Braunes Erbe - David de Jong - E-Book
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David de Jong

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Beschreibung

Das braune Erbe der reichsten deutschen Unternehmerdynastien – und wie sie heute damit umgehen. Die Quandts, die Flicks, die von Fincks, die Porsche-Piëchs, die Oetkers und die Reimanns zählen zu den reichsten deutschen Unternehmerdynastien. Und dennoch ist ihre dunkle Vergangenheit kaum bekannt. David de Jong erzählt, woher ihr Wohlstand kommt, wie sie sich im Nationalsozialismus bereichert haben, und wie sie danach damit umgingen. Anfang 1933 luden die Nationalsozialisten Vertreter der Wirtschaft nach Berlin ein, um sie aufzufordern, für den bevorstehenden Wahlkampf Geld zu spenden. Die Eingeladenen waren erfolgreiche Industrielle und Banker; zu ihnen gehörten Günther Quandt, Friedrich Flick und August von Finck. Nach der Machtübernahme traten sie in die Partei ein und arbeiteten mit dem Regime zusammen. Sie verdienten an der Aufrüstung und bereicherten sich durch Einsatz von Zwangsarbeitern und Raub jüdischer Unternehmen in Deutschland und in den besetzten Gebieten Europas. Warum konnten sie nach dem Krieg nahezu unbehelligt weiterarbeiten? Wie gingen sie mit ihrer Verantwortung für das Unrecht um, dem sie einen Teil ihres Reichtums verdanken? Welche Entscheidungen haben es ihnen möglich gemacht, in den Jahrzehnten danach weiter zu expandieren? Was bedeutete das für die Bundesrepublik? Und wie gehen die Erben heute mit ihrer dunklen Familiengeschichte um? David de Jong erzählt auf fesselnde Weise von einem Jahrhundert deutscher Geschichte – und von Dynastien, deren Entscheidungen viele Schicksale bestimmt haben und die bis heute den Alltag von Menschen in Deutschland und der Welt beeinflussen.

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David de Jong

Braunes Erbe

Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien

Aus dem Englischen von Michael Schickenberg und Jörn Pinnow

Kurzübersicht

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Titelseite

Über David de Jong

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über David de Jong

David de Jong, geboren 1986 in den Niederlanden, lebt als Journalist in Tel Aviv. Er studierte Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam und Geschichte an der Columbia-Universität in New York und der London School of Economics. Seine Beiträge erschienen unter anderem in Bloomberg Businessweek, im Wall Street Journal und im Het Financieele Dagblad.

Der Übersetzer

Jörn Pinnow, geboren 1974, studierte Geschichte und Literaturwissenschaften in Tübingen, Brüssel und Berlin. Er übersetzt Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen.

Der Übersetzer

Michael Schickenberg, geboren 1975, übersetzt Sachbücher und Romane aus dem Englischen und Norwegischen. Er studierte Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Skandinavistik in Greifswald, den USA, Norwegen und Spanien.

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Über dieses Buch

Anfang 1933 luden die Nationalsozialisten Vertreter der Wirtschaft nach Berlin ein, um sie aufzufordern, für den bevorstehenden Wahlkampf Geld zu spenden. Die Eingeladenen waren erfolgreiche Industrielle und Banker; zu ihnen gehörten Günther Quandt, Friedrich Flick und August von Finck. Nach der Machtübernahme traten sie in die Partei ein und arbeiteten mit dem Regime zusammen. Sie verdienten an der Aufrüstung und bereicherten sich durch Einsatz von Zwangsarbeitern und Raub jüdischer Unternehmen in Deutschland und in den besetzten Gebieten Europas. Warum konnten sie nach dem Krieg nahezu unbehelligt weiterarbeiten? Wie gingen sie mit ihrer Verantwortung für das Unrecht um, dem sie einen Teil ihres Reichtums verdanken? Welche Entscheidungen haben es ihnen möglich gemacht, in den Jahrzehnten danach weiter zu expandieren? Was bedeutete das für die Bundesrepublik? Und wie gehen die Erben heute mit ihrer dunklen Familiengeschichte um?

David de Jong erzählt auf fesselnde Weise von einem Jahrhundert deutscher Geschichte – und von Dynastien, deren Entscheidungen viele Schicksale bestimmt haben und die bis heute den Alltag von Menschen in Deutschland und der Welt beeinflussen.

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

  Prolog: Das Treffen

  Einleitung

  Teil I »Vollendeter Durchschnitt«

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

  Teil II »… dass der nationalsozialistische Spuk bald vorübergehen werde«

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

  Teil III »Die Kinder sind nun schon zu Männern geworden«

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

  Teil IV »Du wirst weiterleben«

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

  Teil V »Neun Nullen«

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

  Teil VI Die Aufarbeitung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

  Epilog: Das Museum

  Anhang

  Danksagung

  Hinweise zu den Quellen

  Anmerkungen

Personen- und Firmenverzeichnis  

In liebevoller Erinnerung an meine Großeltern

 

Alice und Hans,

Hannie und John,

 

denn sie widerstanden, überlebten, florierten und schenkten ihren Familien das bestmögliche Leben

Räuber der Welt, durchspüren sie, nachdem den alles Verwüstenden die Länder ausgingen, nun auch das Meer – habgierig, wenn der Feind reich, ruhmsüchtig, wenn er arm ist; […] Stehlen, Morden, Rauben heißen sie mit falscher Bezeichnung »Herrschaft«, und wo sie Einöde schaffen, nennen sie das »Frieden«.[1]

– Tacitus, Agricola –

  11  Prolog: Das Treffen

Reglos verharren sie dort, wie vierundzwanzig Rechenmaschinen an den Toren zur Hölle.[2]

– Éric Vuillard, Die Tagesordnung –

Die Einladungen, übermittelt vier Tage zuvor per Telegramm, ließen keinen Zweifel. Die Hauptstadt rief. Am Montag, dem 20. Februar 1933 um 18 Uhr folgten rund zwei Dutzend der vermögendsten und einflussreichsten Geschäftsmänner NS-Deutschlands diesem Ruf und trafen, einige zu Fuß, andere chauffiert im Wagen, in der Berliner Residenz von Reichstagspräsident Hermann Göring ein. Unter ihnen waren Günther Quandt, ein Schwergewicht der Rüstungs- und Batterieindustrie mit Wurzeln in der Textilbranche; Friedrich Flick, ein Stahlbaron; August Baron von Finck, ein bayerischer Finanzmagnat; Kurt Schmitt, Generaldirektor des Versicherungsriesen Allianz; Manager des Chemiekonglomerats IG Farben und des Kaligiganten Wintershall; sowie Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der eingeheiratete Aufsichtsratsvorsitzende des Krupp’schen Stahlimperiums.[3]

Drei Wochen zuvor hatte Adolf Hitler die Macht im Land übernommen, nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg davon überzeugt worden war, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Jetzt wollte der NSDAP-Vorsitzende vor der Versammlung aus Industriellen, Bankiers, Führungskräften und Konzernerben »Ausführungen über seine Politik machen« – jedenfalls hatte die Einladung diesen Eindruck vermittelt.[4] Die Anwesenden erhofften sich verbindliche Informationen zur Industriepolitik unter der neuen  12  Regierung. Die allerdings erhielten sie nicht. Hitler hatte seine eigenen Pläne für das Treffen – und für das Land.

Die Geschäftsmänner erschienen pünktlich in Görings Palais aus Sandstein am Südufer der Spree gleich neben dem Reichstag. Doch man ließ sie warten – etwas, das die ungeduldigen Industriegrößen weder gewohnt waren noch schätzten. Göring, in der Rolle des Gastgebers, begrüßte sie mit fünfzehnminütiger Verspätung. Ihn begleitete Walther Funk, der untersetzte und fast kahlköpfige Reichspressechef der Regierung Hitler. Der neue Kanzler ließ sich noch mehr Zeit und erschien in Begleitung von Otto Wagener, seinem wichtigsten Wirtschaftsberater.[5] Organisator des Treffens war der frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. (Mit Funk, Schacht, Göring und Schmitt waren gleich vier von Hitlers zukünftigen Reichswirtschaftsministern anwesend.) Das Treffen stellte den Höhepunkt jahrelanger Vorarbeit durch NSDAP-Funktionäre dar – Jahre, in denen man Kontakte zu deutschen Wirtschaftsgrößen geknüpft hatte, um diese für die Sache des Nationalsozialismus zu begeistern.

