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Das Reich des Todesdrachen – Relaunch mit Graphic Novel
Die Drachen brachten die Magie und teilten sie mit den Menschen. Doch nicht alle waren der Meinung, dass die Menschen sich dieser Macht würdig zeigten. Tausende Jahre später ist die Welt All’Ein durch die zurückliegenden Kriege um die Vorherrschaft wie zerbrochen. Eine tiefe Kluft spaltet nicht nur den Kontinent, sondern auch die Beziehungen zwischen den Drachen und Menschen.
Auf dem jungen Zauberer Jasov lastet eine schreckliche Schuld und seine einzige Chance, Buße zu tun, ist, sich dem Reich zu verschwören und einem Altdrachen zu dienen. Er hofft, dort zu lernen, wie er mit den unbändigen Zauberkräften, die ihm innewohnen, umgehen kann. Doch Jasovs bloßes Talent ist der letzte Beweis, den der Drachenherrscher Dragul noch gebraucht hat: Erst gestörte Magie an den Grenzen, dann verschwundene Spione und nun ein Zauberer, der zu viel Macht besitzt.
Die Balance der Magie hat sich verändert.
Die Reiche sind den Waffenstillstand leid. Das Wettrüsten hat längst begonnen. Dragul muss handeln. Und das führt auch Jasov mitten hinein in den Konflikt zwischen Menschen und Drachen, Intrigen, Verrat und Liebe. Welche Seite wird sein Herrscher wählen? Und wird Jasov sich ihm anschließen oder den Lehren seiner neuen Mentorin vertrauen, die ihren ganz eigenen Vorstellungen von Balance folgt?
Ein junger Zauberer mit dem Wunsch, Buße zu leisten.
Ein Altdrache, der sich für oder gegen das Leben entscheiden muss.
Eine Drachenfrau, die nicht länger vor ihrem Schicksal davonlaufen kann.
Content & Tropes: High Fantasy, Drachen, Magie mit Bewusstsein, Heldenreise, komplexes Worldbuilding, Schlachten und Kriege, Found Family, From 0 to Hero, Enemies to Lovers, Broken World.
Der Relaunch von Band 1 des High Fantasy Epos Atlas des Äthers (zuerst im Dichtfest Verlag erschienen) als überarbeitete Neuauflage mit neuem Cover, geänderter Ausstattung und großem Graphic Novel Teil.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 913
Veröffentlichungsjahr: 2024
Atlas des Äthers
Band 1
Roman
Originalausgabe
© 2024 YUNA Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage leider nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.
Covergestaltung & Artworks: I.B. Zimmermann, unter Verwendung von Texturen von graphicriver.net/user/brandtz
Bildnachweis: Vorsatz und Nachsatz Karten wurden erstellt mit inkarnate.com Für die Illustrationen und den Comic wurden Clip Studio Paint Assets benutzt.
Layout/Satz: Fabula Design | Juliana Fabula julianafabula.de/grafikdesign und I.B. Zimmermann
Ich widme dieses Buchallen Geistern und Unsichtbaren
Heldenreise, High Fantasy, Drachen, Magie mit Bewusstsein, komplexes Worldbuilding, Schlachten und Kriege, Found Family, From Zero to Hero, Friends to Lovers, Enemies to Lovers, Broken World, Diversität ist Default, Melancholie, Powerfantasy.
Hetero gelesene Romanzen. Queer gelesene Romanzen.
Weitreichende Traumata | Schuld an Tod und Leid, Versagen gegenüber der Familie, Schuld an Krieg | Kindesleid | Erwähnung von Folter | manipulatives Verhalten zu Beginn einer Beziehung | kriegerische Kämpfe | Schlachten | Mord | leichte Beschreibung von Blut und Fleischwunden | Untote | Angst & Panik | ein Albtraum | Lügen und Betrug innerhalb von Politik
Das Buch enthält den beschriebenen Konsum von alkoholischen Getränken und rauchbaren Rauschmitteln.
Nicht alle Charaktere, die sich als gut darstellen, sind es. Das Buch wirft moralische Fragen auf, will diese aber nicht definieren.
Band 1 beinhaltet keine expliziten Sexszenen, aber Romantik und körperliche Nähe. Es wird innerhalb der Buchreihe explizite Szenen geben.
Die falsche Drachengöttin
Mit göttlichem Blut ist der Boden getränkt,
ihren Kindern damit unendliche Macht geschenkt.
Goldene Tränen, wie Flüsse so breit,
das Blut der falschen Göttin ist befreit.
Die Schwachen der Drachen haben sich ihr ergeben,
auf dass sie sich über die Menschen erheben.
Das Land, zerrissen durch gottgleiche Erben,
für den Verrat am Kodex die Welt muss verderben.
Ein ganzes Reich lag ihr hörig zu Füßen,
doch nun muss die falsche Göttin büßen.
Unter heißen Gipfeln, lebendig begraben,
verstummt ihre Macht, ihre Stimme, ihr Klagen.
Ihr Verrat, der ließ uns alle leiden,
ihr Berg bleibt ein Mahnmal – sei friedvoll, bescheiden.
Die Götter sind der Welt längst entstiegen,
am Ende wird immer die reine Wahrheit siegen.
Es handelt sich hierbei um einen einfachen Reim aus dem Volksmund im Kraterland. Oft wird er mit einem leichten Singsang von Kind zu Kind weitergegeben und die Handlung wird nachgespielt. Ein Kind ist die falsche Göttin, die anderen müssen sie einfangen, um sie schlussendlich unter einem Berg an Laub und Geäst zu begraben.
Einige Kunstschaffende haben sich die Mühe gemacht, die kleine Erzählung auszuschmücken, und ganze Bücher über die falsche Drachengöttin geschrieben.
Letztlich soll der Reim Menschen daran erinnern, dass Drachen keine Götter sind und nicht das Recht haben, sich über die Welt zu erheben. Fanatischer Glaube führt zu unvorstellbarem Leid und die Wahrheit leidet, wenn man die Antworten im Göttlichen sucht.
Aber nicht alle erzählen diese Geschichte gleich, wie auch jede Wahrheit unvollständig und jede Legende verfälscht ist.
Jasov hatte das Summen der Straßenlaternen schon lange nicht mehr so bewusst wahrgenommen. Für gewöhnlich erzeugten die verzauberten Kristalle einen Gleichklang, wie der sanfte Klang einer schnurrenden Katze, der sich in das Hintergrundrauschen der Welt einordnet. Überall sang Magie ihr kleines Lied. Doch diese eine Lampe rechts von Jasov sang nicht, sie krächzte schief und schräg, war dabei völlig aus dem Takt geraten. Er starrte bestimmt schon einige Minuten hinauf zu dem jämmerlich zwitschernden Kristall und wartete gebannt auf das unweigerliche Flackern. Er konnte es beinahe sehen, es musste jeden Augenblick passieren, doch bisher tat ihm die Laterne nicht den Gefallen. Den leuchtenden Kern in dem Glaskasten umgab eine Vibration, die die Luft in Schwingung brachte. Magie hatte begonnen sich zu lösen und wandte ihre Aufmerksamkeit der Umgebung zu. Irgendwann wurde es auch der besten Verzauberung zu langweilig, immer den gleichen Regeln zu folgen. Schon bald würde die Funkenmagie des Kristalls in den Kreislauf der Welt übergehen und nach neuen Abenteuern suchen – eine Sehnsucht, die Jasov nachempfinden konnte. Immer nur zu einem Zweck zu leuchten, das erinnerte ihn schmerzlich an seinen eigenen Job.
Dann endlich: ein Flackern. In ein paar Tagen würde die Magie auf und davon sein und jemand aus Jasovs Kollegium würde die Laterne erneut verzaubern. Er bemerkte das Ziehen eines Schmunzelns auf seinen Lippen. Zwar war er ein ausgebildeter Zauberer und gehörte somit zum Kreis der Magiekundigen, doch würden andere ihn wohl kaum einen Kollegen nennen. Deshalb stand er auch hier, in der Kälte der Nacht vor dem Eingang der Kristallmine, und wartete darauf, dass der Vorarbeiter ihn abholte – und saß nicht etwa in einem gemütlichen Sessel und studierte Zauberformeln. Mehr als das Summen verstimmter Lampen zu bemerken, vollbrachte Jasov nicht, aber das hatte ihm immerhin diese Anstellung eingebracht. Und er brauchte das Geld, wenn er endlich aus dem kleinen Zimmer der Handelskammer in eine eigene Wohnung ziehen wollte.
Nun wieder an seine bevorstehende Aufgabe erinnert, schielte er hinter sich zu der im Dunkeln liegenden Holztür im Felsen. Eingekuschelt in schwarzes, rohes Gestein, wirkte sie unscheinbar und ging inmitten der Fachwerkhäuser links und rechts beinahe unter. Lediglich die metallenen Beschläge funkelten schwach im Licht, was bei Jasov den Eindruck erweckte, dass die Tür zurückstarrte.
Die Stadt Asche war heute seltsam still. Nichts außer Jasovs laufender Nase und dem verstimmten Kristall regte sich. Sollte die Staffel aus Sprengmeistern nicht längst alle Vorbereitungen getroffen haben? Oder stand Jasov etwa vor dem falschen Mineneingang? Sein Herz machte einen merklichen Hüpfer. Er war sich sicher gewesen, dass er hier richtig war, aber vielleicht irrte er sich, denn der Eingang sah aus wie jeder andere. Er befand sich mitten in einem Wohnviertel und die Straßen sahen sich täuschend ähnlich.
