Boris - Blutlinie - I. B. Zimmermann - E-Book

Boris - Blutlinie E-Book

I. B. Zimmermann

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Beschreibung

Ein queerer Urban Fantasy Roman

Vampire sind Monster. Dessen wird sich der 2000 Jahre alte Boris erneut bewusst, als er für die Ausbildung zum Kriminalbeamten gezwungen wird, wieder frisches Blut zu trinken. Ambrosia hat ihn für viele Jahrzehnte menschlich gemacht, ihm ermöglicht zu atmen – aber Menschlichkeit hilft ihm im Kampf gegen Untote, Werwesen und Dämonen nicht weiter. Es ist vor allem seine eigene Art, gegen die es zu kämpfen gilt. Ein Vampirclan verbreitet Angst und Terror in der Stadt.

Aber Boris und sein Team bestehend aus Werwolf, Dryade, Oger, Hexe und Zombie ringen nicht nur um das Schicksal der Stadt Frankfurt, sondern auch mit ihren inneren Monstern – und manchmal um die Fernbedienung im Aufenthaltsraum.

Der Vampirkrimi ist ein Spin-Off der erfolgreichen MONA-Reihe von I. B. Zimmermann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 612

Veröffentlichungsjahr: 2024

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I. B. Zimmermann

Boris

Blutlinie

Ein urban-fantasy Krimi

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalrausgabe

© 2023 YUNA Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: I. B. Zimmermann, https://kritzelpixel.de/

Illustrationen: I. B. Zimmermann

Layout/Satz: Jürgen Kiermeier, YUNA

ISBN 978-3-641-32082-9

V001

I. B. Zimmermann

Blutlinie

Dieses Buch widme ich meiner treuen Leserschaft. Ihr habt euch gewünscht, mehr über Boris` Geschichte zu erfahren. Nur dank euch, konnte ich dieses Buch schreiben und mich so in die Charaktere verlieben!

Vielen Dank!

Content Notes

Das Buch beinhaltet den Konsum von Tabak und Alkohol innerhalb des normalen gesellschaftlichen Rahmens. Innerhalb der Geschichte wird es Beschreibungen von Blut, Angst und Tod geben.

Mehr Informationen auf:

www.kritzelpixel.de/boris

Prolog

Es brauchte zwei Anläufe, bis Boris endlich den Verschluss der Halskette zu fassen bekam. Jetzt nur noch öffnen.

»Grundgütiger!« Vor sich hin fluchend prallte er mit dem Ellenbogen gegen seinen Spind. Boris fuhr fauchend herum, doch der Übeltäter hatte bereits gelitten – da war eine sichtbare Delle in dem grauen Metall der Tür. Das fing ja gut an. Wenn seine Bemühungen um einen sauberen ersten Eindruck jetzt an einer verdammten Kette scheiterten … Wie hatte er das Ding nur vergessen können? Am ersten Tag als angehender Kriminalbeamter mit dem Symbol einer illegalen Droge zum Dienst erscheinen, das konnte aber auch nur ihm passieren.

Leider waren günstige Metallverschlüsse besonders allergisch gegen Hektik. Prompt ziepte Boris ein Haar im Nacken, das sich in den Kettengliedern verfangen hatte.

Es wäre vermutlich klüger, das dünne Metall einfach zu zerreißen. Er konnte problemlos Ersatz kaufen, aber … ausgerechnet das Zeichen seines gewählten Weges an diesem Tag zerstören? Den Anhänger, vielmehr das Symbol, das ihn über Jahrzehnte bei Verstand gehalten hatte? Ganz böses Omen. Und das Leben – nun, eher das Unleben – hatte Boris gelehrt, dass man niemals mit dem Schicksal spielte. Allerdings – Boris nahm seit Jahren keine Ambrosia mehr zu sich. Hatte er überhaupt noch das Recht, diese Kette zu tragen?

Diese Erkenntnis raubte Boris sämtliche Spannung und er verharrte einen Moment. Wieso machte er sich so verrückt? Wie aus dem Ei gepellt, überpünktlich, auf seinen ersten Eindruck bedacht und wozu? Als ob er hier eine echte Chance hatte. Überall sonst, aber nicht hier. Er hatte sich nicht ohne Grund bei allen anderen Revieren, Sondereinheiten und mythokriminalistischen Einrichtungen beworben und das Bundeskriminalamt Frankfurt dabei übergangen. Ein Vampir arbeitete nicht für einen Van Helsing. Schon gar nicht für den Besten der Besten. Sein zukünftiger Chef war eine Legende – und Boris? Er arbeitete daran, überhaupt einmal etwas zu sein.

Seufzend ließ Boris die Arme sinken. Die Kettenglieder zwischen seinen Fingern hatten unter seiner Hektik nun doch nachgegeben und ein Stück der Kette fiel zu Boden, als er das Schmuckstück langsam aus dem Hemdkragen zog.

Das war ein guter Moment, um tief durchzuatmen, leider zeigte das schon seit drei Jahren keinerlei Wirkung mehr auf Boris und so beließ er es bei dem Gedanken. Einem Gedanken, der ebenso wie diese Kette nun für immer verschwinden musste. Er hatte sie zur Party seines Dienstantritts ein letztes Mal tragen wollen – und dann am Morgen vergessen, sie abzulegen.

Trotz der drohenden Verspätung drehte Boris den Anhänger einen Augenblick lang zwischen den Fingern. Das Metall war stumpf geworden über die Jahre, die feinen Zweige der Pflanze leicht verbogen, die dicken runden Blüten hatten ihre Details eingebüßt und doch würde jede in Mythologie bewanderte Person sofort erkennen, dass es sich um die Darstellung von Ambrosia handelte. Nicht das handelsübliche Gewächs aus der Gartenabteilung, sondern jenes, das man angeblich nur im Olymp pflücken konnte. Gut, auch das bekam man mitunter in der Gartenabteilung, bei einem zwielichtig aussehenden Mann mit übergroßem Trenchcoat – aber diese Zeiten waren vorbei, zumindest für Boris. Für ein paar Jahrzehnte hatte er sich mit Ambrosia ein wenig Leben erschlichen, hatte zum ersten Mal Wärme in der Brust gefühlt, frischen Sauerstoff in der Lunge gespürt und erstmals in zweitausend Jahren war sein Hunger versiegt.

Hunger – gutes Stichwort. Hastig öffnete Boris noch einmal seinen Spind und griff nach der halb vollen Thermosflasche. Er hatte an seinem ersten Arbeitstag eigentlich nicht nach Blut riechen wollen, andererseits ruinierte nichts so sehr den ersten Eindruck wie ein Vampir mit knurrendem »Magen«.

Kaum dass die rote Flüssigkeit seine Lippen berührte, durchfuhr Boris ein Schauer. Das Blut war noch warm und würde es dank des Behälters auch eine Weile bleiben. Die feinen blonden Härchen an Boris’ fast weißen Armen stellten sich auf und er schloss unweigerlich die Augen. Er hörte sich zufrieden seufzen.

Wie er dieses süße Gefühl hasste. Die willige Reaktion seines Körpers widerte ihn an und doch trank Boris fast die ganze Flasche aus, als sei er am Verdursten. AB negativ. Unverdünnt. Magischen Ursprungs. Ein Privileg in der heutigen Zeit. Das hatte er seinem neuen Beruf zu verdanken, und trotzdem umklammerte Boris seinen Anhänger sehnsüchtig. Ambrosia verschaffte einem nicht diese Befriedigung, trank man unter Einfluss der Droge Blut, hatte das nicht länger diesen berauschenden Effekt – man konnte jedoch in der Abendsonne sitzen, ohne zu verbrennen. Und für ein paar Jahre hinter Gittern landen, wenn rauskam, dass man die illegale Götterdroge besaß. Denn Ambrosia belebte alles Untote. In einer Welt erbaut auf Friedhöfen, mitten im Zeitalter der Zombieapokalypse, da wäre es fatal, wenn jeder Hinz und Kunz einfachen Zugang zu dieser magischen Pflanze hätte. Durch Ambrosia beseelte, halb bewusste Untote würden die Gesellschaft der Lebenden innerhalb kürzester Zeit überrennen, denn der einzige Grund, weshalb der Weltuntergang trotz der massiven Zombieplage noch ausstand, war deren hirnloses Verhalten. Außerdem: Zu Leben bedeutete zu sterben, bedeutete loszulassen. Anfang und Ende, das war menschlich. Etwas, das man Boris geraubt hatte.

Energischer als beabsichtigt verstaute dieser Thermoskanne und Kette im Spind, schob beides weit hinter seine Laufschuhe und den Kulturbeutel. Nur weil er den Anhänger nicht mehr trug, machte das seinen Schwur nicht ungeschehen. Er wollte dem Leben dienen, es schützen und genau deshalb war er hier. Auch wenn er dafür auf sein eigenes verzichten musste. Vorbei war die Zeit des Stillstands.

Boris sparte sich den Blick auf die Uhr, er wusste, dass er zu spät dran war. Nervös sah er an sich hinab. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, beides erstaunlich fusselfrei. Nun, vermutlich roch er ein bisschen nach seinem Werwolfkumpel, das würde hier aber nicht auffallen, war doch der Chef des Amtes selbst ein Lykanthrop. Oberkriminalkommissar Van Helsing. Ausgerechnet er wollte Boris eine Chance geben. Oder würde er ihn gleich mit einem Pflock durchs Herz begrüßen?

Da war wieder dieser Reflex, tief durchatmen zu wollen. Boris schüttelte über sich den Kopf, straffte seine Schultern und schloss endlich seinen Spind. Was dachte er da nur? Er war nicht hier, um aufzugeben.

