Tödliches Tangotreiben - Timm Maximilian Hirscher - E-Book

Tödliches Tangotreiben E-Book

Timm Maximilian Hirscher

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Beschreibung

Die sogenannten Freiburger Vampirmorde im Zusammenhang mit den Dreharbeiten zum Film „Morbus Tango“ hatten in Medien und Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Noch immer sind die Gewaltverbrechen ungeklärt. Das Zusammentreffen von Filmkomödie und Echttragödie schockiert weiter. Die Regisseurin des wegen der blutigen Vorfälle abgebrochenen Filmprojekts gibt hier das endlich von der Staatsanwaltschaft freigegebene Tagebuch des Drehbuchautors heraus. Er hatte mit seinen Tagebucheinträgen die Dreharbeiten in Freiburg begleitet. Zum besseren Verständnis ist das Originaldrehbuch im Anhang abgedruckt.

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Der Autor war u.A. drei Jahrzehnte Nachrichtenredakteur, darunter sieben Jahre Korrespondent in Rom. 2012 erschien sein Buch „Tango Tenebrista. Ein Schmöker zum dramatischen Helldunkel von Tango Argentino, Sex & Crime“, 2014 der Roman „Tango up & down“.

Inhalt

Einführung

Das Tagebuch

Nachwort

Anhang: Das Originalfilmdrehbuch „Morbus Tango“

Einführung

„Früher war der Tango eine orgiastische Teufelei; heute ist er eine Art zu schreiten.“ 1

Das schrieb der argentinische Dichter Jorge Luis Borges vor bald einem Jahrhundert. Aber vielleicht gibt es ja so etwas wie „ewige Wiederkehr“...

Dass ich jetzt das Buch „Tödliches Tangotreiben“ herausgebe (den sensationsgeileren Titel „Tango für einen Vampir“ oder „Vampir-Tango“ konnte ich dem Verlag ausreden), anstatt dass ich die Filmkomödie „Morbus Tango“ der Öffentlichkeit vorstelle, hat seinen blutigen Grund. Die Medien haben über die Mordfälle und den Abbruch des Filmprojekts ausgiebig berichtet, und ich will mir eine Wiederholung ersparen. Damals blieb die Wahrheit, wie so oft, ziemlich auf der Strecke. Das gewaltsame Ende einiger Menschen ist polizeikundlich. Was die berühmt-berüchtigten sogenannten Freiburger Vampirmorde betrifft, gehen darüber die Berichte und die Meinungen auseinander. Die Leserinnen mögen aus dem vorliegenden Material selbst entscheiden, ob hier das Werk eines „Vampirs“ vorliegt oder einfach das eines kranken Gehirns.

Das hier veröffentlichte Tagebuch, das der Autor während der Dreharbeiten führte, ist jetzt endlich von der Staatsanwaltschaft zur Veröffentlichung freigegeben und kann für interessierte Leserinnen neues Licht auf die traurigen und unheimlichen Vorgänge werfen, die sich während der Dreharbeiten in Freiburg abspielten.

Noch immer kann ich es nicht fassen, dass aus einer Liebeskomödie, die unser Film werden sollte, eine Tragödie wurde. Ich will darüber keine weiteren Worte verlieren. Zum besseren Verständnis nur das:

1. Es war des Autors erstes und leider auch einziges Drehbuch, und er war zum ersten Mal bei Filmarbeiten dabei. Er war neugierig, was da vor sich geht, und ich konnte ihn vor Ort gebrauchen, als sich die Notwendigkeit ergab, einige Szenen zu ändern. Auch war er mir als jemand, der nicht Tango Argentino tanzt, mit Tipps bei den Tanzszenen nützlich. Manche Bemerkungen zur Filmarbeit zeigen, dass der Autor wenig Ahnung vom Filmemachen hatte.

2. Das Tagebuch zur Verfilmung des Drehbuchs „Morbus Tango“, so der Arbeitstitel, ist naturgemäß ein Fragment. Tote beenden keine Tagebücher. Ich habe als Herausgeberin am Ende nur kurz und nüchtern ein paar Angaben für diejenigen hinzugefügt, die den Fall nicht intensiv aus den Medien kennen. Zugleich will ich damit einen Schlusspunkt zu den so abrupt abbrechenden Aufzeichnungen liefern.

