Bradley und der Prinzenräuber - Vaelis Vaughan - E-Book

Bradley und der Prinzenräuber E-Book

Vaelis Vaughan

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Beschreibung

"Bradley und der Prinzenräuber" Gay Romance - Print 348 Seiten inkl. Illustrationen »Hey!« Ich reiße den Vorhang beiseite und mit ihm die schluchzende Heulboje aus ihrem Schnoddertheater. »Hör auf zu flennen, das ist ja nicht auszuhalten!« Schockiert verstummt Bradley, glotzt mich mit seinen geröteten Augen an und zieht die Nase hoch. »Ich befinde mich in einer sehr misslichen Lage«, jammert er und wirft bockig eine der herumliegenden Socken nach mir. »Da werde ich meinem Unmut doch wohl ein wenig Ausdruck verleihen dürfen!« Seine Wangen sehen aus als würden sie glühen, seine vollen Lippen zittern, die langen, feuerroten Haare kleben an seinem nassen Gesicht und sein aufgerissenes Baumwollhemd hängt so weit von seiner Schulter, dass ich seinen rechten Nippel sehen kann. ›Gott, wie kann man nur so hinreißend aussehen, wenn man heult?‹ Eigentlich wollte Bradley einfach nur zur Eröffnungsfeier der »Art Treasures Exhibition« gehen. Als äußerst kulturinteressierter Adliger kann er seit Wochen an nichts anderes denken, als die Ausstellung zu besuchen und gleichaltrige, ebenso kunstinteressierte Blaublüter kennenzulernen, mit denen er vielleicht auch noch etwas mehr als nur reden könnte. Er hofft, dort endlich auf schwule Gleichgesinnte zu treffen, da dies im viktorianischen Alltag äußerst schwierig ist. Schon zwei Nächte zuvor reist er in die Stadt, doch als er sein Zimmer bezieht und sich zur Ruhe legt, ist er nicht allein. Der Geschmack von Laudanum ist alles, woran er sich am nächsten Morgen erinnert, als er gefangen in einer dreckigen Räuberhöhle erwacht. Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er auf diese Weise der Liebe seines Lebens begegnen würde ... "Bradley und der Prinzenräuber" ist eine heiße, spannende Geschichte, mit viel Herz, Humor und einem hinreißenden Happy End.

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Klappentext
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Epilog
Nachwort
Leseprobe
Danksagungen
Über Vaelis
Impressum
Fußnoten

Klappentext

»Bradley und der Prinzenräuber«

 

Eigentlich wollte Bradley einfach nur zur Eröffnungsfeier der »Art Treasures Exhibition« gehen. Als äußerst kulturinteressierter Adliger kann er seit Wochen an nichts anderes denken, als die Ausstellung zu besuchen und gleichaltrige, ebenso kunstinteressierte Blaublüter kennenzulernen, mit denen er vielleicht auch noch etwas mehr als nur reden könnte. Er hofft, dort endlich auf schwule Gleichgesinnte zu treffen, da dies im viktorianischen Alltag äußerst schwierig ist. Schon zwei Nächte zuvor reist er in die Stadt, doch als er sein Zimmer bezieht und sich zur Ruhe legt, ist er nicht allein. Der Geschmack von Laudanum ist alles, woran er sich am nächsten Morgen erinnert, als er gefangen in einer dreckigen Räuberhöhle erwacht. Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er auf diese Weise der Liebe seines Lebens begegnen würde ...

 

»Bradley und der Prinzenräuber« ist eine heiße, spannende Geschichte, mit viel Herz, Humor und einem hinreißenden Happy End.

 

 

 

 

Kapitel 1

______________

Der Plan der Pläne

 

 

 

Schinken.

Gerade als ich das huckelige Kopfsteinpflaster von Hadfield überqueren will, zieht er an mir vorbei. Saftigwürziger, verfluchter Räucherschinken auf einem dick eingestrichenen Butterbrotbett, feuchtfröhlich in den Händen eines Kutschers auf und ab wippend.

›Hunger!‹

Meine niedersten Instinkte erwachen, doch ich reiße mich zusammen, denn die wohlriechende Köstlichkeit wiegt sich inmitten eines Trosses irgendeiner hoheitlichen Garde, die bis an die Zähne bewaffnet ist. Das Klappern der Pferdehufe und das Quietschen der Wagenräder mischt sich mit dem Murmeln der Gespräche der herumstehenden Menschen, die versuchen, einen Blick auf die hochwohlgeborenen Silberlöffellecker zu werfen.

Ich hingegen interessiere mich herzlich wenig für all die aristokratischen Arschgeigen, schlucke nur die Spuckepfütze herunter, die sich in meinem Mund gesammelt hat, und sehe den Kutschen nach, die durch die laue, abendliche Frühlingsluft in Richtung Manchester weiterreisen.

Wahrscheinlich wird mir der salzige Duft dieser Keulenscheibe noch die nächsten drei Tage nicht aus dem Kopf gehen.

Seufzend wende ich mich ab, lasse meinen Nacken knacken und will gerade die Straße überqueren, da kommt eine weitere prunkvolle Kutsche um die Ecke geschossen, die es offensichtlich eilig hat. Ein kleines Mädchen bemerkt sie nicht, weil sie noch der vorherigen Gefolgschaft hinterherschaut. Für Rufen ist keine Zeit mehr, also packe ich sie am Arm und ziehe sie hastig zurück, ehe das weiße Pferdegespann sie erwischt.

»Hey! Sagt mal, hakt`s bei euch?«, brülle ich dem Wagen hinterher. »Fahrt langsamer, ihr beschissenen Schnösel! Hier sind Kinder auf den Straßen!«

Natürlich halten sie nicht und auch von den Menschen um mich herum ernte ich schockierte Blicke, weil ich es wage, so hochrangige Leute derart barsch anzumachen. Sie tun es nicht. Niemand hier wagt sich, die Stimme zu erheben, denn schon für eine einfache Beleidigung eines Adeligen kann man für lange Zeit weggesperrt werden, schlimmstenfalls sogar gehängt oder geköpft, je nach Status des Beleidigten und dessen Rachsucht. Allerdings habe ich den Vorteil meiner einschüchternden Erscheinung, sodass selbst zwei Ordnungshüter, die gerade vermehrt auch im Umland der Stadt patrouillieren, mich nur zynisch anschauen und dann weitergehen.

»Ha-habt v-vielen Dank, S-Sir«, piepst das zitternde Mädchen hervor und schaut mit ihren großen, braunen Augen unter ihrem Käppchen zu mir hoch.

»Nicht der Rede wert, Kleine«, murmle ich und lasse sie los. »Halt dich von den Straßen fern, ja? Dieser Tage reisen noch viele von denen hier durch und keinen davon schert es, ob jemand von uns dabei zu Schaden kommt.«

»J-ja«, antwortet sie, nach wie vor am ganzen Leib schlotternd.