Nachdem er den Anwesenden die Hand geschüttelt hatte, setzte Hitler zu einer neunzigminütigen frei gehaltenen Rede ohne Pause an. Aber statt wie angekündigt über seine zukünftigen politischen Pläne zu sprechen, erging sich Hitler in einer ausschweifenden Analyse der aktuellen politischen Situation. Das Jahr 1918 sei ein katastrophaler Wendepunkt der deutschen Geschichte gewesen, angefangen mit der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg bis zur Revolution in Russland, die die Kommunisten an die Macht gebracht hatte. Nach Hitlers Ansicht war der Moment gekommen, das Ringen zwischen links und rechts ein für alle Mal zu entscheiden.[6]

Hitler stellte in Aussicht, dass die Männer, wenn sie ihn unterstützten, sich selbst, ihren Firmen und ihren Vermögen helfen würden. »Privatwirtschaft im Zeitalter der Demokratie ist nicht aufrechtzuhalten«, sagte der 43-jährige Kanzler, »sie ist nur denkbar, wenn das Volk eine tragende Idee von Autorität und  13  Persönlichkeit besitzt. Alles, was in der Welt an Positivem, an Gutem und Wertvollen auf dem Gebiete der Wirtschaft und Kultur geschaffen worden ist, beruht ganz allein auf der Bedeutung der Persönlichkeit.«[7] Hitler sprach nicht über die Abschaffung der Gewerkschaften, Wiederaufrüstung, Krieg oder die Entfernung der Juden aus Deutschland. Aber er gab einen Ausblick auf das, was kommen würde: »Wir müssen erst die ganzen Machtmittel in die Hand bekommen, wenn wir die andere Seite ganz zu Boden werfen wollen.«[8]

Gegen Ende seiner Rede umriss Hitler, was passieren würde. In zwei Wochen schon, am 5. März 1933, werde das deutsche Volk mit seiner Stimmabgabe bei den Reichstagswahlen – »der letzten Wahl« in Hitlers Worten – über die Zukunft des Landes entscheiden. Die Demokratie werde fallen, auf die eine oder andere Weise. Der neue deutsche Kanzler beabsichtigte, sie vollständig aufzulösen und durch eine Diktatur zu ersetzen. »Sie mag ausfallen, wie sie will«, warnte er, »einen Rückfall gibt es nicht mehr […]. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, entweder ein Zurückdrängen des Gegners auf dem Boden der Verfassung […], oder es wird ein Kampf mit anderen Waffen geführt werden, der vielleicht größere Opfer fordert.« Sollte die Wahl seine Partei nicht an die Macht bringen, so ließ er durchblicken, sei ein Bürgerkrieg zwischen rechten und linken Kräften unvermeidlich. Dann schloss er mit Pathos: »Hoffentlich erkennt also das deutsche Volk die Größe der Stunde, sie entscheidet über die nächsten 10, ja vielleicht 100 Jahre.«[9]

Der Rüstungs- und Stahlindustrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach war als Primus inter Pares und Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie zum Sprecher der anwesenden Wirtschaftsvertreter bestimmt worden. Der 62-Jährige hatte für das Treffen – seine erste Begegnung mit Hitler – ein ausführliches wirtschaftspolitisches Memorandum vorbereitet. Doch angesichts der Tatsache, dass der Reichskanzler soeben die Auflösung der deutschen Demokratie gefordert hatte, hielt er einen Dialog über langweilige politische Details für wenig passend.  14  Stattdessen dankte er dem Kanzler demütig im Namen der versammelten Männer dafür, dass er ihnen »ein so klares Bild des Aufbaues seiner Gedankenwelt gegeben habe«. Krupp endete mit einigen gefälligen Bemerkungen über die Notwendigkeit einer schnellen innenpolitischen Stabilisierung und eines starken Staates, da nur so »Wirtschaft und Gewerbe zur Entwicklung und zur Blüte kommen könnten«.[10]

Im Anschluss an Krupps Ausführungen nahm der Kanzler weder Fragen entgegen noch klärte er die Anwesenden über den tatsächlichen Zweck des Treffens auf. Das überließ er dem Gastgeber Göring. Er selbst verließ die Versammlung.

Göring eröffnete das Thema mit einem allseits willkommen geheißenen Versprechen von Stabilität. Er versicherte den Größen aus Industrie und Finanzwelt, »dass mit der politischen Befriedigung auch die Wirtschaft zur Ruhe kommen werde«. Es werde keine wirtschaftspolitischen »Experimente« geben. Voraussetzung für ein wirtschaftsfreundliches Klima sei ein Sieg der neuen, von Hitler angeführten Koalition bei den kommenden Wahlen. Dann kam der Reichstagspräsident zum Kern der Sache: Die NSDAP benötige Geld für den Wahlkampf. Da man Steuergelder und staatliche Etats nicht für parteipolitische Zwecke einsetzen könne, sei es wünschenswert, wenn »andere nicht im politischen Kampf stehende Kreise wenigstens die nun mal erforderlichen finanziellen Opfer bringen« würden.[11]

In Görings abschließendem Appell hallten die Worte Hitlers nach: Das »erbetene Opfer« werde die Industrie angesichts der Tatsache, »dass die Wahl am 5. März die letzte sicherlich innerhalb 10 Jahren, voraussichtlich aber in 100Jahren sei«, wohl schwerlich schmerzen.[12] Anschließend verließ Göring den Raum. Seine Gäste blieben sprachlos zurück.

Als Nächster wandte sich der Ökonom Hjalmar Schacht an die Gruppe. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorrednern kam er direkt zur Sache und schlug die Einrichtung eines Wahlkampffonds in Höhe von drei Millionen Reichsmark (heute rund vierzehn  15  Millionen Euro) vor, der auf die NSDAP und ihren nationalkonservativen Koalitionspartner, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), zu verteilen sei.[13] Auf die DNVP waren die Nationalsozialisten bis auf Weiteres noch angewiesen, um im Reichstag eine Mehrheit zu bilden. Das allerdings sollte sich bald ändern.

Die zu leistende Summe wurde auch gleich aufgeteilt. Eine Million Reichsmark sollte die Steinkohle- und Eisenindustrie des Ruhrgebiets aufbringen, während dem Kalibergbau und der Chemieindustrie jeweils 500.000 Reichsmark auferlegt wurden. Die noch fehlende Million wurde auf Braunkohle, Automobilindustrie, Maschinenbau und Elektrotechnik verteilt. Die Anwesenden einigten sich darauf, dass 75 Prozent des Geldes der NSDAP zufließen solle, den Rest erhielt ihr Koalitionspartner. Daraufhin äußerte Schacht den kürzesten und kostspieligsten Satz des Abends: »Und nun, meine Herren, an die Kasse!«[14]

Hitlers Einladung zur Erörterung wirtschaftspolitischer Fragen war in Wirklichkeit kaum mehr als ein Vorwand gewesen, um einen millionenschweren Parteifinanzierungsfonds aus der Taufe zu heben. Hitler und Göring hatten ein wichtiges Detail elegant verschwiegen: die desaströse Finanzlage der NSDAP. Die Partei war mit mehr als zwölf Millionen Reichsmark verschuldet, und die wenigen vorhandenen liquiden Mittel reichten bei Weitem nicht aus für eine landesweite Wahlkampagne.[15] Doch dieses Problem sollte bald der Vergangenheit angehören. In den darauffolgenden Tagen und Wochen ließen viele der Anwesenden durch ihre Firmen und Verbände große Summen auf ein Treuhandkonto überweisen, das Schacht bei der Privatbank Delbrück Schickler & Co. in Berlin eröffnet hatte. Die Wirtschaftskapitäne hatten offenbar keine Skrupel, den Niedergang ihrer Demokratie zu finanzieren. Die größten Spenden an die NS-Partei kamen vom Bergbauverein (600.000 Reichsmark) und von der IG Farben (400.000 Reichsmark).[16]

Am 21. Februar 1933, einen Tag nach dem Treffen, notierte der 35-jährige Joseph Goebbels, Gauleiter von Berlin und  16  Reichspropagandaleiter, in sein Tagebuch: »Göring bringt die freudige Mitteilung, dass 3 Millionen für die Wahl bereit liegen. Tolle Sache! Ich alarmiere gleich die ganze Prop.Abtlg. Und eine Stunde später knattern die Maschinen. Jetzt werden wir einen Wahlkampf aufdrehen. Heute macht die Arbeit Spaß. Geld ist da.«[17] Goebbels beginnt den Eintrag mit einem Rückblick und beschreibt, wie sehr tags zuvor Finanzsorgen auf die Stimmung in der Berliner Parteizentrale gedrückt hätten. Vierundzwanzig Stunden später sah die Welt schon ganz anders aus.