Da die Stadt Asche um einen riesigen Berg herum erbaut worden war – es wirkte, als wäre sie hinauf- und hindurchgewachsen –, lag die größte Kristallförderanlage des Kraterlandes im Herzen der Metropole. Sie durchzog den Berg mit ihren Adern wie Ameisen ihr Heim, dementsprechend existierten Hunderte Eingänge und es wäre nicht Jasovs erste Verwechslung gewesen. Zumindest das Siegel an der Tür, die metallene Abbildung eines Kristalls, zeigte ihm, dass der Eingang zu seiner Gilde gehörte, aber das reichte Jasovs auf einmal nicht mehr.
Um sich zu orientieren, sah er erneut auf. Die fernen Türme von Zwielicht wiesen einem stets die Himmelsrichtung. Doch um einen Blick auf die Silhouette vom Schloss werfen zu können, hätte es eines doppelten Vollmonds und einer wolkenklaren Nacht bedurft, so spät war es bereits. Alles, was er sah, war die Spitze einer gigantischen Anlage, die von schwarzen Wolken verschluckt wurde. Sie thronte erhaben über dem Berg und der Stadt, wirkte ferner denn je. Aber Zwielicht war für die meisten ohnehin ein unerreichbarer Ort.
»Der Hort eines Drachen«, flüsterte Jasov ehrfürchtig. Ein leichtes Ziehen in seiner Brust rührte von sofortigem Fernweh her. Das Schloss. Wenn er nur ein klein wenig mehr Können besäße, dann stünde er jetzt nicht hier, sondern vielleicht … Sofort verspannte sich Jasovs Kiefermuskulatur und er schnaubte unzufrieden. Nein, seine verdammte Träumerei über die Kreise der alten Magier hatte ihm lange genug Herzschmerzen bereitet. Das hier, diese morsche Holztür im Stein, das war seine Zukunft.
Jasov stutzte. Aber war es nun die richtige? Er erinnerte sich, weshalb es seinen Blick überhaupt zum Schloss gezogen hatte, und er sah eilig wieder auf. Der Stand des Berges und die Umrisse der größeren Stadtmauern verrieten ihm, dass er sich am rechten Ort befand. Von hier aus konnte er den Vorbau des nahe liegenden Luftschiffhafens erkennen und der Schatten einer der ovalen Flugmaschinen zeichnete sich vor den Lichtern der Stadt ab.
Jasov atmete tief durch. Der Geruch bevorstehenden Regens erfüllte ihn und löste ein wenig seiner Sorgen auf. Er seufzte. Das war so typisch. Er machte sich unnötig verrückt. Wie oft hatte er heute die Taschen seines Mantels abgeklopft, nur um immer wieder das Klimpern des Schlüssels zu hören? Und selbst wenn er sich aussperrte, der Nachtwächter der Gilde besaß Ersatz. Unweigerlich fanden seine Finger in die rechte Manteltasche und fuhren über den gezackten Kamm des Schlüssels. Großartig. Und würde er sich das Ding um den Hals hängen, er würde dennoch die ganze Zeit danach greifen müssen.
Kalte Luft brannte in Jasovs Kehle, als er erneut seine Lunge füllte und für einen Moment den Atem anhielt. Für den heutigen Auftrag brauchte er innere Ruhe. Nichts störte die Kommunikation mit Magie so sehr wie Stress und ausgerechnet heute hing alles an ihm. Die Erschließung einer neuen Kristallader war für die Staffel eine große Sache. Sollte sie erfolgreich sein, sollten sich die Kristalle als tauglich erweisen, würden Jasov und seine Gruppe dort bis ans Ende ihres Lebens gut entlohnt arbeiten können. Sollte er sich jedoch irren und sie gruben umsonst … Dieser Gedanke jagte einen eiskalten Schauer aus Versagensängsten über seinen Rücken. Obendrein fraß sich das Krächzen des verstimmten Kristalls langsam, aber sicher in seine Nerven. Alles um ihn herum summte, knackte und flüsterte. Die Magie unterhielt sich angeregt und Jasov konnte nicht weghören. Dazu kam ein lautes Schaben, wie Holz auf Kopfsteinpflaster.
Jasov fuhr herum und sah gerade noch, wie die Tür geöffnet wurde.
»Hey, Kleiner, wir sind fertig.« Arturs helle Stimme schnitt durch den Lärm der Magie.
»Kleiner«, murmelte Jasov und lächelte dem älteren Mann freundlich zu. Artur war einen halben Kopf kürzer als er und daran änderten auch die gestrafften Schultern nichts. Trotzdem schritt er auf Jasov zu, als gehörte ihm die Mine persönlich.
»Ich habe ein gutes Gefühl«, verkündete er und wies in Richtung Tür. »Die Ader führt tief hinunter. Ich glaube nicht, dass schon viel Magie hineingesickert ist. Die Kristalle machen einen reinen Eindruck.« Auch für Artur stand eine Menge auf dem Spiel. Es wäre seine erste eigene Operation als Staffelleiter, eine große Chance für ihn, aber auch seine ganze Truppe.
Das zufriedene Grinsen konnte Jasov nicht teilen. Aber das war nicht ungewöhnlich, Artur und er waren in vielerlei Hinsicht gegensätzlich. So weiß Jasovs Haut war, so schwarz war die von Artur. So kurz, lockig und blond Jasovs Haar, so lang, glatt und dunkel das des Vorstehers. Jasov sprach einen harschen Akzent, wie im äußeren Ring der Stadt üblich, Artur hatte seine Ausbildung im mittleren Ring absolviert und klang fast schon wie ein Edelmann. Und während sie beide den kleinen, mit Holz verkleideten Vorraum der Mine betraten und auf den Fahrstuhl zusteuerten, rieb sich Artur die Hände, wohingegen Jasov zum hundertsten Mal nervös nach seinem Schlüssel tastete.
»Wie tief?«, wollte Jasov wissen, als sich der alte Aufzug in Gang setzte. Metallene Seile schabten gegen Steinwände und das Holz der Vorrichtung ächzte.
»Mehr als tausend Schritte von der Hauptmine aus.« Artur sah Jasov von der Seite an und seine Grübchen zitterten, so breit grinste er.
Jasov stieß etwas Luft aus. »Das wird eine lange Fahrt.«
»Immerhin fahren wir nicht rauf, das würde noch länger dauern.« Artur schüttelte lachend den Kopf. »Entschuldige, dass ich dich warten ließ. Ich wollte nur sichergehen, dass alles bereit ist.« Seine Augen schienen zu funkeln. »Jasov, diese Ader! Du kannst darin aufrecht stehen«, schwärmte er.
»Groß ist nicht unbedingt gut«, gab Jasov zu bedenken, konnte aber die Freude des Vorstehers damit nicht dämpfen.
»Ach, ich habe ein gutes Gefühl.«
»Magie findet immer leichter in die großen Kammern. Und nicht weit vom Durchbruch haben wir die letzten Jahreszeiten gearbeitet, geschlafen … Wir haben viel Magie in die Mine gebracht.« Die Sorgen, für die ihm seit Tagen kein Kontra einfallen wollte, sprudelten aus Jasov heraus.
Artur schnaubte. »Na und? Die Kristalle dort sind uralt. Selbst wenn schon Magie hineingekrochen ist, bis sie sich in einem Kristall festsetzt, braucht es seine Zeit. Wir bauen einfach zuerst die reinen ab und lassen sie prüfen.«
»Dafür müssen wir trotzdem Maschinen aufbauen. Das kann Wochen dauern.«
»Und wenn es nur für einen Kristall ist, es würde sich lohnen.«
Sofort kroch Jasov die Scham heiß in die Ohren, er hatte nicht so abwertend klingen wollen. »Tut mir leid«, murmelte er hastig. »Ich will nur nicht unsere Zeit verschwenden.«
Artur klopfte ihm vorsichtig auf die Schulter. »Das wird ein Kinderspiel, Jasov. Heute gehst du den neuen Gang einmal ab, markierst die stillen Kristalle und dann installieren wir morgen gleich ein paar Magiefänger. Alles nach Protokoll, dann kann uns niemand was, ja?«
Bei ihm klang das so einfach. Theoretisch war es das auch, weshalb Jasov nur nickte und den Blick zu Boden senkte. Er brauchte lediglich Lärm von Stille zu unterscheiden. Nur wie oft schon hatte er in den Kristallen, die seine alte Lehrmeisterin als tauglich empfunden hatte, noch ein Summen vernommen? Und wann immer sich Jasov einer Sache sicher war, einen Moment später zweifelte er bereits, wie seine Hand, die auf seinem Schlüssel ruhte, bewies.
Eigentlich sollte Jasov glücklich sein. Er hatte einen einfachen, aber dennoch wichtigen Beruf gefunden: von Magie unberührte Kristalle aufspüren und dafür sorgen, dass die Magie ihnen fernblieb, bis sie abgebaut wurden. Doch dieses Aufspüren gestaltete sich von Jahreszeit zu Jahreszeit immer schwieriger. Wie konnte Artur den Druck, den das Schloss ihnen deshalb machte, einfach so ausblenden?