Er wollte, er brauchte diesen Beruf oder vielmehr Berufung. Jahrhundertelang war Boris durch die Schatten gewandelt. Und als sich die magische Welt vor ein paar Jahrzehnten langsam offenbart hatte, hatte er jedes Hindernis, jede Hürde, jeden verdammten Reißnagel mitgenommen. Tausende Jahre hatte sich das sogenannte Unvolk vor den Menschen verborgen gehalten – natürlich war die Zusammenführung schwierig gewesen –, aber verdammt, niemand hatte sich um Altvampire wie ihn gekümmert. Integriere dich, oder zurück in die Schatten mit dir. So modern sich die Welt auch wähnte, noch immer irrten die meisten thaumaturgischen Wesen durch die Dunkelheit, ohne Führung – oder Schutz, denn der galt vor allem den Sterblichen.

Deshalb war Boris in den letzten drei Jahren ohne Ambrosia nicht ein einziges Mal rückfällig geworden, hatte auf das Leben verzichtet, das die Droge ihm schenkte. Die magische Welt brauchte ihn, brauchte einen Vampir bei der Polizei, damit das Unvolk nicht eine Waffe, sondern eine gereichte Hand empfing, wenn es sich aus dem Schatten traute. Und außerdem verfügte Boris durchaus über ein besonderes Talent – zum ersten Mal in seinem Unleben würde er das Erbe seines Vaters antreten. Viel zu selten wirkte Blutmagie auf der Seite des Gesetzes – das musste sich dringend ändern. Eine Macht gleichermaßen gefürchtet wie begehrt. Hier würde Boris endlich die Zeit finden, sie beherrschen zu lernen.

Kapitel 1

Thaumaturgischer Kriminaldauerdienst

Ambrosia stärkte das Leben, leider bedeutete das für einen Vampir, die Mächte des Unlebens zu verlieren. Man tauschte übernatürliche Stärke gegen Sonnenlicht – ohne die Droge kehrten die Kräfte jedoch wieder zurück. Früher hätte Boris das Gewicht der stabilen Sicherheitstür bewusst wahrgenommen, Anstrengung dafür aufwenden müssen, sie zu öffnen. Das war nun nicht mehr nötig, doch Boris hatte sich an seine wiedergewonnenen Fähigkeiten auch nach drei Jahren noch nicht gewöhnt …

Die Türangeln knirschten verdächtig. Boris wusste, dass er das verdammte Ding aus dem Rahmen gerissen hatte. Damit endete dann auch die Nervosität und wandelte sich nahtlos in das Frühstadium von Panik. Zu allem Überfluss stand Boris nun direkt vor dem Mann, für den der erste Eindruck so wichtig gewesen wäre.

»Hohnenzollern«, knurrte Oberkriminalkommissar Van Helsing. Er sah lediglich auf Boris hinunter, ohne den Kopf zu bewegen. Seine Augen lagen etwas im Schatten. Er hatte das kantige Gesicht eines Klischee-Drillsergeants, passend dazu einen dichten dunklen Schnurrbart, war braun gebrannt und besaß Schultern so breit wie der Türrahmen, in dem er stand. »Spät dran, was?« Zwei dicke Eckzähne blitzten auf, nicht so lang wie die eines Vampirs – mit diesem Gebiss wurde Beute zerrissen, nicht angeknabbert.

»Verzeihung«, platzte Boris pflichtbewusst heraus. Zum Sprechen hatte er nach Luft schnappen müssen und bereute es sofort. Schwer und bitter drang der Duft von Magie in seine Sinne ein, wie der Aufguss eines teuren Kräutertees. Gleich danach schlugen seine Instinkte Alarm, als sie den Werwolf darin witterten. Doch das wusste Boris längst, er hatte schon gesehen, wie sich dieser Kerl in ein gut doppelt so großes Wolfsmonster verwandelt hatte – und der pochenden Ader an Van Helsings Hals nach zu urteilen, stand er jetzt wieder kurz davor.

Der Blick des Kommissars glitt zu der kaputten Tür in Boris’ Hand. Boris konnte sehen, wie sein nun vermutlich Ex-Chef etwas tiefer durchatmete. Doch statt einer Standpauke oder einem direkten Rauswurf aus dem Fenster knurrte der Mann nur wieder und schielte zurück zu ihm.

»Ich wollte nicht …«, setzte Boris an.

»Mitkommen!« Da war kein Ärger in Van Helsings Stimme, aber das musste bei einem Befehl nicht viel heißen. »Dalassen!«, fügte er hinzu und deutete auf die Tür.

»Selbstverständlich!« Hastig griff Boris mit der anderen Hand nach der Tür, um sie sicher aufzufangen, und lehnte sie an die Wand. Waren das da seine Fingerabdrücke im Metall der Türklinke? Er hatte seinen Stress deutlich unterschätzt. Händeschütteln ließ er heute wohl lieber bleiben, falls es überhaupt noch dazu kam.

»Wird’s bald?«, tönte es aus dem Gang.

»Verzeihung«, hörte sich Boris erneut sagen und eilte seinem Chef – Ex-Chef, wie auch immer – hinterher. »I-ich hatte nicht …«

»Wir müssen zur Ausrüstungsausgabe.« Van Helsing klang seltsam ruhig. Erst jetzt fiel Boris auf, dass der Kommissar eine schusssichere Weste, einen Gürtel mit Waffe und ein angekettetes Grimoire trug. Auf seinem Rücken prangte in großen weißen Lettern TKDD, was für Thaumaturgischer Kriminaldauerdienst stand.

»Ausrüstungsausgabe«, wiederholte Boris leise. Artig stakste er ihm nach und versuchte sich einen Reim auf diese Anweisung zu machen. Vielleicht wollte Van Helsing ihn zu Demonstrationszwecken vor den anderen Beamten pflocken und es fehlte ihm der passende Holzkeil. Es war ja nicht so, als hätte Boris nicht genau dieses Szenario in den letzten Wochen wieder und wieder geträumt. Das war das Einzige, was ihm nach drei Jahren Ambrosia-Entzug noch von der Droge geblieben war – Albträume. Na ja, immerhin hatte er es bis zum ersten Arbeitstag geschafft, die anderen Einheiten hatten ihn nicht einmal sehen wollen. Scheiße, er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.

Der Gang endete in einer Abzweigung, doch ehe sie um die Ecke bogen, blieb Van Helsing stehen und ließ fünf Personen vorbeieilen, die den Flur hinunterrannten. Der Letzte von ihnen hielt jedoch inne und drehte sich um.

»Gnag ist schon vor Ort, Chef«, keuchte er atemlos. »Die Feuerwehr ist auch unterwegs.«

»Welche?«, wollte Van Helsing wissen.

»Welche?« Die Stimme des Beamten kippte, er war sichtlich nervös. Ob das an der Situation oder dem zwei Köpfe größeren Kommissar vor ihm lag, konnte Boris nicht beurteilen, doch er konnte das Adrenalin in der Luft regelrecht schmecken. Das Blut pumpte viel zu schnell durch den kompakten Körper des jungen Polizisten. Er hatte Panik – süß schmeckende Panik. Und dann all die Wärme, die er ausstrahlte …

Nun huschte der Blick des Mannes zu Boris, als hätte er seinen Hunger wahrgenommen. Boris presste fest die Lippen zusammen und lächelte. Das Letzte, was er wollte, war, einen ohnehin gestressten Kollegen mit seinen spitzen Eckzähnen zu konfrontieren.

»Menschliche Feuerwehr, ja?« Van Helsing klang nicht ungeduldig, aber auch sein Kreislauf hatte sich beschleunigt.

»S-sicher.«

»Dann ist die andere noch nicht mal auf dem Weg«, schlussfolgerte Van Helsing und schnaubte.

»Soll ich der Zentrale …«

»Nein, ich kümmere mich schon drum.« Der Kommissar nickte in Richtung des Gangs und sofort ging ein Ruck durch den Beamten. Schwungvoll drehte er sich um und rannte seinen Kollegen hinterher. Van Helsing griff zum Funkgerät an seiner Weste und setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung, allerdings in die andere Richtung. Boris schloss hastig zu ihm auf.

»Ich will ein Höllenfahrtskommando vor Ort«, murmelte Van Helsing in den Apparat. »Vermuten einen Q2.«

»Einen was?«, meldete sich Boris unbedarft. »Wo?« Die Abkürzung Q2 stand für einen magischen Notfall der zweithöchsten Stufe. Für gewöhnlich waren das herabgestiegene Göttliche, explodierte Fluchrelikte oder gar Portale zur Hölle. Und für Boris war schon der Q6 aus seiner Praktikumszeit purer Horror gewesen, denn der war Gullydeckel aufhebelnd durch halb Wiesbaden gekrochen. Nacktschnecken waren generell eher eklig – magisch aufgeladen, fünf Meter lang und einen Meter breit, jedoch …

»Die Blutbank Ecke Stephanstraße brennt.« Der Blick, mit dem Van Helsing ihn von Kopf bis Fuß musterte, sagte alles. Er galt nicht Boris, sondern dem, was er war.

»Vampire«, keuchte Boris alarmiert.

»Richtig. Dein Timing könnte also nicht besser sein.«

Die Ausrüstungsausgabe verbarg sich hinter einer harmlosen Tür im Untergeschoss und verdiente eine bessere Bezeichnung. Es handelte sich um eine wahre Lagerstätte an Werkzeugen und Kriegskunst, eine Halle mit hohen Wänden und Dutzenden Regalen, die teilweise hinter Gittern lagen und sich undurchsichtig über viele Meter zu erstrecken schienen. Hier wäre Boris nur zu gerne mal durch die Gänge geschlendert, um in dem thaumaturgischen Arsenal zu wühlen. Und vielleicht, wenn er Van Helsings Art nicht falsch interpretierte, bestand dafür noch eine Chance – trotz der Sache mit der Tür.