  17  Einleitung

Am 8. Mai 2019 betrat Verena Bahlsen, die 26-jährige Erbin des bekannten deutschen Keksherstellers, die Bühne der OMR-Konferenz über digitales Marketing in Hamburg, um eine live gestreamte Rede über nachhaltige Lebensmittelproduktion zu halten. Sie trug eine blaue Jeanslatzhose und einen schwarzen Rollkragenpullover, darüber einen schwarzen Blazer. Selbstsicher ergriff sie das Mikrofon. Nachdem sie einige Minuten gesprochen hatte, kam sie vom Thema ab und reagierte, wenn auch ohne namentliche Nennung, auf die kapitalismuskritische Rede des damaligen Jusovorsitzenden und heutigen SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert zur Möglichkeit der Verstaatlichung großer deutscher Unternehmen wie beispielsweise BMW, die dieser kurz zuvor auf derselben Konferenz gehalten hatte: »Ich bin Kapitalist«, erklärte Verena Bahlsen. »Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, da freue ich mich auch drüber. Es soll mir auch weiterhin gehören. Ich will Geld verdienen und mir Segeljachten kaufen von meiner Dividende und so was.«[18]

Ihre improvisierten Bemerkungen zogen sofort wütende Kommentare in den sozialen Medien nach sich. Wie könne sie es wagen, so mit ihrem Reichtum zu prahlen, insbesondere da das Unternehmen ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg nachgewiesenermaßen Zwangsarbeiter eingesetzt habe? Ein paar Tage später wischte Bahlsen die Kritik gegenüber Bild beiseite: »Das war vor meiner Zeit und wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt.« Sie fügte hinzu: »Bahlsen hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«[19]

Ein Skandal brach los. Verena Bahlsen hatte den vermutlich größten moralischen Fauxpas begangen, den man heutzutage in Deutschland begehen kann: Ahnungslosigkeit über die NS-Zeit  18  zu demonstrieren. Es war kein Geheimnis, dass ihr Familienkonzern – wie die meisten anderen deutschen Unternehmen auch – vom Zwangsarbeitersystem des ›Dritten Reichs‹ profitiert hatte, durch das Millionen von Menschen aus ihren Heimatländern in deutsche Fabriken gebracht und dort zur Arbeit gezwungen wurden, oft gegen erbärmliche Bezahlung und unter schrecklichen Bedingungen. Im Fall von Bahlsen handelte es sich um über siebenhundert Zwangsarbeiter, zumeist polnische und ukrainische Frauen, die man in die Hannoveraner Backwarenfabrik des Unternehmens deportiert hatte, wo sie unterbezahlt und misshandelt worden waren.[20] Bahlsens Kommentare sorgten weltweit für Schlagzeilen und wurden rasch von Historikern und Politikern aufgegriffen und verurteilt. Forderungen nach einem Boykott von Bahlsen-Produkten wurden laut.

Es dauerte nur wenige Tage, bis eine Kolonne schwarzer Mercedes-Limousinen vor Bahlsens Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg hielt, um die Firmenerbin samt Hausstand ins heimatliche Hannover zu holen. Anschließend entschuldigte sich Verena Bahlsen öffentlich durch ihr Unternehmen. Aber Journalisten des Spiegel ließen nun nicht mehr locker. Sie deckten auf, dass der Großvater und die Großonkel von Verena Bahlsen, also die Männer, die das Unternehmen Bahlsen im ›Dritten Reich‹ geleitet hatten, Mitglieder der NSDAP waren und außerdem die SS mit Geld unterstützten. Viele der nach Hannover deportierten ukrainischen Frauen waren Arbeiterinnen einer enteigneten Backwarenfabrik in Kiew, die Bahlsen übernommen hatte, wie die Reporter herausfanden.[21] Nach dem Krieg hatten die Bahlsens, wie Millionen anderer Deutscher auch, jede Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten abgestritten und waren ungestraft davongekommen.

Als die öffentliche Empörung zunahm, griff die Familie Bahlsen auf eine bewährte Methode zurück, um die Wogen zu glätten: Man teilte mit, einen namhaften deutschen Historiker mit der unabhängigen Durchleuchtung der Familien- und Konzernaktivitäten während der NS-Zeit beauftragt zu haben. Die Ergebnisse  19  werde man nach Abschluss der Forschungsarbeiten in Form einer allgemein zugänglichen Studie veröffentlichen. Die Ankündigung zeigte Wirkung, und die Kontroverse schlief ein. Aber ich wusste, wie diese Geschichte weitergehen würde.

 

Einige Jahre zuvor, Ende November 2011, hatte ich bei Bloomberg News in einem neu gegründeten Team von Journalisten angefangen, das zu versteckten Vermögen, Milliardären und Familienunternehmen, die um ein Vielfaches größer als das der Bahlsens waren, recherchierte. Ich trat meine neue Stelle in New York nur wenige Tage nach der gewaltsamen Entfernung der Occupy-Wall-Street-Demonstranten aus dem Zuccotti Park im Herzen des Finanzdistrikts von Manhattan durch die New Yorker Polizei an. Nach der Finanzkrise der vergangenen Jahre waren die Spannungen zwischen dem einen Prozent und den restlichen 99 Prozent überall auf der Welt zu spüren. Obwohl ich eingestellt worden war, um über US-amerikanische Unternehmerdynastien wie die Kochs und die Waltons, die Gründer von Walmart, zu berichten, bat man mich, da ich Niederländer bin, schon bald, den deutschsprachigen Raum mit abzudecken.

Ich übernahm die zusätzliche Aufgabe widerwillig. Die brutale Besetzung meiner Heimat durch die Deutschen von Mai 1940 bis Mai 1945 hatte in den Generationen vor mir und im nationalen Bewusstsein meines Landes tiefe Narben hinterlassen. Damals hatten ›sie‹ unser Land besetzt und geplündert. Als Heranwachsender im Amsterdam der 1990er-Jahre erlebte ich im Frühjahr und Sommer jedes Jahr von Neuem die ›Invasion‹ der deutschen Urlauber an unseren Stränden. Außerdem – und das war noch schlimmer – schlugen ›sie‹ uns oft im Fußball (und tun es immer noch).

Meine eher augenzwinkernde Abneigung gegenüber den Deutschen wurde durch die Kriegserlebnisse meiner Familie allerdings deutlich verstärkt. 1941 versuchte mein Großvater mütterlicherseits, ein Protestant und damals noch unverheiratet, zusammen mit seinem besten Freund aus den besetzten Niederlanden zu  20  fliehen und nach England zu segeln. Dort wollten sie sich der Royal Air Force anschließen, aber ihr Boot wurde vom Wind zurückgetrieben. Deutsche Soldaten nahmen sie fest, und sie wurden als politische Gegner verurteilt.[22] Mein Großvater verbrachte fast zwei Jahre in Haft und musste in einem Bochumer Stahlwerk Zwangsarbeit leisten. Er erkrankte dort an Tuberkulose und war zum Zeitpunkt seiner Entlassung völlig ausgezehrt und dem Tod nahe.

Die jüdischen Eltern meines Vaters wurden im Krieg getrennt. Meinem Großvater väterlicherseits gehörten mehrere Spitzen- und Strumpffabriken nahe der deutsch-niederländischen Grenze. Nachdem sein Unternehmen enteignet worden war, gelang es ihm, sich im Zentrum von Amsterdam zu verstecken. Meine Großmutter, eine gebürtige Schweizerin, versuchte 1942, mit meiner dreijährigen Tante und einem Begleiter in ihr Heimatland zu fliehen. Sie wurden an der französisch-schweizerischen Grenze von der Gestapo verhaftet. Einer der Beamten hatte Mitleid mit meiner Großmutter und ihrem kleinen Kind und ließ sie gehen. Sie schafften es über die Grenze in die Schweiz. Ihren Begleiter, einen bekannten Maler, ereilte ein traurigeres Schicksal. Er wurde mit dem Zug ins Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen deportiert und dort ermordet.[23]

Meine Großeltern hatten trotz des erlebten Leids während des Kriegs sehr viel Glück. Nach der Befreiung Europas wurde mein jüdischer Großvater mit seiner Frau und jungen Tochter wiedervereint, und er erhielt seine Fabriken zurück. Sein Vater allerdings war im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben. Meine jüdischen Großeltern waren nie verbittert über den Verlust ihrer geliebten Menschen, die die Nationalsozialisten ermordet hatten. Ebenso wenig verbittert war mein Großvater mütterlicherseits über seine Zeit in deutscher Gefangenschaft. Bevor man ihm die Freiheit raubte, hatte er sich in ein Mädchen aus der Nachbarschaft verliebt. Er kurierte seine Tuberkulose in einem Schweizer Sanatorium aus; meine Großmutter saß die gesamte Zeit an seinem Bett.  21  Kurz nach seiner Genesung heirateten sie.

Meine Eltern kamen wenige Jahre nach dem Krieg zur Welt. Alles in allem gelang es meinen Großeltern, sich selbst und ihren Kindern – und letzten Endes auch mir – ein gutes Leben aufzubauen.

Trotzdem übte mein Großvater mütterlicherseits auf subtile Weise ›Rache‹ an den Deutschen, indem er beständig Witze über sie machte. Als Kind war er für mich immer ein Held, ein stolzer niederländischer Patriot. Meine Großeltern lebten auf einem Hof in einem winzigen holländischen Dorf mit dreihundert Einwohnern, ganz in der Nähe der bei den Deutschen besonders beliebten Strände. »Da rollt die nächste Invasion heran«, witzelte er jedes Frühjahr. Er nahm mir das Versprechen ab, die Deutschen niemals ernst zu nehmen, weil sie sich selbst so ernst nahmen. Ich schwor ihm, es nie zu tun. »Humor ist die beste Rache«, sagte er.

Doch in meinem neuen journalistischen Aufgabengebiet bei Bloomberg lernte ich, die Deutschen sehr wohl ernst zu nehmen – besonders jene in der Großindustrie und im Finanzwesen. Im Sommer 2012 landete ich bei den Recherchen zu einer Auftragsstory auf einer zunächst unauffälligen Website. »Harald Quandt Holding« stand auf der Startseite dieses Unternehmens, das das betreute Vermögen seiner diversen Investmentfirmen mit achtzehn Milliarden Dollar bezifferte. Wie konnte ein unbekanntes deutsches Family-Office mit einer derart minimalistischen Website eine so unglaubliche Geldsumme verwalten?