»Na los, lauf heim«, schubse ich sie sanft an, damit sie ihre Starre überwindet, und sie tut es.

Einen Moment schaue ich ihr noch hinterher, um sicherzugehen, dass sie nicht gleich wieder vor die nächste Kutsche rennt, dann gehe ich meiner Wege.

Der Himmel verfärbt sich rot-violett und hüllt die kleine Vorstadt in den Schleier der Dämmerung ein. Je später der Abend, desto gedämpfter und intimer werden auch die Geräusche auf den Straßen. Erschöpfte Arbeiter und Ladenbesitzer kommen aus den Geschäften heraus und schlurfen nach Hause oder direkt in den Pub.

Die Gebäude strahlen mit ihren schweren Steinen noch eine Weile die Hitze des Tages ab, doch schon jetzt geht ein junger Lampenknecht herum und zündet die ersten Laternen an. Ein leichter Rußgeruch mischt sich in die Luft und sobald die Sonne untergeht, werfen die flackernden Lichter wirre Schatten in die engen Gassen.

Durch die Fenster kann man beobachten, wie emsige Hausfrauen den Tisch zum Abendessen decken und auch die Kinder sammeln so langsam ihr Spielzeug von den öffentlichen Plätzen ein, um heimwärts zu gehen.

Aus der Ferne vernehme ich den Klang von Musik, die aus der Taverne dringt – meinem Ziel. Nicht, um mir einen hinter die Binde zu kippen, sondern um mein Pferd zu holen, das ich vor der dortigen Tränke angebunden habe. Ich sehe sie schon von weitem. Es ist eine schöne, wenn auch in die Jahre gekommene, Blue Roan Paint Stute namens Prudence-Charlotte! Mein ganzer Stolz, vor allem, wenn sie steht oder nur langsam läuft. Sobald sie galoppiert, wackelt sie so unentzückend breitbeinig hin und her wie eine fette Gans auf heißen Kohlen, aber durch diesen Makel konnte ich sie mir überhaupt erst leisten. Im Übrigen ist sie das Einzige in meinem Besitz, wofür ich ehrlich bezahlt habe.

»Na Prudy? Hast du ein paar nette Hengste kennengelernt?«, frage ich sie, als ich ihre Zügel vom Mast löse, und vernehme ihr leise schnaubendes Blubbern, das sich anhört wie: Alle blöd.

Schon wieder streift ein Trupp Peelers1, an mir vorbei, mustert mich scharf und schwärmt in den Gassen aus. Seufzend werfe ich einen Blick auf meine alte Taschenuhr, einem Geschenk meines Vaters, welche mir sagt, dass es Zeit ist.

Bis nach Hause brauche ich selbst mit dem Pferd eine gute halbe Stunde und versuche eigentlich immer vor Einbruch der Dunkelheit dort zu sein. Prudence hasst es nämlich, wenn sie nicht sieht, wo sie hinläuft, und das macht sie störrischer als jeden Esel.

»Na schön ... Komm altes Mädchen, reiten wir heim. Hier gibt es eh nichts mehr für uns.«

Ich steige in den Sattel und lenke sie zum Haupttor, während ich in Richtung Manchester schaue. Die Großstadt versinkt nur langsam in der Dunkelheit und wird gleichzeitig von den Lichtern der Laternen und den Fenstern der heimkehrenden Menschen erhellt. In ihren verborgenen Winkeln und endlosen Gassen verbirgt gerade die Nacht eine Welt voller Möglichkeiten, vor allem für einen so erfahrenen Banditen wir mich. Aber hier und jetzt ist der Rückzug sicherer.

***

Ich versuche, meine Begegnung mit dem saftigen Schinken zu vergessen, während ich auf dem Rücken meiner treuen Stute durch die dichte Vegetation der Wälder in Richtung unseres geheimen Verstecks reite. Meine einzige Orientierungshilfe ist dabei das Rauschen des Middle Black Clough Wasserfalls, welches man bereits auf zwei Meilen Entfernung hören kann. Allerdings kenne ich die Umgebung inzwischen so gut, dass ich den Weg selbst taub und sturzbesoffen finden würde.

Schließlich erreiche ich den kaum sichtbaren Trampelpfad zu unserer Höhle, dessen Zugang von dichtem Gebüsch verdeckt ist. Er führt zu einem schmalen Spalt zwischen einigen Felsbrocken, die als geheimer Eingang dienen.

Ich steige ab und pflücke mir ein paar Beeren von den Büschen, denn mein grummelnder Magen erinnert mich wieder daran, dass ich nach wie vor nichts gegessen habe.

Als Bandit ernähre ich mich hauptsächlich von dem, was ich und meine Bande finden, rauben oder jagen kann, und das hängt natürlich von den saisonal verfügbaren Ressourcen ab. Vorrangig sind es Beeren, Früchte, Wurzeln und allerlei essbare Pflanzen, aber auch Wildtiere wie Hasen, Rehe, Vögel und Fische. Leider stellt Letzteres Wilderei dar, die dem Adel vorbehalten ist, da es in England kein allgemeines Jagdrecht für einfache Menschen gibt. Handelt man dem zuwider, kann das böse Folgen haben. Von Geld- und Gefängnisstrafen bis zu Auspeitschungen oder Brandmarkungen.

Meistens erbeuten wir Nahrungsmittel und diverse weitere Güter aus Manchester, der nächsten Großstadt, oder von Reisenden. Die umliegenden Dörfer hier rauben wir niemals aus, denn die Menschen dort kennen uns bereits. Insofern wir sie in Ruhe lassen, ihnen gar ab und an helfen, schützen sie uns und verpfeifen uns auch nicht, wenn uns jemand verfolgen will.

Behutsam schiebe ich die Äste beiseite und führe mein Pferd in den steinernen Spalt des Berges, in welchen sie gerade so hineinpasst. Der Tunnel dahinter ist so eng, dass sie mit dem Bauch immer mal wieder an den Wänden entlangschleift und auch den Kopf tief bücken muss, um nirgendwo anzustoßen. Der Boden ist ebenfalls eine Herausforderung, uneben und zeitweise steil, doch mit ihren schmalen Hufen meistert sie den Weg wie eine dicke Bergzicke. Je tiefer wir gehen, desto dunkler wird es, aber nach einer Weile sehe ich bereits unseren Innenhof, der wie ein Vulkan von Felswänden umgeben und oben offen ist.

Ich bin Zuhause.

Auch wenn die meisten Menschen bei dem Begriff sicher etwas völlig anderes vor Augen haben als das, was ich damit verbinde, so liebe ich sie doch von ganzem Herzen: unsere dreckige, feuchtkalte Schlunzräuberhöhle mitten im Wald.