»Und wenn sie flüstern?«, murmelte Jasov. »Wenn ich keine guten Nachrichten für uns habe?«
Aus Arturs Grinsen wurde ein warmes Lächeln. »Dann ist es nicht deine Schuld. Du machst nur deine Arbeit. Das Reich wird deshalb nicht untergehen.«
»Aber die Gefechte an den Grenzen häufen sich und …«
»Der Frieden hängt nicht allein an unseren Kristallen, Jasov. Es gibt noch andere Minen.«
»Kleine Minen mit kleinen Kristallen.«
Artur seufzte tief, doch entgegen Jasovs Erwartung klang es nicht genervt. »Notfalls muss das Reich neue Quellen an anderen Orten erschließen. Du und ich, wir sind nur zwei Menschen. Wir können nicht ändern, was der Erdboden uns bietet.«
Der Mann kannte ihn viel zu gut. Jasov wünschte sich, er könnte sein verräterisches Durchatmen verbergen, er galt in der Staffel bestimmt bereits als Nervenbündel. »Trotzdem, ich könnte mich irren. Am Ende befestigen wir die Mine über Monate hinweg und fördern dann nur Kristalle, die …«
Artur stieß Jasov sanft in die Rippen. »Selbst wenn, dann graben wir einfach weiter.« Er zuckte mit den Schultern. »Uns bleibt doch eh nichts anderes übrig. Glaub mir, die reißen unsere Staffel schon nicht wegen eines Fehlers auseinander.«
»Ich mache das zum ersten Mal ganz allein!«, platzte es aus Jasov heraus und sofort biss er, erschrocken über seinen Ausbruch, die Zähne zusammen.
»Ich doch auch!« Artur seufzte. »Fehler gehören dazu. Vielleicht sind die Minen im Berg auch erschöpft, dann geht es eben nach Windbar und wir graben dort. Da ist die Besatzung auch viel größer. Die meisten sind sowieso schon da, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns versetzen.«
Jasov wurde prompt übel. Teils aufgrund der Geschwindigkeit, mit der der alte Fahrstuhl hinunter in den Erdboden donnerte, teils weil Arturs Erwähnung Jasovs größte Angst aus ihrer gut verschlossenen Kiste zerrte.
»Windbar«, flüsterte er. Es war ein Gebirge fern im Osten des Kraterlandes. Der Name entstammte der Bezeichnung unüberwindbar, was auch auf die Entfernung zutraf. Zwar führte einer der wenigen Züge von der Stadt in jene Richtung, doch der brauchte über eine Woche für seinen Weg durch das Land. Die Vorstellung, seine Mutter und den Rest der Familie nicht mehr jeden Tag zu sehen … Keine abendlichen Stunden in der Bibliothek, kein Bäcker, der, ohne zu fragen, bereits Jasovs Tüte gepackt hatte und ihm zuzwinkerte, keine Spaziergänge am Kanal entlang, um der Stadtwache bei ihrer wöchentlichen Trainingseinheit zuzusehen. Kein Schloss in der Ferne. Keine Chance, vielleicht doch noch eines Tages die Spitzen zweier Flügel auf dem Berg zu erhaschen. Ja, auch hier konnte Jasov nur sehnsüchtig zur Welt der Drachen aufschauen, aber immerhin konnte er nicht nur träumen, sondern sehen und hoffen – und vielleicht eines Tages zurückzwinkern.
»Windbar«, wiederholte Jasov und fühlte sich plötzlich winzig.
»Die Kristalle da taugen was.« Artur teilte Jasovs Sorgen offensichtlich nicht. »Lassen sich prima verzaubern, obwohl sie deutlich kleiner sind. Aber natürlich sind mir unsere All’Ein-Kristalle hier im Berg allemal lieber. Oh, Jasov, dir werden die Augen rausfallen, wenn du die Ader siehst. Kristalle so dick wie mein Arm!« Artur lachte zufrieden, begleitet von einem leisen Grunzen.
Das weckte immerhin Jasovs Neugierde und unweigerlich schielte er zu Arturs kräftigen Unterarmen. Wie viel Magie man wohl in einem solchen Kristall binden konnte? Jene in den Luftschiffen waren nur halb so groß. Vielleicht war es doch an der Zeit für ein wenig Hoffnung. So ein Fund würde das Reich stabilisieren.
Für schnelles Wirken von Magie brauchte es verzauberte Kristalle, denen man beibrachte, was ihre Aufgabe war, und die deshalb auf simple Zauberformeln hörten. Mit dem richtigen Element aufgeladen, konnten damit sogar Menschen, die nicht magisch begabt waren, kleine Wunder vollbringen. Das ganze Land baute darauf auf. Magitechnologie bedeutete Luxus. Ein Licht bei Nacht. Hitze zum Kochen. Und schwebende Steine ersetzten fehlende Beine. Doch der Vorrat reiner, unverdorbener Kristalle ging langsam zu Ende und diese neue Ader entschied, ob Zugang zu magitechnischen Hilfsmitteln beschränkt werden musste oder nicht.
Pflichtbewusstsein schnürte Jasovs pochendem Herzen die Sorgen ab. Er konnte nicht mehr, als sein Bestes geben, und sollte das nicht reichen, war er bereit, über sich hinauszuwachsen. Vermutlich hatte Artur recht und sie fanden reine Kristalle. Und wenn nicht, hatte die in den Boden gesickerte Magie wohl kaum Zeit gehabt, sich niederzulassen. Dann brauchte Jasov nur genug Überzeugungskraft, um sie aus der Ader zu locken. Auch wenn er sich dafür auf ein wochenlanges Gespräch einlassen musste – Hauptsache, er musste nicht nach Windbar.
Bei dem Fahrstuhl handelte es sich um einen drei mal drei Schritte großen, metallenen Kasten, der mit dunklem Holz ausgekleidet war. Wie im Kraterland üblich hatten die Handwerkenden alles an ihm verziert, was sich dafür eignete. So zog sich ein kunstvoll gestaltetes Netz aus silbernem Draht durch die Holzbretterverkleidung der Wände und sollte wohl das Tunnelsystem der Mine symbolisieren. Jasov folgte den schnörkeligen Linien mit den Augen, um sich abzulenken. Das Muster glich einem Labyrinth, doch damit hatte er Erfahrung, denn für die Arbeit als Minenzauberer hatte er sämtliche Tunnelwege auswendig lernen müssen.
Die fahrende Kammer ächzte. Jasov und Artur wurden ein wenig durchgerüttelt. Sie fuhren eine Kurve, das sichere Zeichen, dass sie gleich ankamen. Vier armdicke Seile, die an den vier Kanten des Aufzuges befestigt waren, sorgten dafür, dass Passagiere heil und schnell mehrere Tausend Schritte hinab in den Berg und bis ins Erdreich reisen konnten. Trotzdem wurde es Jasov an diesem Punkt immer mulmig zumute. Wenn es nach ihm ginge, hätte er den Fokus weniger auf Dekoration und mehr auf Sicherheit und Funktionalität gelegt. Wie viel Wert das Reich auf Kunst legte, zeigte sich, als der Fahrstuhl endlich zum Stillstand kam, die Flügeltüren sich öffneten und das auf ihnen abgebildete, verschlungene silberne Muster nahtlos in das an den ausgebauten Minenwänden überging, als würden die Türen mit dem Gestein zu einem großen Gemälde verschmelzen.
Jasov und Artur traten beherzt aus dem schwankenden Gerät hinein in die Vorhalle. Eine schwarze Kuppel, grob in den Berg geschlagen und überzogen mit silbernen Verzierungen. Von hier aus führten über ein Dutzend Tunnel in alle Himmelsrichtungen. Der Bereich, in dem Jasov bisher immer gearbeitet hatte, war nicht einmal halb so groß.
Staunend sah er sich um. Altbekannte, trockene Luft empfing ihn und es roch nach Gestein. Der Geschmack von Kalk legte sich sofort auf seinen Gaumen. Damit man hier unten auf Dauer gut atmen konnte, musste in der Mine ein ausgeklügeltes Ventilationssystem angebracht werden. Die Installation war mühsam – auch wieder so ein Grund, sich zu sorgen. Wenn Jasov den neuen Minenschacht als tauglich einordnete, zog das viel Arbeit nach sich.
»Du zitterst«, bemerkte Artur und sah ihn von der Seite an.
»Ich mache mir einfach Sorgen«, gab Jasov zu.
Der Vorarbeiter atmete schwer durch. Er schien einen Moment nachzudenken, ehe er langsam nickte. Doch er antwortete nicht, stattdessen setzte er sich in Bewegung und Jasov eilte ihm nach.
Artur steuerte auf die gegenüberliegende Seite des Raums zu. Es ging vorbei an Tischen voll beladen mit Equipment. Ganzkörperanzüge aus dicht verwebtem Stoff hingen über den Bänken. Seile stapelten sich, Atemgeräte und Abbauwerkzeuge lagen verstreut herum, darunter kristallgetriebene Bohrer und Spitzhacken. Offenbar arbeiteten heute zwei Staffeln in den Minen, Jasov zählte über ein Dutzend Schuhe. Artur und er machten vor einem Tisch halt, um ihre Ausrüstung anzulegen.
Endlich räusperte sich der Vorarbeiter. »Du hast die Prüfung bestanden, du hast einige Monde an Anastasias Seite gearbeitet und nie einen Fehler gemacht.«
»A-aber ich konnte mich bei ihr immer versichern.«
»Hat sie dir je widersprochen?«
Jasov zögerte kurz und zog sich erst einmal die Sicherheitsschuhe an. Dickes, schweres Leder, eine Schicht davon aus Metall. Später würde er über spitze Kristalle steigen müssen, da brauchte es isoliertes Schuhwerk. »Nun, sie hat mich immer bestätigt«, sagte er schließlich.