Wie ich herausfand, stammte dieser Zweig der deutschen Unternehmerdynastie Quandt von einer gewissen Magda Goebbels ab, der inoffiziellen ›First Lady des Dritten Reichs‹ und Ehefrau von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels. Magda Goebbels’ Sohn Harald war das einzige ihrer sieben Kinder, das den Krieg überlebte. Harald, der aus Magdas erster Ehe mit dem Industriellen Günther Quandt stammte, wuchs zwar im Haushalt der Goebbels’ auf, trat aber nie der NSDAP bei. Sein älterer Halbbruder Herbert sollte fünfzehn Jahre nach dem Krieg den BMW-Konzern  22  vor der Pleite retten. 2012 waren Herbert Quandts jüngste Erben immer noch die reichste Familie Deutschlands und verfügten über eine Fast-Mehrheitsbeteiligung an BMW, während den Erben von Harald Quandt ›nur‹ eine Holding in Bad Homburg gehörte.[24]

2007 beauftragten die Quandts, ganz ähnlich wie die Bahlsens, einen deutschen Geschichtsprofessor mit der Aufarbeitung der familiären NS-Historie. Die Entscheidung resultierte aus einer kritischen TV-Dokumentation, die die Verstrickungen der Dynastie in die Machenschaften des ›Dritten Reichs‹ beleuchtete und den Fokus besonders auf die massenhafte Produktion von Waffen, den Einsatz von Zwangsarbeitern und die Inbesitznahme von jüdischen Unternehmen legte. Zu jener Zeit hatten Günther und Herbert Quandt die involvierten Unternehmen der Familie geleitet.

Während meiner journalistischen Arbeit erstaunte mich die fortdauernde historische Intransparenz des reicheren Quandt-Zweigs, also jenes Familienteils, der BMW kontrolliert. Auch nach dem Erscheinen der von der Familie beauftragten Studie im Jahr 2011, die erklärtermaßen »Offenheit« zum Ziel hatte, änderte sich daran nichts.[25] Die Untersuchung brachte noch zahlreiche weitere brutale Verbrechen der Familienpatriarchen während der NS-Zeit ans Licht. Wie ich rasch herausfinden sollte, waren die Quandts kein Einzelfall. Auch viele andere deutsche Unternehmerdynastien hatten während des ›Dritten Reichs‹ floriert und verfügten bald nach dem Krieg über gigantische globale Vermögen, während sie sich zumeist schwertaten – oder schlicht versagten –, Licht in die dunklen Kapitel ihrer Familiengeschichten zu bringen.

Diese Geschichten sind bis heute außerhalb Deutschlands kaum erzählt worden. Unterdessen kontrollieren die jeweiligen Dynastien weiterhin Milliarden von Euros und Dollars. Einige der Erben besitzen keine Unternehmen mehr – sie verwalten und vermehren schlicht ihr ererbtes Vermögen. Viele andere wiederum besitzen bekannte Marken, deren Produkte rund um den Globus zu kaufen sind, angefangen bei den Autos, die wir fahren, über den Kaffee und das Bier, das wir trinken, bis zu den Wohnungen, die  23  wir mieten, den Grundstücken, auf denen wir leben, und den Hotels, in denen wir Zimmer für unsere Urlaube und Geschäftsreisen buchen. Meine Artikel konzentrierten sich in erster Linie auf das Geld dieser Familien. Schließlich schrieb ich für Bloomberg. Aber dieser Fokus ließ andere, drängende Fragen unbeantwortet. Wie waren die Patriarchen dieser Familien unter Hitler zu so viel mehr Macht und Geld gelangt? Warum ließ man fast alle von ihnen nach der Niederlage des ›Dritten Reichs‹ mehr oder weniger einfach so davonkommen? Und warum scheuen sich viele der Erben selbst heute noch, Jahrzehnte später, die Verbrechen ihrer Vorfahren anzuerkennen, wodurch sie einem Geschichtsbild Vorschub leisten, das diese Dinge im Halbdunkel belässt? Warum sind ihre Wohltätigkeitsstiftungen, Medienpreise und Firmensitze immer noch nach den Männern benannt, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten?

Die Antworten auf diese Fragen, oder zumindest einen Teil davon, finden sich auf den folgenden Seiten – in den Entstehungsgeschichten einiger der reichsten deutschen Dynastien, die nach wie vor einen beträchtlichen Teil der Weltwirtschaft kontrollieren. Genauer gesagt: Die Antworten finden sich in den Geschichten der Gründer dieser Dynastien, die unbeschreibliche Vermögen und Macht anhäuften, indem sie Beihilfe zu den Gräueltaten des NS-Systems leisteten. Diese Männer, die meisten von ihnen im deutschen Kaiserreich geboren, stiegen in den unruhigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in die deutsche Wirtschaftselite auf. Bis zum Beginn der NS-Zeit 1933 hatten sie sich als Großindustrielle, Bankiers, Nahrungsmittelproduzenten oder Automobilkonstrukteure etabliert. Einige begannen bereits, ihre Nachfolge zu regeln, und installierten ihre Söhne als designierte Erben in leitenden Positionen. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Kriegs kollaborierten sie mit dem Hitler-Regime und bereicherten sich durch Rüstungsaufträge, den Einsatz von Zwangs- und Sklavenarbeitern sowie die Übernahme von Unternehmen, jüdischen wie nichtjüdischen, in Deutschland und den besetzten Gebieten  24  Europas.

Einige dieser Magnaten waren glühende Nationalsozialisten, die Hitlers Ideologie kritiklos übernahmen. Aber die meisten von ihnen waren vor allem kühl kalkulierende, skrupellose Opportunisten, die ihr Geschäft ausbauen wollten, egal um welchen Preis. Alle waren während des ›Dritten Reichs‹ Mitglied der NSDAP, der SS oder beider Organisationen. Das gilt für die dunkle Geschichte der Quandts, die heute BMW kontrollieren; der Flicks, den ehemaligen Eigentümern von Daimler-Benz; der von Fincks, einer Bankiersfamilie, die die Allianz und die Münchener Rück mitgründete; des Porsche-Piëch-Clans, der Volkswagen und Porsche kontrolliert; sowie der Familie Oetker, die über globale, auf Backzutaten, Fertiggerichten, Bier und Luxushotels gegründete Wirtschaftsimperien herrscht. Die jeweiligen Patriarchen der Familien legten den Grundstein für ihr »braunes Erbe«.

Dieses Buch schildert die NS-Verstrickung und die anschließenden Aufarbeitungsversuche derjenigen deutschen Unternehmerfamilien, die bis heute eine wichtige Rolle in der globalen Wirtschaft spielen. Aber es geht nicht nur um die Sünden deutscher Industrie- und Finanzmagnaten. In diesem Buch wird auch erzählt, wie es nach dem Krieg den alliierten Siegermächten zufiel, über das weitere Schicksal dieser NS-Profiteure zu entscheiden. Aus politischem Kalkül und aus Angst vor einem erstarkenden Kommunismus übergaben die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich die meisten dieser Männer bald stillschweigend an die junge Bundesrepublik, die die meisten der schuldigen Magnaten mit kaum mehr als dem sprichwörtlichen Klaps auf die Hand davonkommen ließ. In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich im Westen des geteilten Deutschlands eine der wachstumsstärksten Ökonomien der Welt, die es denselben NS-Unternehmern ermöglichte, Milliardenvermögen anzuhäufen und in die Ränge der mächtigsten Unternehmer der Welt aufzusteigen. All das, während sie über ihren Anteil am größten Genozid der Geschichte entweder schwiegen oder  25  schlichtweg logen.

Bis zum heutigen Tag haben sich nur einige wenige Erben dieser Männer ernsthaft bemüht, sich mit ihrer jeweiligen Familiengeschichte wirklich auseinanderzusetzen. Andere sperren sich nach wie vor dagegen, ohne nennenswerte negative Folgen. Für Verena Bahlsen hatten ihre Kommentare keinerlei berufliche Konsequenzen. Im Gegenteil: Kurze Zeit später wurde sie von ihrem Vater befördert. Mitte März 2020 kündigte die Bahlsen GmbH & Co. KG an, dass Verena und nicht eines ihrer drei Geschwister aktive Gesellschafterin werden und damit die nächste Generation im Familienunternehmen repräsentieren soll.[26]

 

Das Deutschland, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs hervorging, ist heute zu einer größtenteils toleranten, von Erinnerungskultur und Reue geprägten Gesellschaft herangereift, die ihre Mitglieder zur kritischen Auseinandersetzung mit den Fehlern der Vergangenheit anhält. Während viele der gegenwärtigen großen globalen Mächte von Diktatoren, Rechtspopulisten und Demagogen angeführt werden, ist Deutschland das moralische Rückgrat der westlichen Welt geblieben. Diese fragile Position verdankt das Land nicht zuletzt den fortwährenden öffentlichen Diskussionen über seine NS-Vergangenheit und die Massenverbrechen des Hitler-Regimes. In den letzten fünfzig Jahren hat die politische Führung Deutschlands zumeist nicht davor zurückgeschreckt, moralische Verantwortung zu übernehmen und die Sünden der Vergangenheit einzugestehen. Dennoch wird in jüngster Zeit auch in Deutschland die Entwicklung in eine andere Richtung sichtbar. Während die letzten Augenzeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus nach und nach versterben und die Erinnerung an das ›Dritte Reich‹ verblasst, macht sich eine zunehmend in die Mitte der Gesellschaft drängende und immer schamloser agierende reaktionäre Rechte daran, die progressiven Ideale Nachkriegsdeutschlands zu zermürben.

