, sie wollten die Müllerstochter, die schön wäre, an ihre Stelle nehmen; führten die hinaus, gaben ihr ein Messer und sagten, sie sollte an dem Eisenofen schaben. Sie schrappte auch vierundzwanzig Stunden lang, konnte aber nicht das geringste herabbringen. Wie nun der Tag anbrach, riefs in dem Eisenofen ‹mich deucht, es ist Tag draußen.› Da antwortete sie ‹das deucht mich auch, ich meine, ich höre meines Vaters Mühle rappeln.› ‹So bist du eine Müllerstochter, dann geh gleich hinaus und laß die Königstochter herkommen.› Da ging sie hin und sagte dem alten König, der draußen wollte sie nicht, er wollte seine Tochter. Da erschrak der alte König und die Tochter weinte. Sie hatten aber noch eine Schweinehirtentochter, die war noch schöner als die Müllerstochter, der wollten sie ein Stück Geld geben, damit sie für die Königstochter zum eisernen Ofen ginge. Also ward sie hinausgebracht und mußte auch vierundzwanzig Stunden lang schrappen; sie brachte aber nichts davon. Wie nun der Tag anbrach, riefs im Ofen ‹mich deucht, es ist Tag draußen.› Da antwortete sie ‹das deucht mich auch, ich meine, ich höre meines Vaters Hörnchen tüten.› ‹So bist du eine Schweinehirtentochter, geh gleich fort und laß die Königstochter kommen: und sag ihr, es sollt ihr widerfahren, was ich ihr versprochen hätte, und wenn sie nicht käme, sollte im ganzen Reich alles zerfallen und einstürzen und kein Stein auf dem andern bleiben.› Als die Königstochter das hörte, fing sie an zu weinen: es war aber nun nicht anders, sie mußte ihr Versprechen halten. Da nahm sie Abschied von ihrem Vater, steckte ein Messer ein und ging zu dem Eisenofen in den Wald hinaus.Wie sie nun angekommen war, hub sie an zu schrappen und das Eisen gab nach, und wie zwei Stunden vorbei waren, hatte sie schon ein kleines Loch geschabt. Da guckte sie hinein und sah einen so schönen Jüngling, ach, der glimmerte in Gold und Edelsteinen, daß er ihr recht in der Seele gefiel. Nun, da schrappte sie noch weiter fort und machte das Loch so groß, daß er heraus konnte. Da sprach er ‹du bist mein und ich bin dein, du bist meine Braut und hast mich erlöst.› Er wollte sie mit sich in sein Reich führen, aber sie bat sich aus, daß sie noch einmal dürfte zu ihrem Vater gehen, und der Königssohn erlaubte es ihr, doch sollte sie nicht mehr mit ihrem Vater sprechen als drei Worte, und dann sollte sie wiederkommen. Also ging sie heim, sie sprach aber mehr als drei Worte: da verschwand alsbald der Eisenofen und ward weit weggerückt über gläserne Berge und schneidende Schwerter; doch der Königssohn war erlöst, und nicht mehr darin eingeschlossen. Danach nahm sie Abschied von ihrem Vater und nahm etwas Geld mit, aber nicht viel, ging wieder in den großen Wald und suchte den Eisenofen, allein der war nicht zu finden. Neun Tage suchte sie, da ward ihr Hunger so groß, daß sie sich nicht zu helfen wußte, denn sie hatte nichts mehr zu leben. Und als es Abend ward, setzte sie sich auf einen kleinen Baum und gedachte darauf die Nacht hinzubringen, weil sie sich vor den wilden Tieren fürchtete. Als nun Mitternacht herankam, sah sie von fern ein kleines Lichtchen und dachte ‹ach, da wär ich wohl erlöst›, stieg vom Baum und ging dem Lichtchen nach, auf dem Weg aber betete sie. Da kam sie zu einem kleinen alten Häuschen, und war viel Gras darum gewachsen, und stand ein kleines Häufchen Holz davor. Dachte sie ‹ach, wo kommst du hier hin!› guckte durchs Fenster hinein, so sah sie nichts darin als dicke und kleine Itschen (Kröten), aber einen Tisch, schön gedeckt mit Wein und Braten, und Teller und Becher waren von Silber. Da nahm sie sich das Herz und klopfte an. Alsbald rief die Dicke
‹Jungfer grün und klein,
Hutzelbein,
Hutzelbeins Hündchen,
hutzel hin und her,
laß geschwind sehen, wer draußen wär.›
Da kam eine kleine Itsche herbeigegangen und machte ihr auf. Wie sie eintrat, hießen alle sie willkommen, und sie mußte sich setzen. Sie fragten ‹wo kommt Ihr her? wo wollt Ihr hin?› Da erzählte sie alles, wie es ihr gegangen wäre, und weil sie das Gebot übertreten hätte, nicht mehr als drei Worte zu sprechen, wäre der Ofen weg samt dem Königssohn: nun wollte sie so lange suchen und über Berg und Tal wandern, bis sie ihn fände. Da sprach die alte Dicke
