Böse Blicke - Timm Maximilian Hirscher - E-Book

Böse Blicke E-Book

Timm Maximilian Hirscher

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Beschreibung

Ein alter Bankier stürzt acht Stockwerke in die Tiefe. Alles spricht für einen Selbstmord. Polizeihauptkommissar Julius Maiert, der vor der Pensionierung steht, hat eigentlich keinen Zweifel. Aber der Selbstmord und die frivole junge Witwe werfen den sonst so soliden Hauptkommissar aus der Bahn. Es kommt zu einer Katastrophe, und die Mitarbeiter Maierts stehen vor einem Rätsel. Neben dem Kriminalkurzroman "Böse Blicke" enthält das Buch noch zwei Nachkriegsgeschichten: "Hitlerjunge Ado Parzival Rhein" und "Die amerikanische Freundin".

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Der Autor, Jahrgang 1944, war u.A. an einer Universität in Neapel Lektor und am dortigen Goetheinstitut Lehrer sowie drei Jahrzehnte Nachrichtenredakteur, darunter sieben Jahre Korrespondent in Rom. In den vergangenen Jahren erschienen von ihm „Tango Tenebrista. Ein Schmöker zum dramatischen Helldunkel von Tango, Argentino, Sex & Crime“, der Roman „Tango up & down“, „Tödliches Tangotreiben. Die wahre Geschichte der ‘Freiburger Vampirmorde‘“ und „Neapel sehen und sterben. Prosa und Posse“.

Inhalt

Böse Blicke

Hitlerjunge Ado Parzival Rhein

Die amerikanische Freundin

Böse Blicke

Nachspiel (1) als Vorspiel

Die Witwe des Hauptkommissars Julius Maiert kratzte sanft mit dem Nagel ihres Zeigefingers über den Rücken des jungen Mannes, der neben ihr eingeschlafen war. Ungewohnt war die Stille im Bett: Ihr Ehemann hatte geschnarcht. Die vergangenen Jahre, Maria Maiert schienen es Jahrzehnte, hatte der Kriminalhauptkommissar nicht viel mehr getan im Bett. Hingegeben hatte er sich nur der Arbeit. Maria sog die Luft ein und roch den Mann, den sie zuvor ausgiebig geschmeckt hatte, witterte ihn genussvoll. Bei ihrem Pfeife rauchenden Mann hatte nur Tabak in der Luft gelegen.

So eng war Maria mit dem jungen Mann zum ersten Mal zusammen. Er dachte wohl, er müsse sie trösten über den Tod Jules, ging es ihr durch den Kopf. Zwar hatte er sie seit langem schon verehrt, jetzt aber hatte er sie geliebt. Ach was: sexuell befriedigt. Eines Tages, früher oder später, würde er nicht mehr neben ihr liegen. Er war jung, sie war alt. Sie machte sich keine Illusionen.

Im Schlafzimmer brannte nur ein Nachttischlämpchen, dessen kleine Lichtquelle die Dunkelheit erst richtig sichtbar machte. Maria strich im Halbdunkel dem Schlafenden übers Haar, dann drehte sie sich zur Bettkante, stand auf und warf ihren Morgenmantel über. Es war weit nach Mitternacht. Sie zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu und ging ins Bad, wo sie sich die Haare bürstete. Dabei entdeckte sie an ihrem Hals einen Knutschfleck. Sie lächelte und versuchte, sich an den vorausgegangenen zu erinnern. Dazu fiel ihr aber nichts ein.

Lag das so viele Jahre zurück? Wie viele solche Flecke würde es noch geben? Auf dem Weg zur Küche schaute sie durch den Türspalt auf das Bett, wo ihr Junge friedlich schlief.

Maria füllte sich in der Küche den Rest aus der Weinflasche in eines der beiden Gläser auf dem Küchentisch und trank einen Schluck. Sie steckte sich eine Zigarette an, hielt jedoch nach dem ersten Zug inne und drückte sie dann im Aschenbecher aus. Glimmstängel in den Mund zu stecken, das war nun nicht mehr nötig. Auch würde die Wohnung zur rauchfreien Zone erklärt.