Vorn am Schalter stand eine große Schwarze Frau, deren Muskeln ihre Bluse zum Spannen brachten. Ihr Gesicht war breit, das Make-up dezent und die Haare kurz geschoren.

Und wieder jagten Boris’ Instinkte einen sanften Schauer durch seine Adern, als er auch in ihr den Werwolf erkannte. Noch ein übernatürliches Wesen? Wobei, Lykanthropen waren recht beliebt in der Sicherheitsbranche.

»Moin, Chef«, brummelte sie und ihre Nasenlöcher blähten sich auf. Mehr Beschnüffeln war für die zwei Wolfswesen vermutlich nicht drin, auch wenn es ihrer Natur widersprach. Van Helsing schob lediglich sein markantes Kinn vor und nickte ihr zu.

»Hab schon alles bereit. Das ganze Letzte-Ruhe-Paket«, erklärte die Beamtin und deutete auf den dicken schwarzen Koffer zu ihrer Rechten.

»Danke dir, Vera. Ich brauch auch noch was für den hier.« Van Helsing nickte hinter sich und erst jetzt richtete sich Veras Aufmerksamkeit auf Boris. Sie zuckte zusammen, als hätte sie ihn vorher wirklich nicht bemerkt. Ah, ja richtig. Im Schatten, regungslos, ohne Atmung, lediglich mit schwachem Puls war Boris so gut wie unsichtbar. Sich bewusst lebendig zu zeigen, das übte er noch. Mit Ambrosia war das nicht nötig gewesen, und davor? Davor hatte er versucht, möglichst verborgen unter den Sterblichen zu wandeln. Unbedacht schenkte er der Kollegin ein breites Lächeln, was zu einem weiteren kleinen Zusammenschrecken ihrerseits führte, und Boris ließ sofort die Mundwinkel sinken.

Wieder blähten sich ihre Nasenflügel auf. »Und ich dachte schon, du hättest wieder alle Zimtschnecken allein aufgefuttert«, murmelte Vera und zwinkerte Van Helsing zu.

»Heute gab es Puddingteilchen.«

Boris roch vorsichtig an sich. Gegen seinen anziehenden Lockduft nach Zimt nahm er zwar Medikamente, aber das reichte offensichtlich nicht für Werwolfsnasen.

»Aber Martin, dein Ernst, ein Blutsauger?«, wollte Vera wissen, klang allerdings bereits resigniert und drehte sich zu den vielen Regalen hinter sich um.

»Jupp.« Van Helsing hatte derweil seine Waffe gegen eine neue ausgetauscht und nahm sich auch ein Gewehr, das, wie Boris wusste, nur Silberkugeln verschoss und dank Magie kräftig genug war, selbst den dicksten Vampirschädel zu durchdringen.

»Feuer mit Feuer bekämpfen, was? Na, soll mir recht sein. Du wirst wissen, was du tust«, murmelte Vera mehr zu sich als zu Van Helsing und hievte nun auch einen schwarzen Kasten direkt vor Boris auf den Tresen. »Einmal Letzte-Ruhe-Paket in klein. Aber verbrenn dich nicht beim Laden … ehm …«

»Boris! Boris von Hohnenzollern, sehr erfreut«, stellte er sich unnötig geschwollen vor und verfluchte sich innerlich schon wieder. Auch nach drei Jahren hartem Kommunikationstraining steckten zu viele verschiedene Jahrhunderte in ihm. Immerhin gelang ihm gleich noch ein echt überzeugendes »Was geht denn so?«.

»Was geht denn so?« Jetzt gluckste Vera vergnügt. »Wo hast du den denn ausgegraben?« Sie zwinkerte Van Helsing zu. Die eben noch greifbare Spannung war völlig verschwunden.

»Willst du nicht wissen.«

»Und ob ich das will. Aber … na ja … also, ich bin Vera Drassel«, erklärte sie wieder an Boris gerichtet. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich verteil hier die ganzen Spielzeuge, aber nur, wenn du einen entsprechenden Zettel für mich hast oder ihn hier mitbringst.« Sie deutete auf Van Helsing.

»Hast du alles?«, wollte der von Boris wissen. Van Helsing klang immer noch merkwürdig gelassen, weshalb Boris ein paarmal den Mund öffnete, ohne zu antworten. Durfte er seine Überforderung zeigen? Sein Ausbilder hatte ihm geraten, ehrlich zu sein, andernfalls würde er sich nie in eine Einheit eingliedern. Jede Unsicherheit konnte potenziell tödlich enden.

Boris schielte zu Van Helsing hoch. Der war nicht ganz einen Kopf größer, aber er wirkte übermächtig. Das lag vor allem an seiner entspannten Aura. Da draußen tobte ein Q2, was alles bedeuten konnte, irgendetwas brannte schlimm genug, dass Van Helsing ein Höllenfahrtskommando beantragt hatte, und doch stand der Mann seelenruhig am Tresen und musterte Boris fragend.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Sie wollen mich mit auf den Einsatz nehmen?«

»Jupp.« Da, schon wieder. Das klang ganz selbstverständlich. Van Helsing hob nun eine Braue. »Können wir?«

»Muss ich denn nicht erst …«

»Du musst nur das tun, was ich dir befehle.« Na, das war doch mal eine Ansage. Sofort löste sich ein wenig seiner Anspannung in Pflichtbewusstsein auf. Mit Befehlen kam er klar.

»Und der Q2? Worum handelt es sich denn genau, Chef?«, hakte Boris nach und straffte die Schultern.

Das war Van Helsing wohl nicht entgangen, seine Lippen kräuselten sich amüsiert, ehe er den Waffenkoffer zuschlug. »Im Wagen!«

Nun, wenigstens wurde Boris nicht, wie vorhin befürchtet, aus dem Fenster geworfen, nur ins kalte Wasser.

Kapitel 2

Höllische Feuertaufe

Mit heulenden Sirenen durch die Frankfurter Innenstadt, da sprangen sogar Hydranten freiwillig zur Seite. Boris umklammerte den Haltegriff über dem Fenster und konzentrierte sich darauf, ihn nicht abzureißen. Van Helsings Fahrstil war das komplette Gegenteil von seiner gelassenen Natur. Er fuhr, als sei die ganze Hölle hinter ihnen her.

»Nachbarn haben einen Einbruch gemeldet. Aber als zwei Kollegen vor Ort ankamen, flog ihnen das Gebäude halb um die Ohren«, erklärte Van Helsing beiläufig, als hätte er nicht gerade mit angezogener Handbremse eine scharfe Kurve genommen.

»Bedrückend«, kommentierte Boris trocken, der nun doch den Haltegriff abgerissen hatte und sich am Anschnallgurt festhalten musste.

»Spar dir deine Kräfte für den Einsatz!« Van Helsing schenkte ihm einen kurzen Blick.

»Da brauche ich nichts zu sparen.«

»Gut. Könnte hässlich werden.«

»Ich hab die Berichte gelesen«, erklärte Boris schnell. In Frankfurt hatten sich mehr Vampire niedergelassen, als die Stadt verkraften konnte. Offen gelebter Vampirismus unter Menschen war noch so neu und die Strukturen zur Eingliederung so mangelhaft, dass die meisten Vampire unter Beobachtung des Amtes für Unvolk standen. Nur die wenigsten konnten frei leben und auch das brachte seine Probleme mit sich. Beißprüfung bestanden hin oder her, der Jobmarkt sah nicht gerade rosig aus für einen Blutsauger. Weshalb sich auch der größte Teil der Nachtgesellschaft von offiziellen Ausweisen fernhielt und Boris hatte dafür vollstes Verständnis. Diese Vampire agierten weiterhin in den Schatten, einige von ihnen allerdings aggressiver denn je. Wer es schaffte, sich Jahrhunderte im Geheimen von Blut ernährend zu überleben, folgte meist einer ganz besonderen Form von Moral – eine, die einen Polizeieinsatz nach sich zog.

»Gnag hat das Gebiet abgesperrt. Wenn wir Glück haben, erwischen wir eine von den Zecken noch vor Ort.«

»Z-zecken«, wiederholte Boris und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme entrüstet überkippte. Doch der Laut ging teilweise in der quietschenden Vollbremsung unter, die Van Helsing gerade hinlegte, ehe sie in eine schmalere Straße einbogen, aus der es gewaltig qualmte. Blaulichter kreiselten und ihr Licht verfing sich im Rauch. Van Helsing hatte nicht untertrieben, jemand hatte tatsächlich ein Loch in die Blutbank gesprengt und daraus züngelten nun Flammen – Flammen mit Händen, aus deren Fingern noch mehr Hände sprossen.

»Sind das da Zungen, die aus den Handballen … Grundgütiger Hades«, keuchte Boris.

»Ja, könnte man so sagen.« Van Helsing knurrte, es klang diesmal deutlich weniger menschlich, aber auch ein Werwolf war gegen Höllenfeuer machtlos.

Sie parkten in einiger Entfernung und ließen genug Platz, dass Löschfahrzeuge durchkamen. Hoffentlich beeilte sich das Höllenfahrtskommando, das hier war außer Kontrolle.

»Wer ist denn so von Sinnen, hier Höllenfeuer zu beschwören?«, murmelte Boris und stieg aus.

Van Helsing schwang sich ebenfalls aus dem Wagen und eilte zum Kofferraum, um die schweren Geschütze herauszuholen.

Boris zupfte an seiner schusssicheren Weste, die hatte Van Helsing ihm kurz vor dem Einsteigen in die Hand gedrückt und dabei müde gelächelt. In Anbetracht des sich offenbarenden Chaos wirkte das bisschen Stoff lächerlich.

Einsatzfahrzeuge standen kreuz und quer in der Nähe des Brandes. Ein Löschwagen mühte sich mit den hungrigen Flammen ab, die sich vom Wasser wenig beeindruckt zeigten. Die einzige Person, die noch entschlossener als das Feuer wirkte, war ein untersetzter grüner Beamter mit kurzärmeligem Hemd, der mit in die Seiten gestemmten Händen am Straßenrand stand und gerade zwei Kollegen zusammenbrüllte.