Artur schnappte sich ein Seil, setzte sich wieder in Bewegung und winkte Jasov, ihm zu folgen. »Es ist gut, dass du die Verantwortung, die auf dir lastet, so ernst nimmst. Und ich sehe, dass diese Art Verpflichtung vielleicht noch zu viel für dich ist. Dreiundzwanzig Jahreszeiten, du bist gerade erst ein Mann geworden und …« Artur ächzte und rieb sich mit einer Hand die Nasenwurzel. »Ich kenne da jemanden. Wenn du dir wirklich unsicher bist … Weiß du, wir könnten jemanden von der Gilde oder vom Schloss für ein Gutachten anfordern.«
»Wirklich?«, rief Jasov unbedacht laut aus und schlug sich die Hand vor den Mund.
»Das ist keine Bitte um Hilfe, sondern eine vernünftige Sicherheitsmaßnahme. Es geht immerhin um die neue Kristallader, das ist eine große Sache.« Der Mann zwinkerte.
Jasov wäre am liebsten vor Erleichterung zusammengesackt. Ein Gutachten. Das war etwas völlig Normales. Und Jasov würde sein Gesicht wahren können. Viele Jahreszeiten hatte er für seine Unabhängigkeit hart gearbeitet, sich wieder und wieder beweisen müssen. Dass man im Kraterland Hilfe angeboten bekam, war selbstverständlich, aber selbst Hilfe bieten zu dürfen, das war eine große Ehre. Nervös leckte sich Jasov über die Lippen. Nur noch einmal Gewissheit – und dann würde er endlich Teil des Gebens sein, statt immer nur zu nehmen.
»Ich danke dir!«, flüsterte er mit bebender Stimme. Die Erleichterung hatte sich so explosionsartig in ihm ausgebreitet, er glaubt sogar, einen Hüpfer gemacht zu haben.
»Das ist aber das letzte Mal!«
»Danke!«
Wieder ächzte Artur. »Du hast ja recht. Diese Ader ist zu wichtig für ein Vielleicht. Und auch deine Sorgen sind wichtig. Außerdem habe ich auch keine Lust auf Windbar«, gestand er und lachte leise. »Sümpfe, wohin man auch schaut. Ich meine, klar, unser Lord hat das Land praktisch aus einem großen Moor heraus aufgebaut, aber wieso hat er da aufgehört?«
Nun musste sogar Jasov leise lachen. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist es sogar einem Drachen dort zu matschig.«
»Mir ist es das auf jeden Fall. Versa und ich dachten eigentlich gerade an Kinder. Die würde ich lieber hier aufziehen.«
Geflutet von Erleichterung, nutzte Jasov das neue Thema und erlaubte sich ausnahmsweise ein lockeres Gespräch. Um seinen Fokus sorgte er sich nun nicht mehr, nur noch darum, nicht das zu finden, was sie brauchten. Aber das lag nicht in seiner Kontrolle und so half lediglich Ablenkung.
Um zur neu erschlossenen Kristallader zu gelangen, mussten sie einen kleinen Fußmarsch durch alte Minengänge bewältigen, das gab ihm genug Zeit, um Artur über seine Familienpläne auszufragen. Er kannte den Mann nun seit rund vierzig Monaten, also etwas länger als ein Jahr – und er betrachtete ihn inzwischen als einen Freund.
Und nicht nur ihn. Am Ende des elend langen Ganges warteten fünf seiner Kameraden auf sie. Wer eine so lange Zeit gemeinsam unter der Erde verbrachte, der wuchs unweigerlich zusammen. Als sie näher kamen, bemerkte Jasov eine ihm bekannte Anspannung bei seinen Freunden. Hier ein Nicken, da zuckende Mundwinkel oder ein nervöses Wippen mit dem Fuß – sie fürchteten sich vor dem, was kam, sollte die neue Ader sich nicht ergiebig zeigen.
»Zieh nicht so einen Flunsch, Frek!«, maulte Artur den größten und zugleich dünnsten Mann der Gruppe an. »Ihr habt heute tolle Arbeit geleistet. Jetzt helft mir, unseren Zauberer abzuseilen, ja?«
Frek rümpfte die sommersprossige Nase, empfing Jasov dann aber mit Handschlag. »Möge der Äther uns heute gnädig sein«, wünschte er ihm und griff direkt zu Jasovs Gürtel, um ihn an die Vorrichtung anzuschließen. Der Weg zur Ader war noch nicht ausgebaut. Es galt, eine Weile durch Gestein zu klettern und so steil, wie sich das Loch in der Wand vor Jasov auftat, sogar einige Schritt lang einfach am Seil hinabzugleiten.
»Gnädig trifft es«, murmelte Jasov leise, konzentrierte sich dann aber auf den tausendmal geübten Ablauf. Es war seine dritte erschlossene Ader, die erste, die er allein begutachten sollte, und trotz des seltenen Ereignisses saßen die Handgriffe. Schon wenige Minuten später stieß er sich an der Kante des Schachtes ab und hüpfte großzügig die groben Steinwände hinunter in Richtung der Ader.
Grob behauenes Gestein, hier und da gab es tiefere Löcher von Probebohrungen. Der Tunnel bot genug Platz für bis zu drei Leute, doch Jasov musste allein hinab zur Ader, denn dort durfte ihn nichts und niemand stören. Magie ruhte überall, auch in Menschen. In manchen von ihnen so viel, dass man sie hören konnte, und das würde ihn nur ablenken.
Die Versuchung war groß, sich bereits jetzt auf die Klänge des Ortes einzulassen, doch der Abstieg war noch nicht geschafft. Dieser Tunnel war über Monate hinweg entstanden, führte tief hinunter und schon bald benötigte Jasov die Maske, um richtig atmen zu können. Aber auch ohne Fokus kam er nicht umhin zu bemerken, dass es mit jeder Schrittlänge stiller wurde. Sogar in der Vorhalle hatte er das Zwitschern von Magie vernommen. Sie nutzte jeden Zugang und eröffnete man ihr neue, so kroch sie neugierig hinein und dann durch alles hindurch, was spannend erschien.
Der Grund, weshalb die Magie über die letzten Hunderttausende von Jahren nicht tiefer ins Erdreich vorgedrungen war, war dem Umstand zu verdanken, dass dicke Gesteins-, Sand- und Kristallschichten schlicht und ergreifend langweilig waren. Das konnte Jasov nur allzu gut verstehen, denn die kleine Öllampe an seinem Gürtel zeigte ihm nur glänzende schwarze Steine um ihn herum. Jasov umklammerte das Seil in seinen Händen vielleicht ein wenig zu fest. Es war ihm, als würden die Schatten ihn verschlucken.
Schrittlänge für Schrittlänge ging es weiter hinab und hin und wieder blickte Jasov in die Leere einer Probebohrung. Wie er Dunkelheit hasste. Zur Nachtruhe konnte er zwar die Lichter löschen, nicht aber das Gesumme der Magie um sich herum, und als Kind hatte sich Jasov vor den Stimmen gefürchtet. Dass diese Finsternis hier still blieb, löste eine Woge der Erleichterung in ihm aus. Dazu kam ein entferntes Funkeln auf ihn zu. Das Ende des Tunnels. Eine weitere Öllampe brannte und ihr Licht spiegelte sich bereits in den ersten Kristallen.
Kaum hatten Jasovs Füße festen Boden erreicht, pfiff er scharf durch die Zähne. Auf das Echo seines Signals hin hallte ein ähnlicher Laut zurück und er hakte sich aus dem Seil aus. Achtsam überprüfte er seinen Gurt und griff dann zu der nächsten Leine, die schon bereitlag, um ihm Halt auf seinem Weg hinein in die neue Ader zu geben.
Neugierig sah sich Jasov um. Vor ihm tat sich ein Riss im Gestein auf, doppelt so groß wie er selbst, aber so schmal, dass er sich hindurchzwängen müsste. Der Zugang lag unberührt vor ihm und als er zur Öllampe griff, um hineinzusehen, verschlug es ihm den Atem.
»Eine Geode«, keuchte er leise.
Er blickte hinein in einen gigantischen Tunnel, dessen gesamter Innenraum vom Boden über die Wände bis zur Decke über und über mit klaren Kristallen bedeckt war. Artur hatte nicht untertrieben: Jeder von ihnen hatte den Umfang eines gut trainierten Arms und sie ragten gefährlich spitz in alle Richtungen. Bunt verfing sich das Licht, schien von Spiegelung zu Spiegelung zu springen.
»Beim Äther!« Jasov hakte die Öllampe an seinem Gürtel ein und bemerkte, dass seine Hände heftig zitterten. Das hier war mehr, als er je zu träumen gewagt hätte. Wenn die Kristalle rein waren, würden noch seine Nachfahren an dieser Ader arbeiten, und für einen Moment wollte Jasov einfach nur daran glauben. Er hatte dickes Gestein überwinden müssen. Stille umhüllte ihn. Das hier musste real sein.
