Borderline - Susanne Sax - E-Book

Borderline E-Book

Susanne Sax

4,9

Beschreibung

„Schlaf schön, meine Biene.“ Das ist der letzte Satz aus einem scheinbar normalen Leben. Ab dem nächsten Tag beginnt Susannes Leben auseinanderzubrechen. Zuerst schleichend. Später mit aller Macht. Zuerst verdrängt Susanne ihre vermeintliche Gefühlsarmut, ihre Todesgedanken, ihre autoaggressiven Attacken, die sie beherrschende Bulimie. Später, nach Jahren, ist sie gezwungen hinzuschauen: Anna, ihre geliebte Tochter, ist ihr trotz verzweifeltem Ringen entglitten. Ihre zweite Ehe ist gescheitert. Tabletten, Essen und Arbeit bestimmen ihr Leben. Und dann muss Susanne auch noch ihren Job als Sportlehrerin am Gymnasium aufgeben. Nun hat sie nichts mehr. Erst da, als sie ganz unten ist, beginnt Susanne für sich zu kämpfen. Für sich und Anna.

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In Liebe

Für Anna

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Borderline-Persönlichkeitsstörung

1

Rot.

Klatschrot.

Schlag-mich-tot-Rot.

Was ist das denn? Ist das etwa die Station 22? Sprachlos stelle ich den Koffer ab, die Tasche rutscht achtlos hinterher. Diese Tapeten mit ihren riesen Blumen im Siebziger-Jahre-Chic ... Bin ich hier wirklich richtig? Kein Hinweis weit und breit. Und Totenstille. Erleichtert bin ich, als das rote Inferno in einen Flur mündet, der großflächig weiß gestrichen ist.

Eine Schwester Monika empfängt mich, ich sehe es an ihrem Namensschild. „Herzlich willkommen in der Klinik für …“ Still! Sei bitte, bitte still! „… Psychotherapie und Psychosomatik“, ruft sie schallend.

Verdammt!

Ich werde ganz klein. Monika, ist das peinlich! Sollte man nicht mehr Diskretion walten lassen? Muss es gleich die ganze Welt erfahren, wo die Frau Sax gelandet ist? Sie wird mir im Nu unsympathisch. Ich gehe auf Abstand. Meine Güte, hat die eine Altweiberstimme. Und rund ist die auch wie ne Kanonenkugel.

Aber das ist nicht das Thema.

Mein wirkliches Problem ist, dass ich unglaublich, ja beinahe tödlich erschöpft bin. Als Sportlerin mit gerade mal 36 Jahren und nur einem Kind ist mir das schleierhaft.

Nun, zugegeben, ich habe noch ein kleines Problem. Auf dem Einweisungsschein steht „Bulimia nervosa“. Die sagen, ich hätte Bulimie. Am liebsten würde ich die Diagnose zuhalten, so fatal ist mir das. Aber die Schwester tut so, als handle es sich um ein Backrezept, und das macht mir die Sache leichter.

„Leider ist für Sie nur im Vierbettzimmer was frei. Dafür sind die drei jungen Damen sehr nett“, dröhnt es über den Gang, während sie mich zu meinem Zimmer begleitet. Es ist zum Glück verwaist. Dass die Damen jung sind, ist okay. Man kann mal lüften, ohne dass es jemandem zieht. Man kann die Heizung runterdrehen, ohne dass gleich jemand friert. Und es gibt auf gar keinen Fall Volksmusik.

Ich bin also angekommen. Bloß wo! Die Antwort verdränge ich schnell, sonst kriege ich wirklich eine Klatsche, und das ist das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann. Jedenfalls werde ich die Zeit effektiv nutzen, um mich einzukriegen. Ich will wieder richtig schlafen können, zu Kräften kommen und mein abartiges Essverhalten in den Griff kriegen. So, wie ich gestrickt bin, ein Kinderspiel.

Müde trete ich ans Fenster und schiebe die Gardinen zur Seite. Mir eröffnet sich ein herrlich weiter Blick ins Gebirge. Die bewaldeten Hänge sind eine Augenweide und wirken beruhigend. „Bringen wir’s hinter uns“, murmle ich lasch. Ich raffe mich auf, erfrische mich und lande wieder bei der Schwester.

Auf die Waage soll ich. „Achtundsiebzig.“, sage ich rau. „Können Sie reinschreiben.“ Man hat gleich zu Anfang meinen absoluten Schwachpunkt erwischt.

Schwester Monika bleibt freundlich. „Ich muss Sie wiegen. Schuhe, Hosen und Pullover bitte aus. BH und Slip können Sie anbehalten.“

Ich stöhne.

Anschließend will sie viel von mir wissen. Und im Nu ist sie bei Dingen, die ich auf gar keinen Fall mit jemandem besprechen will, weder mit ihr noch überhaupt, weder hier noch sonst wo. Ich bin ziemlich geladen und schweige. Ausgerechnet jetzt bewegt sich ihre Hand gefährlich auf mich zu. „Es fällt Ihnen sicherlich schwer …“

Ich fahre zurück. Fass mich ja nicht an!

Geschafft! Die Mädels sind noch immer nicht im Zimmer. Ich sinke auf mein Bett. Was wird werden? Ist alles erledigt zu Hause, auf Arbeit nichts vergessen? Ob Anna an mich denkt? Mein Blick fällt auf den Brief „Für die beste Mami der Welt“, den ich erst abends öffnen darf. Daneben liegt ihr Abschiedsgeschenk: ein kleiner selbst genähter Teddy, fluffig, aus orangefarbenem Filz, mit schwarzen Zaunstichen gesäumt und aufgeklebten schwarzen Augen. Meine liebe Maus.

Unser Abschied war schlimm, weil wir sehr aneinander hängen. Vater sagt, wir würden kleben, aber der lästert sowieso von früh bis spät und macht mich runter, wo er kann. Sorgen muss ich mir dennoch keine machen. Anna wohnt gleich um die Ecke bei meinen Eltern, es wird schon klargehen.

Auf dem Gang poltert es. Krachend fliegt die Tür auf und zwei junge Damen kommen hereingestürmt. Sie wirken Gott sei Dank stabil und gesund, zudem sind sie, was ich schnell merke, erstaunlich gut drauf. Nach einer Weile atme ich hörbar aus. „Uff! Ich muss sagen, Mädels, ich bin außerordentlich erleichtert.“

„Wir erst!“, plappert Daniela. Sie kichert.„Wir haben schon an Gebisse im Wasserglas gedacht und an Stützstrümpfe.“

„Und an Rheumasalbe an fleischfarbenem Mieder“, ergänzt Romy grinsend.

Das Eis ist gebrochen. Eben noch voller Angst vor komischen Insassen, vor Rollenspielen und Bastelwerkstätten, sieht meine Welt gleich viel freundlicher aus. Vielleicht bleibt mir der ganze Mist erspart?

6.34 Uhr dröhnt ein Waldhorn. Weckmusik aus dem Lautsprecher. Elf Minuten bis zum Frühsport. Hektik. Wir schießen kreuz und quer durchs Zimmer, zwischen Bett, Stuhl, Schrank, dem einzigen Waschbecken und raus auf die Toilette. Ich habe schon jetzt die Schnauze gestrichen voll.

Das folgende Gesabbel in der Morgenrunde lässt mich ernsthaft vermuten, man wolle mich auf Belastbarkeit testen. Aber ich bin belastbar, so was von belastbar. Selbst Enge und Gruppenzwang ertrage ich tapfer – ich schalte einfach auf Durchzug.

Ich halte den Blick gesenkt. Demzufolge blicke ich auf meine Schenkel. Und ich stelle wieder einmal ernüchtert fest, dass sich die anderen wunderbar unter Kontrolle haben müssen, während ich umsonst meiner Traumfigur hinterherhechle. Hungern. Sport bis zum Umfallen. Nach endlos langen Fressorgien mich halb totkotzen, nur um wieder von vorn anzufangen. War Anna in der Wohnung, musste alles drin bleiben und ich habe zum Ausgleich noch mehr Sport getrieben. Mein Hamsterrad hat sich schneller gedreht, nur dünner bin ich nicht mehr geworden.

Wieder muss ich Fragen beantworten.

„Heute wird es hart“, haucht lächelnd eine weiß Bekittelte und schaut mich dabei prüfend an. Die redet mit mir in einem derart mildtätigen Ton, als wäre ich nicht von dieser Welt. Das ist, will man mit mir weiterkommen, mit Sicherheit der falsche Ansatz. „Heute sind es fünfhundertsechsundsechzig Fragen“, säuselt sie würdevoll. „Sie können sich Zeit lassen. Und Sie dürfen Pausen einlegen.“

„Danke“, röchle ich und triefe vor Sarkasmus.

„Und wenn Sie etwas nicht verstehen, ich bin nebenan. Ansonsten immer spontan antworten und nicht überlegen, ja?“

„Ja.“

„Haben Sie alles verstanden? Ja?“

„Ja.“

„Haben Sie noch Fragen?“ „Nein.“

„Nein? Ihnen ist alles klar?“

„Ja.“

„Wie gesagt, ich bin nebenan.“

„Ja.“

Wichtigtuerisch überreicht sie mir endlich die Bögen. Und obwohl Stifte und Radiergummi direkt vor meiner Nase liegen, verrät sie mir dennoch, was das Feines sei.

„Oha, das hätte ich jetzt nicht gedacht“, falle ich ihr ins Wort. Sie guckt mich komisch an und fragt auch noch: „Wie meinen Sie das?“

„Na ja, ich bin bass erstaunt, dass das, was daliegt und aussieht wie Bleistift und Radierer, auch wirklich welche sind. Das ist der Hammer.“ „Ich gehe dann mal.“ „Ja!“

Die Fragen nerven. Wieder sind solche Renner dabei wie beim letzten Mal. Anfangs muss ich noch gequält lächeln bei der Ja-Nein-Frage: „Ich wäre gern Soldat.“

Nein.