»Wie kann man denn Höllenfeuer nicht erkennen?«, keifte er. Die Bassstimme passte zu dem muskelbepackten Kraftpaket. Boris erkannte ihn sofort. Gnag der Oger. Nur knapp eins sechzig groß, aber genug Ausstrahlung für eine ganze Einheit. »Und sorgt endlich dafür, dass die Schaulustigen verschwinden!«

Flammen mit Händen und Zungen – natürlich hing die halbe Anwohnerschaft von gegenüber aus dem Fenster und filmte.

»Verstärkung ist auf dem Weg!«, erklärte Van Helsing hinter Boris, stapfte an ihm vorbei und zischte kaum hörbar: »Bleib bei mir! Keine Alleingänge!«

»Jawoll, Chef!«, platzte Boris etwas zu laut heraus, was Gnag ein schnaubendes Lachen entlockte.

»Hey, Boris, lange nicht gesehen! Steht dir!« Der Kollege deutete auf Boris’ penibel gebügeltes Hemd und die zu eng sitzende Krawatte. »Hatte gehofft, dass du zu uns kommst.«

Zwar war Boris von seinen Fähigkeiten überzeugt, dennoch brandete auf Gnags Worte hin eine Welle der Erleichterung in ihm auf. »Ach, ist das so?«, gab er breit grinsend zurück und reichte dem Oger die Hand. Dem konnte er wenigstens nichts brechen, egal wie fest er zudrückte. Oger und Vampire waren in etwa gleich stark und Boris war sich nicht sicher, wessen Finger knirschten.

Gnag lachte lauthals und klopfte ihm dann etwas zu kräftig auf den Rücken. Aus den Augenwinkeln sah Boris, wie Van Helsing mit den Augen rollte. Der Kommissar hatte sein Grimoire vom Gürtel losgekettet und blätterte hastig in den alten Seiten des Zauberbuchs.

»Zollern, wie lief’s mit Magie im Studium?«, wollte er wissen.

Zollern – interessante Abkürzung. Fühlte sich fast an, als gehöre er zum Team … Boris schnappte nach Luft, was er, wie so oft an diesem Tag bereute, denn es roch inzwischen beißend nach Rauch.

»Magie«, wiederholte er. »Meine Feinfühligkeit diesbezüglich hat sich über die vergangenen Jahre des Trainings deutlich verbessert, das Wirken jedoch …«

»Fährtenzauber von Vampiren?«, wurde er unterbrochen.

»Oh … Sie meinen …« Boris keuchte und verharrte einen Moment. Doch Van Helsing anzustarren, änderte nichts an dessen fragendem Ausdruck. »Sie meinen …«

»Ja?«

»Nun, das …« Hier ging es nicht einfach um ein bisschen Zauberei, Van Helsing sprach von Blutmagie. Natürlich, als Boris’ Chef hatte er Kenntnis von dessen besonderer Fähigkeit. So viel also zu Boris’ Vorhaben, diese Macht in Ruhe beherrschen zu lernen. »Müsste das Feuer die Spuren nicht alle zerstört haben?«

»Nicht unbedingt. Einen Versuch ist es wert.« Wie konnte jemand so gelangweilt klingen, während gerade dämonische Feuerhände eine Hauswand hinaufkletterten? Van Helsing verkörperte das mit dem Badass ein bisschen zu gut.

»Sicher, Chef.«

»Also?« Er hielt Boris das Grimoire vor die Nase.

»Fährtenzauber. Sofort!« Zittrig nahm er das Buch entgegen.

Spurenlesen, das würde er hinbekommen. Hoffentlich blieb es dabei. Obwohl Blutmagie einem Vampir wortwörtlich im Blut lag, meisterte kaum einer diese einzigartige Form der Zauberei, denn schon für Kleinigkeiten waren Hunderte, gar Tausende Jahre Übung nötig. Manipulation des flüssigen Lebens. Das Eintauchen in Gedanken, Vordringen bis hin in die Seele eines Wesens. All die Klischees über die Fähigkeiten der Blutsauger – sie waren wahr. Zumindest damals, zur alten Zeit.

Eine Anleitung zum Steuern von Menschen allein durch ihr Blut hindurch fand sich auch in Van Helsings Grimoire, und Boris ertappte sich bei einem Gebet nach ganz unten, dass solche Wunder nicht von ihm erwartet wurden. Aber ja, er besaß durchaus das Potenzial dazu.

Jegliches Leben hinterließ Spuren, Blut war nicht nur in, sondern auch um uns, doch das offenbarte sich den wenigsten. Wer es schaffte, diese alles umspannende Essenz zu kontrollieren, kontrollierte gar das Leben selbst. Für jene Fähigkeiten mit beinahe gottgleicher Macht jagten sich Vampire seit Jahrtausenden gegenseitig. Denn dieses Wissen vererbte sich im Blut wie ein Instinkt, es floss wortwörtlich durch die Adern einer Blutlinie. Der Schüler übertraf immer den Meister. Na ja, fast immer.

Boris verfügte dank seines Blutsvaters über dieses Privileg. Tausende Jahre Training seiner Vorfahren gebündelt im Blut – und er hatte dafür nicht einen Finger krumm machen müssen. Allerdings hatte er diese Kräfte sein ganzes Unleben gemieden, wie die Pest. Es war zu gefährlich, sie einzusetzen, und das nicht nur, weil er sich damit zu einer Zielscheibe machte. Er hatte gesehen, wie andere ihren Verstand an Blutmagie verloren. Heutzutage gab es Gesetze gegen die Anwendung und Verfolgung von Blutmagie. Auf der Seite der Justiz jedoch – das Amt hatte für Boris nur allzu gerne eine Ausnahme gemacht. Weshalb er diese Magieform unter strenger Aufsicht im Studium anzuwenden gelernt hatte. Drei Jahre lang. Nicht mehr als ein Schnupperkurs. Und jetzt hier stehend war Boris sich kurz unsicher, wie klug das war. Er hatte das hier gewollt – aber nicht in diesem Tempo.

Entsprechend nervös blätterte er in dem Grimoire. Das uralte Buch war ein mächtiger Anker und würde ihm das Zaubern erleichtern, trotzdem – um Blut als Quelle von Magie zu nutzen, musste man sich völlig seiner Natur ergeben. Wenn man nicht bereit war und es an Kontrolle mangelte, konnte schon der Versuch zu blanker Raserei führen.

Spurenlesen war noch die harmloseste Fähigkeit, die einem Blutmagie verlieh, der Kartentrick unter den verbotenen Künsten. Dennoch gruselte es Boris ein wenig davor und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er die richtige Seite Aufschlug.

Hatte Van Helsing ihn deshalb angefordert? Vampir mit Potenzial und Bestnoten. Dank Boris war der TKDD in der Lage, Blutspuren zu folgen, wie nie zuvor. Definitiv ein Vorteil. Aber verstand Van Helsing auch, wozu drei Jahre Ausbildung gereicht hatten? Was, wenn er sich jetzt nicht bewies? Er war stolz auf seine erworbenen Fähigkeiten, nur waren sie nicht einsatzerprobt. Sein Praktikum hatte er unter Menschen absolviert und wenn da einer Blutmagie auch nur erwähnt hätte: totale Panik.

Klasse – sich nervös denken, darin war er inzwischen Profi. Boris schüttelte leicht den Kopf und konzentrierte sich auf die in schnörkeliger Schönschrift geschriebene Zauberformel. Es handelte sich um alte Runen, die schon als Abbildung ihre Wirkung erzielten. Sie würden für Boris einen Großteil der Arbeit übernehmen. Er musste nur die Verbindung zwischen Blut und Magie halten, ohne dabei durchzudrehen. Das war die Chance, Van Helsing zu zeigen, wie wertvoll er für das Team sein konnte.

Plötzlich kreischte Sirenengeheul durch die Straße. Boris zuckte zusammen. Das Höllenfahrtskommando bretterte nicht etwa durch Frankfurt und kündigte sich lange vorher an, nein, es fuhr mit rasanter Geschwindigkeit wie aus der Luft beschworen vor und hinterließ eine brennende Reifenspur auf dem Asphalt. Irgendwie kontraproduktiv.

Das Fahrzeug war uralt, ein Feuerwehrwagen wie aus einer antiken Kinderbuchillustration. Am Gefährt hing ein Haufen grauer Kobolde, jeweils nicht größer als zehnjährige Kinder, nur mit etwas längeren Beinen und deutlich spitzeren Ohren. Was ihre Gesichter anging, schien alles möglich zu sein, von keiner Nase bis zum keilförmigen Zinken. Die schwarzen Uniformen, wohl denen der Menschen nachempfunden, standen ihnen ausgesprochen gut.

»Moin, ihr Versager!«, quiekte einer der Kobolde und sprang vom Wagen. Koboldartige gehörten nicht wirklich zur Hölle, zählten nicht zu den Dämonen, aber in einer Welt voller hypersensibler Menschen, die schon bei sprechenden Gartenzwergen in Ohnmacht fielen, gab es nur wenig Job- und Wohnalternativen und so hatten sie es sich »unten« bequem gemacht.

»Panzerfresse, altes Haus. Wär schön, wenn ihr das hier möglichst schnell einfangt.« Van Helsing deutete mit einem Schulterzucken in Richtung des brennenden Hauses. Die Flammen verschlangen das Gebäude nur langsam – Höllenfeuer war nicht darauf aus, seine Quelle zu vernichten, es wollte sich ausbreiten. Wenn es jedoch fertig war, hinterließ es nicht einmal Asche.