Maria stand auf, öffnete den Kühlschrank und griff aus dem Tiefkühlfach eine Schachtel mit der Aufschrift „Bio-Spinat“, öffnete sie und entnahm ihr einen dicken Briefumschlag. Gut versteckt! Sie war nicht umsonst die Frau eines Kriminalhauptkommissars. Mehrere Briefbögen steckten in dem Umschlag. Sie las die Seiten, obwohl sie den Inhalt inzwischen fast auswendig kannte.

Erster Teil

1.

Zwei Wochen vor seinem gewaltsamen Tod saß Kriminalhauptkommissar Julius Maiert im Vernehmungsraum einem sympathisch aussehenden Mann gegenüber, der offensichtlich zwei Menschen umgebracht hatte. Der mutmaßliche Täter Kevin Stopf starrte vor sich hin, vielleicht auf seine tadellos manikürten Fingernägel, und schwieg. In seinem Beruf als Gymnasiallehrer konnte er sonst stundenlang reden; jetzt hatte es ihm offenbar die Sprache verschlagen. Oder er wollte einfach nicht reden. Er erschien dem Hauptkommissar nicht verstockt, vielleicht einfach sprachlos gegenüber seiner eigenen Untat. Was nachvollziehbar war. Man schlachtet nicht alle Tage Ehefrau und Tochter ab.

Maiert stopfte behutsam seine Pfeife. Er hatte zuvor gefragt, ob es Herrn Stopf störe, wenn er rauche. Der schüttelte den Kopf. In der Schule hatte er den Jugendlichen die Gefahren des Rauchens für die Gesundheit eindringlich geschildert. Außerdem sei es unhygienisch, und gelbe Zähne und Finger seien hässlich. Der Mann schaute verstohlen auf den Hauptkommissar, doch blendete ihn die Lampe auf dem Bürotisch etwas, so dass er nicht feststellen konnte, wie weit nun Maiert vom Tabak gezeichnet war. Doch was ging es ihn eigentlich an, ob der Kriminalbeamte rauchte oder nicht. Stopf hatte andere Probleme.

Maiert steckte seine Pfeife an, sog bedächtig den Rauch ein und blies ihn wieder aus, allerdings zur Seite, als ahnte er, dass der Lehrer gegen das Rauchen war. Nach ein paar langen Zügen, bei denen Maiert den Rauch kühl über die Zunge gurgeln ließ, begann er:

„Herr Stopf, Sie wollen nicht sprechen. Das ist Ihr gutes Recht. Also spreche ich und versuche die Sachlage so darzulegen, wie sie sich mir darstellt. Wenn Sie wollen, können Sie ja bestätigend nicken oder verneinend den Kopf schütteln. Aber es ist natürlich auch Ihr gutes Recht, weder das eine noch das andere zu tun. Wie ich schon sagte, können Sie auch einen Rechtsanwalt hinzuziehen. Nein? Danke für Ihr Zeichen.“

Maiert sog an seiner Pfeife.

„Unseren Ermittlungen zufolge verlassen Sie gegen 13.30 Uhr Ihre Schule und begeben sich zu Fuß nach Hause. Zehn Minuten später könnten Sie dort eingetroffen sein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Was dann genau passiert, wissen wir nicht. Sie wollen es mir nicht erzählen? Nein? Nein. Schade, es ist so frustrierend, das Wie und Warum nicht zu wissen. Nun, Sie entscheiden darüber, ob Sie etwas aussagen oder nicht.

Kurz vor 15 Uhr kommt ihre Schwiegermutter. Sie hat, wie sie aussagte, einen Hausschlüssel, weil sie oft ihr Enkelkind betreut. Sie tritt ein und sieht Sie im Esszimmer am gedeckten Tisch sitzen; Sie haben das Essen aber nicht angerührt, wie wir feststellten. Wie Ihre Schwiegermutter aussagte, erhält sie keine Antwort auf ihre Fragen, was los sei und wo Frau und Kind seien. Ihre Schwiegermutter ist beunruhigt, ruft nach den beiden, erhält keine Antwort und geht in die Küche. Dort sieht sie Ihre Frau in einer Blutlache auf dem Boden liegen. Nach diesem ersten Schock eilt sie durch das Haus und findet Ihr Enkelkind, also Ihre Tochter, tot im Badezimmer.“

Maiert schwieg eine Weile, sog an seiner Pfeife.