Langsam und behutsam setzte Jasov einen ersten Schritt hinein. Er musste dabei auf die scharfen Kanten und die glatten Flächen achten, zwar schützten ihn seine Schuhe vor Schnitten, nicht jedoch davor, auszurutschen und sich hier eventuell aufzuspießen. Das Sicherheitsseil musste er diesmal selbst befestigen. Zum Glück war All’Ein-Kristall fast unzerstörbar, weshalb er die Leine einfach um eine Spitze wickeln konnte, um wenigstens etwas Halt zu haben, sollte er ausgleiten. Jene unverwüstlichen Eigenschaften machten den Abbau des Gesteins jedoch auch so mühsam, zumal man es vermied, magische Werkzeuge zu nutzen. Magie folgte einander. Wenn sie erst einmal hier hineinfand …
Jasov seufzte leise. Genau deshalb war er hier. Die nächsten Jahre über würde er Tag und Nacht neugierige Energie von diesem Ort weglocken, bis die Ader erschöpft war. Falls sie nicht bereits … Er holte tief Luft. Es wurde Zeit, an die Arbeit zu gehen.
Gut fünf Schritte war Jasov in die Geode vorgedrungen und stand etwas ungelenk auf kleineren Kristallen, die den Boden überzogen. Mit geschlossenen Augen und fest auf die Atmung konzentriert, suchte er zunächst nach seinem eigenen Flüstern. In ihm pochte Magie wie ein zweites Herz, hatte ihn schon im Mutterleib begleitet und erklang zwischen seinen Gedanken. Um dem Ort wirklich lauschen zu können, musste er sich erst einmal selbst in Ruhe und Balance bringen. Zum Glück war die Magie in ihm genauso neugierig wie Jasov selbst und er verspürte ein kleines Kribbeln in der Brust, als die beiderseitige Entscheidung fiel, den Geheimnissen der Geode zu horchen.
Er und die Magie hielten den Atem an. Alles, was blieb, war ein feines Rauschen in Jasovs Ohren. Sein Blut. Sein Kreislauf. Sonst umgab ihn Stille. Für einen Moment war es, als würde er nicht mehr existieren. Rings um Jasov glitzerten Kristalle. Die meisten waren klar, einige wirkten trüb, als hinge in dem Quarz eine Wolke fest. Nicht der Hauch einer Vibration. Friedlich und irgendwie einsam. Das hatte etwas Heilsames an sich. Ein unbrauchbarer, von Magie kontaminierter Bereich würde Jasov bereits anbrüllen oder gar an ihm zerren, den Eindringling neugierig befühlen. Nein, das hier war die perfekte Ruhe und er genoss den Augenblick.
Um solch magiearme Umgebungen erleben zu können, hatte er sich schlussendlich für die Ausbildung zum Magiesucher entschieden. Selten kam er in den Genuss dieser Stille, einzig und allein gestört durch mehrere sich sorgenvoll überlappende Gedanken: Die Stille bedeutete rein gar nichts. Er zögerte das Unvermeidliche nur hinaus. Bestimmt irrte er sich. Die Mine war versiegt, schon lange. Oder er konnte es nicht mehr, hörte nicht richtig hin. Und was, wenn hier alles schlief? Er sollte mit der Arbeit beginnen und die schlechten Kristalle aussortieren. Wieso stand er nur herum?
Energisch schüttelte Jasov den Kopf, dessen Geplapper leider teilweise recht hatte. Wenn hier seit Jahrtausenden Magie schlummerte oder Fetzen von Träumen der Minenarbeiter eingesickert waren, müsste Jasov sie zunächst wecken, ehe sich etwas regte. Durch Träume löste sich gerne mal die eigene Magie, auf der Suche nach Abenteuern und neuen Geschichten. Und wegen der harten Arbeit schlief man die halbe Woche über unter Tage.
Völlig unnötig räusperte sich Jasov. Denn die Frage, ob in einem Kristall jemand schlummerte, musste er mit seinem zweiten Herzen stellen, durch die Sprache der Magie selbst. Er formulierte sie trotzdem verbal vor. »Kannst du mich hören?«
Behutsam legte er eine Hand auf seine Brust und fühlte ein Summen in sich aufsteigen. Die Vibration breitete sich im Raum aus, fuhr über die Kristalle wie eine leichte Brise und verteilte sich in der Geode bis in die dunklen, nicht einsehbaren Bereiche. Wie lang dieser Gang wohl war? Wohin er führte? Es schien weiter hinabzugehen.
Dann überrollte Jasov ein Rauschen, wie eine warme Woge Wasser. Für einen Moment glaubte er, auf sein Echo gestoßen zu sein. Doch das, was ihn da an der Nase gekitzelt hatte und zu seinem Herzen sprach, klang heller.
»Ich wusste es«, flüsterte Jasov aufgeregt. Aus der Tiefe der Geode antwortete ihm Magie, tastete ebenfalls suchend die ganze Höhle ab. Alarmiert trat er einen Schritt vor, summte erneut und schaute sich nach weiteren Kristallen um, an denen er das Seil befestigen konnte.
Nur eine einzelne Stimme hatte ihm geantwortet. Sollte es möglich sein? War das alles? Nur nicht euphorisch werden. Jasov atmete tief durch und entschied, streng nach Protokoll vorzugehen. Die Kristalle um ihn herum schienen rein, aber vielleicht schliefen sie nur. Ein Gespräch mit der Magie des Ortes würde ihm mehr verraten, ehe er jeden einzelnen durchging und die unberührten markierte. Wichtig war, dass die lautesten zuerst abgebaut wurden, denn Magie zog Magie an und mit all den Arbeitskräften würde tagtäglich Energie hineinsickern. Eventuell handelte es sich auch nur um eben solche hineingesickerte Magie … aber nein. Das hier war anders. Das konnte er spüren. Ein Grinsen stahl sich auf Jasovs Lippen. Die Neugierde überwand die Sorgen. Unbekannte, fremde Magie, die mit ihm sprechen wollte. Leider kam er nur mühsam voran. Am liebsten wäre er durch die Höhle gerannt. Was für ein Fund!
Aufgeregt machte er einen Schritt nach dem anderen hinein in die Dunkelheit, die kein Ende zu finden schien. Es war eine gigantische Ader. Aus dem leisen Pochen in Jasovs Ohren wurde ein lautes. Erneut summte er zu der fremden Stimme und musste auch nicht lange auf eine Antwort warten: das Äquivalent von einem »Hier« zu einem »Hallo?«. Jasov spürte diese Absicht in seinem Innersten, selten hatte ihm Magie so verständlich geantwortet. Das war kein gutes Zeichen. Und erstmals erkannte er etwas in der Schwärze vor ihm. Ein Flirren ähnlich der Energie, die die Straßenlaterne umgeben hatte.
»Manifestiert«, flüsterte Jasov und schluckte schwer. Doch lediglich in einem einzelnen winzigen Kristall. Wie war das nur möglich? Hatte die Magie sich entschieden zusammenzurücken? Nun, wer Tausende von Jahren unter der Erde zubrachte – denn so alt musste dieser Fetzen Energie sein, dessen war er sich sicher. Die Magie klang fremd. Anders. Sprach die Sprache der Ältesten.
Plötzlich schlug Jasov sein Herz aus einer völlig neuen Aufregung heraus bis zum Hals. Gleich würde er Magie aus der Vorzeit berühren. Vielleicht älter als das Reich, gar älter als der Ewige Krieg. Was sie ihm alles erzählen konnte? Wusste der Kristall, wie die Welt vor der großen Entzweiung ausgesehen hatte? Bevor der Kontinent in Osten und Westen zerbrochen war? Sagen und Legenden erzählten von unendlich mächtigen Drachen, die das Gleichgewicht der Welt behütet hatten, ehe sie All’Ein für immer verlassen hatten, von Städten in den Wolken und unter dem Meer. Nur noch Magie aus der Vorzeit kannte die Wahrheit. Und nur Magie aus der Vorzeit beherrschte die Sprache der Ältesten.
Die Aufregung brachte Jasovs Beine zum Zittern, also ging er in die Hocke und kletterte vorsichtig zwischen den langen Stabkristallen hindurch, ehe er ausrutschte und fiel. Er hielt fest den Blick auf den kleinen zwitschernden Kristall fokussiert. Noch immer war es stockdunkel, daran konnte auch die Öllampe wenig ändern, aber die Schwingungen der Magie sah er ohnehin durch sein zweites Herz, hätte sogar die Augen schließen können.
»Hallo«, flüsterte er ehrfürchtig, als er endlich vor dem magischen Gefäß kniete. Erneut schien Wärme Jasovs Gesicht zu streicheln. Der Kristall summte und darin lag ein Leuchten voller Hoffnung. Er war deutlich kleiner als die anderen, etwas krumm geraten, passte nicht ganz an diesen Ort, und Jasov fühlte sich seltsam verbunden mit dem vermeintlichen Außenseiter. Die Magie tastete ihn ab, als könne sie es nicht glauben, endlich wieder eine Stimme zu hören. Und als er daraufhin lachte, gab es ein magisches Echo, das ihn an ein Kichern erinnerte.
Zu großen Kunststücken war Jasov nicht in der Lage, doch er besaß das Talent, die Gefühle der Magie wahrzunehmen, als wären es die seinen. Das verstanden nicht einmal die alten Magiekundigen aus seiner Lehre, dabei schien es Jasov so logisch, so natürlich. Selbstverständlich. Mit eben jener Selbstverständlichkeit fuhr er mit der Hand über die unebene Oberfläche des Kristalls.
»Es trifft sich, dass du dich nach der Welt sehnst«, flüsterte Jasov. »Wir werden dich von hier fortbringen, vermutlich sogar ins Schloss.« So ungewöhnlich rege Magie würde Untersuchungen nach sich ziehen. Vielleicht, mit ganz viel Glück, durfte er diesen Fund selbst dem obersten Verzauberer überreichen. Nur einmal die Mauern passieren, mit den Mächtigen sprechen, eventuell ein Geheimnis erfahren, dort an dem Ort, an dem es Drachen gab … Jasov atmete zittrig durch und der Kristall schien mit ihm nach Luft zu schnappen.