»Hättet uns gleich rufen sollen«, zeterte der Feuerwehrkobold. »Gibt übles Karma, so was!«

Wie paralysiert verfolgte Boris die Unterhaltung zwischen dem Kommissar und dem breitschultrigen Kobold. Im Hintergrund hantierte der Rest des Trupps am Wagen und rollten ein paar Schläuche aus. Aber anders als bei einem normalen Feuer hieß es hier nicht »Wasser marsch«.

»Sauger an!«, brüllte der Kobold, der den Schlauch hielt, und kreischte vergnügt, als ein höllischer Lärm ausbrach. Das übertönte sogar Gnags Gebrüll, der sich immer noch mit den filmenden Anwohnern gestritten hatte. Was jetzt geschah, würde man vermutlich in wenigen Minuten überall auf TikTok sehen.

Ein Feuerwehrschlauch wirbelte durch die Luft, keinesfalls unkontrolliert, sondern fest im Griff des grauen Kobolds, der direkt auf die flammenden Hände zuschwebte. Boris musste schmunzeln: Die eben noch emporzüngelnden Flammenhände, die wortwörtlich an den Wänden geleckt hatten, als wäre es ein Lolli, kreischten nun auf und krabbelten panisch zurück in Richtung des Lochs, dem sie entsprungen waren.

»Und, kriegst du das hin?«

Wieder zuckte Boris zusammen, er hatte nicht bemerkt, wie sich Van Helsing ihm genährt hatte. Der Kommissar sah ihn mit erhobenen Brauen an. Seine Gelassenheit hin oder her, die stahlblauen Augen hatten etwas Einschüchterndes.

»Der Fährtenzauber«, stammelte Boris.

»Genau.«

»Kommt sofort!«

»Nur keine Eile, Vampire sind ja nicht sonderlich schnell«, murmelte Van Helsing und Boris mochte sich täuschen, doch es klang eher amüsiert als zynisch. So gefasst, wie dieser Mann blieb, erlebte er so was wie hier wohl täglich … leider konnte Boris diese Ruhe nicht nachempfinden.

Seine Hand zitterte leicht, als er sie wieder über das Grimoire und den dort aufgemalten Zauberkreis hielt. Leise räusperte er sich.

»ABRACADABRA!« Die Menschen machten oft Witze über dieses Wort, aber von einem magisch Begabten als Großbuchstaben ausgesprochen, öffnete diese uralte Formel den Pfad zu mannigfaltigen Zaubern.

Boris’ magisches Blut begehrte heftig auf, als es den Ruf vernahm. Instinktiv hielt er für einen Moment inne. Er wollte vor der einnehmenden Empfindung flüchten. Sie war intensiv, hungrig, vor allem aber machtvoll. Das zeichnete einen Vampir aus: das Gefühl von irrationaler Macht. Er musste sie dazu zwingen, ihm zu dienen, oder er würde ihr verfallen und selbst zum Diener werden. Doch er hatte einen Befehl erhalten und ein Ziel. Ja, er würde dienen, aber der Menschlichkeit und nicht dem Monster in ihm.

Eigentlich hatte Boris beim Aufsagen des ABRACADABRA immer einen Buchstaben wegzulassen, doch es reichte, wenn er das meditativ in Gedanken tat. Es zentrierte ihn auf sein Innerstes wie eine Meditation. Ließ das Rauschen seines Blutes in den Ohren langsam in den Vordergrund treten. Dicht darunter, ganz leise, sein Herzschlag. Vampire besaßen einen Kreislauf, wenn auch nur so weit, wie es nötig war, um ihr Blut zirkulieren zu lassen. Und Boris spürte das Leben durch seine Adern pulsieren. Ein letzter Hauch Atem wohnte ihm inne. Er gehörte einem Fremden, der sein Blut gespendet hatte, jemandem, den Boris nicht mal kannte. Bald würde er verklingen, und mit dem sich langsam auflösenden Leben würden der Hunger und die Sehnsucht nach mehr zunehmen.

Boris hauchte die letzte Silbe des Zaubers, das A hörte sich fern an, aber damit stand die Magie ihm nun offen.

»Meinesgleichen«, flüsterte er. Ein simpler Befehl, Boris’ Gedanken lieferten den nötigen Kontext. Das Blut in seinen Adern wusste, worum es ihm ging. Das war es, was Vampire mit seinem Erbe so mächtig machte. Andere seiner Art hatten ganze Länder regiert …

Die Runen auf der Seite des Zauberbuches leuchteten auf – und dann der Rest der Welt. Die Straße vor Boris verwandelte sich in ein Jackson-Pollock-Gemälde. Als hätte jemand den Augenblick mit roter Farbe übergossen, die in alle Richtungen strebte, dabei ein abstraktes Muster bildend. Boris erkannte rot leuchtende Handabdrücke an einer Straßenlaterne, Schlieren aus dunklem Kupfer bildeten Verwirbelungen in der Luft, hellrote Kleckse prangten auf dem Gehweg. Das Chaos des brennenden Hauses, auch das Feuerwehrauto und der Lärm waren völlig in den Hintergrund getreten. Rot übernahm die Kontrolle, dehnte sich aus, formte wilde Verzweigungen um Boris herum. Nichts sonst schien sich noch zu bewegen. Ein Netzwerk aus Blut. Dazwischen feine schwarze Risse, die sich über den Gehweg schlängelten. Wie ein Geäst verzweigte sich Dunkelheit die Hauswand empor. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und dann erhoben sich die schattigen Umrisse eines hageren dünnen Mannes, der jemandem mit einem Mantel oder Kittel gegenüberstand.

»Faszinierend«, keuchte Boris atemlos.

»Was siehst du?« Van Helsings Stimme drang kaum zu ihm durch.

»Blut. Überall …« Wie in Zeitlupe deutete Boris um sich herum. »Hier wurde gekämpft. Vampir gegen Vampir. I-ich bin mir sicher. Blutmagier … Einer von ihnen sieht sehr zierlich aus.« Frische und alte Spuren vermischten sich. Boris sah ihnen nach. Den Kopf zu drehen schien ewig zu dauern.

»Blutmagier? Mehrere? Hier? Das ist unmöglich!« Van Helsing klang immer ferner.

»Da sind noch mehr Umrisse … ich kann sie kaum erkennen.« Boris vertiefte sich in das Bild, aber die Konturen entglitten ihm. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter und brachte ihn zum zittern. Das Rot vor seinen Augen nahm seine Sinne ein, der Rest der Straße verschwamm völlig. Er konnte die Rückstände des Blutes beinahe schmecken. Und dann erst der Geruch. Er war frisch und ging ihm unter die Haut. Süß und lebendig. Noch nie hatte er so viel Leben innerhalb von Blutmagie wahrgenommen. Ein kräftiger Herzschlag gesellte sich zu dieser Empfindung. Irritiert sah sich Boris danach um. Blutmagie besaß keinen Puls und doch – er schien zum Greifen nahe. Das Pochen übertrug sich auf Boris’ Körper und jagte kleine Schauer über seinen Rücken. Pures Leben ganz nah. In ihm lag so viel Willenskraft und Stärke, dass Boris dem Drang nicht widerstehen konnte, er musste es festhalten. Um jeden Preis.

»Zollern?«

Wenn er hiervon trinken durfte, würde er sich nie wieder tot fühlen. Diesem Blut wohnte so viel Macht inne, dass sie Boris’ Sinne flutete. Er musste sich ihr einfach hingeben.

»Boris!«

Schmerz durchzuckte Boris’ Kiefer und sofort zerplatzte die rote Dunstblase, in die die Welt eben noch getaucht gewesen war. Die Zeit beschleunigte sich so schnell wieder, dass sich in Boris Kopf alles drehte.

Eine warme, raue Hand hielt seinen Unterkiefer umfasst, es dauerte einen Augenblick, ehe er verstand, dass Van Helsing ihn im Abwehrgriff hielt. Boris’ Hände hatten sich in das Hemd des Kommissars gekrallt und der Position nach zu urteilen …

»Heihe«, keuchte Boris unverständlich, was ein »Scheiße« hätte werden sollen.

»Wieder da?« Vielleicht war das gar keine Gelassenheit und Van Helsing klang immer so unbeteiligt, auch wenn er fuchsteufelswild war, denn das musste er sein – Boris hatte wohl gerade versucht, ihn zu beißen.

Den Abwehrgriff gegen einen Vampirbiss hatte Van Helsing gut drauf, denn Boris konnte nur hektisch blinzeln, es war völlig unmöglich, den Kopf anderweitig zu bewegen.

Van Helsing hielt ihn noch einen Moment lang fest. Seine eisblauen Augen musterten Boris ganz genau. Aber dann lockerte sich der Griff und schlussendlich ließ er los.

Boris machte einen unbeholfenen Schritt rückwärts. Neben ihm stand Gnag, offenbar bereit zuzupacken, sollte es nötig sein. Sein Gesichtsausdruck wirkte kritisch.

»Also? Was haben wir?«, wollte Van Helsing wissen.

»Was?« Verwirrt schüttelte Boris den Kopf, als versuche er, Wasser aus den Ohren zu kriegen. Dabei war die Empfindung des Fährtenzaubers längst verklungen. Alles, was blieb, war diese lebendige Wärme, die wie ein Handabdruck an Boris zu haften schien – aber die stammte nicht vom Zauber, Boris hatte lediglich die Kontrolle verloren und Van Helsing gewittert. So viel dazu, sich zu beweisen. Es war ein Wunder, wenn er einfach gehen durfte … er gehörte eingesperrt. Er hatte sich verloren. Er hatte gegen sämtliche Auflagen verstoßen. Die eben noch knisternde Wärme wandelte sich augenblicklich in eiskalte Angst. Wie viele Jahrhunderte war ihm das nicht mehr passiert? Die eine Sache, von der er immer fest überzeugt gewesen war … Selbst am Anfang seines Entzugs von Ambrosia hatte er nie einen Blackout erlitten.