„Ihre Schwiegermutter bricht, wie sie berichtete, zusammen und kann erst nach einer geraumen Zeit die Polizei alarmieren. Eine Polizeistreife kommt, und später treffe dann ich mit meiner Kollegin ein“, sagte Maiert und nickte zu Kommissarin Margarete Seiffert an seiner Seite hinüber. Er sog erneut an seiner Pfeife.

„Das also wissen wir. Die Spurensicherung und der Befund des Gerichtsmediziners haben ergeben, dass Ihre Frau und Ihre Tochter, Herr Stopf, mit einem Küchenmesser erstochen wurden. Beide Opfer weisen zahlreiche Stichwunden auf. Auf dem Griff des Messers, das auf dem Boden im Badezimmer liegt, findet man Ihre Fingerabdrücke. An Ihren Händen und an Kleidungsstücken von Ihnen wird Blut Ihrer Frau und Ihrer Tochter festgestellt. Als möglicher Zeitpunkt des Todes der beiden gilt eine Zeitspanne von 14 bis 15.00 Uhr. Spuren weiterer Personen, außer denen Ihrer Angehörigen, werden nicht gefunden. Herr Stopf,“ sagte Maiert, „alles deutet darauf hin, dass Sie die beiden getötet haben. Haben Sie das?“

Der Lehrer hatte mit gesenktem Kopf stumm da gesessen, unbeweglich, kaum schien er zu wagen zu atmen. Eine lange Stille folgte. Schließlich nickte Stopf mit dem Kopf.

„Sie gestehen also die Tat?“

Wieder nickte er. Maiert saß da und schwieg. Dann zündete er seine inzwischen erloschene Pfeife wieder an und sagte nach einigen Zügen:

„Gut. Die Frage, die uns jetzt noch interessiert, ist: Warum? Gab es einen konkreten Anlass, Ihre Frau und Ihre Tochter zu töten? Hatten Sie Streit?, Standen Sie unter außergewöhnlichem Stress?“

Stopf schwieg weiter, saß regungslos auf der anderen Seite des Schreibtischs. Maiert stand auf und schritt im Zimmer auf und ab. Seine junge Kollegin, die erst seit kurzem mit ihm zusammenarbeitete, schaute von ihm zum Lehrer und von dem wieder auf den Hauptkommissar. Dieser blieb neben Stopf stehen und sagte leise:

„Sie geben zu, die Tat begangen zu haben, aber Sie geben uns keine Erklärung dafür. In der Schule lobt Sie Ihr Direktor für Ihre aufopfernde Arbeit. Kollegen schildern Sie als hilfsbereit und überlegt. Von besonderem Stress mit den Schülern oder deren Eltern ist nichts bekannt. Ihre Schwiegermutter meint, dass Sie ein guter Ehemann, guter Vater gewesen seien, allenfalls etwas pedantisch. Wirtschaftliche Probleme haben Sie, so weit wir das nachprüfen konnten, nicht. Niemand hätte Ihnen eine solche Tat zugetraut, keiner kann es fassen. Himmel, Herr Stopf, helfen Sie uns, Ihre Tat zu verstehen! Wie konnte es dazu kommen?“

Doch Stopf schwieg, schaute vor sich hin, betrachtete vielleicht seine tadellos manikürten Fingernägel. Vielleicht wusste er einfach nichts. Er blickte nicht auf. Er schien in sich zu blicken - in einen Abgrund.

Maiert seufzte und fragte ihn, ob er bereit sei, ein Tatgeständnis zu unterschreiben. Stopf nickte.

„Gut. Meine Kollegin schreibt gleich ein Protokoll dieser Vernehmung mit Ihrem Geständnis.“

Er ließ einen uniformierten Beamten kommen und Stopf abführen. Maiert sog an seiner Pfeife. Der Fall schien gelöst, doch eine Lösung nicht in Sicht.