Weiter steht da: „Ich glaube, ich bin ein verdammter Mensch.“

Nein.

Tiefes Durchatmen.

„Irgendjemand hat Kontrolle über meine Gedanken.“

Nein.

Aber wenn das so weitergeht, verliere ich die Kontrolle über mich. „Ich verdiene strenge Bestrafung für meine Sünden.“

Warum ich?

„Mit meinen Geschlechtsorganen ist etwas nicht in Ordnung.“

Vor Empörung wird mir heiß. Ich bringe den Mist schnellstens zu Ende, reiße die Tür auf, als sei ich auf der Flucht und … Aber bevor ich überhaupt zu Wort komme, fragt die Schwester mit ihrer niedlichen Ich-kümmere-mich-auch-um-schwere-Fälle-Stimme: „Sie möchten etwas fragen?“, und setzt dabei ihr übernatürliches Lächeln auf.

„Nein, ich bin fertig“, ringe ich mir gut kontrolliert ab.

„Das gibt es nicht. So schnell ist niemand.“

„Doch.“

„Tatsächlich?“

Mir fällt der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ ein. Alles wiederholt sich: Sie benutzt die gleichen Worte wie beim ersten Mal, den gleichen Tonfall und die gleiche Gestik. Doch dann sie setzt einen drauf: „Haben Sie die Rückseiten beachtet?“

„Ja doch!“

Ich rausche beleidigt davon. Abhaken, Susi! Abhaken!

Welch ein Anblick: Gymnasiallehrerin Sax huscht über die Flure. Verstohlen trägt sie ihre zusammengerollte „Hausaufgabe“ unterm Arm, die Familie in Tieren. Keiner soll sie sehen, es ist ihr furchtbar unangenehm. Wie Kindergarten.

Vater wurde zum platt walzenden Elefanten. Das passt. Mutter steht weit weg von ihm und ist zum Huhn mutiert, obwohl ich Hühner hasse. Schwester Grit, als Hund, bekam ihren Platz am Rand des Werkes. Das Häschen in der Bildmitte ist meine Anna. Die habe ich zuerst aufs Papier gebracht, ohne eine Sekunde zu überlegen. Nur für mich fiel mir lange nichts ein, trotz zahlreicher Tipps meiner Zimmerkolleginnen und obwohl ich mich wirklich konzentrierte. Erst am Abend kam mir die Idee mit dem Ei. Kein Tier, aber wenigstens ein Ei. Immerhin fasst das Ei das Häschen an der Hand. Und die anderen gucken dumm.

So what.

Das Date mit der jungen Psychologin verläuft unerquicklich. Sie fragt nach, bohrt, dann will sie wissen, weshalb Hund Grit näher bei Elefant und Huhn stehe als bei Ei und Häschen. Am meisten aber hat es ihr das Ei angetan. Unlustig lasse ich mir paar Sätze aus der Nase ziehen. Dieses Gequatsche wegen jedem Pinselstrich!

Danach beherrscht mich nur ein Bild, ein einziges Bild, ein wohlbekanntes Ensemble: Schokolade, Kekse, Sahne, Kuchen.

Ob …

Nein!

Oder …?

Fünf lange Tage habe ich gekämpft und durchgehalten. Die Wut auf mich wächst. Ich laufe rum wie fremdgesteuert. Was ist bloß aus dir geworden, du fette Kuh! Andere schaffen es auch, sich zu bezähmen. Zu guter Letzt kriege ich gerade noch die Kurve und verschlinge atemlos das Essen.

Später liege ich ausgepumpt im Bett. Ich bin nicht gesättigt, im Gegenteil, das Essen hat meine Sucht derart angefeuert, dass ich die Tapete von den Wänden fressen könnte. Vor lauter Gier sehe ich Danis Schrank offen stehen. Ich sehe die Prinzenrolle, zwei Tüten Paprikachips und saure Apfelringe, zwei Tafeln Milka, Brausestäbchen und Bonbons. Doch die Schranktür ist zu. Mir laufen vor Hilflosigkeit Tränen übers Gesicht, ohne dass ich weine.

14.58 Uhr klopfe ich an Frau Doktor Hagedorns Türe. Sie ist die Nächste, zu der ich muss, damit man sich ein Bild mache von der kranken Sax. Durch den stundenlangen Kampf gegen die Sucht bin ich ausgelaugt, die relative Freude auf den Termin ist futsch.

Als ich hereingeholt werde, trifft mich der Schlag. Der Raum wirkt tot und kalt. Und mein Gegenüber hat sich offensichtlich der Depression angepasst. Ich sehe weder Farben noch Schmuck, nur blasse, leere Augen.

„Sie haben schon mal ein Bild gemalt?“, fragt sie, obwohl sie es in der Hand hält und gerade glatt streicht.

Blöde Frage. Ich schweige.

„Hm“, ist alles, was zunächst kommt. Dann räuspert sie sich und nimmt erneut Anlauf. „Hm, was haben Sie sich denn gedacht bei den Tierchen?“

Sie fragt das derart von oben herab und mit einer so schrecklich schrillen Stimme, dass ich im Nu angestochen bin. Ich hasse schrille Stimmen. Außerdem ist das Gekritzel mehr als genug besprochen worden. „Keine Ahnung“, verrate ich abweisend. Ich will ja kein Unmensch sein und kooperieren, aber mir geht die dauernde Nabelschau auf den Docht. Das ist schlimmer als endlos Geisterbahn fahren.

Was nun? Hat es ihr die Sprache verschlagen? Oder habe ich was Falsches gesagt? Jedenfalls zwinkert sie heftig. Ich beginne mich auf sie einzuschießen und dichte, wie in meiner Herkunftsfamilie bei besonderen Anlässen Usus, ein nettes kleines Gedicht in die giftige Stille: Walle, walle, grüne Galle. Rucke-zucke, weg ist die Spucke. Das feine Grinsen, das von tief innen kommt, das meine Mundwinkel umspielt und unbedingt raus will, kann ich nur mit Mühe unterdrücken.

Sie inspiziert noch immer das Gemälde. Dann endlich findet sie ihren Faden, räuspert sich noch mal und fragt: „Wie ist denn das Verhältnis zu Ihrer Familie?“

„Paragraph eins: Jeder macht seins. Mein Motto. Siehe Bild. Da steht jeder woanders.“

Frau Doktor schweigt, das treibt mich zum Reden. „Mit meiner Tochter ist es anders. Uns verbindet ein starkes Band, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir sind ein Team, eine Einheit, wir verstehen uns blind. Wenn Sie sich das Bild anschauen, erkennen Sie sofort den Unterschied.“

„Die Kleine ist zwölf. Und da wollen Sie mir weismachen, es gäbe keine Probleme?“, entgegnet sie zweifelnd und schon wieder in diesem anmaßenden Ton.

Ich werde deutlich. „Ich wollte nur eines: die beste Mami der Welt werden. Man kann mir bestimmt vieles nachsagen, aber da lasse ich keine Luft ran.“

Es knistert gefährlich. „Was soll das heißen? Sind Sie etwa besser als andere Mütter?“

Hilf mir einer, ruhig zu bleiben!

„Frau Doktor“, raunze ich süffisant, „woher nehmen Sie sich das Recht, wegen eines dahingesagten Satzes, den ich wohlgemerkt so stehen lasse, mich in meiner Mutterrolle zu beurteilen? Woher glauben Sie zu wissen, wie ich mich und andere sehe? Was soll das?“

„Wir kommen da nicht weiter“, erkennt sie glücklicherweise nach langer Pause selbst.

Die Hagedorn, inzwischen fahrig und nervös, fasst wieder nach dem Bild. Keine Eier-Debatte! Und genau das passiert. Als sie dann auch noch was aus meinem Lebenslauf, den sie seit Tagen hat, wissen möchte, eskaliert die Lage.

Der Laden unten hat inzwischen zu. Mein Drang nach Süßem ist unermesslich. Ich laufe wie irre nach draußen und lande an einer Bank am Waldrand. Aus Verzweiflung und Wut darüber, dass ich mich nicht unter Kontrolle habe, dresche ich mit dem Schienbein dagegen. Das tut mörderisch weh. Ich schaue mich um, keiner in der Nähe. Mit voller Wucht schlage ich mir mit den Händen ins Gesicht. Nein, das war nichts. Noch mehr, kräftiger, mit Schwung. So! Das hilft. Ich komme endlich zur Besinnung und merke, wie kalt es ist. Ich trage nur leichte Schuhe und einen dünnen Pulli. Eilig flüchte ich zurück in die Wärme.

Meine Mädels brennen vor Neugierde. „Los, Susi, erzähl! Wie war’s mit der? Sag schon!“

„Hm, hm“, imitiere ich, blinzle und grimassiere, um meinen Frust rauszulassen.

„Mach’s wie wir. Geh weg von der.“

Das Verhältnis zu dieser Frau wird weiter von Missverständnissen bestimmt. Bei ihr schwillt mir, allein wenn ich ihre Augen sehe, der Kamm, und wenn sie dann dazu noch den Mund aufmacht, ist es ganz aus.

Ich habe in den vergangenen Tagen nun allen alles über mich erzählt: Ich hatte eine schöne Kindheit; wir waren oft im Urlaub; mit Vater habe ich ein gravierendes Problem; ich war gut in der Schule; ich bin geschieden und habe mehrere gescheiterte Beziehungen hinter mir; die Kämpfe mit dem Essen kamen erst in den letzten Jahren und so weiter.