In einer Zeit, in der Desinformation allgegenwärtig ist und  26  sich Rechtsextremisten international auf dem Vormarsch befinden, sind historische Transparenz und Aufarbeitung umso wichtiger, wie die Beispiele aus den USA und England zeigen, wo Denkmäler von Südstaatengenerälen, Sklavenhändlern und Wegbereitern des Kolonialismus wie Christoph Kolumbus abgerissen und Hochschulinstitute, die den Namen rassistischer Präsidenten tragen, umbenannt werden. Trotzdem scheint der Trend zur kritischen Auseinandersetzung mit der Historie an vielen der legendären deutschen Unternehmerfiguren vorbeizugehen. Ihre Vermächtnisse bleiben auffällig unauffällig im Dunkeln. Dieses Buch möchte zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten, Licht in dieses Dunkel zu bringen.

  27  Teil I»Vollendeter Durchschnitt«

 29 1.

Jahrzehntelang hatte die Familie Quandt von Krieg und Umwälzungen profitiert. Doch als der 37-jährige Textilmagnat Günther Quandt im Oktober 1918 mitten in der Grippepandemie nach Berlin zog, sah es so aus, als würden Krieg und Umwälzungen gerade sein Land zerstören. Quandt erlebte den Niedergang seines geliebten deutschen Kaiserreichs hautnah mit, als es den Ersten Weltkrieg und dazu Millionen von Männern in den Schützengräben verlor. Trotz der vernichtenden Niederlage des Reichs verdienten die Quandts Millionen am Krieg.[27] Die Tuchfabriken der Familie, die Quandt im ländlichen Brandenburg wenige Stunden nördlich der Hauptstadt leitete, hatten jede Woche Tausende von Uniformen für ihre treue kaiserliche Kundschaft produziert. Eine Welle junger deutscher Soldaten nach der anderen wurde an die Front und in die Gräben geschickt, und jeder von ihnen brauchte eine neue Uniform, um die zerfetzten Monturen der gefallenen Kameraden zu ersetzen. So ging es Woche für Woche, vier nicht enden wollende Jahre lang.

Deutschlands Verluste waren Quandts Gewinne. Als der Krieg vorbei war, hatte Quandt genug Geld verdient, dass er seinen Wohnsitz permanent nach Berlin verlegen konnte. Während des Kriegs war es ihm geglückt, den Militärdienst zu umgehen – zunächst, weil er für körperlich untauglich befunden worden war, später dann, weil er eine zentrale Rolle für die kaiserliche Kriegswirtschaft spielte. Von Berlin aus leitete er eine halbstaatliche Kriegsgesellschaft, die Heer und Marine mit Wolle versorgte. Parallel steuerte Quandt die Familienwerke mithilfe täglicher Anweisungen per Brief, während seine zwei jüngeren Brüder und sein Schwager an der Front kämpften. Als sie von dort heimkehrten,  30  eröffnete ihnen Quandt, dass er nach Berlin ziehen und die Geschicke der Tuchfabriken von nun an aus der brodelnden Hauptstadt lenken werde. Gleichzeitig verfolgte er größere Pläne, wollte neue Geschäftsmöglichkeiten ausloten und in andere Branchen vorstoßen.

Quandt liebte Berlin. Er war am 28. Juli 1881 im ländlichen Pritzwalk zur Welt gekommen, etwa 130 Kilometer nordwestlich der Reichshauptstadt. Als Erstgeborener einer bekannten Tuchfabrikantenfamilie und somit designierter Nachfolger seines Vaters schickte man ihn mit fünfzehn für eine anständige Ausbildung nach Berlin, wo er bei seinem Englischlehrer wohnte. Das Deutsche Reich hatte sich um die Jahrhundertwende zu einer führenden Industrienation entwickelt und Berlin zu deren pochendem Herzen. In seiner Freizeit erkundete der junge Quandt die weitläufige und geschäftige Metropole und verfolgte den Bau der Hoch- und Untergrundbahn. Seine Schulzeit in Berlin beschrieb er später als »glückliche Jahre«.[28] Am liebsten hätte er nach der Schule Architektur studiert, aber das kam nicht infrage. Günther wurde nach Hause beordert, wo er von seinem kränkelnden Vater Emil, einem großen, stämmigen Mann mit üppigem Schnurrbart und den Werten eines stolzen preußischen Protestanten – Bescheidenheit, Gottesfurcht, Fleiß –, den Tuchhandel erlernen sollte.

1918 allerdings zog Quandt nicht allein nach Berlin. Seine Frau Antonie, genannt Toni, und die beiden Söhne Hellmut und Herbert begleiteten ihn. Quandt war seit zwölf Jahren mit Antonie verheiratet, Hellmut und Herbert waren zehn und acht Jahre alt. Antonie war Quandts große Liebe. Fast hätten seine Eltern die Ehe verhindert, weil sie Antonies Familie für neureich hielten.[29] Als sie versuchten, die Beziehung zu unterbinden, erwog Quandt ernsthaft, in die USA auszuwandern. Er hatte sogar schon die billigste Reiseroute – per Schiff nach Baltimore – in Erfahrung gebracht und geplant, sich Arbeit in Chicago zu suchen.[30] Doch Quandt blieb. Am Ende siegten Liebe und Beharrlichkeit, der elterliche Segen wurde gewährt.

  31  Am 15. Oktober 1918, während der Herbstferien, reisten Antonie und die zwei Jungen nach Berlin, um Quandt und das neue Heim der Familie zu besuchen. Die vierköpfige Familie übernachtete im luxuriösen Hotel Fürstenhof am Potsdamer Platz. Quandt wollte seiner Frau und den Kindern unbedingt das neu erworbene große Haus zeigen, das 25 Kilometer südlich des Zentrums im grünen Vorort Neubabelsberg lag, einer Villenkolonie, in der viele Berliner Bankiers, Industrielle und betuchte Intellektuelle wohnten. Das Grundstück mit uraltem Baumbestand lag direkt am Griebnitzsee unweit vom Park Babelsberg und dem Babelsberger Schloss, der Sommerresidenz des Kaisers. Antonie hatte sich immer noch nicht ganz von der Operation nach Herberts komplizierter Geburt erholt. Sie hoffte, in dem neuen Haus ihre Kräfte zurückzugewinnen, besonders wegen der herrlichen Umgebung: dem See, dem Park und der von üppigen Platanen, Linden und Ahorn umsäumten Straße.[31] »Aber hier muss ich wieder ganz gesund werden«, sagte sie zu ihrem Mann, nachdem dieser sie und die zwei Jungen herumgeführt hatte.[32]

Es sollte anders kommen. Am Tag nach dem Besuch reisten Antonie und die Söhne zurück nach Pritzwalk. Abends erhielt Quandt einen Anruf von einem Angestellten: Toni sei mit leichten Grippesymptomen aus Berlin zurückgekehrt. Die Jungen habe man zu Verwandten gebracht, damit sie sich nicht infizierten. Wegen der Pandemie musste man auf Nummer sicher gehen – die Spanische Grippe war hoch ansteckend. Innerhalb von zwei Tagen weitete sich Antonies Grippe zu einer beidseitigen Lungenentzündung aus. In seiner Verzweiflung fuhr Quandt zu einem ihm bekannten Arzt, der ihm aber nicht sofort helfen konnte, da er bereits ein knappes Dutzend Patienten betreute, die an derselben Krankheit litten. Antonie starb in einer kalten Oktobernacht. Sie war erst 34. Die zarte Frau, die sich so sehr nach einem Neuanfang gesehnt hatte, hatte der zweiten Welle der Spanischen Grippe, die den Globus überrollte und Millionen von Toten zurückließ, nichts entgegenzusetzen.

  32  Von einem Augenblick auf den anderen war Quandt zum Witwer geworden, allein in der hektischen Hauptstadt eines besiegten Reichs am Rande des Abgrunds. Und bald würden seine zwei jungen Söhne zu ihm kommen, die gerade ihre Mutter verloren hatten und nun weit mehr Zuwendung von ihm brauchten, als er ihnen jemals würde geben können. Quandt hatte wenig Zeit für sie. Er musste ein Imperium aufbauen. Nach Antonies Beerdigung an einem sonnigen Herbsttag in Pritzwalk stand Quandt an ihrem Grab und spürte, dass er etwas »Unwiederbringliches verloren« hatte. »Ich war der Meinung, der Mensch könne nur einmal im Leben wirkliche Liebe geben und empfangen«, schrieb er später.[33]

Doch schon sechs Monate später verliebte sich Günther Quandt neu. Die daraus entstehende Verbindung verfolgt die Quandts bis heute. Der Name der Angebeteten war Magda Friedländer, doch sie sollte bekannt werden als Magda Goebbels, die ›First Lady des Dritten Reichs‹.