2.

„Ihre Ruhe und Gelassenheit möchte ich haben“, sagte Margarete Seiffert. „Und so menschenfreundlich mit einem Kerl umzugehen, der seine Frau und seine Tochter umgebracht hat! Was für ein Monster! Das Böse, das Böse!“ Maiert sah sie an und fragte nachdenklich:

„Das Böse? Ich weiß nicht, was das ist. Ich weiß nur: Wir alle, oder die meisten von uns, hegen immer wieder böse Gedanken. Und manche von uns verüben böse Taten. Was unseren mutmaßlichen Täter betrifft...“

„Mutmaßlich?! Aber Chef, alles spricht gegen ihn. Und jetzt noch sein Geständnis. “

„Er ist aber noch nicht verurteilt.“

„Natürlich nicht. Aber zweifeln Sie daran, dass er es wird?“

„Weiß ich nicht. Die psychologischen Gutachter werden das Wort haben. Ich zweifle nicht daran, dass er der Täter ist. Aber ich bin nicht sein Richter. Ich spreche keinen Schuldspruch aus.“

„Nein, das tun Sie nicht, das tun wir nicht. Aber seine Schuld ist doch offenkundig.“

„Seine Untat ist offenkundig. Das alles ist jetzt mehr oder minder aktenkundig. Aber die Schuldfrage?“ Maiert hielt einen Moment inne. „Die Schuldfrage. Liebe Kollegin, was wissen Sie von meinen Taten oder Untaten? Was weiß ich von den Ihren? Nur eines ist offenkundig: Unsere Untaten sind nicht aktenkundig. Der uns betreffende Schuldspruch steht noch aus.“

Maiert sah der Kollegin den Unmut ins Gesicht geschrieben.

„Alles verstehen heißt nicht, alles billigen“, sagte er. „Selbst wenn Sachverständige unseren Täter als unzurechnungsfähig bezeichnen sollten, ist eine solche Bluttat natürlich nie zu rechtfertigen, nie zu entschuldigen. Aber der Mensch, der Mensch! Wissen Sie, Frau Seiffert, ich versuche mich selbst in diesem Täter, diesem Monster, wie Sie sagen, zu erkennen. Hätte nicht ein jeder von uns schon einmal am liebsten einem anderen oder einer anderen den Hals umgedreht? Selbst dem Liebsten oder der Liebsten.“

„Aber der da hat‘s gemacht“, trumpfte sie auf.

„Ja, der da hat‘s gemacht.“

Später tauschte sich Margarete Seiffert mit ihrem Kollegen Fritz Breuern, der schon viele Jahre mit dem Hauptkommissar zusammenarbeitete, über das Gespräch mit Maiert aus.

Da habe er ja sehr viel Geduld mit ihr gehabt, meinte Fritz, und habe gegenüber der neuen Mitarbeiterin im Team richtig väterlich-pädagogisch gehandelt.

„Spotte nur! Er war etwas schulmeisterlich. Ich weiß natürlich, dass wir die Ermittler und nicht die Richter sind. Aber finstere Gedanken hegen und böse Taten verüben, das sind zwei Paar Stiefel. Dabei kam mir das doch recht akademisch vor. Ich mag zwar auch was auf dem Kerbholz haben...“

„Na, erzähl mal!“, warf Fritz ein.

„... ich vielleicht schon, aber der Chef? Er wäre der Letzte, dem ich so etwas zutraute. Er scheint mir eine Seele von Mensch. Ich frage mich nur, warum er Kriminalbeamter geworden ist.“

„Vielleicht nur, weil sein Vater es auch war. Er war hier Hauptkommissar. Hör zu, Mäggi! Ich denke ja wie du. Ich habe nie behauptet oder je gedacht, dass der Chef zu einer Untat fähig wäre.“

„Na, da sind wir uns ja einig. Aber mit dir ist das was Anderes.“

„Ah, mir traust du wohl einiges zu?“

„Alles,“ sagte Mäggi. „Dir traue ich alles zu. Du bist ein Mann!“

3.