Wieder sitze ich dieser neurotischen Person gegenüber. Auf ihrem Schoß lagern Aufzeichnungen mit Haftklebezetteln. Göttlich. Auf mein Gesicht zwängt sich ein wissendes Lächeln. Heute hast du dich offenbar besser vorbereitet. Ja? Tja, das müssen wir Lehrer täglich. Hast Fachliteratur über aufmüpfige Patienten gewälzt und konntest dir die Tipps gar nicht alle merken, was? Hm, ja, hm?

Wie auf Kommando rupft sie den ersten Zettel ab und fixiert mich mit ihrem speziellen Blick. „Frau Sax, Sie haben mehrfach Ihre Zurückgezogenheit im Privaten erwähnt. Mir drängt sich da eine entscheidende Frage auf. Kann es nicht sein, dass Sie durch Ihre aggressive Art die Menschen in Ihrem Umfeld verprellen?“

Sichtlich zufrieden ob ihrer genialen Erkenntnis-Kette rutscht sie auf ihrem mageren Po nach hinten, um sich anschließend befreit zurückzulehnen.

„Woher wollen Sie wissen, wie ich mich privat verhalte?“, rufe ich angestochen. „Da kann ich mir die Gesprächspartner nämlich wählen.“ Ich lasse eine klitzekleine Kunstpause. „Im Gegensatz zu hier.“

Ups, das hat eingeschlagen.

Einen Tag später sitze ich erneut der Hagedorn gegenüber.

„Wir“, sagt sie mit bedeutsamer Miene und gibt sich dynamisch, „haben Ihre Behandlung festgelegt.“ Nun zählt sie all das auf, was die Mädels auch machen. „Und Ihre Therapeutin werde ich sein.“

Das ist ein Witz!

Ungläubig schaue ich rüber.

Doch schon fährt sie fort. „Wir, Frau Sax, arbeiten zusammen. Sie können mir vertrauen.“

Ach.

Noch während ich um Fassung ringe, rupft sie mir ungeduldig die Stichpunkte aus der Hand, die ich für heute aufschreiben sollte – eine Hitliste mit Dingen, die mich erfreuen oder ärgern. Eine neue „Hausaufgabe“. Sie überfliegt die Aufstellung nervös und gibt mir schnell das Blatt zurück.

„Bitte lesen Sie die Negativliste vor“, weist sie mich barsch an.

Während ich rede, kralle ich mir ihre Augen und halte sie so gut wie möglich fest. „Unehrlichkeit, Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, Umweltsünden im Großen und im Kleinen – auch Kippen und ausgespuckte Kaugummis“, rasple ich voller Abwehr. „Dann Besserwisserei, Großkotzigkeit, Überheblichkeit, Mief und Enge und …“

„Mief und Enge?“

„Mief und Enge! Sie sind mir schon wieder ins Wort gefallen“, ringe ich mir äußerst beherrscht ab. „Ich war noch nicht fertig. Sie müssen mich mal ausreden lassen. Ich gebe ja zu, am allermeisten schafft mich natürlich mein Essverhalten.“

„Deshalb sind Sie hier.“

Patsch. Ich habe den Eindruck, in der ersten Klasse zu sitzen und jeden Moment mit dem Rohrstock ein paar auf die Finger zu kriegen. Wütend starre ich aus dem Fenster.

„Weiter!“

Ich ringe um Fassung.

„Bitte!“

Ich musste selten so darum kämpfen, dass mir ein passabler Ton gelingt. „Das, was mir wichtig ist und was ich mag, sind zuallererst mein Kind und der Sport. Und dann das Gegenteil von alldem, was mich ärgert.“

Ihre fahrigen Bewegungen verraten, dass ich wie befürchtet wieder unartig war. Ich hätte wohl nichts zusammenfassen sollen. Ich genieße noch eine Weile ihr Zappeln, um dann äußerlich ruhig fortzufahren. „Hinzu kommen Zimmerpflanzen und eine intakte Natur.“

„Wie meinen Sie das?“

„Wie meine ich was?“

„Na, gesunde Natur.“

„Das, was jeder Normale auch darunter versteht.“

Sie scheint erregt. Sie zappelt wie unter Strom. „Frau Sax, Sie sollten mittun!“, schrillt es.

„Frau Hagedorn! Extra für Sie …“ Ich erkläre ihr widerstrebend, was „jeder Normale“ damit meint.

„Wie sehen denn gesunde Bäume aus?“

Kann mich wirklich nur ein Kapitalverbrechen vor dieser Person retten? Entnervt springe ich auf, pflanze mich dicht neben sie und baue mit weit ausholenden Gesten Laub- und Nadelbäume vor uns auf – und hätte doch viel lieber die Hände an ihrem Hals. Und nur weil ich mir das detailliert ausmale, überlebe ich.

Als ich draußen bin, weine ich. Ich fühle mich dermaßen verarscht und erniedrigt wie selten zuvor.

„Unsere Sportlehrerin raucht“, frohlockt Dani.

Ich habe sie um eine Zigarette gebeten, obwohl ich nicht rauche.

Endlich ist der Leerlauf der beiden Wochen zu Ende. Es geht zur Konzentrativen Entspannung. Der sogenannte Sportraum, in dem das stattfindet, ist ein karges Zimmerchen, das kalt ist und muffelt. Ich lege mich auf eine schmale Matte und bemühe mich, mit ja keinem Körperteil den verkeimten Teppichboden zu berühren. Deutliche Spuren verraten, dass Generationen von Patienten zu Gange gewesen sein müssen.

„Schließen Sie Ihre Augen. Machen Sie es sich bequem. Und nun versuchen Sie, Unangenehmes draußen zu lassen“, weist uns die Physiotherapeutin Schmattke an. Dazu müsste ich mir die Nase zuhalten. Darf man das? „Korrigieren Sie Ihre Lage, bis Sie nichts mehr stört.“

Bald sind wir bei der Auflagefläche. „Ist sie hart oder weich? Warm oder kalt?“

Keiner antwortet.

„Was ist Ihre größte Auflagefläche?“

Der Hintern.

Cindy, die dritte Zimmerkollegin, magersüchtig, kommt mir zuvor und kräht: „Mein Gesäß!“

Ich schalte ab. Die Gedanken driften nach Hause. Meine Maus ist in der Schule. Ob alles gut läuft? Ihre Briefe klingen ermutigend. Sie war mit Kumpels rodeln im Park. In Mathe und Sport hatte sie eine Eins. Ein liebevolles Lächeln huscht über mein Gesicht und ich kann mich zu guter Letzt doch noch entspannen.

Donnerstag, 8.15 Uhr. Frau Sax sitzt zum x-ten Mal Frau Doktor Hagedorn gegenüber. Das Terrain ist abgesteckt. Sie weiß, dass ich sie ablegen will. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war unser gestriges Gespräch. Stolz hatte ich ihr von den vielen Tagen ohne Kotzerei berichtet. Ich wollte ein Lob. Stattdessen verschenkte sie ihr unerschöpfliches Misstrauen. Nun sind alle gespannt, wie das Gemetzel ausgeht.

„Ja, hm, Sie wissen sicherlich, warum ich Sie sprechen möchte?“

„Ja, hm.“

Ich nicke affig.

„Sie bitten um einen Therapeutenwechsel.“

„Ja.“

„Das verstehe ich nicht?“

Mein Blick wandert demonstrativ zum Fenster, es gibt nichts mehr zu sagen.

„Wir könnten es doch wenigstens noch mal probieren, hm?“

Eiszeit.

Plötzlich geht ein Ruck durch das farblose Etwas. „Dann, Frau Sax, werden wir morgen früh ein Gespräch beim Chefarzt führen“, lärmt es drohend. „Stellen Sie sich bitte darauf ein.“

„Kein Problem.“

Ich neige als Zeichen des Verstehens leicht meinen Kopf, schaue emotionslos durch sie hindurch, erhebe mich ohne einen Mucks und flaniere gemessenen Schrittes davon. Erst als ich draußen bin, packt mich die Angst.

Ab jetzt hat mich die Sucht voll im Griff. Ich könnte fressen, fressen, fressen, um mich zu beruhigen, um mir wenigstens etwas Gutes zu tun, oder um mich durch das Auffüllen zu spüren, zu festigen, zu erden. Ich weiß es nicht. Nur weil ich nicht mit der Niederlage dem Chefarzt gegenübertreten will, schaffe ich es irgendwie. Dafür rauche ich.

Den Tag darauf bietet er mir einen Wechsel zu ihm an. Ich lehne großzügig ab, denn ich weiß Bescheid: Die Hagedorn, das falsche Biest, hat ihn mit Sicherheit instruiert.

2

„Willst du nicht mit?“, fragt Cindy.

„Wohin denn?“

„Na zur Beschäftigungstherapie“, hilft sie mir auf die Sprünge.

„Shit!“

Ich muss, von Wollen keine Spur. Um dem zu entgehen, habe ich wirklich jedes Mittel eingesetzt. Aber hier gilt das Einheitsprinzip. Individuelle Nuancen oder gar eigene Wünsche bleiben außen vor, die interessieren anscheinend niemanden. Dass andere Leute, die sich gehen lassen, das brauchen … ähm … nun … freilich … Ja! Aber ich?

Entsprechend gelaunt latsche ich hinter Cindy her. Und der erste Eindruck übertrifft meine bösen Erwartungen bei Weitem, er ist schlichtweg vernichtend.

Wir stolpern in einen unbeschreiblich engen Raum, der bis an die Decke zugestellt ist. Die wackligen Tischchen biegen sich unter ihrer Last. Sie sind mit Utensilien beladen, wie man sie halt unter solchen Bedingungen fertigt. Da lagern potthässliche Tonklopse. Dort dümpeln seltsame Gebilde aus Speckstein. Da schmachten gar liebliche Seidentüchlein, die der Einfachheit halber mit Farbe übergossen und mit Salzkörnern beworfen wurden. Am Ende des Raumes sticheln zwei ältere Damen, die vor lauter Spaß gar nicht hochgucken mögen, an Fadenmuster-Postkarten. Und überall hängen von der Decke unfertige Geflechte aus Weidenruten.