Es knisterte leise und ein Funken sprang auf ihn über. Erschrocken zog er die Hand weg. Er war nicht sicher, ob das wirklich geschehen war, ob er das Leuchten mit den Augen oder dem Herzen wahrgenommen hatte. Der Kristall summte und diesmal nahm Jasov den Klang in seinem Inneren wahr. Eine Verbindung? Wie war das möglich?
»Ich darf nicht«, wisperte er, konnte sich jedoch nicht von dem Quarz lösen, starrte ihn immer noch an und fühlte sich beinahe hineingesogen. Eine Schwere ging von dem Kristall aus, sowohl als Kraft als auch als bittersüßer Schmerz. Dumpf und dunkel. Einsam. Die Empfindung ließ Jasovs Herz stolpern. Eine Woge aus Sehnsucht erfasste ihn und er wusste nicht mehr, wo die Gefühle der Magie begannen und seine eigenen endeten. Sie teilten offenbar den Durst nach Geheimnissen, doch Jasov sehnte sich nach altem Wissen und die Magie in dem Kristall nach neuem.
Und so musste es sein: Er würde sich ihr öffnen und sie sich ihm. Es war das Richtige, zumindest glaubte er das – oder glaubte das die Magie?
»Komm zu mir.«
Er legte erneut eine Hand auf den Kristall, erwiderte die Verbindung, das Gesuch und blickte tief in die Energie aus der Vorzeit, hinein in gleißend helles Licht. Ein Blitz flutete die Geode, überwand die Schwelle von Magie zu Realität und erleuchtete den Tunnel. Was vermutlich nur einen Wimpernschlag lang hielt, erfüllte Jasov über Minuten hinweg. Er sah, wie sich das Licht ausbreitete, an ihm vorbei, durch ihn hindurch, so dicht wie aufkeimender Nebel. Risse bildeten sich im Zentrum des Kristalls und wuchsen langsam an. Die Magie streckte sich nach ihm und der Welt. Sie wollte hinaus. Es knackte und knirschte dumpf, als der Quarz zersplitterte. Jasov konnte jede Regung in Ruhe beobachten und starrte fasziniert in den Kern der Magie.
Das war er – er hatte sie befreit.
Und dann überwand der Augenblick seine Empfindungen und was sich angefühlt hatte wie endlose Minuten, gipfelte in einer grellen, ohrenbetäubenden Explosion. Kreischender Lärm und pures Weiß erfüllten Jasovs Realität und er spürte die gewaltige Macht einer Druckwelle, ehe seine Wahrnehmung endete.
Ein hoher, fiepender Ton beherrschte Jasovs Kopf. Dahinter dumpf Rufe. Es kostete ihn ungewöhnlich viel Kraft zu atmen, etwas Schweres schien auf ihm zu liegen. Er wollte nachsehen, doch seine Augen wollten ihm nicht gehorchen. Dann spürte er einen festen Griff an seinen Schultern und hörte sich erschrocken aufkeuchen.
»Jasov?«, drang es wie von fern an seine Ohren. »Junge! Hörst du mich?«
Schlagartig verzog sich der Nebel, der Jasov zu ersticken gedroht hatte, und der Lärm der Realität prasselte auf ihn ein. Er riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Etwas unscharf machte er vor sich eine Person aus, um sie herum Dunkelheit, die von flackernden, warmen Lichtern und wandernden Schatten durchbrochen wurde. Rennende Figuren.
Die eiskalte Luft brannte in der Lunge und sofort drückte sich wieder Nebel auf seinen Kopf. Ein scheußlicher Geschmack nach Eisen lag ihm auf der Zunge und rann ihm die Kehle hinunter.
»Jasov!«
Erneut wurde er gerüttelt, aber die schwere Empfindung gewann die Oberhand. Mit einem Keuchen griff er zu den Händen an seinen Schultern, doch ehe er sie zu fassen bekam, verschwand die Welt um ihn herum, wurde von dumpfer Ohnmacht erdrückt.
Als Jasov das nächste Mal das Bewusstsein erlangte, starrte er an eine helle Zimmerdecke. Sonnenflecken tanzten vor seinen Augen, als schiene das Licht durch die raschelnden Blätter eines Baumes. Nur mit Mühe konnte er den Kopf zur Seite drehen und erblickte tatsächlich eine Baumkrone durch ein offenes Fenster. Blaue Vorhänge blähten sich im kühlen Herbstwind.
»Und er hat nichts?«, tönte es dumpf von der Wand her.
Jasov fiel es schwer, sich erneut umzusehen. Vorsichtig schielte er neben sich. Die Holztür war nur angelehnt und Stimmen drangen hindurch. Langsam sickerten die Eindrücke in sein Bewusstsein, formten ein ganzes Bild und er stellte fest, dass er in einem Bett lag. Unter einer dicken, warmen Decke. Der Raum roch seltsam bitter.
»Er ist ein Zauberer, die Magie hat ihn geschützt.« Diese Stimme erkannte Jasov, sie gehörte zu Artur. Er klang ein wenig außer Atem.
»Wir müssen zu ihm und ihn befragen.«
»Nicht heute«, gab Artur scharf zurück. »Er war zwei Tage dort unten.«
»Er sollte das nicht überleben. Wenn er stirbt, ehe wir wissen …«
»Wie ich sagte, geht es ihm gut, es fehlt ihm nichts.« Artur wurde lauter, er schien sich zu nähern. Dann knirschten die Scharniere der Tür und der Vorarbeiter trat eilig hinein. Kaum erblickte er Jasov, machte er einen erschrockenen Satz zurück. »Du bist wach!«
Unfähig zu sprechen, blinzelte Jasov nur. Sein Kopf fühlte sich seltsam leicht an und mehr als die Eindrücke des Raums existierte im Moment nicht für ihn. Wo war er? Wann war er? Was war passiert?
Gerade wollte Artur die Tür schließen, da drückte sich hinter ihm jemand ins Zimmer, dicht gefolgt von einer weiteren Person, die gleich an Jasovs Bett stürzte. Zerzauste rote Haare, wild aufgerissene Augen. Es brauchte einen Moment, ehe er die Frau als Anastasia erkannte, seine alte Lehrerin. Völlig aufgelöst und am ganzen Leib zitternd, beugte sie sich über ihn und griff seine Arme, packte schmerzhaft fest zu. Erst jetzt bemerkte Jasov, dass sie über und über mit Staub bedeckt war.
»Jasov! Was ist passiert? Sag mir, was du weißt.«
Er öffnete den Mund, aber kein Laut wollte über seine Lippen. Selbst wenn, hätte er nicht gewusst, was er antworten sollte.
»Die Kristallader ist implodiert! Du musst doch irgendwas mitbekommen haben.« Hastig drehte sich Anastasia um und deutete auf Artur. »Ihr! Redet mit ihm!«
Arturs Gesicht tauchte in Jasovs Sichtfeld auf. Der Mann hatte eine dicke Platzwunde am Kopf, die mit Bändern zusammengehalten wurde, mehrere Schrammen zogen sich lang und tief über seine Wangen, ein Arm lag im Verband. Der Anblick jagte einen Schauer durch Jasovs Körper. Sein Herz begann zu rasen und sofort keimte Schwindel auf.
»Die Mine«, formte er stumm mit den Lippen. Der letzte Augen-blick unten zwischen den Kristallen stieg vor seinem inneren Auge auf und er erinnerte sich an einen gewaltigen Blitz. Und dann … »Donner«, flüsterte er. Er hatte die Magie vom Kristall getrennt. Zwar wusste er nicht wie und auch nicht mehr wieso, doch daran erinnerte er sich nun ganz deutlich. Das war es, was die Magie gewollt und was er wie befohlen ermöglicht hatte. Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen und seine Sicht verschleierte sich wieder.
»Jasov.« Artur legte behutsam eine Hand auf seine rechte Schulter. »Wie fühlst du dich?«
»Ich war das!«, würgte Jasov hastig hervor. »Ich habe das getan.« Panik schnürte ihm die Brust zu, doch er presste die Worte vehement heraus, musste sie selbst hören. »Ich war das!«, wiederholte er.
»Ganz ruhig«, flüsterte Artur.
Neben ihm tauchte wieder Anastasias zerzauster Haarschopf auf. »Er kann hier nicht bleiben! Wenn er …«
»Ssh!«, gab Artur deutlich zurück. Sein Blick haftete noch immer auf Jasov. »Was hast du getan, Junge? Wir müssen es wissen. Jedes Detail. Du wirst gleich wieder entschlafen, aber vorher …«
»Der Kristall«, krächzte Jasov. »Der Kristall.«
Der Tränenschleier vor Jasovs Augen ließ das Krankenzimmer zu einem hellweißen Fleck verschwimmen. Seit Stunden rann ihm das Wasser über die Wangen und er machte sich nicht länger die Mühe, die Flut an Verzweiflung zu unterdrücken. Beinahe krampfhaft hatte er sich in die Bettdecke gekrallt und meinte, an den eigenen Tränen, der Schuld, seinen Taten zu ersticken.