2.

Am warmen Frühlingsabend des 21. April 1919 bestieg Günther Quandt in Berlin einen überfüllten Nachtzug. Es war Ostermontag, und er war im Begriff, mit zwei Geschäftspartnern zu einem Termin nach Kassel zu fahren. Kurz vor der Abfahrt des Zugs postierte eine Mutter ihre Tochter im Teenageralter, beladen mit Koffern und Kisten, vor dem Abteil der drei Geschäftsleute in der ersten Klasse. Sie hatte den gesamten Zug erfolglos nach einem freien Sitzplatz abgesucht. Ihre Anweisung zum Abschied: »Magda, hier bleibst du stehen.«[34] Quandt wartete zwei oder drei Minuten, bis er aufstand und dem Mädchen unaufdringlich einen Platz anbot. Es dauerte um einiges länger als drei Minuten und brauchte einige weitere Einladungen von Quandt, bis die schüchterne Magda  33  schließlich die Abteiltür öffnete und sich zu dem deutlich älteren Männertrio setzte.

Nachdem Quandt ihr beim Verstauen der Sachen geholfen hatte, setzte sich Magda aufs weiche Plüschpolster. Als die beiden ins Gespräch kamen, stellte Quandt fest, wie außerordentlich attraktiv das Mädchen war. Später schrieb er dazu: »Inzwischen hatte ich entdeckt, dass ich da eine ausnehmend schöne Erscheinung hereingebeten hatte: hellblaue Augen, schönes, volles Blondhaar, ein gut geschnittenes regelmäßiges Gesicht, eine schlanke Gestalt.«[35] Magda war erst siebzehn, und damit zwanzig Jahre jünger als er und nur sechs Jahre älter als sein ältester Sohn Hellmut. Sie hatte Ostern bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in Berlin verbracht und reiste nun zurück in ihr Mädchenpensionat in Goslar. Während der gesamten Zugfahrt unterhielten sich Quandt und Magda übers Reisen und die Berliner Theater. Er war hin und weg von ihr. Gegen ein Uhr morgens hielt der Zug am Goslarer Bahnhof. Quandt half ihr beim Ausstieg mit dem Gepäck und warf unauffällig einen Blick auf ihren Kofferanhänger, um die Adresse ihres Internats zu erfahren.

In Kassel angekommen, schickte er ihr einen Brief und fragte sie, ob er sie am folgenden Nachmittag im Pensionat besuchen dürfe. Er werde sich als Freund ihres Vaters ausgeben, um die Erlaubnis der Direktorin zu erhalten, sie auszuführen. Magda war einverstanden. Am nächsten Tag erschien Günther Quandt mit einem Strauß Rosen in der Schule – nicht für Magda, sondern um die Direktorin zu umgarnen, damit sie ihm erlaubte, mit Magda einen Spaziergang zu machen. Eine Phase des Umwerbens begann. Schon bei ihrer dritten Verabredung, als sie sich durch die herrliche Landschaft des Harzes chauffieren ließen, machte Quandt Magda auf der Rückbank seines Wagens einen Antrag. Überrumpelt bat sie ihn um drei Tage Bedenkzeit.[36] Die Ehen, die sie in ihren siebzehn Lebensjahren miterlebt hatte, waren alles andere als glücklich gewesen.

Abb. 1: Günther Quandt © bpk/Atelier Bieber/Nather

Magda war am 11. November 1901 als uneheliches Kind zur  34  Welt gekommen. Ihre Eltern, der Ingenieur Oskar Ritschel und das Dienstmädchen Auguste Behrend, heirateten wenig später. Doch Magdas Mutter ließ sich von Ritschel scheiden, nachdem sie entdeckt hatte, dass er sie betrog. Sie heiratete wieder, diesmal Richard Friedländer, einen deutsch-jüdischen Kaufmann. Auch hier drohte mittlerweile die Scheidung. Magda war als Einzelkind in einem weltoffenen Haushalt der gehobenen Mittelschicht aufgewachsen und mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zwischen Berlin und Brüssel, wo sie ein streng katholisches Nonneninternat besucht hatte, hin- und hergependelt. Der Stiefvater war in ihrem Leben nicht die einzige Verbindung zum Judentum. Als sie Quandt kennenlernte, hatte sie sich gerade von  35  ihrem Freund Chaim Arlosoroff getrennt. Arlosoroff war ein ehrgeiziger jüdischer Emigrant mit ukrainischen Wurzeln, der an der prestigeträchtigen Berliner Humboldt-Universität Ökonomie studierte. Doch Magda spürte, dass sie als Nichtjüdin niemals ganz zur jüdischen Gemeinschaft gehören würde.[37]

Abb. 2: Magda Friedländer © bpk/Atelier Bieber/Nather

Nach dreitägigem Abwägen akzeptierte sie Quandts Heiratsantrag. Es verwunderte sie, dass sich dieser untersetzte ältere Mann, der mit seinen Zweireihern, gestärkten Hemdkragen und goldenen Manschettenknöpfen Reichtum und Macht ausstrahlte, so sehr für sie interessierte. Mit seinen stechend blauen Augen und dem runden Schädel mit schlecht überkämmter Glatze war  36  der hochgewachsene Günther Quandt eine imposante Erscheinung – wenn auch nicht unbedingt attraktiv. Aber romantische Gefühle waren kein Kriterium, wenn es um die Hochzeit mit einem zwei Jahrzehnte älteren Mann ging; Faszination und Ambition hingegen schon. Sie war beeindruckt von Quandt, der stets verschmitzt lächelte, als wüsste er mehr als alle anderen. Magda sehnte sich danach, das Pensionat zu verlassen und die Ehefrau eines finanzstarken und in der Geschäftswelt angesehenen Mannes zu werden. Sie träumte davon, einen großen Haushalt zu führen und Empfänge für Freunde und Geschäftspartner zu organisieren. Aber Quandt stellte noch zwei Bedingungen, bevor sie heirateten: Magda müsse den Katholizismus aufgeben und wieder zum Protestantismus konvertieren; und sie solle ihren ursprünglichen Familiennamen – Ritschel – wieder annehmen. Friedländer, der jüdische Nachname ihres Stiefvaters, kam für Quandt und seine konservative lutheranische Familie nicht infrage. Magda gehorchte pflichtbewusst. Zu ihrer Mutter sagte sie: »Die Religion ist mir gleichgültig, ich habe meinen Gott in meinem Herzen.«[38]

Günther Quandt und Magda Ritschel heirateten Anfang Januar 1921 in einem Kurhotel in Bad Godesberg am westlichen Rheinufer unweit von Bonn. Die Braut trug ein Kleid aus Brüsseler Spitze. Doch die Harmonie zwischen den beiden währte nicht lange. Der Altersunterschied zwischen den Frischvermählten und ihre charakterlichen Differenzen zeigten sich schon bald auf schmerzhafte Weise, als der Workaholic Quandt ihre zehntägige Hochzeitsreise nach Italien abrupt abbrach, um an einer »unaufschiebbaren Konferenz« teilzunehmen.[39] Aber auch schon vor diesem plötzlichen Ende war die Reise für Magda ernüchternd gewesen. Während sich das Paar in einer Mercedes-Limousine durchs ländliche Italien chauffieren ließ, musste Magda feststellen, dass ihr Gatte sich kaum für das ›echte‹ Italien interessierte. Wie sich ihre Mutter Auguste später erinnerte, ging Magda auf, dass »er ein durch und durch amusischer Mensch ist, ein reiner Praktiker, dem Schönheit  37  und Kunst nicht viel besagen. Auch die Natur lässt ihn unberührt. Als sie durch Umbrien fahren, durch die Landschaft von klassischer Schönheit […], erklärt Quandt seiner Frau die geologische Struktur des Bodens und berechnet dessen industrielle Auswertungsmöglichkeit.«[40] Trotzdem war die Reise kein völliger Reinfall. Am 1. November 1921, etwas mehr als neun Monate nach den Flitterwochen, wurde Magdas einziges Kind von Günther Quandt geboren, ein Sohn namens Harald.