Ein Gruselkabinett.

Himmel! Hoffentlich begegnet mir hier nie ein Mensch aus dem wirklichen Leben!

„Frau Sax?“

Jemand hat mich erkannt! Ich erstarre zur Salzsäule. Resigniert wende ich mich um. „Ja?“

„Ich bin die Frau Schwarz.“

Passt, denke ich. Frau Schwarz im Gruselkabinett. Frau Schwarz scheint hocherfreut zu sein, mich ans künstlerische Volksschaffen heranführen zu dürfen.

„Frau Schwarz. Falls Sie von mir ein gebasteltes Weidenkörbchen erwarten – Fehlanzeige. Ich möchte weder gefördert werden, noch werde ich flechten oder mit Ton schmeißen. Ich mache mich nicht zum Obst.“

Ihre Freude an mir schrumpft sichtlich, deshalb gebe ich mich teilkooperativ: „Wenn ich mich irgendwie verwirklichen soll, dann schicken Sie mich meinetwegen Kartoffeln schälen, Laub harken, Toiletten putzen oder runter in die Wäsche. Aber Sachen, die die Welt nicht braucht, mache ich definitiv nicht. Ich mache mich nicht zum Depp.“

„Wollen Sie sich nicht erst mal umschauen? Die Patienten finden meist etwas, was …“

„Ich bin aber nicht die Patienten, sondern die Frau Sax! Geben Sie mir ne Klobürste und Sie haben mich los“, lautet mein letztes Angebot.

Cindy steht mit offenem Mund da. Sie lächelt ungläubig, halb verlegen, halb fasziniert und denkt wahrscheinlich immer noch, ich mache Spaß. Auch die anderen wollen sich das Spektakel nicht entgehen lassen und haben kurzerhand ihre hocheffizienten Tätigkeiten unterbrochen. Selbst die stichelnden Damen können innehalten.

Gehen darf ich nicht. Auch nicht zum Kloputzen. Doch ich darf mich in eine Ecke zwängen und muss zugucken. Beim Setzen erwischt mein 78-Kilo-Hintern ein Brettchen mit Tonteilen. Ich sehe paralysiert zu, als es erst wie in Zeitlupe hinunterrutscht und gleich darauf beim Aufschlagen einen Höllenlärm macht. „Das war ich nicht“, höre ich mich sagen, während ich mit hochrotem Kopf die Stückchen vom Boden klaube. Ich will nach Hause.

Die Schlinge zieht sich weiter zu. Nirgendwo Freiraum. Keine Privatsphäre. Nur Enge, Kontrolle und Zwang. Wenn mir nicht meine Tischnachbarin Inge Fluchtmöglichkeiten – Lücken im Zaun – eröffnet hätte, ich hätte schon längst schlappgemacht.

In mir vibriert es.

Es flimmert und wummert.

Meine Augen gucken glasig und starr vor Anstrengung. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Mich beherrscht ein einziger Gedanke, der mich schier wahnsinnig macht: essen. Meine Hände müssten fliegen, doch als ich an mir herunterschaue, sehe ich davon nichts. Ich will, dass das aufhört! Ich will mich beherrschen können, ohne vor Anstrengung zu verrecken.

Währenddessen zieht vor mir eine Dauerschleife aus verfügbaren Fressalien vorbei. Zwei Äpfel im Regal, das Ü-Ei im Nachttisch, Romys Banane. Danis Schätze im Schrank, Marmeladennäpfchen und ein paar alte Kekse im Speiseraum. Im Doppelfenster Inges Joghurt. Knäckebrot und eine vergessene Packung Zwieback im Küchenschrank. Hat nicht der Reinhardt Waffeln und Kekse zur Hand? Die kann man schnell ersetzen. Und gehören die Päckchen Kaffeesahne in der Kühlschranktür jemandem? Wenn ich mich beeile, komme ich noch in den Laden, bevor er zumacht. Zwanzig Mark reichten erst mal fürs Gröbste …

Die Gedanken beginnen von vorn, und mich befällt eine beißende, mörderische Wut. Willst du weiter wabern und wabbeln? Schaffst du nicht mal ohne die abgelegte Hagedorn und bar jeglicher Pflichten dein Programm? Es kann nie besser werden mit dir, wenn du deinen niedrigen Gelüsten willenlos nachgibst. Du fette Kuh! Du bist das Letzte, Dreck, der sich vollfrisst, um hinterher in der Kloschüssel daran zu ersticken! Du bist wirklich das Letzte! Das Allerletzte!

Ich weiß nicht wohin.

Hilflos renne ich in den Wald zu meiner Bank. Ich schlage mit dem Kopf gegen die Lehne. Aua! Ich fasse mir an die Stirn in der Annahme, dass es blutet, doch es blutet nicht. Also noch mit dem Schienbein gegen das Holz, solange ich es aushalte. Nun wird mir schlecht, demnach habe ich die Stelle vom letzten Mal erwischt. Immerhin verdrängen meine Schmerzen die Sucht. Sie halten die Filmschleife an und bringen mich zurück an den Tag, heraus aus dem Tunnel, in dem ich weder richtig sehe noch rieche, höre oder schmecke, in dem ich eingekeilt bin zwischen der beherrschenden Fiktion nach dem totalen Auffüllen.

Wieder halbwegs bei Sinnen erscheine ich zum Mittagessen.

„Eier in Gemüsesoße – macht aus kleinen Männern große“, rufe ich scheinbar fröhlich in die Runde. „Hartes Ei schafft … Ratet mal! Na? … Manneskraft!“

Gelächter bricht aus. Und tatsächlich wechseln ein paar der grünblauen Eier zu bedürftigen Männern. So ein Spaß. Die Welt könnte so schön sein. Ich könnte meinem Affen noch mehr Zucker geben und die vor Chemie strotzende Rote Grütze an die Wand nageln. Ich wäre wahrlich nicht die Erste, die sich hier auslebt.

Noch während ich lache, habe ich alles Essbare um mich herum verschlungen. Und trotzdem bleibt der paradoxe Eindruck, leer ausgegangen zu sein. Keine Rückmeldung aus dem Bauch. Jetzt ärgere mich ich in Grund und Boden, dass ich mich vollgestopft habe. Denn auch wenn weitere Portionen folgten, es würde nichts ändern – der wahnsinnige, den Verstand verzehrende Appetit bliebe.

Ich werfe mich erledigt aufs Bett, ziehe die Decke drüber und beginne lautlos zu weinen. Wie lange werde ich es noch ertragen können, ohne dass was passiert? Kein Mensch kann das auf Dauer aushalten.

Ich habe Angst verrückt zu werden. Innerlich weit weg von den normalen Menschen, am andern Ende der Welt, in einer anderen Liga, lebe ich nur noch als Subjekt der Sucht. Ja, ich kleide mich gut, mache Witze, ich kümmere mich um Daniela, aber ich gehöre nicht mehr dazu.

Das sieht niemand.

Doch ich weiß es, weil ich es fühle.

Verzweifelt schiebe ich mich in die Sportsachen, um die halbe Stunde bis zur Talk-Runde, dieser absoluten Farce, zu joggen. Doch ich habe die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Umgebung wirkt gläsern und unwirklich. Und obwohl die Sonne kräftig scheint, kommen die Strahlen nicht bei mir an. So stolpere ich wie durch ein Foto, auf dem jedes Detail künstlich arrangiert ist.

Wenn ich nun einen irreparablen Schaden habe? Können die mir meine Anna wegnehmen?

Lauf! Los, lauf! treibe ich mich vorwärts. Doch ich komme kaum voran, der ganze Körper weigert sich. Pausenlos laufen Tränen, ich heule Rotz und Wasser, und damit dies keiner sieht, schleift mein Gesicht fast auf der Straße. Ich will nicht mehr. Nur Ruhe! Die Straße zieht mich magisch an. Der Wunsch, mich an Ort und Stelle, mitten auf den feuchten, mit Streugut übersäten Asphalt zu legen, ist übermächtig. Meine Knie sind weich. Sie wollen einsacken.

Nur noch liegen. Nie mehr aufstehen müssen.

Es ist Montag. Ich habe mich nun doch entschlossen, beim Chef anzudocken. Er hat einen derart guten Ruf, dass er weit über die Klinikgrenzen hinausgeht. Und, wenn ich ehrlich zu mir bin, ich finde ihn von Anfang an interessant, sympathisch und anziehend. Attraktiv!

Mein Schlachtplan steht trotzdem: Nachverhandlung wegen der Beschäftigung und Bericht über erfolgreiche Wochen Abstinenz. Vielleicht fällt wenigstens er mir um den Hals und ich kann das eine gegen das andere eintauschen.

Doch zunächst ist erst einmal Entspannung angesagt. Wir warten fröhlich plappernd auf den Beginn.

„Das ist mein Platz!“, brüllt mir plötzlich jemand direkt ins Ohr. Ich fahre zusammen, drehe mich in die Richtung, aus der mein Trommelfell derartig malträtiert wurde, dass es sich sofort mit einem Pfeifton wehrt, und blicke aus nächster Nähe in ein bitterböses, faltiges Gesicht. „Schon letztes Mal haben Sie auf meinem Platz gelegen!“, faucht Marga Höllisch außer sich. Die roten Flecken an ihrem Dekolleté leuchten gefährlich auf.

Neben mir kichert es.

Inzwischen hat Fräulein Schmattke Position bezogen.

„… Größe der Auflagefläche Ihres Kopfes …“

„Untertasse“, sage ich pflichtbewusst und fühle mich gleichzeitig veräppelt.