Als mein Vater starb, war ich sechs Jahre alt. Mein Bruder und ich zogen durchs Land, um nach seinem Tod und dem damit zusammenhängenden Verlust unserer alten Jägerhütte durch den Landlord ein neues Zuhause zu finden. Wir schlugen ein Lager beim Wasserfall auf und ich durchforstete die Gegend, wobei ich die Höhle fand. Seitdem lebe ich hier, zusammen mit meiner kleinen Bande.

Einige unserer stets neugierigen Hühner kommen mir entgegen, denen ich normalerweise immer ein paar Brotkrümel mitbringe, aber diesmal habe ich nichts, was ich ihnen geben kann. Einen kleinen Ziegenstall besitzen wir ebenfalls, dessen Inhalt mir freudig zumeckert. Unsere Pferde können hier im offenen Krater grasen und aus den Regenbottichen trinken. Seit einigen Jahren gibt es sogar einen richtigen Reitstall mit Boxen, den Godric zusammen mit seiner Schwester Leanne erbaut hat. Zuvor rackerten sich die beiden als Knecht und Magd den Buckel krumm, doch ihr hochangesehener Arbeitgeber ließ sie bis zur Ohnmacht schuften und gab ihnen höchstens an vier Tagen in der Woche etwas zu essen, wodurch sie irgendwann den Dienst quittierten. Mein älterer Bruder Braxton lernte die zwei in der Taverne kennen, wo sie ihre letzten Pennys versoffen, bekam Mitleid und brachte sie mit zu uns.

Ich führe Prudence in den Stall, sattle sie ab und sehe, dass ich nicht der Erste bin, der zurückgekehrt ist. Ein weiteres Pferd, das ich nicht kenne, ist ebenfalls dort, doch meine Stute ist mit so ziemlich allen Tieren, egal welcher Art, verträglich, daher hebt sie nur müde den Kopf in Richtung des galanten Fuchses und schnaubt ihm friedlich zu.

›Wer den wohl gestohlen hat?‹, frage ich mich und sehe mich um.

Auf der gegenüberliegenden Seite beginnt unsere eigentliche Höhle, die über ein verzweigtes Tunnelsystem in viele kleine Kammern führt, die wir zu unseren persönlichen Räumlichkeiten ausstaffiert haben. Ein Teil der tiefen Gänge ist überflutet, andere führen nach oben, an den Rand des Berges, und bringen etwas Licht in die Finsternis.

Die große Hauptkammer, in der bereits ein heimeliges Lagerfeuer lodert, befindet sich direkt am Eingang. Hier stapeln wir auch unser Feuerholz, essen gemeinsam, wenn es etwas gibt, und verbringen feuchtfröhliche Saufnächte miteinander, falls jemand Alkohol erbeutet hat. Wir verbrauchen und genießen, was wir haben, denn jeder Tag könnte unser letzter sein.

Ich betrete die große Höhle. Der Geruch von verbranntem Holz liegt schwer in der Luft, das Lagerfeuer flackert einladend, und trotzdem geht die Temperatur spürbar herunter, je weiter man in den Berg hineinläuft. Selbst im Hochsommer ist es hier drinnen angenehm kühl, doch im Winter schützt uns die Höhle vor dem Frost. Sie ist unser sicherer Hafen, unsere Bastion gegen die Welt da draußen, und durch den getarnten Eingang können wir unbemerkt im Wald verschwinden, unsere Spuren verwischen und unsere Feinde in die Irre führen.

»Rothgar! Da bist du ja endlich!«, ruft mir Braxton zu, der gerade aus seiner Kammer herauskommt, die sich recht nah am Eingang befindet, und zieht mich an seine fellbesetzte Brust.

»Na, wenn das nicht der Schrecken aller Jungfrauen ist«, entgegne ich lachend und klopfe ihm auf die Schulter, ehe ich mich löse, um meine Satteltaschen neben dem Lagerfeuer abzulegen. »Ich wusste nicht, dass du heute zurückkommst, sonst wäre ich gar nicht erst nach Hadfield geritten.«

»Hat sich so ergeben«, brummt er und kratzt sich die Schläfe, da, wo der ausladende Lederhut mit der ausgedünnten Fellkrempe, den er von unserem Vater vererbt bekommen hat, aufhört. Einer der Gründe, wieso er, im Gegensatz zu mir, bereits unter ordentlich schütterem Haar leidet, da bin ich mir sicher. Aber er ist auch sieben Jahre älter als ich.

»Hört sich nicht wirklich freiwillig an«, bemerke ich, lasse mich auf eines der Bodenkissen sinken, die mit Lumpen gefüllt sind, und halte die Hände in den warmen Schein des Lagerfeuers. Normalerweise versammeln wir uns hier jeden Abend, es sei denn, wir sind weiter außerhalb auf Beutezug, so wie Braxton es war, doch offenbar kehrte er mit leeren Händen zurück, wenn man von dem neuen Gaul absieht.

»Ich bin über Manchester hergeritten«, umgeht er meine unterschwellige Frage, »da ist ja der Teufel los. Alles voller königlicher Wachen, Peelers und privaten Gardisten! Steht irgendwas an?«

»Ja«, schnaufe ich. »Hast du es nicht gehört? Diese Ausstellung künstlerischer Schätze2 von der überall geschwafelt wurde, geht übermorgen los.«

»Eine läppische Kunstausstellung?«, hakt er nach und zieht die Augenbrauen hoch. »Deswegen der ganze Trubel?«

Ich lasse die Achseln hüpfen. »Angeblich ist es eine sehr bedeutende kulturelle Veranstaltung, die eine beeindruckende Sammlung von Kunstwerken aus verschiedenen Epochen und Stilen präsentiert. Sie soll zur Förderung der Kultur in der Region beitragen und manches wird sogar verkauft. Das zieht natürlich einen Haufen Sammler, Händler, Leute des hohen Adels und auch einige Mitglieder königlicher Familien an.«

»Ah ... das ist also der wahre Grund«, grollt er. »Wenn die Blaublüter da sind, ist es doch nichts weiter, als ein großes Schaulaufen! Sehen und gesehen werden, Kontakte knüpfen, all der Mist!«

»Vermutlich«, stimme ich ihm zu und nicke unterstützend. »Zur Eröffnung soll laut der Klatschbasen in Hadfield auch der älteste Sohn unserer Königin Victoria und Prinz Albert dort sein. Allerdings ist das nicht amtlich.«

»Ist doch scheißegal«, prustet Braxton sofort. »Selbst wenn es nur ein Gerücht wäre, das von den Organisatoren der Ausstellung in die Welt gesetzt wurde, um noch mehr Besucher anzulocken, die Gelegenheit werden so einige adlige Herrschaften nutzen, um ihn kennenzulernen oder um sich bei ihm einzuschleimen. Bisher wurde ja auch noch keine offizielle Verlobte bekanntgegeben. Da wittern ganz sicher viele ledige Prinzessinnen ihre Chance, sich ihm vorzustellen.«

»Der Bengel ist fünfzehn«, erinnere ich ihn, aber das interessiert ihn nicht.