‹Jungfer grün und klein,
Hutzelbein,
Hutzelbeins Hündchen,
hutzel hin und her,
bring mir die große Schachtel her.›
Da ging die kleine hin und brachte die Schachtel herbeigetragen. Hernach gaben sie ihr Essen und Trinken, und brachten sie zu einem schönen gemachten Bett, das war wie Seide und Sammet, da legte sie sich hinein und schlief in Gottes Namen. Als der Tag kam, stieg sie auf, und gab ihr die alte Itsche drei Nadeln aus der großen Schachtel, die sollte sie mitnehmen; sie würden ihr nötig tun, denn sie müßte über einen hohen gläsernen Berg und über drei schneidende Schwerter und über ein großes Wasser: wenn sie das durchsetzte, würde sie ihren Liebsten wiederkriegen. Nun gab sie hiermit drei Teile (Stücke), die sollte sie recht in Acht nehmen, nämlich drei große Nadeln, ein Pflugrad und drei Nüsse. Hiermit reiste sie ab, und wie sie vor den gläsernen Berg kam, der so glatt war, steckte sie die drei Nadeln als hinter die Füße und dann wieder vorwärts, und gelangte so hinüber, und als sie hinüber war, steckte sie sie an einen Ort, den sie wohl in Acht nahm. Danach kam sie vor die drei schneidenden Schwerter, da stellte sie sich auf ihr Pflugrad und rollte hinüber. Endlich kam sie vor ein großes Wasser, und wie sie übergefahren war, in ein großes schönes Schloß. Sie ging hinein und hielt um einen Dienst an, sie wär eine arme Magd und wollte sich gerne vermieten; sie wußte aber, daß der Königssohn drinne war, den sie erlöst hatte aus dem eisernen Ofen im großen Wald. Also ward sie angenommen zum Küchenmädchen für geringen Lohn. Nun hatte der Königssohn schon wieder eine andere an der Seite, die wollte er heiraten, denn er dachte, sie wäre längst gestorben. Abends, wie sie aufgewaschen hatte und fertig war, fühlte sie in die Tasche und fand die drei Nüsse, welche ihr die alte Itsche gegeben hatte. Biß eine auf und wollte den Kern essen, siehe, da war ein stolzes königliches Kleid drin.Wies nun die Braut hörte, kam sie und hielt um das Kleid an und wollte es kaufen und sagte, es wäre kein Kleid für eine Dienstmagd. Da sprach sie nein, sie wollts nicht verkaufen, doch wann sie ihr einerlei (ein Ding) wollte erlauben, so sollte sies haben, nämlich eine Nacht in der Kammer ihres Bräutigams zu schlafen. Die Braut erlaubt es ihr, weil das Kleid so schön war und sie noch keins so hatte. Wies nun Abend war, sagte sie zu ihrem Bräutigam ‹das närrische Mädchen will in deiner Kammer schlafen.› ‹Wenn du’s zufrieden bist, bin ich’s auch›, sprach er. Sie gab aber dem Mann ein Glas Wein, in das sie einen Schlaftrunk getan hatte. Also gingen beide in die Kammer schlafen, und er schlief so fest, daß sie ihn nicht erwecken konnte. Sie weinte die ganze Nacht und rief ‹ich habe dich erlöst aus dem wilden Wald und aus einem eisernen Ofen, ich habe dich gesucht und bin gegangen über einen gläsernen Berg, über drei schneidende Schwerter und über ein großes Wasser, ehe ich dich gefunden habe, und willst mich doch nicht hören.› Die Bedienten saßen vor der Stubentüre und hörten, wie sie so die ganze Nacht weinte, und sagtens am Morgen ihrem Herrn. Und wie sie im andern Abend aufgewaschen hatte, biß sie die zweite Nuß auf, da war noch ein weit schöneres Kleid drin; wie das die Braut sah, wollte sie es kaufen. Aber Geld wollte das Mädchen nicht und bat sich aus, daß es noch einmal in der Kammer des Bräutigams schlafen dürfte. Die Braut gab ihm aber einen Schlaftrunk, und er schlief so fest, daß er nichts hören konnte. Das Küchenmädchen weinte aber die ganze Nacht und rief ‹ich habe dich erlöst aus einem Walde und aus einem eisernen Ofen, ich habe dich gesucht und bin gegangen über einen gläsernen Berg, über drei schneidende Schwerter und über ein großes Wasser, ehe ich dich gefunden habe, und du willst mich doch nicht hören.