Von der Schmattke kommt ein zufriedenes Ja. Das baut mich so was von auf. Susi, klasse. Untertasse, denke ich spöttisch. Fein, Susi. Klein-Susi. Als auch noch jemand zu schnarchen beginnt, ist alles zu spät. Der Zirkus ist nichts für mich. Was habe ich hier zu suchen?

Überreizt und irgendwie gehetzt lande ich bei Doktor Karstens. Er weist genau auf den Sessel, der voll dem Fenster zugewandt ist.

Zu viel Licht – im Gesicht – passt mir nicht.

„Wie war Ihr Wochenende? Hatten Sie Besuch? Sie haben Sport getrieben?“

Ich kriege Zustände! Die holden Weißkittel sind bestimmt selbst alle kaserniert wegen Kontrollzwang. Wenn er vom Sport weiß, dann weiß er ganz bestimmt, dass es keinen Besuch gab. Wozu dann diese Heuchelei?

Ich bleibe scheinbar ruhig. „Mein Plan war, durch viel Bewegung und wenig Essen abzunehmen. Das ziehe ich durch. So hätte ich gern noch die Schulter-Nacken-Gymnastik verordnet bekommen. Ich muss was tun.“

„Langsam, Frau Sax, langsam. Kommen Sie erst mal zur Ruhe. Und besinnen Sie sich. So können Sie besser erkennen, was Sie wirklich brauchen. Was Ihnen guttut.“

„Ist das Selbstbestimmung? Tut mir leid, aber ich hasse es, wenn andere mich über meinen Kopf hinweg zu steuern versuchen.“

Nach ewiger Bedenkzeit erweist er mir die Gnade. Im Gegenzug lüpfe ich ironisch den Zylinder, verbeuge mich und säusle: „Gott sei mit Ihnen.“

Er lächelt. Und fast väterlich fügt er hinzu: „Aber finden Sie auch Zeit für sich.“

Brrr!

Ich brauche keine Betütelei, weder umsichtige noch väterliche, sondern schlicht und einfach die Hoheit über mich. Versteht er das nicht?

Ich nutze schnell den Moment einer halbwegs harmonischen Situation und berichte ihm stolz von meinen Wahnsinnserfolgen.

„Na“, sagt er bloß, „das ist schon ein beachtlicher Kraftakt.“

Wie bitte? Ich bin maßlos enttäuscht über die karge Anerkennung. Die paar dürren Worte stehen in keinem Verhältnis zur dieser grausigen, übermenschlichen Kraftanstrengung. Beleidigt springe ich zum nächsten Tagungsordnungspunkt, die plärrende Weckmusik.

„Was ist daran so schlimm?“, fragt er naiv.

Jetzt reicht es. Ich raste aus. „Drei Wochen ohne Kotzen sind nicht der Rede wert. Okay, dann hab ich die falsche Sichtweise. Weckmusik ist auch kein Thema. Schwamm drüber, auch nicht der Rede wert. Worüber könnte man sonst noch plaudern? Meine Themen sind gleich aus.“

„Bin ich Ihnen mit irgendetwas zu nahegetreten?“, fragt er.

„Nö“, antworte ich bockig.

Ich blicke ihm herausfordernd in die Augen. Als er ruhig bleibt, komme ich zum Wesentlichen, das ich mir geschickt und clever zurechtgelegt habe.

„Da wäre ein Punkt“, sage ich fest, „der noch heute geklärt werden muss: die Beschäftigung. Ich weiß nicht, inwieweit Sie mir fortschreitende geistige Umnachtung bescheinigen. Wissen Sie, ich bekomme nämlich noch relativ viel mit. Sie wollen doch bitte einer erwachsenen Frau nicht weismachen, hübsche Seide oder selbst gefertigte Sperrholzuntersetzer könnten sie aus ihrem Dilemma befreien. Lachhaft. Mir wird schon speiübel, wenn ich da reinkomme, nein, allein der Gedanke daran bringt mich um.“

Er holt tief Luft.

Seine Miene bleibt ausdruckslos.

Meine jetzt auch.

„Beschäftigungstherapie bietet unseren Patienten …“, wieder diese sittenwidrige Vereinheitlichung, „… die Möglichkeit, sich neu kennenzulernen, sich auszuprobieren und neue Wege zu beschreiten. Und für viele birgt sie auch die Chance, sich durch ihre Arbeiten zu bestätigen.“

Bravo! Stolze Rede. Glatte Eins.

„Zu gern möchte ich Sie mal sehen, wenn Sie in Ihrem Arztkittel Körbchen flechten“, fauche ich. „Oder, nein, warten Sie, es gibt nett angemalte Seiden-Krawatten für Männer. Oder Sie könnten dem Reinhardt Wilde sekundieren, wie ich kürzlich, und ihm sägend beim Vogelhäuschen helfen. Wäre das nicht was, hm?“

Mir ist glühend heiß vor Wut.

„Es reicht“, sagt er milde.

Mir reicht es nicht, ich komme richtig in Fahrt. „Wenn ich mir die Therapeuten allesamt knetend, färbend, feilend, stichelnd und flechtend vorstelle … Es ist, entschuldigen Sie bitte, der Brüller! Das ist … das …“

„Ich glaube, dass Sie es so ernst meinen, wie Sie es rüberbringen. Genau deshalb sollten Sie sich beobachten und herausfinden, woher Ihre Abwehr kommt.“ Er klingt wie ich, als wäre auch er am Limit. „Aber Sie werden daran teilnehmen.“

Es gibt also kein Entkommen. In keinerlei Hinsicht. Mit dieser Erkenntnis schleiche ich geschlagen von dannen.

Teufel zerren mit Haken meinen Mund auseinander, sie sperren grinsend den Magen auf. Flammen schlagen lodernd aus meinem Mund. Wunderschöne Bilder werden mir mit Hammerschlägen ins Hirn getrieben, Bilder von Sahnepudding und Butterkuchen, zart schmelzender Schokolade, von Bergen aus Schlagsahne, Sahnetorte, Sahnebonbons und gezuckerter Kondensmilch. Sie martern mich, um mich gerädert und entkräftet in die Nacht zu entlassen.

Ich bleibe – noch – Sieger.

Doch wer vermag schon einen Untoten als Sieger bezeichnen? Ein Zombie, ausgebrannt, ausgehöhlt und bar aller Gefühle?! Mein Gehirn lebt. Und das sieht mich, wie ich wirklich bin. Ich bin ein ferngesteuerter Roboter, der unfähig ist, eigenständig zu handeln. Für einen tatsächlichen Sieg gibt es also keine Chance. Das heißt untergehen? Unter immer neuen Wogen von Fressen jämmerlich begraben werden? Um dann auf dem Grund mit dem Kotzen zu beginnen? Oh, ich weiß, meine Selbstverachtung wäre grenzenlos.

Der Frust muss raus. Frust auf mein Dasein mit diesen Kämpfen, Frust auf die mir auferzwungene Beschäftigung, Frust wegen der Enge, der Kontrolle.

Frust auf alles.

Ich sitze gemeinsam mit den Mädels zwischen Weidenruten, Speckstein und Ton und döse unwillig vor mich hin. Plötzlich führt mich meine Fantasie in einen Beate-Uhse-Laden. Ton! Flink lange ich danach und forme einen Dildo.

Romy strahlt. „Du musst ja Erfahrung haben!“ Sie holt sich ebenfalls einen großen Klumpen und prustet verzückt: „Los, Dani, wir bauen uns die Dinger selbst.“

„Genau. Die gehören auf unsere Nachttische. Ich lackiere meinen rot. Und du?“

„Hautfarben.“

„Dann bleibt mir nur schwarz“, füge ich anzüglich hinzu und gebe mich, als wisse ich Bescheid.

„Ja. Alles klar bei der Größe“, spottet Romy. „Hattest wohl schon mal was mit einem Schwarzen?“

Darauf bekommt sie nur ein vielsagendes: „Vielleicht?“

Ich würde am liebsten lauter verbotene Sachen basteln, so richtig die Sau rauslassen, die Weißkittel und die ganzen Jammerlappen gründlich durcheinanderwirbeln und, während ich die pikierten Blicke der Schwestern ernte, all die hart erarbeitenden Endorphine genießen, ja geradezu darin schwelgen. Ha! Und die Hagedorn? Die bekäme eh eine Maßanfertigung. Da käme Leben auf ihren öden Schreibtisch. Und Leben in ihre toten Augen.

3

Hoffentlich kann mir Doktor Karstens sagen, wie ich möglichst schnell aus dem Schlamassel rauskomme. Wenn ich das weiß, kann ich die Fliege machen, den Rest kriege ich allein hin. Ich will nur den Schlüssel. Ohne Aufwand. Ohne Stress. Ohne Streit. Und ohne Verluste.

Ich will nur meine Ruhe.

Ich will zurück in mein Leben.

Erwartungsvoll sitze ich ihm gegenüber. Meine Anspannung sieht er nicht, ich zeichne ihm ein anderes Bild, eines, in dem er zwar eine wache, aber scheinbar gelangweilt dasitzende Lady sieht, eine, die souverän und autark wirkt. Es ist eine Weile ruhig und schlechtes Gewissen beschleicht mich. Hat die Schwarz mein Meisterwerk etwa doch gesehen? Hat sie gepetzt?

Stille.

So müsste man sein Geld verdienen. Schweigen, und der Rubel rollt.

„Ja, Frau Sax“, vernehme ich dann doch. „Da wollen wir mal anfangen.“ Er blickt mir gerade ins Gesicht. „Sie sehen ziemlich müde aus.“

„Schlafen Sie mal immer bloß drei, vier Stunden.“

„Ich habe gesagt, dass Sie müde aussehen. Sonst haben Sie sich nett hergerichtet“, erwidert er freundlich. „Vielleicht können wir damit beginnen, dass Sie mal versuchen, genau zu beschreiben, wann und wie Ihre Krankheit sich bemerkbar gemacht hat.“

Peinlich berührt blicke ich nach unten.