3. Das Filmdrehbuch ist im Anhang so abgedruckt, wie es mir der Autor damals übergab. Für die Dreharbeiten wurden einige Szenen geändert, Dialoge teilweise gekürzt und der Auswärtstermin aus Kostengründen von Paris nach Berlin verlegt. Zu diesen Aufnahmen in Berlin kam es dann der Umstände wegen nicht mehr.

Unser Filmprojekt „Morbus Tango“ ist leider ein Torso geblieben. Vielleicht findet sich ja einmal ein Geldgeber, der eine Neuverfilmung des Drehbuchs ermöglicht. Es gibt derzeit Überlegungen mit Verantwortlichen einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt, das bestehende Filmmaterial zu einer Fernsehdokumentation über die tragischen Ereignisse zu verwenden. Doch kann ich jetzt schon sagen: Filmaufnahmen eines „Vampirs“ werden nicht zu sehen sein, wenn es zu diesem Projekt kommen sollte.

Paula Nalec

1 Borges,J.L., Kabbala und Tango, Frankfurt 1991, Fischer Taschenbuch 10578, S.104

Das Tagebuch

Montag, 1. August

Himmlisch diese Rebekka Kant! Dieser Schauspielerin habe ich die Rolle der Peggy wohl unbewusst auf den Leib geschrieben.

Heute war in Freiburg der erste Drehtag zum Film „Morbus Tango“. 2 Alles neu für mich, der ich bisher pubertären Mädchen und Jungs „Werthers Leiden“ näher zu bringen versuchte oder sie im Englischunterricht durch „Animal Farm“ getrieben habe. Von der Schule als frisch gebackener Pensionär direkt zum Film! Natürlich nur als geduldeter Beobachter im Hintergrund, geduldet, weil er vor Jahren während einer von Ärzten verordneten Zwangspause ein Drehbuch geschrieben hat, das tatsächlich jetzt verfilmt wird.

Da stand ich heute Morgen also am Filmset und war fasziniert von Rebekka/Peggy 3. Schade, dass sie nicht 20 Jahre älter ist. Ich hätte mich um sie bemüht. Aber als frischgebackener Senior will ich mich nicht lächerlich machen. Auch habe ich nach 35 Jahren Schuldienst genug von flapsigem jungem Gemüse, das ich neben dem Deutsch- und Englischunterricht auch noch groß ziehen sollte, weil die Eltern offensichtlich als Gärtner und Gärtnerinnen versagt haben. Na ja, Rebekka Kant ist natürlich kein Teenager mehr, aber sie ist jung und lebendig, von einer Schlagfertigkeit und Spitzbübigkeit – eben die ideale Peggy. Bin gespannt wie die Schauspielerin die Doppelbödigkeit ihrer Filmrolle herüberbringt, nachdem Peggy erfahren hat, dass über ihr das Damoklesschwert Aids schwebt.

Dienstag, 2. August

Am gestrigen Abend gab es noch im Tanzsportzentrum in der Markgrafenstraße ein erstes „Tanztreffen“. Da die Sache nicht angekündigt war, fanden wir wie öfters nur ein paar Tangopaare an, die die Trainingsmöglichkeit nutzten. Auch der DJ wusste nichts von dem Besuch der Filmcrew. Regisseurin Paul Nalec und der Produzent Franz Kant, der Ehemann unserer Hauptdarstellerin, luden mich dazu ein, weil ich Tango-Tänzer bin (fortgeschrittener Anfänger).

Von den Schauspielern kamen neben Rebekka noch ihr Filmpartner Heiner Schweiger und Dietlinde Maier, die Peggys Sekretärin Wanda spielt. Auch Kameramann Klaus Tauber war dabei und machte Aufnahmen mit einer kleinen Digitalkamera.

Die drei Schauspieler hatten sich im Vorfeld der Filmarbeiten auf den Tango Argentino vorbereiten sollen. Dietlinde/Wanda, ein paar Jahre jünger als ich, war gleich bereit mit mir zu tanzen. Sie tanzte wunderbar leicht; ich merkte gleich, dass sie keine Anfängerin mehr ist, ja mir sogar einiges voraus hatte an tänzerischer Fähigkeit. Später erzählte sie mir, dass sie schon seit vielen Jahren Tanguera sei.

Dann sollten Rebecca/Peggy und Heinrich/Felix tanzen. Sollten! Es war eine Katastrophe, vielmehr unser Protagonist war eine Katastrophe. Er hatte keine Ahnung vom Tango Argentino, sondern kramte möglicherweise seine Schüler-Tanzschul-Tango-Kenntnisse hervor und hoppelte über das Parkett. Der Produzent tobte (scheint ein cholerischer Typ zu sein), während die Regisseurin nur verzweifelt den Kopf schüttelte. Dabei soll Felix im Film der große Tangotänzer sein!