Jasov hatte den Kern des Kristalls ertastet, ihn gespalten, gesprengt und damit auch die Geode, den Tunnel, die Gänge – die Mine. Obwohl er davon nichts mehr wahrgenommen hatte, stiegen unaufhörlich Bilder von brechendem Gestein und einstürzenden Stollen in seinen Gedanken auf. Wie sich mit einem Mal der Boden unter den Füßen der Arbeitenden auftat, die Decke entzweibrach, alles begrub.
Nur er lebte noch. Er und Artur. Die anderen Staffeln, darunter Jasovs Kameraden, hatten die Einsatzkräfte nur noch tot bergen können. Fast drei Tage hatte es gebraucht, bis sie Jasov erreicht hatten. Laut Artur hatte er wie eingefroren, umhüllt von seiner eigenen Magie, zwischen den Trümmern geschlafen.
Ohne Kratzer. Ohne Makel.
Und doch fühlte sich Jasov von innen nach außen gekehrt. Ein Schluchzen entkam seiner Kehle. Er hatte alles zerstört. So viele Leben. Die Mine selbst. Ohne das schnelle Eingreifen mächtigerer Magiekundiger wären Straßen eingestürzt und mit ihnen Wohnhäuser. Jasov hatte das Herz der Stadt erschüttert.
Übelkeit kämpfte sich seinen Rachen empor und es schüttelte ihn. Ausgerechnet jetzt ging die Tür zum Krankenzimmer auf und Jasov wandte sich rasch ab, musste sich den Handrücken gegen den Mund pressen. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Würgen. Aber er brauchte ohnehin nicht hinzusehen, er hörte am Klang der Schritte, dass es Artur war, der in den Raum humpelte und sich neben seinem Bett auf einen Stuhl sinken ließ.
»Der Heiler sagte mir, dass du wach bist«, eröffnete Artur. Seine Stimme war kratzig vor Erschöpfung. Zwei Tage waren vergangen und der Mann schien nicht einen davon geschlafen zu haben, dabei hatte das Unglück sein Bein zertrümmert und ihm die Rippen gebrochen.
»Ich habe hier etwas für dich«, fuhr er fort und legte einen Brief auf die Bettdecke.
Jasov schüttelte nur langsam den Kopf. »Ich kann nicht«, presste er hervor.
»Möchtest du etwas trinken?« Artur klang mitfühlend.
»Nein!« Da saß der Mann an Jasovs Bett, schwer verletzt, während Jasov nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte – der Gedanke ließ erneut dicke Tränen über seine Wangen kullern und er konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken. »Ich war das«, flüsterte er zum hundertsten Mal an diesem Abend.
»Aber es hätte dir nicht gelingen dürfen«, fiel ihm Artur ins Wort. Er klang angestrengt und sein Atem rasselte, doch sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. »Das hätte nicht passieren dürfen. Sie hätten das nicht zulassen dürfen!«
Dieses Gespräch hatten sie schon einmal geführt, dennoch wimmerte Jasov verzweifelt. Es hätte nicht passieren dürfen, aber es war passiert. Da war niemand, der Jasov hätte aufhalten können – nur er selbst. Dutzende Menschen hatten ihn die letzten Stunden über ausgefragt, ihn untersucht, magisch vermessen. Sie hatten ihn angepackt wie einen Hund, über seinen Kopf hinweg gesprochen, als wäre er ein Ding – eine Gefahr, wie der magische Dämpfer auf dem Tisch am Bettende bewies. Es war ein wertvoller Kristall, eingelassen in eine Tonschale, der die Magie in Jasov zum Verstummen brachte, zumindest für einige Stunden. Er wollte sie ohnehin nicht hören, am liebsten nie wieder. Aber er würde sie nicht loswerden, nicht ohne … Ein Schluchzen erschütterte seinen Körper, begleitet von einem Zittern.
»Dir werden morgen entsetzlich die Augen wehtun, wenn du so weitermachst«, kam es von Artur, der Jasov behutsam die Hand tätschelte.
»Sie werden mich verbannen.«
»Jasov …«
»Ich muss verbannt werden!«, rief er viel zu laut. Seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider. Gestresst ballte Jasov die Fäuste. Das war das Einzige, was ihm für einen Moment die überwältigende Schuld von der Brust nahm: die Aussicht auf gerechte Strafe.
»Hör mir zu!«, forderte Artur ihn eindringlich auf. Es klang wie ein Befehl und Jasov folgte ihm fast automatisch, sah dem Vorarbeiter endlich in die Augen. »Niemand wird bestraft!«
»Aber …«
Artur griff zu dem Brief, hob ihn hoch, hielt ihn vor Jasovs Nase und legte ihn mit Nachdruck zurück auf die Bettdecke. »Was du getan hast, zeugt von großer Macht! Deshalb werden magisch begabte Kinder wieder und wieder getestet. Du besitzt Fähigkeiten, die man hätte schulen müssen. Wenn wir nach Schuld suchen wollen, dann im Versagen unseres Systems.«
»Ich …«, setzte Jasov an, doch Artur hob die Hand und brachte ihn zum Verstummen.
»Und du hast sehr wohl mit Anastasia über das Geflüster gesprochen«, blaffte er ihn weiter an. »Sie hat es mir erzählt. Sie hat es für unwichtig gehalten, weil du dich immer zu viel sorgst. Weil auch sie keine Ahnung hatte. Weil seit Jahrhunderten niemand mehr das Flüstern gehört hat. Jasov, deine Sorgen waren völlig berechtigt! Magier, die das Flüstern wie eine Stimme hören … Du solltest nicht hier sein.«
»Was?«, erwiderte Jasov nun vollends verwirrt.
»Ich habe einen alten Freund kontaktiert.« Artur sah zu dem Brief. »Natürlich war er bereits im Bilde, doch ich konnte ihn davon überzeugen, dass du mehr Hilfe brauchst, als … Also am besten liest du das verdammte Ding jetzt endlich.«
Jasov folgte seinem Deuten, blickte auf den Brief und löste die um den Stoff der Bettdecke verkrampften Hände. Zitternd griff er zu dem dicken Umschlag. Ein schwarzes Siegel mit silberner Verzierung funkelte schwach im Licht der Deckenlampe. »Das ist …« Jasov keuchte erschrocken auf und ließ den Brief wieder los.
»Vom Schloss«, beendete Artur den Satz für ihn.
Das Wappen des Kraterlandes zeigte einen knöchernen Drachen mit aufgerissenem Mund und erhobenen Klauen. Oftmals wurde er thronend über den Toten abgebildet, doch das Amtszeichen des Briefes hatte nur Platz für die groben Umrisse.
»Öffne ihn«, bat Artur und klang nun wieder deutlich sanfter.
Jasov traute sich sogar, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Da lag ein gütiges Lächeln auf den Lippen des Mannes. Die Wunden in dem Gesicht mit den warm leuchtenden Augen waren tiefrot unterlaufen, aber er sah schon viel besser aus als gestern.
»Es geht mir gut.« Offenbar konnte er Jasovs Blick mühelos deuten. »Lies den Brief.«
»… deine Talente zu fördern und dir die Möglichkeit zu geben, mit der Zauberei dem Reich zu dienen«, las Jasov erneut vor und holte ruckhaft Luft. »Ich … Ich soll dienen.« Seine Stimme schwankte.
»Das ist deine einzige Möglichkeit, Jasov. Du musst fort von hier. Du kannst nicht bleiben. Sie werden es nicht verstehen. Niemand hier wird das. Und auch du wirst es nicht verwinden, wenn du …«, redete Artur dringlich auf ihn ein und brach dann ab.
»Nein«, hauchte Jasov überfordert. Zum Schloss berufen, weil er eines der größten, magischen Unglücke der letzten Jahrhunderte verursacht hatte? Um ihn zu fördern? »Das ist Unsinn!« Sie konnten ihn einsperren, verbannen, wie es üblich war … aber fördern? Zurück war die Übelkeit und Jasov schüttelte es.
Artur seufzte schwer. »Davon hast du doch immer geträumt.«
»Nicht so!«, rief Jasov und musste an sich halten, um sich nicht zu übergeben.
»Das Schloss verschlingt alle, die es betreten. Wenn sie erst ihre Geheimnisse mit dir geteilt haben, gibt es kein Zurück. Du brauchst eine andere Welt, Jasov, und … vielleicht braucht sie auch dich. Der Großverzauberer sucht einen Nachfolger.«
»Ich …«, krächzte Jasov und starrte wieder verzweifelt auf die schnörkeligen Zeilen des Briefes. Kein Hauch eines Vorwurfs. Nur das Bedauern, sein Talent nicht früher entdeckt und geschult zu haben. Meister Marberd, Großverzauberer des Landes, bezeichnete Jasov sogar als Opfer. »Der Großverzauberer«, wisperte Jasov ungläubig. Seine Unterschrift in silberner Tinte leuchtete auf dem Pergament wie ein Hoffnungsschimmer. Und darunter, in schwarzer Schönschrift, formten Buchstaben die Signatur des Lords. Jasovs Zähne begannen zu klappern.