Krankheit … pfui!

Ich bin nicht krank!

„Versuchen Sie einfach zu beschreiben, was Ihnen einfällt, auch das, von dem Sie annehmen, es hätte keine Bedeutung. Lassen Sie nichts weg. Ich habe Zeit eingeplant. Und wenn Sie über etwas nicht sprechen können, dann legen Sie es fürs Erste beiseite.“

Dass er genau die richtigen Worte wählt! Seine Augen schauen mich warmherzig an, seine Stimme ist weich und gütig – das ist seine Rettung. Neben Augen stehe ich nämlich total auf Stimmen. Soll ich wirklich die Waffen strecken?

In meinem ganzen Leben habe ich noch nie jemandem erzählt, wie es in mir aussieht, keinem Mann, keiner Freundin, meinen Kollegen nicht und erst recht nicht den Eltern. Letzteres hat einen triftigen Grund: Vater stützt sich seit jeher voll Inbrunst auf die Schwächen anderer – vor allem und mit größter Freude auf meine, ich bin sein Lieblingsopfer –, um sie sowohl vor Freunden als auch vor Fremden ins Lächerliche zu ziehen. Ich hätte niemals zugegeben, nicht weiterzuwissen. Schwäche zeigen? Das gibt es nicht. Wer schwach ist, ist angreifbar. Ich bin durch eine verflucht gute Schule gegangen.

Bitte helfen Sie mir, signalisiere ich mit den Augen, die sich mit Tränen füllen. Herr Karstens, bitte!

Habe ich überhaupt je geweint?

„Frau Sax, vermuten Sie Zusammenhänge zwischen Ihren Ess-Brech-Attacken und konkreten Anlässen?“

Wie kann er das ansprechen? Wie kann er meine Schwäche wie Dreck zwischen uns schaufeln? Weshalb erstickt er gnadenlos diese zart keimende Hoffnung, dieses verhuschte Pflänzchen, das sich gerade hervorgetraut hat?

„Ess-Brech-Attacken“, wiederhole ich feindselig. „Sie können es mir gern auf die Stirn pinseln. Bitte.“

„Sie waren vorhin voll Trauer“, redet er beruhigend auf mich ein. „Ihnen sind Bilder der Krankheit bewusst geworden, das Ausmaß der Beeinträchtigung. Vielleicht können wir dahin zurückkommen?“

Auf einen Schlag ist die Wut verraucht und der Schmerz wieder da. Wie hat er das gemacht? Ich fange an zu reden, berichte ihm einiges, ohne zu wissen, ob es wichtig ist. Ich erzähle, wie ich mich auf Arbeit quäle. Wie ich beinahe alles vergesse, mir kaum noch etwas merken kann. Wie ich mich seit jeher von Ferien zu Ferien hangle. Einerseits mache die Arbeit mir Spaß, ich bekäme sehr viel von den Kindern zurück. Andererseits fühlte ich mich so schwach, dass ich die Schule hasste und hinschmeißen könnte. Es sei nur noch Zwang.

„Irgendwann hat da die Kotzerei angefangen.“

„Könnten wir bei brechen bleiben? Das klingt nicht so abfällig.“

„Sie können gern dabei bleiben“, schnaube ich. „Meine Sicht ist folgende: Wenn jemand bricht, dann deshalb, weil er sich den Magen verdorben hat. Und wenn jemand das macht, was ich tue, obwohl er sich den Magen nicht verdorben hat, dann kotzt er. Ich kotze mir die Seele aus dem Leib. Das ist dreckig, ekelhaft und vernichtend. Also kotzen.“

„Noch mal: Das klingt abwertend.“

„Eben!“

Die Unterhaltung stockt. Zu gern möchte ich wissen, ob er nur mir zuliebe das Gegenteil behauptet, um mich zu retten, oder ob er mir nicht sogar lieber paar klatschen würde.

Das Thema ist so heikel, dass ich große Mühe habe, die Kurve zu kriegen. „Möglich wäre, dass sich mein Schaden“, hier lächle ich mokant, „durch die große Englisch-Weiterbildung entwickelt hat. Keine Ahnung. Davor hatte ich meinen krankhaften Appetit meist im Griff. Doch wirklich satt geworden bin ich nie. Das gewisse Sättigungsgefühl, von dem andere Leute sprechen, kenne ich gar nicht.“

„Übertreiben Sie da eventuell etwas?“

Anstelle einer Antwort starre ich ihn böse an.

„Zum Thema. Es stellt sich trotzdem die Frage, warum Sie sich, Sie sprachen auch von der Studienzeit, dermaßen ausgepowert gefühlt haben. Und fühlen. Es ist ungewöhnlich, wenn eine junge, scheinbar gesunde Frau, fit, schlank und durchtrainiert, derartig erschöpft ist, oder?“

Schlank?

Mit dem anderen hat er recht. Mir schießen gleich wieder Tränen in die Augen. In nur zwei Sätzen hat er mein Dilemma benannt.

„Frau Sax, ich weiß, besser gesagt ich kann mir gut vorstellen, wie gefangen Sie sich fühlen müssen zwischen der Verantwortung Ihrer Tochter gegenüber, der Arbeit und den Zwängen Ihrer Symptome.“

Ich möchte ihm mit aller Macht den Mund zuhalten. Wieder zerrt er mein krankhaftes Verhalten ans Licht, genau das, worüber ich auf keinen Fall mehr sprechen will als unbedingt nötig. Also gar nicht. Nun möchte er auch noch wissen, wann und wie ich gefressen habe – er sagt natürlich „gegessen“ – und wie ich mich dabei gefühlt habe.

Willst du das wirklich wissen?

Willst du die volle Ladung?

Okay?

Dann los! Aber zieh dich warm an!

„Zunächst fühle ich nix, denn mir schnürt es vor Verlangen die Luft ab. Beim Gegenhalten fühle ich auch nichts, wie auch, mein ganzes Ich ist im Einsatz. Für Pipifax und anderen Schnulli bleibt da kein Raum. Was soll man da noch denken, geschweige denn fühlen? Ich bin total ausgebucht. Und dort, wo andere wählen können zwischen Fernseh- oder Kinoabend, faulenzen oder Sport treiben, wandern oder essen gehen – ich muss mir überhaupt keinen Kopf machen, mein Programm ist rundum gesichert. Toll, was?“

Ich könnte vor Wut durch die Decke gehen und fahre weiter so gehässig fort. „Abends, wenn ich völlig breit von Arbeit komme und Anna mich bitteschön in Ruhe zu lassen hat, weil ich wirklich nicht mehr kann, entwickle ich trotz allem Bärenkräfte. Für Fress-Kotz. Dafür habe ich Ressourcen, da wären selbst Sie begeistert. Ich organisiere schnell meine Tochter weg und los geht’s zum Einkaufen. Solch einen Elan, solch eine Power finden Sie kein zweites Mal.“

Der Raum ist aufgeladen, ich spüre es.

„Ihre autoaggressive Haltung schadet Ihnen“, erwidert er leise. „Sie ist kontraproduktiv und hilft nicht weiter. Stattdessen sollten Sie versuchen, sich den Symptomen offen zuzuwenden und diese als Zeichen einer Erkrankung zu sehen.“

„Aha. Es ist also kein Verbrechen, das eigene Kind nur noch genervt von sich wegzuschieben, zur Nachbarin, zur Freundin oder zum Spielen in den Hof? Wenn wirklich alles Geld fürs große Fressen draufgeht? Denken Sie, ich bin doof und raffe das nicht? Sie wollen mir also einreden, ich könne mich hinter einer Krankheit verstecken? Ich soll so tun, als wäre mein Verhalten auf diese Weise verzeihlich? Ist man damit raus aus der Nummer mit der Verantwortung?“

Es ist mucksmäuschenstill.

Wollte er nicht Einzelheiten wissen? Nun denn. Ich hole tief Luft, um ihm ein für allemal alles auf den Tisch zu knallen, dass er Ruhe gibt. Dass ich Ruhe habe.

„Zunächst, wenn der Countdown läuft, suche ich mehrere Läden auf. Ich streue die Einkäufe, damit keiner was merkt. Dann muss wie gesagt Anna weichen, auf sie kann ich eher verzichten als auf die Köstlichkeiten. Wenn das geklärt ist, macht es sich die Sax gemütlich. Sie frisst und stopft, trinkt und mampft und stopft, schaufelt und füllt. Erst wenn nichts mehr reingeht, muss sie zum Klo. Zwangsläufig. Den Weg dahin schiebt sie allerdings so weit es geht auf. Klo ist gleich Schafott. Dann beugt sie sich tiefer und tiefer. Sie versenkt ihren Kopf ins Becken, damit die Teile nicht wild durchs Bad fliegen …“

Ich schaue ihm in die Augen. „Können Sie noch folgen …? Sehr schön. Weiter. Nun fliegen sie, ich rede von den Teilen, ihr dafür ins Gesicht, in die Augen und in die Haare. Damit überhaupt alles fliegen kann, rammt sie sich den Zeigefinger bis zum Anschlag in den Mund. Zuerst geht es wegen des Überangebots leicht, später wird es richtig Arbeit. Nun muss sich die linke Faust kräftig in den Magen drücken. Der rechte Finger kratzt derweil den Rachen wund – ein Grund mehr, die Fingernägel hübsch kurz zu halten. Von den zerfetzten Mundwinkeln ganz zu schweigen. Die Aktion läuft solange, bis Magensäure kommt. Durch das ununterbrochene Würgen und die viele Kotze ersticke ich fast. Ich bekomme kaum Luft wegen der herausschießenden Massen – eine Portion davon findet seinen Weg durch die Nase – und dem mit aller Macht abgedrückten Bauch.