› Die Bedienten saßen vor der Stubentüre und hörten, wie sie so die ganze Nacht weinte, und sagtens am Morgen ihrem Herrn. Und als sie am dritten Abend aufgewaschen hatte, biß sie die dritte Nuß auf, da war ein noch schöneres Kleid drin, das starrte von purem Gold. Wie die Braut das sah, wollte sie es haben, das Mädchen aber gab es nur hin, wenn es zum drittenmal dürfte in der Kammer des Bräutigams schlafen. Der Königssohn aber hütete sich und ließ den Schlaftrunk vorbeilaufen. Wie sie nun anfing zu weinen und zu rufen ‹liebster Schatz, ich habe dich erlöst aus dem grausamen wilden Walde und aus einem eisernen Ofen›, so sprang der Königssohn auf und sprach ‹du bist die rechte, du bist mein, und ich bin dein.› Darauf setzte er sich noch in der Nacht mit ihr in einen Wagen, und der falschen Braut nahmen sie die Kleider weg, daß sie nicht aufstehen konnte. Als sie zu dem großen Wasser kamen, da schifften sie hinüber, und vor den drei schneidenden Schwertern, da setzten sie sich aufs Pflugrad, und vor dem gläsernen Berg, da steckten sie die drei Nadeln hinein. So gelangten sie endlich zu dem alten kleinen Häuschen, aber wie sie hineintraten, wars ein großes Schloß: die Itschen waren alle erlöst und lauter Königskinder und waren in voller Freude. Da ward Vermählung gehalten, und sie blieben in dem Schloß, das war viel größer als ihres Vaters Schloß. Weil aber der Alte jammerte, daß er allein bleiben sollte, so fuhren sie weg und holten ihn zu sich, und hatten zwei Königreiche und lebten in gutem Ehestand.
Da kam eine Maus,
Das Märchen war aus.
Märchen sind kunstvolle Gebilde, die auf eigentümliche Weise anziehend wirken. Ihre Bedeutung für den psychotherapeutischen Prozeß ist in den letzten Jahren (wieder)entdeckt worden. Besonders tiefenpsychologisch orientierte Autoren übersetzten die Bildersprache und trugen so dazu bei, uns ihre tiefen Wahrheiten und Weisheiten zu erschließen.
Um Märchen zu verstehen, ist es sinnvoll, sich zunächst mit dem Traum zu beschäftigen, denn beide haben die gleichen Wurzeln. Der Traum hat für die seelische Gesundheit große Bedeutung. Wenn wir uns oft auch nicht daran erinnern können, so hat doch jeder längere Schlaf eine, meist sogar mehrere Traumphasen. Während wir träumen, arbeitet die Seele mit ihren kreativen Fähigkeiten. Konflikte, Probleme, Spannungen, unerledigte, vielleicht ängstigende Schwierigkeiten werden in der Bildersprache, die die Sprache des Unbewußten ist, wie ein Schauspiel inszeniert, und oft wird eine Lösung gefunden. Diese hat eine Wirkung, auch wenn wir uns nicht an den Traum erinnern. Noch wirkungsvoller sind Träume, wenn wir uns bewußt mit ihnen auseinandersetzen. Sie tragen wesentlich zur Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts bei, wenn dieses aus äusseren oder inneren Gründen gestört worden ist.
Die moderne Unterhaltungselektronik distanziert die Menschen immer weiter vom bewußten Umgang mit Träumen. Dies war in früheren Zeiten anders. Die Menschen hatten viel Zeit, die sie nicht selten damit verbrachten, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. An den langen Abenden am Kamin, wenn Kerzen und Öl die einzige Beleuchtung waren, spielten Träume eine wichtige Rolle. Phantasie, Traum, Imagination verbanden sich zu kunstvollen Gebilden, aus denen durch Weitererzählen die Märchen entstanden. In ihnen spiegelt sich die Kultur des Volkes, in der sie entstanden, vor allem aber drücken sie die seelischen Nöte aus. Es sind dramatische Inszenierungen von typischen Problemen, die immer und überall Menschen bedrückten und bedrücken. Dies ist auch im Märchen Der Eisenofen der Fall. Das, was darin in radikaler Härte inszeniert wird, ist das Schicksal vieler – besonders in einer Zeit wie der unsrigen, die Gefühlen wenig Raum läßt. Die Fragen, die sie stellen: Wie findet jemand verloren geglaubte Gefühle zurück? Wie findet jemand vom falschen zum wahren Selbst? Wie findet jemand, der nicht lieben kann, zur Liebe?, sind in der heutigen Zeit, in der die Ratio, der Verstand, das Meßbare, das, was Erfolg und Zugewinn bringt, bestimmend ist, von größter Aktualität.