Später schaute Maiert vom Fenster seines Büros auf die Kastanienbäume im Hof. Bei jedem Windstoß flatterten Blätter zur Erde. Er rauchte seine Pfeife und gab sich der Wehmut hin. Das würde sein letzter Herbst im Dienst sein. Dann die Pensionierung und dann nur noch Gartenarbeit, zum Beispiel Laub rechen. Das stand an diesem Nachmittag an. Er hatte Maria versprochen, das viele Laub im Schrebergarten mit ihrer Hilfe auf den Komposthaufen zu bringen. In seinem, von seinem Vater geerbten Schrebergarten, wie seine Frau immer betonte. Auch musste die Hütte im Garten winterfest gemacht werden, nachdem es an einer Stelle des Dachs hereingeregnet hatte.

Maiert schaute auf den leeren Schreibtisch. Es gab wirklich nichts zu tun. Auch musste die Zahl der Überstunden endlich etwas abgebaut werden. Er lockerte die Asche im Pfeifenkopf und leerte den Inhalt in den Aschenbecher. Den Mantel über dem Arm, trat er in den anliegenden Raum zu seinen Mitarbeitern, die Akten aufarbeiteten. Schon wollte er „Tschüss, Jungs“ sagen, doch fiel ihm rechtzeitig ein, dass es jetzt ja auch eine Kommissarin gab. Er grüßte sie und nickte Fritz zu. Dieser war regelmäßig Gast bei dem kinderlosen Ehepaar Maiert und auch heute zum Abendessen eingeladen. Bei der Kriminalpolizei sprach man schon lange vom „Adoptivsohn“ des Hauptkommissars.

Das Telefon klingelte. Fritz nahm den Hörer ab, machte sich eine Notiz und antwortete, sie würden gleich kommen. Zu Maiert und seiner Kollegin sagte er dann, dass es offenbar einen Selbstmord gegeben habe. Einen Sprung aus dem achten Stock.

„Na, dann macht mal, Jungs, ich meine, macht mal!“, sagte Maiert. Gemeinsam gingen sie zum Aufzug und trennten sich im Hof. Er hörte noch, wie Fritz zu Mäggi sagte, man müsse in die Heinestraße. Maiert stutzte, stand neben seinem Wagen, sah die beiden Kommissare wegfahren und grübelte. Heinestraße? Heinestraße?

Er fuhr los. Es war noch früh am Nachmittag, wenig Verkehr, so dass er zur Vorstadt nicht mehr als eine Viertelstunde brauchen würde. Heinestraße! Maiert trat auf die Bremse, fast hätte er eine Radfahrerin gerammt, die von rechts kam. Auch die Frau hatte eine Vollbremsung gemacht und wäre beinahe gestürzt. Er schnallte sich los, öffnete die Tür, trat zu ihr und entschuldigte sich. Es war nichts passiert. Das nächste Mal werde sie die Polizei rufen, schrie die Frau im Weiterfahren. Dass die schon hier sei, diese Erklärung Maierts bekam sie gar nicht mehr mit. Hinter ihm hupte es. Ein Autofahrer machte eine fragende Geste. Entschuldigend hob er die Hand, setzte sich wieder hinter das Steuer und fuhr weiter.

Später beschwerte sich Maria im Garten, dass Jule so unkonzentriert bei der Arbeit sei. Die Hälfte der Blätter bleibe liegen. Sie habe keine Lust, hinter ihm herzuräumen. Was denn los sei. Er seufzte und sagte, es habe offenbar einen Selbstmord gegeben – in der Heinestraße. Und was ihn daran so beschäftige, war die Frage seiner Frau.

„Heinestraße, da ist doch die Bank, und da wohnt Grün.“

„Himmel, Jule, in der Straße wohnen Hunderte von Menschen! Dass der Grün dort wohnt, besagt doch gar nichts.“ Da schrillte Maierts Handy. Er hörte es, obwohl es drüben in seinem Mantel im Gartenhäuschen steckte; er hörte es, weil er die ganze Zeit schon gelauscht hatte. Er ging zur Hütte, nahm das Handy ans Ohr und vernahm die Stimme von Fritz. „Hallo, Chef. Es ist was Ernstes. Der Tote ist ein bekannter Bankier. Grün, Salomon Grün.“

Maiert zuckte zusammen. Ob es sich denn wirklich um einem Selbstmord handle.