Habe ich den ersten Teil bewerkstelligt, wird das Bad gründlich geputzt. Danach bin ich dran. Nur bekomme ich den Geruch nie ganz weg, weil die Nase involviert war. Ist das Putzen geschafft, fällt endgültig der Hammer.

Es ist aus. Meine Seele liegt in der Kanalisation. Ich hasse mich, weil ich so abartige Dinge tue und nicht den Willen habe, es sein zu lassen. In dieser Stimmung hole ich Anna zurück und schaffe sie ins Bett, um von vorn zu beginnen. Übrigens, in der restlichen Zeit, dies sei erwähnt, gehe ich arbeiten.“

Herausfordernd blicke ich den Karstens an. Er nimmt die Hände aus seinem Gesicht und fragt, warum ich mir so gar nichts wert sei.

„Tja, warum denn nur?“, rufe ich höhnisch. „Eine interessante Frage. Wirklich. Warum nur findet es die Sax nicht prickelnd, im eigenen Dreck zu ersaufen? Ist doch nicht schlimm. Oder? Ist doch völlig normal. Machen alle so. Deckel drauf. Sack zu. Affe tot.“

Angreifbar, wie ich mich fühle, imitiere ich seine Sitzhaltung so auffällig, dass er es merken muss. Meine Unsicherheit bleibt. Ist die Zeit nicht bald um? Meine Uhr! Vergessen! Mist! Ein zweites Mal passiert mir das gewiss nicht, in der Schraubzwinge zu sitzen und nicht einmal zu wissen, wann ich wieder raus darf. Endlich, nach zähem Hin und Her, entlässt er mich mit den Worten: „Ich glaube, es reicht.“

„O ja.“

Am nächsten Tag nimmt er das Zepter in die Hand. Ich blicke ihn mit extra leerem Gesicht an und hebe scheinbar teilnahmslos die Schultern. Nie mehr werde ich mich gehen lassen und outen!

„Haben Sie bereut, so offen gewesen zu sein?“, fragt er leise.

„Ja.“

„Schade, wenn Sie es so sehen.“

Mein Gesicht bleibt eine Maske.

„Trotzdem müssen wir an dem Thema dranbleiben, damit ich mir ein Bild machen kann. Ich sagte ja schon, dass es nur Symptome, aber nicht die eigentlichen Ursachen einer Störung …“

„Ach!“, falle ich ihm ins Wort. „Wenn’s weiter nichts ist. Nur Symptome. Klar. Ich wusste gar nicht, dass man deshalb in der Klapper landen kann.“

„Frau Sax!“

„Okay, okay. Entschuldigung. Gut, dann ich will bloß die Zeichen weghaben. Den Rest schaffe ich allein.“

Ruhig, Susi! Keine Angriffsfläche bieten! Es muss ja weitergehen. Ich drücke mir, um Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, ein Lächeln aufs Gesicht.

Ich bin gut. Ich bin perfekt. Von Kopf bis Fuß in Schwarzweiß gekleidet – von den Ohrringen bis zu den Schuhen – bin ich ein wahrer Augenschmaus. Er wird heilfroh sein, dass er mich hat. Beim Anblick der alten Höllisch bekäme er vermutlich eine akute Bindehautentzündung.

Ab jetzt werde ich wieder und wieder von ihm interviewt, bis ich nicht mehr kann. Ich merke auch, dass ich nichts vom Leben habe, nichts, was mir Spaß macht, nichts, was mir guttut. Selbst Anna war Belastung. Allein durch das Gefresse hatte ich „Spaß“. Ja, ich habe oft daran gedacht zu sterben. Sehr oft. In letzter Zeit täglich. Doch ich hätte Verantwortung.

„Sich selbst gegenüber auch?“

Für mich …? Quatsch!

Sendepause.

Dann laufen doch die Tränen, denn wieder kommt etwas hoch.

„Wissen Sie“, beginne ich nach einer Ewigkeit, „ich habe Eintopf in windeltopfgroßen Gefäßen gekocht und … er verschwand. Im unersättlichen Loch. Zwischenrein musste ich nur mal kurz einen Boxenstopp am Klo einlegen. Ich hatte nämlich Angst zu platzen. Danach ein überschaubarer Kampf, um am Ende weiterzuessen, bis das letzte Krümel vertilgt war.“

„Und Anna?“

„Die habe ich wie immer weggeschickt.“

Das pure Grausen überfällt mich. Das furchtbare Ausgeliefertsein, dem ich nichts entgegensetzen konnte. Als ich anfange, richtig zu weinen, reicht er mir vorsichtig Taschentücher.

„Worüber ich gern mehr erfahren möchte, wäre Ihr permanentes Nicht-satt-Werden. Gab es denn gar keine Momente, in denen Sie sich nach dem Essen glücklich und zufrieden gefühlt haben und entspannt? Eventuell früher?“

Jetzt geht das Kindheitsgeschwafel los. Freud und so. Darauf habe ich schon seit Beginn an gewartet. „Wenn ich nie sage, meine ich es auch. Ich bin nicht gehirnblond. Und ob ich zum Schulanfang satt war, Herrgott noch mal, das weiß ich echt nicht mehr.“

„Haben Sie noch Erinnerungen daran?“

„Nein. Null. Weggewischt und ausgelöscht. Ich habe überhaupt keine Erinnerungen. Meist weiß ich nur das, was man sich später erzählt hat.“

Doktor Karstens lässt nicht locker. „Und ans Teenie-Alter zum Beispiel?“

„Wie andere Mädchen habe ich gehungert …“ Während ich rede, läuft im Hintergrund ein Kontrollprogramm, das aufpasst, ob dem, was ich sage, noch etwas hinzuzufügen ist. Irgendwas ist da noch. Jetzt fällt es mir ein: die kranke Verfressenheit meiner Familie! Was bin ich froh, dass ich ihm morgen was Handfestes erzählen kann. Da kann er sehen, dass ich willig bin.

Ohne Umschweife beginne ich. „Zum Thema Essen ist mir noch ne Menge eingefallen. Es ist aber bestimmt eher unwichtig.“

„Werten Sie bitte nicht. Das beeinträchtigt Ihre Darstellung in der Form, als werde sie durch einen Filter geschickt und es werden eventuell Dinge vergessen, die wichtig sein könnten. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Ich hab Abi.“

Er kann oder will sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Na, dann legen Sie mal los.“

„Mein Vater war und ist krankhaft gefräßig. Wie eine nimmersatte Raupe. Er fiel dauernd über unser Essen her. Man sah sich permanent gezwungen, sich zu rechtfertigen, zu verteidigen oder ihm gleich was anzubieten, um endlich Ruhe vor ihm zu haben. Bei jedem Mahl gab es endlose, sinnlose Diskussionen, die mich regelrecht erschöpften. Auch sonst war er auf der Suche. Vater langte überall, wo er seine Finger unterkriegte, rein. Er war lästig wie eine Schmeißfliege – aufdringlich, zudringlich, unverschämt. Nebenher klaute er rohes Fleisch aus dem Kühlschrank und rohe Leber. Er aß sogar rohe Niere ...“

Hier hebt es mich, und ich muss mich kurz sammeln. „Er saugte Karpfenköpfe aus samt deren Augen, schließlich waren die mit bezahlt …“ Wieder muss ich vor Ekel pausieren. „Er aß sogar die Gräten mit, damit es schneller ging. Selbst Geflügelknochen kaute er klein, weil es ihm sonst zu wenig Masse war.“

„Haben Sie das damals auch schon als belastend empfunden?“

„Auf jeden Fall! Nur heute sehe ich es klarer. Es gab ein einziges Hauen und Stechen ums Essen, wie auch bei unseren geliebten Großeltern: Er setzte sich über Oma hinweg und lachte sie aus, wenn sie schimpfte. Opa wurde verspottet, weil er als Diabetiker in seinen Augen sündigte. Jedem von uns wurde das Essen penibel nachgezählt. Revision. Da traf es dann meine Schwester. Sie hatte wie so oft heimlich Unmengen verschlungen. Leider sah man ihr das auch an.“

Unsicher schaue ich auf. Glaubt er mir? Oder schläft er schon?

„So ein Gesülze“, sage ich entschuldigend.

„Sie werten wieder.“

„Na ja, wenn ich mir so zuhöre … Ist doch schade um die Zeit.“

Immerhin rührt er sich mal aus seiner Erstarrung. „Normalerweise sollte eine Mahlzeit ein angenehmes Miteinander sein. Nach Ihrer Darstellung kommt bei mir aber das Gegenteil an: Verkrampfung, Kontrolle, Missgunst und jede Menge Demütigung.“

Nachdenklich schaut er zu mir rüber. Klar, es sieht scheußlich aus, wenn man es kritisch betrachtet.

„Eine Frage, Frau Sax. Wie eng ist eigentlich die Bindung an Ihre Schwester?“

Eng?

„Eng? Nein. Überhaupt nicht. Aber deshalb bin ich nicht hier“, entgegne ich stachlig.

Es entsteht eine Pause.

Er wartet.

„Wir sind grundverschieden. Ich fühle keinerlei Nähe zu ihr, null. Und was nicht ist, kann in dem Falle auch nicht mehr werden. Da passt einfach nichts zusammen. Wir sehen uns zu den Feiern und gehen danach getrennte Wege. Sie käme auch nie als Freundin für mich infrage.“

Ich halte alarmiert inne. Das Verhältnis zu Grit ist äußerlich intakt und innerlich Asche. Die plötzliche Erkenntnis ist erschreckend.

Montag. 10 Uhr. Ich bin beim Chef.

In den beiden vorangegangenen Tagen habe ich wie von Sinnen gekämpft, um meinen kranken Gelüsten standzuhalten. Starr vor Selbstbeherrschung bin ich wie eine Außerirdische über den roten Gang geschlichen. Ich bin mir selbst der ärgste Feind. Ich möchte endlich Erlösung. Deshalb muss ich zum Abschied von ihm Pillen kriegen. Zur Not nähme ich auch Tropfen, aber, um ehrlich zu sein, was Essbares wäre mir lieber.