»Ch-Chef, ich …«

»Wie schlimm ist es?«, unterbrach Van Helsing ihn ungeduldig. Der Kommissar deutete auf die Straße und das inzwischen nicht mehr brennende Haus. Eine einzige Feuerhand war übrig und kroch panisch von Fenster zu Fenster des Wohnhauses, dicht gefolgt von ebenso geschickt die Wände entlangkletternden Kobolden.

»I-ich verstehe nicht ganz?« Verwirrt musterte Boris weiter das Haus.

»Sag mir verdammt noch mal genau, was du hier gesehen hast!« Leichte Wut ließ Van Helsings Stimme dunkler werden.

Erschrocken riss sich Boris so gut zusammen, wie es ihm möglich war. Richtig, der Fall war vorerst wichtiger.

»W-was hier auch passiert ist«, setzte er an und musste kurz schlucken, »da war ein Kampf. Kein Schlagabtausch. Vampir gegen Vampir. Hier wurde viel …«, Boris räusperte sich und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Es wurde sehr viel Blutmagie eingesetzt.«

Wieder rieselte eine seltsame Kälte seinen Rücken hinunter und brachte ihn zum Zittern.

»Erklärt deine Reaktion!« Als wäre es das gewesen, schnaubte Van Helsing unzufrieden. »Das bleibt vorerst unter uns.«

Boris nickte verhalten.

Van Helsing wandte sich dem Höllenfahrtskommando zu. »Könnt ihr gleich etwas Platz machen? Wir brauchen hier ein paar magische Abdrücke!«, verkündete er und stapfte zum Einsatzfahrzeug.

Boris sah ihm hinterher und hatte das Bedürfnis, vor lauter Überforderung zu kotzen. Zumindest nahm er an, dass Menschen dieses Gefühl meinten, wenn sie davon sprachen. Das erklärte seine Reaktion?

»Würd ja sagen, du siehst echt blass aus, aber ich glaub das ist bei dir Standard«, frotzelte Gnag amüsiert. »Ich geh mal davon aus, dass du mir nicht verrätst, was zum Unhold hier gerade abgelaufen ist, hm?« Erneut schlug er Boris viel zu heftig auf den Rücken, was ihn diesmal einen kleinen Satz machen ließ. »Ey, ruhig Blut, oder wie man bei euch so sagt!«

»Ruhig Blut?« Boris’ Stimme klang schriller als beabsichtigt. »Ich hätte gerade fast den Chef gebissen!«

»Na ja, er ist dir ja auch ziemlich nahe gekommen. Sah aus, als hätte er versucht, in deinen Kopf zu gucken. Jetzt mal kein Scheiß. Was war denn das gerade? Du hast total abwesend gewirkt.« Gnag zuckte mit den Schultern.

»I-ich … Ich habe nur … Aber Vampire beißen nicht, nur weil man ihnen zu nahe kommt!«, platze es aus ihm heraus.

Gnags ohnehin weit vorragender Unterkiefer schob sich noch ein wenig weiter vor. »Mh, will nicht behaupten, dass ich übermäßig viel davon verstehe. Wir haben es selten mit integrierten Vampiren zu tun.«

»Integriert«, würgte Boris das Wort hervor und schüttelte den Kopf. Die sogenannte Integration der Vampire war mehr Zwang als alles andere. War es das, was er sich hier gerade angetan hatte? Er hätte Nein sagen sollen. Hätte zugeben müssen, dass es zu viel war, direkt am ersten Abend, emotional kompromittiert und ohne Probelauf mit Blutmagie zu spielen. Aber er hatte ja unbedingt seine Fähigkeiten zur Schau stellen wollen.

Van Helsing trat wieder an seine Seite. Er hatte einen kleinen antiken Fotoapparat aus dem Einsatzfahrzeug geholt und drückte ihn Gnag in die Hand. »Aber bitte nicht wieder deine …«

Es blitzte.

Gnag hatte das Gerät zielgenau auf seine Füße gerichtet. »’tschuldige, Chef.«

»Magisch empfindlicher Film ist teuer!«

»Kommt nicht wieder …« Erneut ein Blitz, Boris sah plötzlich nur noch Sterne. »… vor.« Auf Gnags Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Es wackelte nervös, und ebenso unsicher stapfte Gnag an ihnen vorbei und wandte sich der Straße zu.

Leider fand damit auch wieder Van Helsings Blick zu Boris. »Kannst du aufzeichnen, was du gesehen hast?«

»Ja.«

Der Kommissar nickte knapp und sah sich noch einmal um. Das Feuer war gelöscht, oder vielmehr eingefangen. Nur der Rauch hing schwer in der Luft. Für magische Wesen kein Problem, aber für Menschen? Den Qualm würde das Höllenfahrtskommando mühsam exorzieren müssen – mit den verdammten Schaulustigen zusammen, die immer noch aus den Fenstern hingen. Boris seufzte.

Völlig unerwartet klopfte ihm nun auch Van Helsing auf den Rücken. »Das hast du gut gemacht.«

Selten hatte Boris die Beschreibung, dass einem die Gesichtszüge entglitten, so gefühlt. Sie schienen ihm regelrecht zu Boden zu fallen. »Ich hab das gut gemacht«, wiederholte Boris. Anders als geplant, klang es nicht nach einer Frage.

»Aber du solltest was trinken, um dich wieder in den Griff zu kriegen. Wir fahren gleich zurück ins Präsidium. Gnag kann sich um den Rest kümmern. Außerdem will ich eine Zeichnung von dem, was du gesehen hast, solange du dich noch klar erinnerst.« Van Helsing rieb sich die Hände und wandte sich dem Auto zu. Klang er so, wenn er zufrieden war? Da gab es praktisch keinen Unterschied zu aufgewühlt, gestresst, ärgerlich – falls er sich heute überhaupt einmal so gefühlt hatte. Wieso riss er ihm nicht den Kopf ab?

»Ch-Chef?«, stammelte Boris und griff nach Van Helsings Arm. Hastig ließ Boris ihn wieder los. Gefährliche Wärme. Der Kommissar war wie ein Heizstrahler auf höchster Stufe und Boris fühlte sich geradezu erbärmlich kalt. Wie untot er war, verdrängte er oft, doch angesichts des so lebendigen Werwolfs meinte er sich entseelter denn je.

»Ja, Zollern?«

»Ich hab die Tür im Umkleideraum rausgerissen.«

»Hab ich gesehen.«

»Und den Haltegriff im Auto auch.«

»Ja.«

»Und ich wollte Sie beißen.«

»Willst du auch jetzt noch.«

Boris schnappte nach Luft, um etwas zu erwidern, konnte jedoch nur beschämt nicken. Verdammt, er hätte gerade alles gegeben für Blut in dieser Temperatur, mit diesem Geruch und diesem Leben … Zittrig atmete er wieder aus.

»Du bist ein Vampir. Ich hab nichts anderes erwartet.« Van Helsing zuckte mit den Schultern.

»Ich kriege dafür keinen Ärger?«

»Ich bin hier mein eigener Chef, solange ich meinem Boss nichts reporten muss, weil es öffentlich wurde – also mach kein Fass auf, Zollern.«

»Hatte ich nicht vor!« Boris’ Stimme kippte.

»Wir müssen allerdings an ein paar Kontroll- und Meditationsmethoden arbeiten. Ich bin nicht immer da, um dich in Beißsperre zu nehmen, sollte sich so ein Vorfall noch einmal ereignen.«

»J-ja, Chef«, würgte Boris mühsam hervor. Van Helsings Worte hätten ihn erleichtern sollen. Er würde bleiben dürfen, Teil des Teams werden, trotz der Verfehlungen – weil die für einen Vampir zu erwarten waren. Großartig, oder? Er durfte Türen rausreißen und Vorgesetzte anknabbern, weil Van Helsing erwartet hatte, dass er versagen würde. Weil Vampire eben Monster waren.

»Ich bin erstaunt, dass du überhaupt so ruhig geblieben bist.« Und das Erstaunen zeichnete sich sogar leicht in Van Helsings Stimme ab. »Du bist in sehr viel Blutmagie eingetaucht und warst von ihr umgeben. Das hatte ich nicht geahnt. Es war mein Fehler und dafür sollst du nicht büßen müssen.«

»Das konnten Sie nicht wissen«, gab Boris verwirrt zurück.

»Genau deshalb ja. Ich hätte dich diesem Risiko niemals aussetzen dürfen. Wir kennen uns noch nicht. Ich kann dich noch nicht lesen. Sonst hätte ich dich rechtzeitig aus der Trance gerissen. Man, wer konnte denn auch mit fremder Blutmagie rechnen, hm? Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass es bereits so schlimm ist. Schöne erste Nacht, Zollern. Schöne erste Nacht.« Daraufhin zuckten seine Mundwinkel leicht. »Andererseits wissen wir jetzt, wozu du in der Lage bist. Da merkt man eben, dass du schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel hast.«

Und dann tatsächlich: ein Lächeln.

Boris spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Andere bekamen ein rotes Gesicht, bei ihm leuchteten nur Nase und Ohren bei Verlegenheit, weshalb er sich nun beschämt die Hände auf die Ohren drückte.

Offenbar schien das Van Helsing zu amüsieren, denn er schmunzelte wieder. »Ich hab auch schon mal ’ne Tür rausgerissen«, erklärte er etwas leiser, aber nicht leise genug.

»Und mit ’nem Van geworfen!«, ertönte es hinter ihm. Gnag stand bei den Kobolden und hielt konzentriert den Fotoapparat in den großen grünen Händen.

»Der war im Weg! Halteverbote existieren nicht umsonst!« Zurück war der gelassene Tonfall. Und er war echt, wie Boris nun verstand. Van Helsing machte sich wirklich keinen großen Kopf um seine Fehltritte oder grabbelndes Höllenfeuer.