„Ganz offensichtlich“, antwortete Fritz. Grüns Frau und die Haushälterin seien Zeugen. Aber die Frau, die Ehefrau, benehme sich schon seltsam. Was das denn nun heißen solle, wollte Maiert wissen.

„Na ja, nicht so, wie man es von einer frisch verwitweten Frau erwartet. Mehr eine lustige oder besser eine frivole Witwe. Aber egal. Der Tote scheint in Finanzkreisen eine bekannte Persönlichkeit gewesen zu sein. Die ersten Presseleute sind schon da. Das wird einen Medienrummel geben.“

Diesen liebte Fritz so wenig wie Maiert, der ankündigte, er mache sich gleich auf den Weg. Fritz solle Bierlein zum Tatort bestellen; der Polizeisprecher müsse ihnen dann die Journalisten vom Hals halten.

Maria sah ihrem Mann an, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen war. Als er ihr den Tod Grüns mitteilte, war ihr klar, dass das kein Fall sein würde wie all die anderen.

Er fahre sofort hin, sagte Maiert, ob er sie in die Stadt mitnehmen solle. Nein, nein, sie wolle weitermachen. Das lenke sie ab. Er werde ja vermutlich eh spät nach Hause kommen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sagte:

„Jule, nimm es nicht..., ich meine…, ach, pass auf dich auf!“ Sie sah, wie ihr Mann ins Auto stieg und davonfuhr, betrachtete lange das Gartenhäuschen und nahm schließlich das Laubrechen wieder auf. Später hielt sie einmal inne und dachte: Ich sehne mich nach der Zeit zurück, in der der Tango heiter war. Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich, wie ihr diese Worte in den Sinn geraten waren. Es waren Jahrzehnte her, dass sie das letzte Mal Tango getanzt hatte. Und Tango und heiter, das passte ja auch nicht so richtig zusammen.

4.

Maiert bog in die Heinestraße ein. Ein Stück weiter vorn war die linke Straßenseite abgesperrt. Blaulicht, uniformierte Polizisten, eine Menge Neugieriger. Einer der Beamten wies den Hauptkommissar in eine Parklücke ein. Kaum war er ausgestiegen, trat Fritz zu ihm und sagte, dass die Leiche noch drüben liege. Man habe auf ihn gewartet. Maier ging zu dem zugedeckten Leichnam und fragte den daneben stehenden Gerichtsmediziner Dr. Schmitt, was er dazu sagen könne.

„Da gibt es wenig zu sagen. Wer vom achten Stock auf den Bürgersteig knallt… Auf den ersten Blick ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Da müssen Sie schon den Obduktionsbericht abwarten.“

Maiert nickte und sagte, man könne dann die Leiche wegbringen.

In der Zwischenzeit hatte Fritz jedoch die Decke angehoben. Es war kein schöner Anblick. Maiert, in vielen Dienstjahren eigentlich genug abgehärtet, drehte trotzdem schnell den Kopf zur Seite. So hatte er sich eine Begegnung mit Grün nicht vorgestellt. Im Grunde hatte er sich ein Treffen mit dem Bankier bis dahin nie vorgestellt. Für ihn war Grün durch die Erzählung seines Vaters mehr eine Legende als eine reale Gestalt gewesen.

Maiert ging mit Fritz ein paar Schritte zur Seite und sah ihn fragend an.

„Grüns Frau sagte aus, es habe wieder einmal Streit mit ihrem Mann gegeben. Das bestätigte die Haushälterin, eine Italienerin. Dann ist ihr Mann, sagte die Grün, auf die Terrasse gegangen, hat einen Stuhl ans Geländer gezogen, ist darauf gestiegen und hinuntergesprungen. Den Sprung hat die Haushälterin vom Küchenfenster aus beobachtet.“

Maiert blickte Fritz ungläubig an und fragte, was denn Grüns Frau gemacht habe bei der ganzen Sache.