Märchen haben immer einen glücklichen Ausgang und deuten damit an, daß eine Lösung für das inszenierte Problem gefunden wurde. Da sie in der Bildersprache des Unbewußten formuliert sind, stellt sich die höchst interessante Frage, welche Lösung das Unbewußte für das Problem erkennt. Können diese Antworten eventuell für die Psychotherapie Nutzen bringen?
Märchen sind die Antwort der Seele auf die Probleme der Menschen. Sie sind Projektionsflächen, auf denen sich emotionale Probleme wie auf einem Bildschirm abbilden. Wer sie tiefer versteht, ist auch in der Lage, das angesprochene Problem besser zu verstehen. Spiralförmig bewegen sie sich auf eine Lösung des Problems zu. Märchen sind sozusagen «Nachhilfe» für die Seele. In ihrer Bildersprache, die der Sprache der Träume sehr ähnlich ist, erreichen sie tiefe Schichten der Persönlichkeit. Meinen Patienten empfehle ich, bestimmte Märchen immer wieder zu lesen. Schon das zeigt heilende Wirkung. Für den therapeutischen Prozeß ist es sinnvoll, sie zu verstehen; dafür jedoch ist es erforderlich, die Bildersprache zu übersetzen. Bereits der erste Satz unseres Märchens enthält eine Verdichtung, die gesamte Problematik kommt darin zum Ausdruck:
Märchen fangen fast immer mit «Es war einmal.. .» an. Anders das Märchen Der Eisenofen! Es beginnt mit dem Satz: «Zur Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat …» Was so verheißungsvoll auf eine besondere Zeit hinweist, beschreibt jedoch ein furchtbares Drama: «… ward ein Königssohn von einer alten Hexe verwünscht, daß er im Walde in einem großen Eisenofen sitzen sollte.» Die Bildersprache des Märchens kann kaum grausamer sein. Im Wald in einem Eisenofen sitzen zu müssen – eine furchtbare Vorstellung!
Versuchen wir zu verstehen, welche Zeit das gewesen sein muß, in der das Wünschen noch geholfen hat, aber auch solch fürchterliche Verwünschungen geschahen. Man könnte glauben, daß hier eine Zeit gemeint ist, die mit unserer modernen, aufgeklärten Welt nicht viel gemeinsam hat. Wünschen kann man vieles – doch, was soll das helfen? Dabei vergessen wir, daß jeder Mensch im Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte eine magische Phase erlebte. Für kleine Kinder ist die Welt voller übermächtiger Riesen (Erwachsene), Gefahren und Glückseligkeiten. Sie leben traumnah, was bedeutet, daß ihre Träume und das, was sie erleben, sich vermischen. Ihre Phantasie ist viel lebhafter als die der meisten Erwachsenen. So werden zum Beispiel den Eltern überdimensionale Fähigkeiten zugeschrieben, sie sind allmächtig, können zaubern und werden idealisiert – weil das Kind selbst ein Teil dieser phantastischen Seelenlandschaft ist und sich mit soviel Überlegenheit identifizieren und sich dadurch stark fühlen kann.
In der frühen Kindheit werden Erwachsene wie Götter erlebt. Sie können alles, wenn sie nur wollen; denn vieles, was geschieht, ist unverständlich und für das kleine Wesen extrem beeindruckend: Es ist hingefallen, schnell drückt die Mutter einen Kuß auf die schmerzende Stelle, und alles ist wieder gut. Wenn es so ist, daß man in der realen Welt nicht alles verstehen kann und vieles unerklärlich ist, dann ist kein Unterschied zur Phantasiewelt, die Grenzen sprengen kann.
Auf die Frage der Großmutter, wie der Zoobesuch ihrem zweieinhalbjährigen Enkel gefallen habe, antwortet dieser: «Das war gefährlich, ein Löwe ist ausgebrochen und hat zwei Menschen aufgefressen, aber mein Papa hat ihn erschossen, und danach haben wir ihn aufgegessen.»
Natürlich phantasieren Kinder auch, selbst allmächtig, unverwundbar oder unbesiegbar zu sein. Es scheint diese Größenphantasien in kleinen Kindern schon sehr früh zu geben. Sie spielen eine wichtige Rolle, wenn die narzißtische Störung verstanden werden will. Neidvoll blicken Erwachsene oft auf diese glückliche Kinderzeit, die mitunter gar nicht so glücklich war.