»Wir sind, was wir sind«, murmelte Van Helsing, klatschte dann in die Hände und drehte sich zum Wagen um.

»Ich weiß«, flüsterte Boris ehrlich. Er wollte seine Natur auch gar nicht verleugnen. Das war unmöglich. Deshalb hatte er so dringend nach einem Ort gesucht, an dem er so, wie er war, funktionieren konnte, nützlich war. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er hier mehr fand. Befehle befolgen, um Sterbliche schützen – das hätte das Höchste der Gefühle sein sollen. Er tat das hier alles für andere und nicht für sein eigenes Seelenheil. Aber gerade fühlte er sich tatsächlich angenommen.

Die Erleichterung verdrängte sogar seinen Hunger. Trotzdem brauchte er dringend frisches Blut. Die Spuren in der astralen Zwischenebene hatten ihn heftig getriggert. So viel Blut … seltsam, dass sie davon nichts auf den Gehwegen gefunden hatten. Nur sehr mächtige Blutmagier vermochten eine so große Masse in magischer Essenz aufzulösen.

»Chef?«

»Mh?« Van Helsing wollte gerade einsteigen und hob den Kopf, sah Boris über den Wagen hinweg an.

»Vampire, die eine Blutbank anzünden, statt auszurauben? Mir erschließt sich nicht der Sinn dahinter.« Boris fletschte die Zähne.

»Wer mit Höllenfeuer herumspielt, weiß, dass es nichts hinterlässt, nicht mal Asche. Schätze, das war Sinn und Zweck der Aktion. Die wollten etwas vertuschen, ob den Kampf oder etwas anderes.«

Boris seufzte. »Mächtige … magisch geschulte Altvampire, die ihre Spuren verwischen.«

»Tja, Zollern: Willkommen in Frankfurt.«

Kapitel 3

Haarig mit Aussicht auf Glitzer

Der Sonnenaufgang war nicht mehr fern, als Boris durch den Hausflur in Richtung Wohnung stolperte.

»Du liebes bisschen«, murrte er und besah sich die zerbrochenen Fliesen, wegen denen er sich beinahe langgelegt hätte. Frankfurter Altbau hatte wahrlich seinen Charme.

In diesem Haus gab es neben hohen Stuckwänden, metallenen verzierten Geländern, ausgelatschten Treppenstufen und uralten, undeutlichen Mosaiken auf dem Fußboden noch ein paar mutierte Kellerratten, im Obergeschoss spukte es hartnäckig und auf den meisten Etagen lebten nur Zombies. Aber was wollte Boris urteilen, er galt ja auch als untot. Allerdings fiel ihm nicht ständig ein Arm ab.

Missbilligend musterte er die an ihm vorbeikriechende Gliedmaße. Sie trug eine teure goldene Armbanduhr und winkte ihm lasch beim Vorbeirobben.

Als Boris seine Tür aufschloss, kam ihm der Knauf entgegen, aber ehe er sich darum kümmern konnte, wurde er erneut fast von den Füßen geholt. Etwas Großes sprang ihn an und als ihm eine feuchte Zunge einmal vom Kinn bis hinauf zum Haaransatz schleckte, entkam Boris ein lang gezogenes Quietschen.

»Ben! Nicht so stürmisch«, jammerte er. Doch wieder traf ihn der nasse Waschlappen, diesmal quer über das Gesicht.

»Du riechst ganz fremd!«, rechtfertigte sich Ben, packte Boris an den Schultern und musterte ihn aus seinen dunkelbraunen Augen. Boris wand sich im Griff seines besten Freundes und da er gerade frisch gestärkt war, befreite er sich ein wenig kraftvoller als beabsichtigt.

»Natürlich rieche ich anders! Ich hatte den ganzen Tag Dienst zu leisten«, erklärte Boris und trat an Ben vorbei in die Wohnung, um seinen Rucksack dort neben einen Haufen bunter Schuhe zu werfen.

»Mag ich nicht! Du riechst nach … ’nem anderen Wolf.« Ben schob seine Unterlippe vor. Wenn dieser riesige bärtige Kerl schmollte, konnte man ihm nur schwer böse sein. Und eigentlich war Boris bis eben gar nicht so geladen gewesen. Aber erster erfolgreicher Arbeitstag hin oder her – er traute dem Frieden nicht. Van Helsing hatte ihm Hausaufgaben aufgegeben. Besondere Meditationen, damit Boris sich in den Griff bekam. Als ob er so was nicht schon versucht hätte. Zählten denn die Jahre während der Inquisition, die er in seinem Sarg verschlafen hatte, nicht als längste Meditation der Welt?

Ben winselte. Knapp eins achtzig Muskelberg und doch schaffte er es, sich kleiner zu machen – das und die großen Augen hatten etwas Welpenhaftes an sich. Jetzt im Spätherbst hatte seine Haut einen hellbraunen Ton, sonst wurde sie fast so dunkel wie seine kurzen braunen Locken.

»Gedulde dich!« Boris seufzte. »Lass mich erst die Schuhe ausziehen.«

»Tut mir leid, es ist nur so … es ist immer noch neu, dass du wieder da bist. Du riechst einfach nicht mehr so wie früher. Und deshalb … also … sorry.« Vorsichtig rieb Ben mit einem Ärmel über Boris’ Wange. »Ist mit mir durchgegangen.«

Es gab viele Gründe, sich vor Werwölfen zu fürchten. Der Fluch brachte Begierden zum Vorschein, die für den menschlichen Verstand nicht zu kontrollieren waren – aber schon Bens Urgroßvater war ein Werwolf gewesen. Fluchwesen wie Ben waren anders. Damit geboren zu werden, veränderte alles. Boris’ bester Freund war so gefährlich wie ein übermütiger Golden-Retriever-Welpe. Und leider besaß er auch ähnlich große braune Augen.

Der Dackelblick brach Boris das untote Herz. Hastig zog er sich die Schuhe aus. »Du hast die Erlaubnis, um…«

Das hatte er eigentlich nicht als Aufforderung gemeint, doch noch umgeworfen zu werden, aber immerhin landete er dank des Bergs aus Turnschuhen recht weich, während der Werwolf ihn abschmuste. Und zugegeben, das tat Boris nach dieser Nacht gut. Ein wenig Halt.

Aus dieser Position heraus konnte er gerade so erkennen, wie ein rosa Lockenkopf in den Flur lugte. Glitzer flirrte durch die Luft.

»Ben! Also wirklich!«, schimpfte Beniko lachend und machte Anstalten, Boris von dem kuschelnden Werwolf zu befreien. »Wir haben über Körperkontakt gesprochen, ja? In seinem Zustand?«

»Schon gut.« Boris winkte resigniert ab. »Ich bin satt.«

»Wirklich?«

Er nickte. Sie hatten ihn im Präsidium mit so viel magischem Blut abgefüllt, dass er tatsächlich kein bisschen Verlangen verspürte, Ben zu beißen.

Vorsichtig tätschelte er den Kopf des Werwolfs. »Er braucht das. Und nach diesem Tag … ich auch«, gab er zu.

»Was?« Nun tauchte Benikos rundes Gesicht in seinem Sichtfeld auf, sie beugte sich über ihn. Ihre pinken Schmetterlingsflügel ragten über Boris auf. »Hat Van Helsing dir Ärger gemacht?«, kiekste sie, die Augen weit aufgerissen.

»Nein, nein! Das Team hat mich freundlich aufgenommen, nun, korrekterweise beginnt jetzt erst mal die Probezeit, ich bin dennoch frohen Mutes …«

»Drei Jahre Polizeischule und redet immer noch wie mein Opa«, witzelte Beniko. »Glückwunsch!«

Rosa Glitzerstaub regnete herab und kitzelte Boris an der Nase. Bens Freundin hatte mit den Flügeln geschlagen. Werwolfshaare und Elfenstaub – vor dem Dienst hatte sich Boris gut eine Stunde lang mit einem Kleberoller bearbeitet, um fusselfrei zur Arbeit zu erscheinen. Wenn er das jeden Abend machen musste, würde er bald pleite sein. Die Aktion hatte zwei ganze Rollen aufgebraucht.

»So langsam wird er mir doch etwas schwer«, maulte Boris unernst.

Ben richtete sich endlich auf und zog Boris gleich mit sich auf die Beine. »Jetzt passt auch wieder alles. Na ja, fast. Ich kann diesen Polizisten immer noch an dir riechen.«

»Ich müsste eh noch duschen und …«

»Dann muss ich ja wieder von vorn anfangen!« Ben stemmte gespielt entrüstet die Arme in die Seiten. »Aber ganz ab kriegst du’s eh nicht.«

»Es gibt da Spezialseife …«, setzte Boris an.

Leises Knurren.

Boris schenkte Ben ein mitfühlendes Lächeln. »Ich weiß. Das Rudel bedeutet dir alles und wenn du dich an uns nicht riechen kannst …

« Er seufzte. »Versteh doch: Das ist Vorschrift. Schlimm genug, dass ich den Zimtgeruch noch nicht ganz los bin. Nicht aufzufallen, ist überlebensnotwendig.«

»Über-un-lebensnotwendig!«, korrigierte Ben.

Boris ließ die Schultern hängen, er konnte die gute Laune seiner Freunde leider nicht ganz teilen. Wenn sie wüssten, dass er heute rückfällig geworden war …

»Nun, wie auch immer: Ich kam nicht dazu, im Präsidium zu duschen, der drohende Morgen, ihr versteht. Es war eine lange Nacht.« Boris wedelte abwinkend mit der Hand.