»Sechzehn ... glaube ich. Jedenfalls alt genug, um einen Harten zu kriegen, wenn er eine feuchte Möse sieht, die unbedingt die nächste Königin werden will ...«

»Du bist unmöglich«, erwidere ich kopfschüttelnd. »Jedenfalls strömen jetzt von allen Seiten diese protzigen Pissnelken in die Stadt und bringen ihren halben Hofstaat mit.«

»Hm.« Braxton hört mir gar nicht mehr zu, sondern schaut sich bereits wenig subtil um, ob er noch etwas zu essen in den Körben und Tontöpfen des Lagers findet, aber die sind alle leer. »Heilige Scheiße, habt ihr in der Woche, in der ich weg war, all unsere Vorräte aufgefressen und nichts Neues herbeigeschafft?«, fragt er schließlich erbost und feuert eine leere Holzschale zur Seite.

»Hast du mir gerade nicht zugehört?«, frage ich seufzend und ziehe meine Stiefel aus, die unangenehm drücken. »Was glaubst du, warum wir zu dritt ausgeflogen sind? Aber durch den prunkvollen Besuch wurden alle Händler der Stadt und des Umlandes angehalten, in erster Linie die Gasthäuser zu versorgen. Nicht mal der Wochenmarkt hat stattgefunden! Und, wie du ja selber festgestellt hast, laufen dadurch überall Wachleute umher.«

»Hrmpf«, schnauft er und lässt sich ungehalten auf einen der Sitzsäcke nieder. »Und wovon sollen die kleinen Leute währenddessen leben?«

»Du bist nicht klein«, flachse ich, was ihm zumindest ein knappes Lächeln abringt.

»Kleiner als du ... warum auch immer.« Er lehnt sich auf die Knie und wirft deprimiert etwas mehr Holz ins Feuer.

»Ach, die halbe Hand«, beschwichtige ich ihn und beobachte seine silhouettenhafte Gestalt, die im flackernden Licht des Feuers hinter ihm an der Felswand verschwimmt. »Liegt garantiert daran, dass du schon als Steppke Vaters Beute heimgebuckelt hast. Und sechs Fuß3 sind doch trotzdem eine passable Größe.«

»Du hast fast sieben«, knurrt er missgünstig und ich zeige grinsend auf seine Kopfbedeckung.

»Mit Hut hast du die ebenso. Wahrscheinlich hat ihn dir unser alter Herr auch genau deshalb gegeben.«

»Es ist ein Jagdhut! Er gab ihn mir, weil ich der bessere Jäger von uns bin«, motzt er und ich spüre deutlich, wie er sein Ego darüber wieder aufbauen will. Mal davon abgesehen dass jeder Dreizehnjährige besser jagen kann als ein Sechsjähriger, doch des Friedens halber belasse ich es dabei.

»Der feine Einhufer da draußen ist aber ganz sicher nicht mit den Rehen im Wald herumgehirscht! Also, erzähl mal. Wo ist der her?«

»Von einer königlichen Garde«, prahlt er und reckt sein buschiges Kinn.

»Ach?« Ich glaube ihm nicht, lehne mich zurück und sehe ihn prüfend an. » Willst du mir also erzählen, den hast du dir einfach so unter dem Hintern eines Gardisten weggeschnappt und anschließend das gesamte Bataillon abgehängt?«

»Nein«, gibt er zu und schwenkt den Kopf hin und her. »Der Typ war unvorsichtig, hat sich aus der Reihe entfernt und an der Seite angehalten, um zu scheißen.« Plötzlich lacht er. »Hatte wohl ziemlich stürmischen Dünnpfiff, der Gute. Jedenfalls hab ich`s ordentlich hinterm Busch blubbern hören, als ich aufstieg und mit dem treulosen Gaul von dannen ritt. Hat er nicht mal gemerkt.«

›Ein vollkommen zufälliger Glücksgriff also.‹

»Und deine alte Mähre hast du ihm dann als Entschädigung dagelassen oder wie?«

»Blödsinn«, prustet er. »Die hab ich im nächsten Ort verhökert. Mitsamt dem königlichen Zaumzeug des neuen Gauls, damit er nicht mehr so auffällt. Hab ihm außerdem eine schöne Kalk-Blesse verpasst, sodass er nicht gleich erkannt wird, sollte ich dem Kerl noch mal über den Weg reiten. Man weiß ja nie ...«

»Und von dem Geld hast du uns ordentlich Vorräte gekauft, will ich hoffen«, hake ich nach, obwohl ich mir die Antwort bereits denken kann.

»Nein, verdammt! Ich konnte ja nicht wissen, dass ihr alles aufgefressen habt! Deshalb hab ich mir eine Hose schneidern lassen und mir endlich mal ein paar neue Stiefel gegönnt, einen vernünftig gepolsterten Sattel und einige Kleinigkeiten für meinen Verschlag hier, die ich schon lange haben wollte.«

›Klasse. Also hat er wieder mal nur an sich selbst gedacht und wir haben nichts davon! Wie immer!‹

»Schön für dich«, entgegne ich nur noch zynisch und erhebe mich. »Dann werden wir uns wohl morgen früh einen Plan überlegen müssen, insofern Godric und Leanne auch nichts Essbares gefunden haben.«

»Von mir aus«, murrt er und streckt sich. »Ich hab die letzten zwei Tage auf dem Pferd gesessen, ich hau mich erst mal aufs Ohr.«

»Mach das«, murre ich leicht entnervt zurück und sehe ihm zu, wie er sich erhebt, um in seiner schicken, neuen, maßgeschneiderten Hose in seine Kammer zurückzuschlurfen.

Ganz ehrlich: Ich liebe meinen Bruder, aber er ist ein elender Egomane, genau wie unser Vater einer war. Wenn ich durch einen solchen Glücksfang derartig viel Schotter bekommen hätte, würde ich niemals auf den Gedanken kommen, alles nur für mich auszugeben. Klar ist sich als Räuber irgendwo jeder selbst der Nächste, aber was hat es denn für einen Sinn, als Bande zusammenzuleben, wenn man nur auf seinen eigenen Vorteil achtet?

Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ihm einen fetten Teil meiner Beute hätte abgeben müssen, genauso wie die anderen. Aber er bezeichnet sich ja auch als unseren Anführer, weil er der Älteste ist, und nimmt sich deshalb immer wieder Sonderrechte heraus.