»Du wirst auf das Siegel Draguls schwören, damit wirst du zum Diener des Reiches«, erklärte Artur mit fester Stimme. Im Kraterland diente man von Geburt an nur der Gesellschaft. Und es stand einem jeden Menschen frei, diese zu verlassen, wenn gewünscht. Dem Reich, vielmehr dem Lord, musste man sich bewusst verpflichten. »Es mag dir dadurch Freiheit verloren gehen, aber der Eid schmiedet auch ein Band der gegenseitigen Verantwortung. Das wird dich auffangen«, versicherte Artur. »Wie einst Lord Dragul das Reich. Unsere Geschichte lebt von der Hingabe und der Hilfe der Drachen. Und das wolltest du doch immer, oder?«
Jasov schnaubte ungläubig. »Du glaubst auch, du weißt genau, was du sagen musst.«
Artur lächelte breit. »Ja, das tue ich.«
Drachen. Jasov stöhnte verzweifelt. Diese Kinderträumereien, Freund von fliegenden, feuerspeienden Echsen zu sein, an ihrer Seite zu zaubern, erschien Jasov mit einem Mal unendlich lächerlich. Wie hatte er verdient, dass sie nun wahr werden sollten? Nach allem, was er getan hatte? Und obendrein … dem Reich dienen? Das hatte er schon einmal versucht, nur hatte das Heer ihn nicht haben wollen. Er war zu dünn, zu blass, zu kränklich, zu nervös. Damit war seine letzte Möglichkeit, endlich die Welt des Schlosses zu betreten, zerplatzt. Bis heute.
»Ich weiß nicht«, begann er leise.
»Deine Fähigkeiten werden, wenn gut geschult, vielleicht Tausende Leben retten. Die Verantwortung für deine Macht zu übernehmen, ist das Mindeste, was du tun kannst.«
Jasov holte Luft, um etwas zu erwidern, aber der Klang von Verantwortung hallte plötzlich in seinem Kopf und er nickte langsam. Aber ob er wirklich Fähigkeiten besaß, die dienlich waren?
»Junge! Würdest du einem Kind die Schuld geben, wenn es gerade erst entdeckt, wie stark es ist, weil es …«, Artur dachte kurz nach. »Weil es jemanden schubst und der dann wirklich fällt?«
»Ein dünner Vergleich«, flüsterte Jasov und sah, wie Artur verhalten lächelte.
»Vielleicht. Aber in den Augen der Magiekundigen, der Drachen und der Weisen bist du noch ein Kind. Die Jungen brauchen Führung und das ist die Verantwortung der Alten.« Artur klang schon fast väterlich.
»Wieso tust du das alles für mich?«, brach es aus Jasov heraus. »Wieso … wieso hast du mehr Verständnis für mich als ich selbst?« Arturs mitleidiger Blick kam ihm noch immer falsch vor. Er war nicht sein Vater, Jasov hatte nie einen gehabt. Er hatte eine Mutter, aber sie war nicht hier. Nicht an seiner Seite. Ein Beben ging durch seinen Körper. »Ich bin ganz allein.«
»Bist du nicht«, sagte Artur.
»Wieso?«, forderte Jasov seine Antwort.
»Alles für unsere Gruppe, für die Staffel.« Aus dem weichen Lächeln wurde ein bitterer Ausdruck, sogar seine Augen schienen sich zu verdunkeln. »Wir alle machen Fehler. Du bist herzensgut, Jasov. Ich will nicht, dass dich das auffrisst.«
»Fehler …«, flüsterte Jasov und verstand sofort. »U-und … Was für einen hast du gemacht?«
Artur senkte den Blick und seufzte. Er griff zur Bettdecke und strich sie gedankenverloren glatt. »Einst war ich Teil der Geheimnisse, nach denen du dich so sehnst. Ein Paladinanwärter.« Kurz zuckte ein verschmitztes Schmunzeln über seine Lippen. »Hätte ich dir das früher gesagt, wärst du vermutlich explodiert vor Wissensdurst.«
»Ein Paladin! Ein … ein magischer Ritter«, murmelte Jasov ehrfürchtig und vernahm tatsächlich das Ziehen perfider Neugierde in der Brust. Sie würde ihn wohl nie verlassen. »Hast du am Schloss gedient?«
»Ich war kurz davor, vereidigt zu werden, ja. Meine magischen Fähigkeiten haben dafür gereicht, ich meine, sieh mich an.« Er breitete vorsichtig die Arme aus, zuckte jedoch unter Schmerzen zusammen. »Ich lebe noch, auch wenn der Schildzauber mein Bein leider nicht retten konnte. Du hast das deutlich besser hinbekommen.«
Jasovs Blick glitt über die Verbände des Mannes. Dass er selbst unverletzt geblieben war, kam ihm vor wie ein Wunder. Aber genau das war es, weshalb sie ihn zum Schloss riefen. Die Magie in Jasov war mehr als ein Ohrensummen, sie war zu einer Stimme herangewachsen, verstand ihn, hatte ihn wie selbstverständlich den Kristall sprengen lassen und vor der Detonation beschützt.
»Es gab da diesen Einsatz«, fuhr Artur fort. »Nur eine Übung, doch die Grenzen, du weißt ja. In Brarche brodelt immer der Krieg, darauf waren wir nicht vorbereitet. Ich bin geflohen, dabei hätte ich vielleicht … Nun, das werde ich niemals mit Sicherheit wissen.« Das schwere Ächzen des Mannes ging Jasov durch Mark und Bein. Artur wirkte mit einem Mal wesentlich älter. »Ich habe meine Gruppe in Stich gelassen, weil ich nicht an meine Fähigkeiten geglaubt habe. Irgendwann konnte ich nicht mehr schlafen und habe mich selbst gemeldet.«
»Aber das ist doch ganz anders als …«
»Jasov. Ich rede nicht von dir, ich rede von mir. Ich habe mir geschworen, niemanden mehr zurückzulassen. Aber dir kann ich nur diese Chance schenken. Nimm sie an. Geh zum Schloss. Lerne, diesen Dingen gewachsen zu sein, damit so etwas nie wieder geschieht.« Der altbekannte Elan kehrte in Arturs Stimme zurück. »Du wirst erst wieder ruhig schlafen können, wenn du Verantwortung übernimmst. Und das mit Taten, nicht mit Verzweifeln. Glaub mir.«
»I-ich …«, stotterte Jasov überwältigt.
»Versprich es mir!«, sagte Artur eindringlich und Jasov nickte sofort. »Gut. Dann geh zum Schloss. Geh und schau nicht zurück.«
Funken stoben empor, magische Blitze zischten durch die Luft; ein Farbenspiel tauchte den Horizont in Regenbogen. Neugierig hob Jasov den Kopf. Ein blaues Glühen erstrahlte hoch über ihm und verschwand mit einem Fauchen.
»Feuerwerk«, flüsterte er aufgeregt.
Nur noch wenige Stufen trennten Jasov vom Festplatz. Der Klang von Musik, Stimmen und Gelächter nahm zu. Angetrieben von dem Lärm des Trubels, setzte er tapfer einen Fuß vor den anderen. Der Rucksack über seiner Schulter war über die Reise unendlich schwer geworden. Jasov sehnte sich nach dem Ende der langen Treppe. Auf diesen Moment fieberte er seit Tagen hin und Ungeduld kribbelte in seinem Nacken.
Gleich würde er das letzte Plateau der Stadt erreichen, die letzte Etappe, bevor das Schloss ihn verschluckte, wie Artur es beschrieben hatte. Bei diesem Gedanken beschleunigten sich Jasovs Schritte.
Mit jeder weiteren Stufe tauchten mehr Wimpel im Blaugrau des späten Abends auf. Zeltspitzen und Banner lugten hervor, reckten sich in alle Richtungen und ragten über die Treppenstufen. Jasov streckte sich, um das Emblem auf den Fahnen zu betrachten. Das Wappen des Reiches. Ein silberner Drache in aufrechter Pose glühte im schwindenden Licht. Er blickte grimmig aus braunen Augen in die Ferne, das Maul weit aufgerissen – es war das Symbol des Kraterlandes und zeigte Lord Dragul, der einst die Menschen von einer großen Plage befreit, ihnen Wohlstand und Magie geschenkt hatte. War es das, was Jasov nun erlebte? Wohlstand? Mit welchem Recht, hallte erneut die Schuld durch seine Gedanken und hinterließ ein unangenehmes Brennen.
Die Lehnsleute schworen Lord Dragul Treue über den Tod hinaus – was auch immer das bedeuten mochte. Aber um seine Schuld zu begleichen, war er dazu mehr als bereit, wenn doch …
Jasov trat ins Leere und schwankte kurz. Er hatte die letzte Stufe passiert und blinzelte überrascht gegen die geballte Herrlichkeit des Marktes an. Goldgelbe Stoffe und feuerrote Zelte leuchteten ihm entgegen – das Bild eines Festes, doch die Konturen verschwammen vor seinen Augen.
Erschöpft beugte er sich vor und rang angestrengt nach Luft. Fast hatte er es geschafft. Eine unvorstellbare Strecke hatte er bereits absolviert; mehr Schritte, als er hatte zählen können, und wenn er gleich erneut den Kopf hob, dann würde sich sein Ziel in voller Pracht offenbaren: Schloss Zwielicht.
Er erhob sich und wandte Markt und Schlossberg den Rücken zu, um ein letztes Mal auf die Stadt hinter sich zu blicken. Im warmen Licht des späten Abends glühten Fachwerkbauten, Villen, Kornspeicher und Türme in einem goldenen Ton, der den Reichtum der Stadt Asche untermalte. Sie war ein Kunstwerk, mit ihren Kanälen, Parkanlagen und verschlungenen Mauern. Und wohin man hier vom obersten Plateau aus auch blickte, erfüllte Asche die Welt bis zum Horizont. Zwischen den Wolken glitzerten Luftschiffe und in den künstlichen Flüssen dampfte es aus den Schornsteinen der Frachter.