»So?« Ben musterte ihn argwöhnisch von oben bis unten. »Er hat dich angefasst.«

»Ach, Ben, natürlich hat er das. Er ist mein Chef.« Normalerweise hatte Ben nicht so viele Probleme mit dem Geruch anderer an Boris. Schließlich kam man ständig mit Leuten außerhalb des Rudels in Kontakt, aber er mochte den Kommissar nicht besonders, niemand aus Boris’ Freundeskreis tat das. Und er konnte es ihnen nicht verübeln. Zudem bekam man Werwolfspheromone wirklich nur schwer wieder ab. »Aber es sei dir versichert: Van Helsing riecht für den restlichen Tag ein wenig nach Zimt.«

»Hah! Ausgleichende Gerechtigkeit!« Ben lachte dröhnend und schüttelte den Kopf. »Da hast du dir echt was eingebrockt. Ein Van Helsing als Chef.« Er beschnüffelte ihn noch einmal. »Ich rieche Stress.«

»Das kann ich nicht leugnen.«

»Du hast hart gearbeitet, er wird das sehen«, versicherte Ben ihm und diesmal war er es, der Boris wie einem Hund durch die Haare wuschelte. »Du hast dich wirklich gemacht. Wir sind stolz auf dich, weißt du?«

Das von ihm zu hören, tat gut. Denn Boris war nicht immer ein guter Freund gewesen. Zweitausend Jahre alte Vampire hatten so ihre Marotten. Arroganz stand dabei ganz oben auf der Liste.

»Danke dir«, nuschelte Boris entsprechend verlegen.

»Und jetzt pack dich zu uns aufs Sofa und erzähl uns alles über deine Dienerschaft bei dem Vampirjäger«, verlangte Ben lachend und wandte sich Richtung Wohnzimmer, legte dabei Beniko einen Arm um und führte sie mit sich.

»Ich diene ihm nicht«, rief Boris ihm nach. Gut, es hieß Dienst. Aber eigentlich war es mehr ein Folgen. Boris seufzte. Das klang auch nicht viel besser.

»Findest du ihn immer noch scharf?«, tönte Beniko aus dem Wohnzimmer.

»Wie bitte, was?«

»Na, diesen Van Helsing!«

»Hölle, nein! Das fand ich nie!« Boris’ beinahe schon obsessive Bewunderung für den thaumaturgischen Notdienst und dessen Chef hatte ihm so einige Sticheleien eingebracht. Starstruck hatte Beniko es genannt. Aber verdammt – ohne Van Helsing wären sie damals alle vielleicht … Da war wieder dieser Atemreflex. Offenbar war er nervös. Auch hier roch es verlockend lebendig. Boris sah sich nicht auf dem Sofa zwischen Elfen und Werwolf. Nach dieser Nacht klang das viel zu riskant. Die ganze Wohnung war eingenommen von einer Aura der Geborgenheit und Boris traute sich nicht zu, dem zu widerstehen. Nein, er war nicht hungrig – aber dieser Appetit …

Van Helsing hatte recht, Boris brauchte dringend mehr Training. Das TKDD war nicht die abgeschiedene Polizeischule für Untote. Dort hatte es so gut wie keine Reize für ihn gegeben, denn Blut von Zombies war auch für ihn unbekömmlich. Neben Boris hatte es nur noch zwei weitere Vampire in seinen Ausbildungsjahren geben, und sie hatten beide keine Zulassung erhalten, weshalb sie schon nach einem Jahr wieder verschwunden waren.

Um als Vampir der Polizei dienen zu dürfen, brauchte es eine Sondergenehmigung. Boris verdankte es der Diskretion des Amts, dass seinetwegen keine Demonstrationen veranstaltet worden waren. Vampire in Uniform? Das hatte die Welt schon mal gesehen – in einer ihrer dunkelsten Stunden. Nein, in den Augen der Menschen waren die Blutsauger noch immer die Bösen. Und Boris hatte dafür durchaus Verständnis; für jemanden wie ihn, so alt wie die Zeitrechnung, schien der letzte Weltkrieg gerade erst vergangen und auch er fürchtete sich vor seinesgleichen.

»Willst du hier weiter rumstehen oder …?« Das war jetzt Kenzo. Der hochgewachsene Elf mit den blauen Haaren und ebenso meerblauen Flügeln stand in der Wohnzimmertür und musterte Boris neugierig. Seine Haut schimmerte perlmuttweiß wie die von Beniko und ein süßer Duft ging von ihm aus. Sie wohnten schon eine Weile zusammen und doch starrte Boris den Traum eines jeden J-Pop-Groupies bewundernd an, als sahen sie sich zum ersten Mal. Mehr noch als Beniko hatte Kenzo eine einnehmende Aura. Elfen, einfach die Personifizierung der Sinnlichkeit. Und das war wieder so verlockend lebendig … Boris schüttelte sich kurz. Wie er Ben um dessen Beziehung zu diesen zwei Wesen beneidete.

»Boris?« Perfekt gezupfte Augenbrauen hoben sich.

»Ich … nun, die Sonne drückt schon gegen den Horizont. Ich möchte mich gleich zu Sarge betten«, wich Boris aus.

»Hey, komm schon. Wir sind extra früh aufgestanden, um dich noch zu sehen. Du hast noch gar nicht erzählt, wie es lief. Beniko hat irgendwas von verstimmt geplappert. Alles gut?« Kenzos Stimme war wie immer sanft wie Honig und gerne hätte Boris sich zu ihm und den anderen gesetzt, aber so viel Leben vertrug er heute nicht. Außerdem durfte er ohnehin nicht über das sprechen, was ihn gerade belastete.

Man sagte seinem Freundeskreis nicht eben mal, dass man rückfällig geworden war, denn dann reduzierte sich dieser Kreis ganz schnell auf null. Nicht gewollt – nicht Boris’ Freunde – niemals. Man liebte sich im Rudel, wie es Ben nannte, wie eine Familie. Aber Boris ertrug den Gedanken nicht, dass er die kleine heile Welt seiner Liebsten mit eben jenem Thema belastete. Einmal ausgesprochen … Nicht sie würden sich fürchten, sondern er – vor sich selbst. Nein. Es war zu früh. Gerade mit Ben hatte er sich ohne Mühe beherrschen können. Er war kein Fall für einen Beißschutz. Wenn er so etwas benötigte, verlor er seinen Job, seine Freiheiten, das Haus verlassen zu dürfen, bräuchte wieder eine Aufpasserperson – und im schlimmsten Fall legten sie ihn auf Eis. Wortwörtlich. Boris schluckte. Das war sogar für ihn überdramatisch, trotzdem spielte sich in seinen Gedanken der ganze Prozess ab. Wie bekam er das denn jetzt wieder aus dem Kopf? Es war doch nur ein kleiner Rückfall gewesen. Durch Blutmagie getriggert. Das war etwas völlig anderes. Van Helsing selbst hatte ihn dafür entschuldet.

»Boris?«

»Ja, ich … ehm.«

Eine neue Erinnerung flammte auf, die Boris sofort mit aller Macht tief zurück in die Dunkelheit drängte. War es das gewesen, was mit seiner Schwester passiert war? War es vielleicht die Blutmagie selbst? Aber … auch sein Vater wirkte sie und ihm ging es gut. Boris wurde schwummerig. Das durfte es nicht sein, das konnte es nicht sein.

Die Übungen würden helfen. Meditationen. Boris musste einfach nur zu Atem kommen – verdammt, da war es schon wieder. Er würde nie mehr zu Atem kommen.

»Wenn du dich nicht wohlfühlst …«, begann Kenzo.

»Nein, nein. I-ich begebe mich kurz unter die Dusche und dann setz ich mich zu euch«, meinte Boris all seinen Sorgen zum Trotz und schenkte Kenzo ein falsches Lächeln, das dieser zufrieden erwiderte.

»Du findest uns vor dem Fernseher.«

»Oh, ihr zieht euch doch nicht wieder Biss der Liebe rein, oder?«

Kenzo kicherte. »Wenn ich mich zwischen Telenovela und Frühstücksfernsehen entscheiden muss …«

»I-ich wäre für Nachrichten zu haben. Wollte der Minister nicht seinen neuen Entwurf bezüglich der Blutbanken vorstellen?«, erkundigte sich Boris, der durch sein Nachtleben wenig live mitbekam. »Ich würde mir die Berichte dazu gerne anhören.«

Kenzo ahmte ein Würgegeräusch nach. »Das willst du dir am Morgen reinziehen?«

»Ich muss auf dem Laufenden sein! Das betrifft meinen Job.« Und hoffentlich brachten ihn positive Nachrichten auf andere Gedanken.

»Uff«, machte Kenzo, nickte aber. »Na gut, weil du es so willst und das heute deine Nacht ist … Dann bewegt dich mal ins Bad! Die Sonne geht auch bald auf.«

In der Tat, der Morgen graute und ohne Ambrosia verfiel Boris beinahe sofort in tiefen Schlaf, also eilte er sich, um unter die Dusche zu kommen.

Allerdings freute er sich auf die bevorstehende Totenstarre. Sie würde ihm den Stress nehmen. Und seinen Freunden machte es nichts aus, wenn er mitten auf dem Sofa verstarb. Ben würde ihn in den Sarg tragen, das hatte er schon öfters gemacht. Mann, sie waren alle für Boris früher aufgestanden – er konnte sich glücklich schätzen, solche Freunde gefunden zu haben. Es hatte ja nur knapp zweitausend Jahre gedauert.

Menschen glaubten vermutlich, dass man in so viel Zeit zu einem reifen, weisen Wesen heranwuchs, mit Hunderten Freunden, Familien – aber in Wahrheit wurde der Blutdurst mit jedem Jahr übermächtiger. Und erst in den letzten paar Jahrzehnten sickerte Aufklärung über Diskriminierung und toxische Verhaltensmuster durch die Kultur. Es war, als lernten die Menschen erneut zu kommunizieren. Boris war einfach zur falschen Zeit geboren, mitten in kirchliche Verfolgungen und Indoktrinierung.