Schnaufend lege ich meinen Kopf in den Nacken und spüre eine Welle der Müdigkeit auf mich zurollen. Wahrscheinlich sollte ich mich ebenfalls hinlegen, ehe Godric und Leanne heimkehren. Die zwei streiten noch schlimmer als Braxton und ich, und sobald sie Publikum haben, dauert es dreimal so lange, weil sich keiner die Blöße geben will, als der Schwächere dazustehen. Also lege ich noch einmal etwas Holz nach, damit es die beiden warm haben, wenn sie heimkehren, stütze mich mühevoll hoch und schnappe meine Schuhe, ehe ich mich hungrig zurückziehe.

Ich nehme ein langes, brennendes Holzscheit mit und laufe durch einen schmalen Durchgang zur Rechten, der vergleichsweise steil hinauf zu meinem kleinen, privaten Reich führt. Hinter einem dicken Vorhang versteckt liegt es, etwas beengt, aber ich habe es mir gemütlich gemacht, so gut es geht.

Mit dem Holzscheit entzünde ich mein eigenes Lagerfeuer, das ich immer bereits am Morgen für den Abend vorbereite und mit Steinen eingekreist habe. Dann öffne ich meine Lüftungsluke einen Spalt weit, unter der eine Plane hängt, die Regenwasser auffängt und in einen Eimer leitet. Meine Kammer ist die einzige, die eine solche Öffnung hat und somit auch im Winter beheizt werden kann. Zudem habe ich sie mit alten Schiffsplanken ausgekleidet, die den Raum etwas gemütlicher machen, zusammen mit einigen dicken Fellen, Wolldecken und Kissen. Darüber hinaus habe ich mir ein Wandregal gebaut, auf dem ich in kleinen Truhen und Tiegeln alles Mögliche lagere, das für mich persönlich und nicht für die ganze Bande gedacht ist. Melkfett beispielsweise, das ich zum - ... ach das brauche ich sicher nicht erklären.

Direkt hinter meinem Bett befindet sich eine recht breite Steinformation, die ich ebenfalls verholzt habe und als Stauraum für größere Dinge verwende: Fässer, Decken, Kleidung in Kisten und Ölkannen. Dort steht auch mein Nachttopf, den ich, dank meines Fensters, als Einziger nicht jeden Morgen nach draußen kutschieren muss.

Plötzlich höre ich winziges Getrappel. Ein Blick unter mein selbstgebautes Bett, wo ich mein Feuerholz lagere, lässt mich grinsen, denn mein Mitbewohner ist auch schon da.

»N`Abend der Herr«, begrüße ich die kleine, hellgraue Ratte, die ich Matjes-Renè genannt habe. Ja, ich hab eine Vorliebe für Doppelnamen, auch wenn ich im Alltag dann doch eher nur einen oder gar einen Kosenamen verwende.

Sie sieht äußerst niedlich aus, mehr wie eine große Maus, und das trotz ihres zerfetzten linken Ohres, mit dem sie gleichzeitig sehr verwegen wirkt. Sobald ich sie begrüßt habe, klettert sie helltönig piepsend auf meine Strohmatratze, die ich mit Wildleder bezogen habe, damit die Halme nicht mehr so durchpieksen.

»Tut mir leid, heute konnte ich nichts erbeuten«, entschuldige ich mich, als Matjes erwartungsvoll die Hände aufhält. Die bettelnden großen Glubschaugen des winzigen Rattenmanns gehen mir aber so an die Nieren, dass ich nachschaue, ob an den zwei Räucherhaken, die von der Decke hängen, nicht doch noch etwas Fleisch klebt, das ich ihm schenken kann. Tatsächlich finde ich in der Greifzange des Größeren ein letztes, winziges Fitzelchen, das ich ihm in die ausgestreckten Händchen gebe, und wie immer stopft er es sich in die Schnauze und bringt es zufrieden glucksend in sein Versteck. Satt wird er davon ganz sicher nicht, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es ihm gar nicht darum geht, wie viel, sondern eher, dass er überhaupt etwas bekommt. Als Beweis meiner ungebrochenen Zuneigung oder so.

Ich überlege für einen Moment, die Öllampe anzuzünden, die ebenfalls an einem Haken von der Decke hängt, aber da ich schon ziemlich müde bin und das Feuer noch eine Weile brennen wird, kann ich mir das sparen. Im Hochsommer ist sie mir durchaus nützlich, wenn ich nur Licht und keine Wärme benötige, aber heute brauche ich es doch etwas wärmer, denn auch im Frühling haben wir nachts ab und zu noch Frost.

Unter meinen Füßen knirscht es, als ich die Schuhe beiseite werfe und meine fellbesetzte Wildlederjacke ausziehe, um sie an einen Haken in der Wand zu hängen. Schalenreste, Steinchen und Kohlestücken liegen überall auf dem Boden herum, aber das stört mich nicht. Ein bisschen Dreck braucht jede Bude, damit man sich wohlfühlt und nicht ständig aufpassen muss, dass man bloß nichts schmutzig macht. Mein Bruder sieht es genauso. Vielleicht, weil wir ohne Mutter aufgewachsen sind, oder es ist einfach so ein Banditending. Wer weiß.

Ich setze mich aufs Bett, drapiere mein Jagdmesser unter dem Kopfkissen und ziehe den Rest meiner Kleidung aus, bis auf die Unterhose. Sollten wir wider Erwarten in der Nacht angegriffen werden, weil man uns aufgespürt hat, will ich zumindest einen Hauch von Stoff tragen und etwas zur Verteidigung griffbereit haben. Fliehen ist keine Option, denn meine Luke ist zwar breit genug, dass man hindurchklettern könnte, doch sie endet inmitten eines Steilhanges aus glattem Fels, gut eine Meile über dem Erdboden, denn dahinter beginnt das Tal. Wenn ich dort hinausgehe, dann nur, um den Freitod zu wählen.

So langsam lodern die Flammen in meinem Lagerfeuer auf und wärmen den Raum, doch ich lege noch etwas mehr Holz auf, denn sobald ich eingeschlafen bin, soll es eine Weile nachglühen.

Mein Magen motzt immer mehr herum und protestiert. Er hat keine Lust, sich selbst zu verdauen, und ich auch nicht, aber was soll ich machen? Ich habe nichts mehr außer Olivenöl, und das würde ich mir nur im äußersten Notfall auf die Hand kippen und trinken.

Angeblich sagte meine Mutter immer: Wenn man nichts zu essen hat, hilft eines sicher gegen den knurrenden Bauch: Schlaf. Nur darf man den Hunger nicht jedes Mal mit schlafen verdrängen, sonst wacht man nicht mehr auf.

In diesem Sinne: Gute Nacht.

 

Das Unangenehmste, wenn man in freier Natur nächtigt, sind zweifelsohne die eisigen Morgen!

Der Tau, eine Mischung aus eigenem Speichel und verdunsteter Rattenpisse, wie es geschmacklich oft erscheint, tropft einem ins Gesicht und die gesamte Umgebung riecht nach abgestandenem alten Rauch.