„Wie war Ihr Wochenende?“

Ich atme aus. „Ich fahre am Freitag.“

„Sie möchten mittendrin abbrechen?“

„Ich ziehe die geplante Abreise um eine Woche vor. Mehr nicht.“

„Sie wissen, dass Sie davonlaufen?“

Er meint es ernst. Ich aber auch, ich lasse mir nicht reinreden.

„Zur Information, ich gehe ab und zu arbeiten. Und nebenbei bin ich Mutti. Die eine Woche mehr oder weniger rettet keinen.“

Die Diskussion ist zwecklos, die Sache beschlossen. Dennoch will ich endlich Stoff bekommen. Er lehnt mit der Begründung ab, es sei der falsche Ansatz. Das erweckt im Nu meine Lebensgeister.

„Ach!“, rufe ich. „Hinz und Kunz kriegen händevoll Pillen in dem Laden hier. Und gerade bei mir halten Sie sich an etwaige eherne Grundsätze?“

„Tabletten bringen Sie bestenfalls in ruhigeres Fahrwasser. Ich bin strikt dagegen. Ihr Ziel sollte es sein, sich dem Ganzen zu stellen und genau zu schauen, wo es herkommt.“

Wieder gibt es eine ellenlange Erörterung.

So ein sturer Bock! Sein ach so nettes Getue ist demnach Fassade. Er setzt es gezielt ein, um sich schön nah an einen anzuschleichen. Und wenn man ihn wirklich mal braucht, zeigt er sein wahres Gesicht.

Während meine Daumen scheinbar ungewollt umeinander kreisen, höre ich mich: „Da kann ich ja gehen …“, sagen.

„Ich kann Sie nicht festbinden“, erwidert er gelassen. „Wir hätten jedoch noch genügend Zeit.“

„Na gut.“

Ich falte die Hände auseinander.

„Zurück zur Esskultur in Ihrem Elternhaus“, nimmt er kulant den Faden vom letzten Mal wieder auf. „Kann die Stimmung rund ums Essen dazu geführt haben, neben dem Wunsch schlank zu bleiben, dass Sie generell ein gestörtes Verhältnis zu dem Thema entwickelt haben?“

Es klingt richtig gut, so gut, dass ich es mir merken will. „Könnte schon hinhauen. So verfressen wollte ich nie werden, das hat mich immens geprägt. Und nun hat die gute Frau Sax einen obendrauf gesetzt“, sage ich mit vor Ironie strotzender Stimme. Ich überlege eine Weile und habe noch eine Idee. „Mutter fand das wohl auch ziemlich doof. Jedenfalls hat sie Vater vor uns dauernd runtergeputzt.“

„Inwiefern?“

„Na, er sei abstoßend in seiner Unersättlichkeit. Sie ekle sich vor ihm. Sie nannte ihn oft Hausschwein, wirklich wahr! Er würde Dinge fressen, die schon riechen und bei anderen im Müll landen, sogar Schimmel, und offensichtlich würde ihm das guttun; nur beim Essen bekäme er Schweißausbrüche – bei der Hausarbeit nicht; so wie’s oben bei ihm reinliefe, liefe es unten wieder raus – kein Wunder, dass er nicht fett werde; er würde bei jedem Essen das Tischtuch versauen durch seine Hast; er solle sich lieber gleich in Unterwäsche an den Tisch setzen, da hätte sie hinterher weniger zu waschen …“

Was ist?

Ich breche ab, denn der Karstens sieht gar nicht gut aus.

„Das hat Ihre Mutter vor Ihnen so geäußert?“, fragt er bestürzt. „Merken Sie, wie das klingt?“

„Abwertend?“

„Langsam kriege ich ein Bild zusammen. Es war offensichtlich nicht nur Ihr Vater, der andere erniedrigt hat.“ Er blinzelt leicht. „Ihr Verhältnis zu ihm ist schwierig?“

„Sagte ich.“

Ich fühle mich unwohl und blicke weg. Und auf einmal ist es so still, dass die Stille in den Ohren dröhnt. Was hat er vor? Ich hebe meinen Kopf und schiele neugierig zu ihm rüber. Der Karstens verharrt scheinbar in sich selbst. Jetzt blinzelt er nicht mal mehr. Was hat er bloß vor?

„Ich hasse ihn“, fauche ich plötzlich voller Verachtung. „Und er mich auch.“

In ihm arbeitet es. Dann beugt er sich vor und nagelt mich mit seinen blauen Augen fest. „Aber Sie geben Ihre Tochter dahin. Wie soll ich das verstehen?“

„Soll ich sie ins Heim stecken?“

4

Ich falle erschöpft aufs Bett. Das war krass. Sich die Geschichten vor Augen zu führen ist wie Fotos entwickeln. Das Foto ist vor langer Zeit geschossen worden, aber keiner hat es bisher zu sehen bekommen.

Warum habe ich nie hingeguckt?

Ich bin regelrecht erschlagen von den Eindrücken. Der Hass auf Vater. So viele hässliche Worte. Das schlechte Gefühl generell, das sich wie ausgelaufene Tinte unaufhaltsam breitmacht und festsetzt.

„Schulter-Nacken“, ruft Dani durch die aufgerissene Türe und ist, zack, lachend wieder verschwunden. Okay, lieber schwingend die Wildecker Herzbuben ertragen als die aufkeimenden komischen Gefühle. Danach aber, wir sind noch gar nicht richtig im Zimmer, haut Dani Techno rein.

„Scooter“, sagt sie selig. „Hyper, hyper.“

Ich werde nie wieder eine Musik so lieben wie die von Scooter! Im Unterricht glaubte ich kurz vorm Nervenzusammenbruch zu stehen, wenn ich mal besonders charmant und nett sein wollte und freie Musikwahl angesagt war. Jetzt befehle ich: „Mach lauter!“

„Noch lauter?“

„Bitte!“

„Frau Sax.“

„Herr Doktor Karstens.“

„Wir waren bei Ihrem Vater.“

„Ach was, Sie auch?“

Mir geht es grottenschlecht, meine Abwehr ist dementsprechend. Ich habe eine Heidenangst vorm Heimfahren, vorm zu Hause sein mit allem Drum und Dran, vor Anna, der ich nicht gerecht werde.

„Können wir über Tabletten reden? Ich habe meinen Part erfüllt und breche nicht mehr. Ich könnte mich unter Umständen sogar zur Vorzeigepatientin weiterentwickeln. Jetzt sind Sie auch mal dran.“

Ergebene Blicke untermauern das Begehren, meine ganze Haltung drückt demütige Erwartung aus. Und was macht er? Er lacht zum ersten Mal herzhaft und betrachtet mich amüsiert, anstatt mich zu vierteilen.

„Menschenskind, Sie sind aber hartnäckig.“

„Steter Tropfen höhlt den Stein.“

„Trotzdem werde ich meinen Standpunkt nicht aufgeben. Die Idee mit der Vorzeigepatientin gefällt mir dafür umso besser. Wir könnten beide profitieren.“

Scheinbar unaufgeregt kreist mein Fuß, während ich gelangweilt zum Fenster rausschaue. Wenn ich keine Pillen bekomme, mache ich gar nix mehr. Außerdem weiß der eh alles. Ich ziehe mir paar Strähnen ins Gesicht, betrachte demonstrativ meine Nägel, verschränke anschließend die Finger, drehe meine Handflächen nach außen und dehne ich mich ausgiebig in seine Richtung. Ah, das tut gut!

An seiner Stelle würde ich platzen. Aber den Gefallen tut er mir nicht, er platzt nicht, sondern fragt eher beiläufig: „Ist es richtig, dass Sie Ihren Vater hassen?“

„Herrje! Da rutscht einem im Eifer des Gefechtes mal ein Wort heraus, das einem hinterher leidtut, und gleich wird man darauf festgenagelt. Tiefe Antipathie trifft eher den Kern. Ja, Antipathie. Eine gewisse Aversion.“

„Gibt es dafür noch andere Gründe als die, von denen ich weiß?“, fragt er in gleichbleibend neutralem Ton.

„Es gibt sicher andere Gründe“, antworte ich ziemlich genervt wegen seiner Neugier. „Aber nichts ist derart wichtig, um darüber auch nur ein weiteres Wort zu verlieren.“

„Sie werten wieder.“

„Mannomann“, röchle ich und fühle mich mörderisch in die Enge getrieben. „Mit ihm ist es deshalb schlimm, weil ich selbst auch schlimm bin. Das rührt daher, dass zwei schlechte Charaktere zusammenprallen. Wir sind uns zu ähnlich, deshalb kracht es.“

„Wer sagt das?“

„Ich. Und insbesondere Mutter. Die sagt es sowieso. Und meine hörige Schwester, ihr verlängertes Sprachrohr. Ich bin diejenige, die mit dem Kopf durch die Wand will. Bin streitsüchtig, bissig, arglistig, unnachgiebig, stur und unduldsam. Kleinlich, neidisch, berechnend, egoistisch, unzufrieden, hämisch und übellaunig – wie er eben.“

„Sind das Zitate?“

„Ja. Doch es stimmt. Ich bin schwierig. Und man behauptet auch, ich ginge über Leichen. Allerdings, das sollte man andererseits mit berücksichtigen, ist Vater ein cholerischer, erbsenzählender Krümelkacker. Wer würde nicht wütend werden neben einem typischen Vertreter seiner Zunft, einem echten Hauptbuchhalter, wie er … ha, ha … im Buche steht.“

Ich lache hysterisch über den Wortwitz.

„Ist das sein Beruf?“

„Krümelkacker?“