Sie brachte das Kind im Krankenhaus allein zur Welt. Natürlich arbeitete ihr Mann. Zurück in Berlin, kannte er kein Privatleben. Für ihn existierte nur das Geschäft. Zu jedem Ausflug und Urlaub mit seiner Frau und seinen Söhnen gehörten Firmen- und Werkbesuche dazu. Er arbeitete zwölf Stunden täglich, setzte sich morgens um 7.30 Uhr an den Schreibtisch und kehrte um 19.30 Uhr zurück nach Hause, »müde und zerschlagen«, wie sich Magdas Mutter später erinnerte. »Sofort nach dem Abendessen setzte er sich in seinen Sessel, schlug die Berliner Börsen-Zeitung auf und – war drei Minuten später über der Zeitung eingeschlafen.« Quandt war ständig erschöpft. Er beklagte sich, dass er keine Zeit habe, Bücher zu lesen oder neue Ideen zu entwickeln. Das gesellschaftliche Leben interessierte ihn so gut wie gar nicht. Wenn das Ehepaar doch einmal Gäste hatte, diente dies geschäftlichen Zwecken; Festlichkeiten »wurde[n] nur arrangiert, wenn sie unumgänglich waren«.[41] Das schmerzte Magda. Veranstaltungen zu Hause waren die einzigen Anlässe, bei denen sie als Hausherrin und Gastgeberin im Mittelpunkt stand. Aber in der Welt ihres Gatten war kaum Platz fürs Eheleben. Magda blieb keine andere Wahl, als sich anzupassen.

 38 3.

Anfang der 1920er-Jahre, als sich Günther Quandt und seine Frau bereits auseinanderlebten, versank der neue deutsche Nachkriegsstaat, die Weimarer Republik, zusehends im Chaos. Viele Wirtschaftsvertreter hielten sich auf Distanz zur volatilen Politik des Parlaments, in dem eine Verfassungskrise die nächste jagte. Auf der Suche nach Kapital und Profit wandte man sich stattdessen einem anderen Feld zu: dem Aktienmarkt.

Im Sommer 1922 beschleunigten sich Hyperinflation und Kapitalflucht aus Deutschland, befeuert durch das Attentat auf den deutschen Außenminister und jüdischen Industriellen Walter Rathenau und den drohenden Ausfall der enormen Reparationszahlungen, die Deutschland im Versailler Vertrag auferlegt worden waren. Nach der Ermordung Rathenaus in Berlin löste sich auch der letzte Rest Vertrauen in die deutsche Währung in Luft auf. Die Inflationsrate stieg um 1300 Prozent; die Reichsbank druckte Geldscheine mit einem Nennwert von einer Billion Mark. Nur die wenigen reichen Deutschen, die in materielle Güter wie Immobilien und Fabriken investiert hatten, profitierten von der Situation. Ihre Schulden waren auf einen Schlag getilgt. Der Großteil der deutschen Mittelschicht jedoch hatte sein Geld auf Sparkonten gelagert oder es in jetzt wertlose Kriegsanleihen gesteckt. Millionen Deutsche waren ruiniert.

Aktien dagegen rangierten irgendwo zwischen materiellen Werten und Barvermögen. Sie waren finanzielles Niemandsland, auf das sich nur die mutigsten Spekulanten vorwagten. Günther Quandt war einer von ihnen. Auf der Suche nach Diversifizierungsmöglichkeiten für das im Krieg verdiente Geld wandte er sich dem Devisen- und Aktienhandel zu. Als die Preise fielen,  39  stießen viele Kleinanleger ihre Aktien ab. Zurück blieben die wenigen Unternehmen mit materiellen Vermögenswerten, die nun zu günstigen Preisen zugriffen. Es war der Traum eines jeden Spekulanten – wenn auch ein riskanter. Die instabile deutsche Währung ließ die Preise stark schwanken, und Anfänger am Aktienmarkt konnten sich leicht übernehmen, wenn sie gegen große Investoren wetteten, die hinter großen Aktienpaketen her waren und sich für ihre Spekulationen billiger Kredite bedienten.

Als Quandt im Herbst 1921 mit einer besonders riskanten Investition in ein Wollunternehmen 45 Millionen Mark verdiente, beauftragte er ein Dutzend Banken damit, Aktien von einem Dutzend unterschiedlicher Industrieunternehmen zu kaufen.[42] Eines davon war der riesige deutsche Kaliproduzent Wintershall. Obwohl er dort bereits im Grubenvorstand saß, mangelte es ihm an echtem Einfluss auf das Unternehmen. Das ließ ihm keine Ruhe. »Nirgends hatte ich etwas zu sagen«, erinnerte er sich später. Es war eine unbequeme und befremdliche Situation für den Textilmogul, der, während er die Familienwerke aus der Ferne lenkte, fest entschlossen war, sich in einer anderen Branche zu etablieren. Er war erst kürzlich vierzig geworden, und die Uhr tickte. Die Aussicht, mit seinem Vermögen lediglich ein Aktienspekulant in »der bösen Zeit der Inflation« zu sein, widere ihn an, schrieb er.[43] Aber für jemanden, der eine derartige Abneigung gegen Wertpapierspekulationen hegte, überwand er seine geäußerte Abscheu höchst erfolgreich. Auch nach seiner Einkaufstour am Aktienmarkt blieben ihm noch 35 Millionen Mark. Zeit, sich ein ganzes Unternehmen zu kaufen.

Im Frühjahr 1922 machte Quandt sein Übernahmeziel aus: die Berliner Accumulatoren-Fabrik AG (AFA), einen der größten Batterieproduzenten der Welt. Als Quandt die AFA ins Visier nahm, war die Elektrifizierung weltweit in vollem Gang. Auch zur Rüstungsindustrie pflegte das Unternehmen beste Verbindungen, hatte es doch im Ersten Weltkrieg deutsche U-Boote mit Batterien ausgestattet. Doch der reale Wert des Unternehmens spiegelte sich  40  keineswegs im Aktienkurs wider. Die Anteile waren weit gestreut, und dem Unternehmen fehlte es an effizienten Schutzmechanismen gegen feindliche Übernahmen wie etwa Vorzugsaktien.

Für seine täglichen AFA-Aktienkäufe griff Quandt auf ein Netzwerk aus Tarnfirmen, Banken und Strohmännern, darunter Familienmitglieder, zurück, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, anonym zu bleiben und zusätzliches Kapital zu akquirieren.[44] Im September 1922 jedoch musste er aus der Deckung treten, weil der Vorstand der AFA eine Kapitalerhöhung begleitet von der Ausgabe von Vorzugsaktien ankündigte. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Quandt erst ein Viertel der AFA-Aktien. Die Mehrheit zu erlangen, wäre nach der Emission neuer Aktien nahezu unmöglich geworden.

Am Tag nach der Ankündigung saß Quandt in seinem Büro am Schreibtisch und las die Berliner Börsen-Zeitung, als er eine anonyme Anzeige entdeckte, die die AFA-Aktionäre dazu aufrief, gegen die Pläne des Vorstands zu stimmen. Er rief Walther Funk an, den Chefredakteur der Zeitung. Dieser kannte in der deutschen Wirtschaft jeden, der Rang und Namen hatte, und verriet Quandt, dass ein Mann namens Paul Hamel die Anzeige aufgegeben hatte. Quandt arrangierte noch für denselben Abend ein Treffen mit ihm.[45] Hamel war Partner bei der Privatbank Sponholz & Co. und spezialisiert auf Firmenübernahmen. Er und Quandt beschlossen, ihre Kräfte zu bündeln.

Nach einem Monat zäher Verhandlungen mit dem Vorstand der AFA siegten die ›Raubritter‹ schließlich. Die Ausgabe von Vorzugsaktien war passé, und Quandt erhielt vier Sitze im Aufsichtsrat. Währenddessen kaufte er weiter AFA-Aktien auf, finanziert mit dem Geld aus seinen Tuchfabriken. Im Juni 1923 übernahm Quandt, der nun mit seiner Gruppe rund 75 Prozent der AFA-Aktien kontrollierte, den Aufsichtsratsvorsitz.[46]

Die feindliche Übernahme der AFA war komplett. Quandt hatte die Kontrolle über ein weltbekanntes Unternehmen in einem neuen Industriezweig gewonnen. Seine Verwandlung vom  41  Textilhändler zum gewieften Spekulanten und weiter zum Industriemagnaten war rasant verlaufen. Außerdem hatte er, dank Funk, in Paul Hamel einen Geschäftspartner gefunden. Als im Januar 1925 ein AFA-Vorstandsmitglied starb, übernahm Quandt dessen Büro in der Firmenzentrale am Askanischen Platz 3. Diese lag neben dem Anhalter Bahnhof, im Herzen des Regierungs- und Geschäftsviertels, in direkter Nähe zu Macht und Geld. Dort saß Quandt nun in einer geräumigen holzgetäfelten Bürosuite mit hoher Decke an einem wuchtigen Doppelschreibtisch aus dunklem Holz und regierte sein wachsendes Firmenimperium.