Ich gähne, strecke mich und bemerke dabei, dass Matjes in meiner Halsbeuge liegt. »Mmh ... Morgen Kleiner«, brumme ich ihm zu, doch er hält nur meinen Bart fest und muckert schmatzend. Anscheinend will er nicht, dass ich aufstehe. Ich ziehe die Arme wieder unter die warmen Decken, während ich meinem Lüftungsschlitz entgegen blinzle. Die Sonne scheint bereits herein, doch es muss noch recht früh sein, denn ich höre ein paar Rotkehlchen zwitschern und eine genervte Amsel lautstark kontern.

In den Geruch des aufgewärmten Strohs unter mir und dem spezifischen Duft der gegerbten Schaffelle, die auf meiner Decke liegen, mischt sich ein Hauch von Moder. Durch die kleinen, wassergefüllten Grotten in den tieferen Kammern herrscht in der gesamten Höhle eine hohe Feuchtigkeit, sodass wir nichts Organisches länger als ein oder zwei Wochen lagern können, ohne dass es zu schimmeln beginnt. Es sei denn, es befindet sich in luftdichten Glasgefäßen oder Fässern, wobei diese auch irgendwann mit dem weißen Pelz überzogen sind. Nicht, dass wir je so viel gehabt hätten, dass wir über Monate davon zehren könnten, aber selbst die Getreidesäcke, die wir früher mal geklaut haben, rotteten uns praktisch unter den Fingern weg.

Hier in meiner Kammer geht es noch, da ich regelmäßig lüften kann, aber ehrlich gesagt bin ich selbst erstaunt, dass all das Holz, das ich verbaut habe, nicht trotzdem schon zu blühen begonnen hat.

Plötzlich höre ich leises Murmeln durch die Gänge rauschen, dann einige Schritte, die sich nähern. Matjes schaut auf und wieselt schnell aus dem Bett, doch noch ehe ich mich aufgesetzt habe, zieht Leanne meinen Vorhang beiseite.

»Morgen, Roth. Hab gehört, du hast Kohldampf?« Die abgemagerte Frau grinst und entblößt dabei ihre Zahnlücke.

»Kohldampf ist noch stark untertrieben«, brumme ich verschlafen und angle nach meiner Hose, die irgendwie auf den Boden gerutscht ist. »Ich hab mich die ganze Nacht selbst verdaut!« Schwerfällig schlage ich die Decke zurück und stehe auf, weshalb sie zu mir hochschauen muss, denn sie ist zweieinhalb Köpfe kleiner als ich. »Sieh mich an, ist kaum noch was von mir übrig!«

»Ja, das seh ich«, prustet sie. »Armer Kerl. Dein Schwanz ist fast schon so dünn wie mein Oberschenkel ... Apropos, ist das nur deine Morgenlatte oder freust du dich, mich zu sehen?«

»Morgenlatte ... aber trotzdem schön, dass du wieder da bist«, entgegne ich möglichst neutral, denn ich will sie nicht darüber aufklären, dass sie das falsche Geschlecht hat, um mir eine Latte zu verpassen. Stattdessen streife ich mir die Hose über, während sie mir neckisch die Zunge rausstreckt.

»Na los, schwing die Haxen. Das Hühnervolk war heute großzügig. Hatten wohl Angst, dass wir sonst eins von ihnen schlachten ... aber wenn du nicht aus dem Arsch kommst, hat Brax alles allein aufgefressen, also beeil dich lieber!«

»Was?« Wütend schlüpfe ich in mein ausgegrautes Hemd. »Du weißt doch, wie er ist! Wieso weckst du ihn vor mir auf?«

»Er ist von allein wach geworden, sobald ich zu braten angefangen habe«, verteidigt sie sich. »Das ist eben der Vorteil, wenn man direkt neben der Haupthalle lagert.« Sie reicht mir meine Socken, die sie vor mir gefunden hat, und dreht sich zum Gehen um. »Außerdem weißt du doch, wie es ist! Es überlebt, wer am schnellsten schlucken kann! Da macht es ausnahmsweise auch mal keinen Unterschied, ob Mann oder Frau!«

Wo sie leider Recht hat.

Hastig werfe ich mir meinen fellbesetzten Mantel über, mit dem ich mehr denn je wie ein Bär aussehe, aber er hält warm und lässt sich schnell an und ausziehen, also genügt er.

Sobald ich durch die Gänge eile, dringt bereits der Duft von köstlichen Rühreiern durch die muffige Luft und noch etwas ganz anderes, das ich schon ewig nicht mehr gerochen habe.

›Kaffee!‹

Sofort beschleunige ich meinen Schritt und sobald ich in der hellen Hauptkammer ankomme, sehe ich auch schon, wie sich Godric und Braxton am Feuer sitzend die Bäuche vollschlagen.

»Wehe ihr habt mir alles weggefressen, ihr selbstsüchtigen Halunken«, begrüße ich sie wenig herzlich, aber sie kauen nur weiter und feixen: »Der frühe Vogel fängt den Wurm ...«

»Blödsinn«, grummle ich, gebürtiger Langschläfer, und verteidige mich mit einem Spruch, der genauso sinnbefreit ist: »Der späte Wurm überlebt den Vogel! So siehts aus!«

Glücklicherweise reicht mir Leanne gleich ein Holztablett mit einem großen, dampfenden Pott und einem Teller mit zwei Spiegeleiern, unter denen ich sogar ein abgerissenes Stück Brot mit Schmalz und Kräutern entdecke.

»Gott, du bist ein Engel, Leanne«, schnaufe ich und nehme sofort den ersten Bissen. Das Ei ist kalt. Offenbar hat sie meine Portion schon vorsorglich für mich in Sicherheit gebracht. Aber lieber ausgekühlt als schön warm im Magen eines anderen, also macht es mir nichts.

»Für dich jederzeit«, flüstert sie und zwinkert mir zu. »Bist doch mein Lieblingsjunge.«

Belustigt schnaufe ich. Ja, sie sieht tatsächlich aus, als könnte sie meine Mutter sein, aber genau genommen ist sie nur etwas über sechs Jahre älter als ich und damit sogar noch jünger als mein Bruder. Aber die harte Arbeit und ihr beschwerliches Leben spiegeln sich bereits stark in ihrem faltigen Gesicht wider.

»Also wart ihr gestern erfolgreich?«, hake ich nach, esse weiter und bleibe mit ihr an der Seite stehen, während sie sich den Brotkanten mit Schmalz beschmiert.

»Na ja, je nachdem, wie man es nimmt.« Sie wackelt mit dem Kopf hin und her. »Wir haben den Schweinepferch eines Gasthofes aufgebrochen und alles, was noch essbar war, aus dem Futtertrog und dem Kompost gestohlen.«

Gerade gleitet der erste Schluck Kaffee meine Kehle herunter und ich bemerke sofort, dass er äußerst dünn und deutlich bitterer ist als üblich. Er wurde also schon einmal aufgebrüht, aber trotzdem genieße ich diesen Hauch von Luxus.