„Offenbar dagesessen und zugeschaut.“

Maiert schüttelte den Kopf. Ob es sonst noch Zeugen gebe.

„Bisher nur den Portier des Gebäudes. Er ist gerade draußen gestanden und hat eine Zigarette geraucht, als der Körper neben ihm auf den Gehsteig prallte. Der Portier ist ziemlich geschockt. Ein Sanitäter kümmere sich um ihn.“

Maiert fragte nach der Kollegin.

„Die ist oben in der Wohnung und wartet. Nachher will sie die Wohnungen in den Stockwerken darunter abklappern und herausbekommen, ob jemand etwas Sachdienliches weiß. Die Bank ist schon geschlossen. Um die kümmern wir uns dann morgen.“

Die beiden nahmen den Aufzug und fuhren nach oben. Die Wohnung nehme den ganzen Dachstock ein, mit tollem Blick auf die City, sagte Fritz. Schwieg dann, fühlte sich unsicher, da Maiert an diesem Tag anders reagierte als sonst, zögerlicher, fast gehemmt. Dann brach es doch aus Fritz heraus:

„Diese Grün ist ein richtiges Luder! Eiskalt!“

„Dann wollen wir das Luder doch mal näher kennen lernen.“ Neben der angelehnten Wohnungstür stand ein uniformierter Polizist und grüßte den Hauptkommissar. Er nickte ihm zu und trat mit Fritz in den Flur. Dort saß auf einem Stuhl weinend die Haushälterin. Fritz stellte sie als Concetta Esposito vor.

„Commissario, was für eine Tragödie! Aber wie lange muss ich noch hierbleiben? Heute ist Mittwoch, mein freier Nachmittag. Meine Kinder warten zu Hause.“

Maiert sagte, sie müsse leider noch kurz bleiben, da er sie noch sprechen müsse, aber dann könne sie gehen. Wo Frau Grün sei.

„Sie ist im Salon, da links rein. Ich gehe dann in die Küche. Wollen Sie einen Espresso?“

Maiert schüttelte den Kopf, trat zu der Salontür, klopfte und öffnete, ohne auf ein „Herein“ zu warten. Nach ein paar Schritten blieb er plötzlich stehen, so dass Fritz fast auf ihn gestoßen wäre. Maiert blickte auf die Rothaarige, die rechts neben ihm in einem Sessel lümmelte. Er kannte Patrizia Grün nur von Fotos aus Illustrierten, die er im Wartezimmer seines Zahnarztes durchgeblättert hatte. Dort hatte er vor vier oder fünf Jahren von der einmal als Bardame, einmal als Stripperin bezeichneten Frau und ihrer Hochzeit mit dem gut 40 Jahre älteren Bankier Grün gelesen.

Die Witwe rauchte und musterte Maiert von Kopf bis Unterleib. Dann machte sie mit der Hand, die die Zigarette hielt, eine Bewegung und sagte: „Setzen Sie sich doch, meine Herren!“

Ihr gegenüber saß Margarete Seiffert auf einem Sofa, doch machte es nicht den Anschein, dass die beiden Konversation gemacht hätten. Die Kommissarin stand auf und warf ihrem Chef einen genervten Blick zu.

„Hauptkommissar Maiert. Meinen Kollegen, Kommissar Breuern, kennen Sie ja bereits schon.“

Maiert blieb stehen, deutete eine Verbeugung an, die ausgestreckte Hand Frau Grüns übersah er. Seine Kollegin sagte, sie mache sich an die Arbeit, und verließ das Zimmer. Er zögerte, setzte sich dann aber doch auf das Sofa. Fritz blieb stehen.

An der Wand hinter Frau Grün hing ein großformatiges Ölbild mit dem Portrait des Bankiers. Maiert betrachtete es, schwieg, räusperte sich und sagte zu der Frau, dass sie zwar seinen Kollegen schon alles erzählt habe, er es aber mit ihren Worten nochmals hören wolle.