Jetzt forderte der Produzent seine Frau auf, mit mir zu tanzen, und es zeigte sich, dass Rebecca Kant eine begabte Anfängerin ist. Sie hatte einige Einzelstunden genommen und offensichtlich intensiv Vorwärts- und Rückwärtsochos geübt, auch wenn sie ab und zu noch mit dem freien Fuß schlenkert, anstatt ihn an den Fuß des Standbeins heranzuführen und beide Füße gemeinsam zu drehen. Meine Tanzpartnerin ließ sich problemlos ins Kreuz führen. Es lag also eindeutig an Heinrich/Felix, dass es vorher so schief ging.

Produzent Kant verdonnerte unseren Hauptdarsteller dazu, dass er in den nächsten Tagen nach den Dreharbeiten Tangopeinzelstunden nehmen muss. Es sei schließlich sein, Franz Kants Geld, das hier auf dem Spiel stehe.

Mir kam das ganze etwas Spanisch vor, denn Heinrich/ Felix grinste einfach unverschämt, ohne sich zu verteidigen. Der große schlanke Mann mit seinem Blondschopf stand da und schaute seine Filmpartnerin, die ja die Frau des Produzenten ist, herausfordernd an, so, als wolle er sie nicht ins Kreuz führen, sondern aufs Kreuz legen. Aber bevor ich mir darüber groß den Kopf zerbrechen konnte, forderte mich Dietlinde/Wanda auf, mit ihr weiter zu tanzen. Mit jedem Tango und Vals, mit jeder Milonga machte es uns beiden mehr Spaß. Die anderen von Filmteam waren wieder gegangen, während Dietlinde/Wanda und ich uns bis Mitternacht vergnügten mit einem immer dialogischeren Tangotanz.

Ich brachte meine Tanzpartnerin dann im Auto zu ihrem Hotel, wo sie sich nicht nur mit dem üblichen Wangenküsschen verabschiedete. Aber wie kann ich bei einer Schauspielerin wissen, was bei einem richtigen Kuss gespielt ist oder nicht?

Mittwoch, 3. August

Die Filmaufnahmen gehen weiter. Ich versuche, niemandem im Wege zu stehen. Für die Hauptdarsteller mag der Filmberuf ja spannend sein, aber für die Statisten? Eher langweilig, denke ich. Zwar will ich bei den Tanzszenen auch als Statist mitwirken, gratis natürlich, aber da kann ich ja tanzen.

Ich muss gestehen, dass Heinrich als Felix ebenfalls eine gute Besetzung ist – vom Tango mal abgesehen. Vor der Kamera legt er sein manchmal phlegmatisches, dann wieder zynisches Betragen ab und korrespondiert toll mit Rebecca/Peggy. Beide sprühen Funken – nicht zuletzt mit meinen Dialogen (das sage nicht ich, sondern sagte die Regisseurin in einer Pause zu mir).

Morgen Abend findet im Tanzsportzentrum ein Casting statt. In der Presse wurden Tangotänzer/innen zum Kommen aufgerufen. Viel verdient man als Statist zwar nicht, doch denke ich, dass viele Tangueros und Tangueras aus reiner Neugier kommen werden. Die Regisseurin wird mit dem engagierten Tanzlehrerpaar die Kandidaten und Kandidatinnen mustern. Und ich werde kiebitzen.

Freitag, 5. August

Wie erwartet sah ich beim Casting viele bekannte Gesichter aus der Freiburger Tangoszene. Auch Franzosen und Schweizer waren darunter. Gekommen waren aber auch viele mir unbekannte Tänzer, wobei mir einer besonders auffiel. Er war schlank und groß, in schwarzem Anzug zum schwarzen Haar, mit bleichem Gesicht, und er tanzte sehr gekonnt, doch irgendwie mit einer adligen Arroganz.