»Besser als nichts«, beruhige ich sie, denn ich sehe, dass sie sich verschämt wegdreht.

Leider verfüttern die meisten Adligen und auch die Gasthöfe übriggebliebenes Essen und Küchenabfälle lieber an ihre Tiere, statt sie an Hungernde zu spenden. Schweine sind dabei besonders beliebt, denn sie können die meisten der Lebensmittel gut verwerten, egal ob roh oder erhitzt. So gehen praktisch alle Reste von Gemüse, Getreide und Fleisch an sie, um Extrakosten für Futter zu sparen. Manchmal werden die Sachen auch kompostiert, um Dünger für die Gärten und landwirtschaftlichen Flächen herzustellen.

»Ich revanchiere mich«, sage ich noch und erhalte zum Dank ein flüchtiges Lächeln.

»Ich weiß. Tust du ja immer ... im Gegensatz zu den beiden.« Sie nickt in Richtung von Godric und Braxton, wobei ihre straßenköterblonden Haare aufwippen. Sie stehen ihr in allen möglichen Längen vom Kopf ab, denn sie muss immer wieder mal Filze herausschneiden, die sie nicht mehr herausgekämmt bekommt. »Na los, komm, setzen wir uns.«

Godric leckt gerade noch seinen Teller ab, während sich Braxton mit einem kleinen Zweig schon die Reste aus den Zahnlücken pult. Er schielt gierig auf meinen Teller, als ich mich neben ihn setze, doch zum Glück wagt er es nicht, rüberzulangen.

»Wann wart ihr denn gestern zurück?«, frage ich nach einer Weile, um die gefräßige Stille zu unterbrechen. »Als ich hier ankam, war es doch bereits dunkel.«

»Erst gegen Mitternacht«, antwortet Leanne und nimmt ihren heißen Kaffee in beide Hände. »Wir mussten bis Romiley reiten, um eine Gelegenheit zu finden.«

»So weit?«, hakt nun auch mein Bruder nach und legt seinen saubergeleckten Teller beiseite, um eine seiner großen Pfropfenflaschen zu nehmen, die er immer in seinen Satteltaschen mit sich herumträgt. Beziehungsweise sein Pferd. Dem Geruch nach hat er sie wieder mit Bier befüllen lassen. Jedes Mal, wenn er Geld hat und an einer Brauerei oder Taverne vorbeikommt, füllt er so seine Vorräte auf, und von den Flaschen hat er eine Menge!

Godric nickt ihm zu. »Ja. Davor gab es nichts. Sie haben alles abgeriegelt. Selbst die kleinen Höfe hier wurden überwacht.«

»Von denen stehlen wir ja sowieso nichts«, erinnere ich ihn und er lenkt sofort ein.

»Nein, weiß ich doch, aber da lagen noch ein paar Rüben auf dem Feld von Bauer Cedrik. Die haben wir eingesammelt und wurden sofort von den Bobbys angeschnauzt. Konnten gerade so fliehen.«

»Das ist echt verrückt«, grummelt Braxton, lehnt sich vor und sieht zu mir rüber. »Wie lange soll denn diese bescheuerte Ausstellung gehen?«

»Keine Ahnung«, grummle ich, frustriert über meinen bereits geleerten Teller. »Ein paar Wochen, vielleicht auch Monate. Aber der schlimmste Trubel wird nach der Eröffnungsfeier morgen vorbei sein. Vermutlich müssen die feinen Herrschaften dann bis zum Sonntag ausnüchtern und verpissen sich spätestens Montagvormittag. Danach sollte sich der Ansturm in Grenzen halten und wieder alles beim Alten sein.«

»Du vergisst da eine Kleinigkeit, mein Großer«, wirft Leanne ein und schaut mich mit ihren tief umfurchten braunen Augen an. »Selbst wenn die abhauen, wächst der Weizen nicht über Nacht auf den Feldern nach. Genauso wenig wie alles andere. Es wird eine ganze Weile dauern, bis die Vorratskammern wieder aufgefüllt sind, sodass auch wir uns daran bedienen können.«

»Dann überfallen wir halt die Konvois«, schlägt Godric vor. »Die werden doch ordentlich Proviant für die Heimreise dabeihaben und -«

»Teufel noch eins, deine Intelligenz hat wahrlich den Tiefgang einer Regenrinne«, stöhnt seine Schwester auf.

»Pah«, prustet er und kontert: »Dafür sind deine Ideen so frisch wie eine Woche altes Brot, wenn du denn überhaupt mal welche hast!«

Leanne legt den Kopf in den Nacken. »Das sind alles hochrangige, teils sogar hochherrschaftliche Adlige, du Spaten! Glaubst du, die haben nur ein paar leicht zu überlistende Schießbudenfiguren mit verrosteten Waffen dabei?«

»Sie hat recht«, stimme ich ihr zu. »Die zu beklauen ist viel zu gefährlich.«

»Genau!« Leanne zieht die Nase hoch. »Da können wir uns auch direkt einen Strick nehmen.«

»War ja nur eine Idee«, schnauft ihr Bruder frustriert und leert seinen Becher.

»Wahrscheinlich ist es das Beste, wir bleiben einfach für die nächsten zwei Wochen im Wald«, schlage ich vor. »Wir haben Frühling und in den letzten Tagen hat es viel geregnet. Da sollten wir bereits einiges an Giersch, Sauerampfer und Bärlauch, vielleicht sogar ein paar essbare Pilze finden können ... Morcheln zum Beispiel. Außerdem hab ich auf meinem Heimweg gestern gesehen, dass auch schon einige wilde Erdbeeren reif sind.«

»Oh ja! Ich weiß, wo wir Waldmeister finden und den gibt es auch schon zu Hauf!« Leanne zeigt sich von meiner Idee begeistert. »Die Holunderblüten von der Weide hinten am Howden Dam sollten ebenfalls langsam zum Essen geeignet sein!«

»Wunderbar. Na, das ist doch schon mal was.« Ich nicke ihr zu, Godric grummelt nur, denn er mag weder Obst noch Wildkräuter und Braxton ist ungewöhnlich ruhig. »Auf dem Weg dorthin finden wir sicher einiges und wenn wir Glück haben auch noch ein paar essbare Wurzeln. Am Rand von Morfield wachsen immer viele wilde Pastinaken. Insofern die nicht schon von jemand anderem abgeerntet wurden, reichen allein die für mindestens zwei Tage.«

Die Zustimmung meiner kleinen Bande hält sich in Grenzen. Leanne lächelt etwas verhalten, denn sie weiß, dass sie von all diesen Dingen kein Gramm zunehmen wird, und auch mir ist bewusst, dass vor allem eines in dieser Besorgungsliste fehlt: Ein gehaltvoller Sattmacher!