„Wenn es der Wahrheitsfindung dient, Herr Kommissar, eh, Herr Hauptkommissar. Wie Sie wünschen, obwohl es langsam öde wird, immer wieder das Gleiche zu erzählen. Also, wie ich Ihren Kollegen schon sagte: Es hat eine Auseinandersetzung gegeben. Wieder mal. Und warum? Nun, ich bin wieder mal spät nach Hause gekommen, eigentlich früh, heute Morgen nämlich. Nun, ein Wort hat das das andere gegeben. Da hat er gedroht, sich hinunterzustürzen.“

Maiert unterbrach sie und fragte, ob sie durch diese Drohung nicht beunruhigt gewesen sei.

„Ach, Herr Kommissar, eh, Herr Hauptkommissar, wenn man das schon ein Dutzend Mal gehört hat… Nein, ich habe es nicht ernst genommen Warum sollte ich auch? Aber diesmal hat er es doch getan. Überraschenderweise. Hätte ich nie geglaubt, dass er den Mumm dazu hat.“

„Das alles scheint Sie wenig zu berühren.“

„Herr Kommissar, eh, Herr Hauptkommissar, soll ich groß Trauer heucheln? Alle Welt weiß doch, dass ich ihn nur seines Geldes wegen geheiratet habe. Weil er ein bekannter Bankier ist, eh, war. Warum sollte ich ihn auch sonst geheiratet haben? Etwa weil er viele Gedichte zitieren konnte, von diesem Heine oder Heini. Das reicht einem nach dem dritten Mal.“

Maiert starrte sie an. War sie so gefühlsarm, so kaltschnäuzig, oder war alles nur Schau?

„Schildern Sie genauer, was vorgefallen ist, was Ihr Mann, was Sie geredet haben!“

„Himmel, ich kann mich doch an das Geschwätz nicht in allen Einzelheiten erinnern. Wir haben diese Debatten schon x-mal durchgemacht. Einfach ätzend! Ging bei mir zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Aber halt! Jetzt fällt mir doch noch was ein: Mein Mann hat etwas Kurioses gesagt. Er hat plötzlich gesagt: ‘Es ist todsicher.‘ Ich habe nachgefragt, was er damit meint. Er hat wiederholt: ‘Es ist todsicher.‘ Als ich gefragt habe, ob er meint, dass es morgen regnen würde, denn wir hatten kurz vorher auch über das Wetter gestritten, hat er nur gesagt: ‘Es ist todsicher – das ist sicher.‘ Aber was hat er denn damit gemeint? Seinen Sprung etwa? Oder doch das Wetter?“

Maiert stand halb auf, setzte sich wieder und sagte ruhig, allerdings mit großer Anstrengung:

„Frau Grün, Ihr Mann springt in den Tod, und nicht mal ein oder zwei Stunden später, wollen Sie sich nicht mehr daran erinnern können, über was sie davor genau sprachen?“

„Na, Sie sind gut, Herr Kommissar, eh, Hauptkommissar! Was heißt hier ‚nicht wollen‘? Ich bin sicher, dass ich mir seine letzten Worte gemerkt hätte, hätte er mir zuvor gesagt, dass es seine allerletzten Worte sein würden. Aber so ist das Leben. Es ist voller Überraschungen. Finden Sie nicht auch , Herr Kommissar, eh, Herr Hauptkommissar?“

Maiert musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen.

„Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, mir zu sagen, was Sie genau mit Ihrem Mann gesprochen haben, dann erinnern Sie sich vielleicht aber doch etwas genauer, was nach dem Streit passierte“, presste er heraus.

Frau Grün nahm sich eine neue Zigarette aus dem Päckchen vor sich, kaum hatte sie den Rest der vorigen im Aschenbecher ausgedrückt. Sie wartete mit der Zigarette zwischen den Fingern, aber keiner der Gentlemen gab ihr Feuer. Sie zuckte mit den Schultern, zündete sich selbst die Zigarette an und musterte den Hauptkommissar.

„Ich habe gefragt, was genau passiert ist.“

„Ach ja, Herr Kommissar, eh Herr Hauptkommissar. Was hätte ich denn an Ihrer Stelle tun sollen? Auch hinausge