Es zeigte sich, dass viele der mir unbekannten Leute praktisch nicht tanzen konnten. Sie hatten wohl nur YouTube geschaut – und wurden schnell ausgesondert und nach Hause geschickt. Ein paar Mal sprang ich ein und tanzte, so etwa mit der Studentin Annamaria, die ich von Milongas kenne. Sie schien mir heute etwas irritiert. In einer Pause erzählte sie mir, sie habe mit einem Mann getanzt, der ungeheuer präzise führe, aber an seiner Brust sei es ihr wie ein Frostschauer durch den Körper gegangen. Oder sagte sie Liebesschauer? Nein, nein: Frostschauer. Annamaria machte mich dann auf jemanden aufmerksam, der am anderen Ende des Tanzsaals stand, doch auch auf diese Entfernung erkannte ich ihn. Sie hatte ihn mir als den „Bleichen“ beschrieben, und es war der Unbekannte, der mir aufgefallen war. Aber Mädchen und junge Frauen sind ja so leicht zu beeindrucken! (Nicht von mir, nein, aber von gewissen Männern).

Das ganze Auswahlverfahren zog sich ziemlich hin, so dass ich schon gehen wollte, als Dietlinde/Wanda auftauchte. Ihr war es wohl im Hotel langweilig geworden. Wir tanzten wieder miteinander, und mir wurde – Brust an Busen – warm. Am Ende lud sie mich zu einem Glas Wein ein. Oder lud ich sie zu einem Glas Wein ein? Egal, wir fuhren zu mir und meinem Kaiserstühler. Und nach dem zweiten Glas kuschelte sich Dietlinde/Wanda an mich und begründete dies damit, sie brauche Wärme, nachdem sie zuvor im Tanzsportzentrum mit so einem „frostigen“ Typ getanzt habe. Zuerst bezog ich das „frostig“ auf meine zurückhaltende schüchterne Art. Da lachte sie mich aus und küsste mich und klärte mich auf, dass es sich um einen Casting-Tänzer handle, und sie beschrieb den - „Bleichen“. Versteh einer die Frauen! Ich muss mir den Mann beim nächsten Mal, wenn es denn das geben sollte, doch einmal genauer ansehen.

PS: Später ließ mich Dietlinde/Wanda ein Taxi rufen, das sie in ihr Hotel brachte. Ich hatte zu viel Wein getrunken, um sie zu fahren.

Samstag, 6. August

Ich sah den „Bleichen“ erneut. Angeblich soll er Branko Stocker heißen. Er stand bei der Wiehre-Milonga in einer dunklen Ecke der Bahnhofshalle, als ich ihn entdeckte. Zugegeben, es war auf den ersten Blick eine leicht gruselige Gestalt. Beim Tanzen führte ich meine Tänzerin mehrmals in die Nähe des Mannes. Die Bleiche des Gesichts war aber möglicherweise einfach auf die schummrige Beleuchtung zurückzuführen. Oder war er geschminkt?

Irgendwann sah ich ihn auch mit Dietlinde/Wanda tanzen. Mir fiel das auf, weil sie mich vorher noch nicht einmal gegrüßt hatte. Dieser Branko, den Namen hat mir später auch die Schauspielerin genannt, als wir über den Fremden sprachen, machte keine spektakulären Tangofiguren, sondern er schritt fast nur. Allerdings dies mit großer Variabilität, mal kurze, mal lange Schritte, mal langsame, mal schnelle. Und das alles korrespondierte mit der jeweiligen Tangomusik. Immer wieder auch spannungsvolles Innehalten. Kompliment, „Bleicher“!

Als ich mit Dietlinde/Wanda tanzte, bestätigte sie mir meine Beobachtung. Er tanze wie ein alter Tanguero aus Buenos Aires. Dabei war sie noch nie in Argentinien gewesen! Aber so richtig klar sehe sie bei diesem Branko nicht. Er strahle eine „spannende Kühle“ aus. Was immer das heißen soll. Jedenfalls verkniff ich mir die unfaire Übersetzung: Wie einer aus der Gruft.

Kurz vor ein Uhr nachts kam Dietlinde/Wanda, die inzwischen mit vielen anderen Männern getanzt hatte, auf mich zu und erinnerte mich daran, dass ich ihr die letzten drei Tangos versprochen hätte. Zwar hatte ich nichts dergleichen gesagt, aber wer wird eine bekannte Schauspielerin enttäuschen wollen? Wir tanzten, und ich sah aus dem Augenwinkel, dass der „Bleiche“ die Studentin Annamaria in den Armen hatte. Doch kümmerte ich mich nicht mehr darum, als sich beim letzten Schmusetango Dietlinde/Wanda so um mich kümmerte, dass ein vom Tango Argentino unbeleckter Zuschauer wohl hätte fragen können, warum das im Stehen gemacht wird.