»Schön«, meldet sich Braxton endlich zu Wort und leert seine Flasche. »Während ihr eure Zeit damit verschwendet, geschmackloses Unkraut zu beschaffen, gehen Godric und ich jagen!« Damit steht er auf und gibt diesem einen Wink, sich ebenfalls zu erheben.

»Nein!«, lege ich sofort mein Veto ein. »Bist du verrückt? Du kannst nicht jagen gehen, wenn überall Peelers und die Wachen der Adligen herumlaufen! Die hören deine Schüsse meilenweit! Willst du schon wieder wegen Wilderei angeklagt werden?« Das wäre nämlich nicht das erste Mal.

Wütend steht er auf. »Ich werde jedenfalls nicht nur hier sitzen, abwarten und irgendwelches Gestrüpp fressen, von dem ich die Flitzekacke kriege!«

»Wie wäre es, wenn wir die Situation einfach genießen und nach Manchester reiten?«, schlägt Godric plötzlich vor und wirkt dabei regelrecht überschwänglich. »Überlegt doch mal! Die reichen Pinkel haben jeder einen Arsch voll Diener, Hofdamen und Gefolgsleute mit! Die werden ganz sicher nicht mit auf die Ausstellung gehen. Sie werden die Tavernen besuchen und die Straßen der Stadt erkunden, betrunken und leichtsinnig!«

»Ja, umgeben von zig Gesetzeshütern an jeder Ecke«, erinnere ich ihn, doch er winkt sofort ab.

»Ich sage doch gar nicht, dass wir da krumme Dinger drehen müssen oder irgendwen beklauen! Lasst uns einfach mal Spaß haben und neue Leute treffen! Vielleicht ergibt sich ja was?« Er stöhnt und reißt die mageren Hände hoch. »Ich will endlich mal wieder raus, mich hemmungslos besaufen und eine abschleppen!«

»Du stinkst drei Meilen gegen den Wind nach Pferdescheiße! Alles, was du abschleppst, sind Fliegen«, prustet Leanne und holt Feuerholz vom Stapel. »Außerdem hast du gerade keinen müden Penny in der Tasche und bist unansehnlicher als überfahrener Hüttenkäse!«

Braxton und ich müssen uns das Grinsen verkneifen, doch Godric bewirft seine Zwillingsschwester erbost mit Dreck. »Du siehst genauso aus wie ich, schon vergessen? Der einzige Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du einen üppigeren Schnauzbart hast!«

Sie wirft zurück und spuckt noch hinterher, genau wie er vorhin: »Pah! Lieber zu viele Haare als zu wenig, abrasieren kann man immer! Du bist doch nur neidisch, weil dein Kinn aussieht wie der Arsch eines Nacktmulls!«

Ich liebe den trockenen Humor der beiden.

Während sich die zwei noch eine Weile mit Sand beschmeißen, wie kleine Kinder im Buddelkasten, zieht Braxton den Korken aus seiner nächsten Pfropfenflasche. »Ich finde, er hat gar nicht so Unrecht«, brummt er dabei und sieht uns vielsagend an, als es still wird. »Wir haben schon lange niemanden mehr ... abgeschleppt. Und gerade jetzt, wo die Stadt von so vielen Aristokraten besucht wird, wäre es vielleicht an der Zeit.«

Ich kenne diesen Blick. Er heckt etwas aus, einen verwegenen Plan!

Ich hasse es, wenn er das tut ...

 

Kapitel 2

______________

Tiefer Schlaf

 

 

 

»Aua!«, quäkt Godric und wird sofort von Braxton angezischt. »Shhht mich nicht an und nimm deinen verdammten Fuß aus meinem Gesicht!«, motzt der jedoch leise weiter.

»Was kann ich dafür, wenn du deine Fratze unter meinen Stiefel schiebst? Hab ich Augen an der Schuhsohle? ... Jetzt sei leise!«

Pünktlich zur Dämmerung lugt mein Bruder über die Mauer, schaut eine Weile und wird schließlich fündig. »Ja! Da! Da vorne ist sie! Eine Prinzessin wie aus dem Bilderbuch! Rothgar, sieh sie dir an!«

Ich schnaufe nur kopfschüttelnd, denn ich halte seinen Plan, eine Prinzessin zu entführen, noch immer für völlig bescheuert. Aber ich gebe klein bei, greife an die Kante und ziehe mich ebenfalls hoch. Ein Blick schadet ja nicht.

Sobald ich über die Mauer linse, trifft mich jedoch fast der Schlag. »Diese Kutsche ... da drüben, die mit den zwei Schimmeln ... ja, das ist die Kutsche von dem verdammten Raser, der gestern durch die Stadt gebrettert ist und dabei fast das Kind überfahren hätte!«

»Mein Gott, bist du Nonne? Wen kümmerts«, stöhnt Braxton nur und dreht meinen Kopf zur Seite, indem er meinen Bart nach rechts zieht. »Guck dir lieber die reiche Perle an, bevor sie weg ist!«

Unfreiwillig und auch ein wenig schmerzhaft, lenkt er mein Augenmerk so auf eine schlaksige junge Frau in einem weißen Sommerkleid. Flankiert von einigen Dienern, die ausladende Hutboxen, bestickte, große, prall gefüllte Samttaschen und Körbe voller kleiner Köstlichkeiten aus den hiesigen Confiserien und Feinkostläden schleppen, geht sie gerade vom Einfuhrplatz zum Eingang des opulenten Gasthauses. Offenbar war sie in der Stadt einkaufen.

Ja, zugegeben, mit ihren gelockten, feuerroten Haaren, deren vorderer Teil kunstvoll nach oben gesteckt wurde, ist sie wirklich ein Hingucker. Auch wenn höchstens die Hälfte davon echt ist, so ist diese Farbe doch etwas Besonderes. Haare in blassen Kupfertönen sieht man hierzulande schon noch ab und zu, aber ihre schillern dunkelrot in den Schatten und reflektieren die untergehende Sonne in satten, strahlenden Orangetönen. Zudem ist auch ihr Gesicht äußerst hübsch, doch wer weiß, wie sie ohne das blass machende Puder, das rosafarbene Rouge auf ihren Wangen und die tiefrot gemalten Lippen aussieht. Darüber hinaus versprüht ihr Blick eine derartige Arroganz, dass ich jetzt schon keinen Bock mehr habe, sie in unserer Höhle zu beherbergen, nicht mal als Geisel.

»Sie ist perfekt!«, gluckert es hingegen angeregt aus Braxtons Kehle, und erst als das Zielobjekt aus seinem Sichtfeld verschwindet, steigt er von Godrics verschwitzten Schultern.

---ENDE DER LESEPROBE---