Die Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat, müssen wir deshalb in der frühen Kindheit suchen, wo sich Realität, Phantasie und Traum vermischen. Die Phantasie ist so stark, daß die Realität keine so große Bedeutung hat. Das Wünschen hat geholfen in der magischen, inneren Welt!
Sehr schnell, viel zu schnell, wird diese Phase durch die Erziehung, die darauf hinzielt, nur der Realität zu glauben, beendet. Die kreative Welt wird radikal durch Logik, Vernunft und Konsequenz ersetzt. Vor allem aber wird die Entwicklung der Gefühle beeinflußt.
In seinem Lied Du bist ein Riese, Max!2 besingt der Liedermacher Reinhard Mey auf poetische Weise die Kraft und Energie, die kleinen Kindern innewohnt, wenn sie nicht zu kleinen Erwachsenen erzogen werden. Echte Elternliebe macht dagegen mutig und stark – echt in dem Sinne, daß sie nicht an Bedingungen geknüpft ist, so daß das Kind sich nicht «verbiegen» muß, um seinen Eltern zu gefallen.
In einer Leistungs- und Konsumgesellschaft stehen Rationalität und Effizienz immer im Vordergrund. So wie sich viele Erwachsene von ihren Träumen und Phantasien verabschiedet haben, meint man, daß auch kleine Kinder diese «unnötige» Phase möglichst schnell überwunden haben sollten. Dies glauben besonders Menschen, denen selbst wenig Raum während der «magischen Phase» gewährt wurde. Unbewußt übertragen sie ihre eigenen Erfahrungen bei der Erziehung. Die Haltung ist dann: Hart gegen sich selbst und hart gegen andere, was zwangsläufig ein Verlust an Selbstliebe bedeutet. Dabei verdient das, was in kleinen Kindern an Phantasie und Einbildungskraft entsteht, höchste Wertschätzung. Die farbige, innere Welt darf nie zerstört werden. Im Gegenteil, die Losung müßte vielmehr lauten, daß Erwachsene von Kindern lernen können. Das bekannte Bibelwort «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…» meint genau dies. Die Welt mit den Augen der Kinder zu sehen, bedeutet zu staunen und sich über kleine Dinge zu freuen: einen Schmetterling, einen Marienkäfer oder das wunderbare Kunstwerk einer Blüte. Bedenklich ist auch, daß die natürlichen Reize dieser Welt in den Hintergrund treten und immer stärker durch elektronische Reize ersetzt werden. Erst kürzlich mußte ich miterleben, daß ein einjähriges Mädchen nur dann zu essen bereit war, wenn es gleichzeitig ein kleines Video auf dem Handy der Mutter ansehen durfte.
Kinder müssen Regeln lernen, sie brauchen Strukturen. Werden sie jedoch zu vehement und wenig liebevoll durchgesetzt, kann dies zu den in diesem Buch beschriebenen Störungen führen. Durch die Verformung der Persönlichkeit in der frühen Kindheit geht kreative Energie verloren. Erwachsene Menschen suchen sie in sich selbst vergebens. Stattdessen wachsen Frustration und Traurigkeit. Narzißtisch gestörte Menschen spüren dies als andauernde Wut, die sich scheinbar nicht abstellen läßt. Sie richten diesen Groll gegen alles und jeden. Dabei gilt er in erster Linie der eigenen Person, mit der sie chronisch unzufrieden sind.
Die frühe Kindheit ist eine äußerst sensible und für die Entwicklung der Persönlichkeit wichtige Zeit. Die Seele kleiner Kinder ist weit offen für Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse, Wahrnehmungen, und sie muß es auch sein, denn Kinder sollen in eine Kultur hineinwachsen. Die ersten Menschen, denen sie begegnen, haben daher enormen Einfluß auf das gesamte Leben. Es werden «Weichen gestellt», in erster Linie von der Mutter.
In der magischen Phase bildet sich entscheidend das Selbstgefühl eines Menschen. Das Selbstgefühl ist das, was ein Mensch grundsätzlich sich selbst gegenüber empfindet: es ist im wahren Sinn des Wortes das eingefleischte Gefühl für sich selbst. Dieses ist natürlich Schwankungen unterworfen, so daß auch ein «gesunder» Mensch sich zeitweise gut und dann wieder weniger gut fühlt. Über die Zeit hinweg betrachtet, hat das Selbstgefühl aber eine gewisse Konstanz; man kann sagen, daß, von Schwankungen abgesehen, ein Grundgefühl wahrnehmbar ist.