Drei Jahre später eroberte Quandt ein zweites Unternehmen: die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken (DWM), die im Ersten Weltkrieg einer der wichtigsten Waffen- und Munitionslieferanten der kaiserlichen Armee gewesen waren. Die DWM-Tochtergesellschaften hatten die berühmten Mauser-Gewehre und Luger-Pistolen produziert, dazu Millionen von Patronen und Bauteile für Kampfflugzeuge. Quandt erschienen die DWM »wie ein kleiner Krupp«, wie er sie später in Anspielung auf den berüchtigten Stahlkonzern, Deutschlands größten Waffenproduzenten, fast liebevoll nannte.[47]

Aber um die einst mächtigen DWM war es schlecht bestellt, als Quandt und seine Partner sich im Sommer 1928 darauf stürzten. Das Berliner Unternehmen hatte infolge der deutschen Abrüstungsverpflichtungen seine Produktpalette anpassen müssen und stellte nun, neben weiteren harmlosen Dingen, nur noch Küchengeräte und Nähmaschinen her. Die einzigen Waffen, die die DWM noch bauen durften, waren Sport- und Jagdgewehre. Insolvenzgerüchte und ein rückständiges Management hatten dafür gesorgt, dass der Aktienkurs in den Keller gerauscht war.[48]

Der schlechte Zustand machte die DWM zu einem weitaus leichteren – und billigeren – Übernahmeziel als die AFA. Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, bemühte sich Quandt verzweifelt, in seinen Memoiren den Eindruck zu erwecken, sich nie intensiv in der Rüstungsindustrie engagiert zu haben. Paul Hamel  42  sei es gewesen, der die Möglichkeit einer Expansion in die Waffenindustrie an ihn herangetragen habe. (Das Duo hatte sich für die DWM-Übernahme mit dem Stahlmagnaten Paul Rohde zum Trio erweitert.) Laut Quandt mobilisierte Hamel bei der folgenden Hauptversammlung sehr erfolgreich Investoren, so erfolgreich, dass der Vorstand im Juli 1928 geschlossen zurücktrat.[49] Allem späteren Revisionismus zum Trotz war es schließlich Günther Quandt, dem man den Aufsichtsratsvorsitz übertrug, hatte er sich doch einen Namen als tüchtiger Sanierer gemacht, der in jeder Industrie zurechtkam.

4.

Als die Ära der Hyperinflation gegen Ende 1923 ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende erreichte, ließ sich der vierzigjährige Stahlmagnat Friedrich Flick mit seiner Frau Marie und den Söhnen gerade in Berlin nieder. Sie bezogen eine versteckt gelegene Villa in Grunewald, einem wohlhabenden Stadtteil im bewaldeten Westen der Stadt. Auch Flick hatte im Spekulationsrausch der Inflationsjahre enorme Profite eingefahren, was ihm jetzt gestattete, das Siegerland, seine ländliche Heimat südöstlich des Ruhrgebiets, zu verlassen und sich in der Hauptstadt anzusiedeln. Hier schritt Flick nun den gepflegten Kiesweg um seine neue Villa ab, kaute auf billigen Zigarren herum und plante seinen nächsten kühnen Zug.[50]

Abb. 3: Friedrich Flick (1943) © ullstein bild – ullstein bild

Im selben Jahr erwarb Flick ein stattliches Geschäftshaus in der Bellevuestraße 12, um von dort aus über sein wachsendes Industrieimperium zu herrschen.[51] Das Haus befand sich in ruhiger Lage, genau zwischen Tiergarten und Potsdamer Platz. Das quirlige Berliner Stadtzentrum lag nur einen Katzensprung, die Quandt’sche Zentrale am Askanischen Platz drei Minuten mit  43  dem Auto entfernt. Mit seiner hartnäckigen Entschlossenheit, listenreichen Skrupellosigkeit und einem Talent für Zahlen war Flick auf bestem Wege, in den Kreis der erfolg- und einflussreichsten deutschen Stahlbarone aufzusteigen. Aber er schien es selten zu genießen. In Flicks blauen Augen war nie ein Funke Freude zu sehen, Lächeln war ihm fremd. Seine gedrungene Statur, das hagere Gesicht, der konzentrierte Blick und das dichte, rasch ergrauende Haar verliehen ihm ein einschüchterndes und strenges Aussehen, das zu diesem Mann passte, der zum berüchtigtsten Industriellen des ›Dritten Reichs‹ werden sollte.

Flick, der zwei Jahre jünger war als Quandt, wurde am 10. Juli 1883 in Ernsdorf geboren, einem verschlafenen Dorf im  44  florierenden Zentrum der kaiserlich-deutschen Industrie. Sein Vater, ein Holzhändler, besaß Beteiligungen an mehreren Erzgruben. Nach einer Lehre bei einem strauchelnden Siegerländer Stahlunternehmen studierte er Betriebswirtschaft und Ökonomie in Köln und trat anschließend mit nur 24 Jahren eine Stelle als Prokurist in seinem ehemaligen Lehrbetrieb an. Der Wechsel in den Vorstand einer anderen lokalen, finanziell ebenfalls angeschlagenen Stahlfirma folgte einige Jahre später. Der berufliche Aufstieg ermöglichte es Flick 1913, Marie Schuss zu heiraten, die Tochter eines angesehenen Siegener Stadtrats und Textilhändlers.[52] Das Paar hatte schon bald drei Söhne: Otto-Ernst, Rudolf und den Nachzügler Friedrich Karl. Die Dynastie Flick begann, Formen anzunehmen.

Flick verfügte über verblüffende Fähigkeiten, wenn es darum ging, sich Zahlen zu merken und Bilanzen zu analysieren. Nacheinander sanierte er die beiden schwächelnden Stahlfirmen, bis sich ihm mit Ausbruch des Weltkriegs die nächste große Chance bot: 1915 wurde er zum kaufmännischen Direktor der Charlottenhütte ernannt. Das finanziell solide Unternehmen war der größte Stahlproduzent im Siegerland, wenn auch klein im Vergleich zu den zahlreichen Konkurrenten im restlichen Reich. Flicks Vorstandskollegen ließen ihn gewähren, als er auf ausgedehnte Einkaufstour ging, wodurch sich das Bilanzergebnis im Laufe des Kriegs vervierfachte. Man profitierte gern von der steigenden Nachfrage nach Waffenstahl.

Die Rüstungsanstrengungen zogen in den letzten beiden Kriegsjahren stark an, was zur Folge hatte, dass die Preise für Stahl, Erz und Schrott explodierten. Flick nutzte die enormen Kriegsprofite der Charlottenhütte, um die Expansionsstrategie des Unternehmens zu finanzieren. Zeitgleich trieb er im Geheimen seine eigenen Pläne voran: Verdeckt kaufte Flick Anteile am Unternehmen, das keinen Mehrheitsaktionär hatte. Die schleichende Übernahme finanzierte er durch profitable Nebengeschäfte mit Schrott, Geld seines Vaters und der Mitgift seiner Frau. Darüber hinaus bewegte er Vorstand und Staat angesichts vermeintlich drohender  45  Übernahmen – teils realer, teils von ihm übertrieben dargestellter – gleich zweimal zur Ausgabe von Vorzugsaktien, sodass ihm niemand die avisierte Aktienmehrheit wegschnappen konnte.[53]

Nachdem er Anfang 1920 einen tatsächlichen Übernahmeversuch durch den legendären Ruhr-Stahlbaron August Thyssen abgewehrt und sich mit ihm geeinigt hatte, gelang ihm schließlich die Majorisierung der Charlottenhütte. Im Anschluss transformierte er die Firma zu seiner persönlichen Holding, um damit ein ständig wechselndes Konvolut aus Beteiligungen an Stahl-, Bergbau- und anderen Unternehmen der Schwerindustrie zu kontrollieren. Die Ankäufe erfolgten oft durch Strohmänner und -gesellschaften, mit denen Flick, ähnlich wie zur selben Zeit Günther Quandt, seine Identität und Absichten verschleierte. Durch das aggressive Tempo, mit dem Flick Aktien kaufte, verkaufte und tauschte, geriet er in scharfe Konkurrenz zu etablierten Industriegrößen wie Thyssen, Krupp und anderen, was sporadische Kooperationen allerdings nicht ausschloss.[54]

Nach seinem Pakt mit Thyssen willigte Flick ein, sich aus dem Ruhrgebiet herauszuhalten, und stellte sein großes Ziel damit vorerst zurück. Stattdessen begann er, in der Stahlwirtschaft in Oberschlesien mitzumischen, einer unsteten Region, die immer wieder zwischen deutscher und polnischer Herrschaft hin- und hergewechselt war. Diese Unbeständigkeit war die ideale Voraussetzung für günstige Firmenkäufe. Flick griff zu und zog damit zum ersten Mal die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Ein Wirtschaftsjournalist des Berliner Tageblatts, der größten Zeitung der Hauptstadt, verfasste das erste Porträt über Flick. 1924 schrieb der Reporter über ihn:

Da wurde auch er vom Geist der Zeit erfasst und fühlte sich gleichfalls berufen. Sprang mit beiden Füßen in den Kessel des Umschichtungsprozesses, tauchte ein paarmal tüchtig unter und kam als neuer schwerindustrieller Trustkönig wieder zum Vorschein […]. Friedrich Flick – dessen Name die  46  Öffentlichkeit nicht kennt, den aber die Montankollegen und Großbankdirektoren (die ihm nicht grün sind, weil er sie ausschaltet) als einen der Mächtigsten, Erfolgreichsten und Geschicktesten anerkennen müssen […].[55]

Flick verabscheute jede Form von Berichterstattung über sich und schmierte fortan Journalisten, damit die Artikel, die sie über ihn schrieben, nicht erschienen.[56]

Durch seine Aktivitäten in Schlesien gelang es Flick schließlich, in jener Industrieregion Fuß zu fassen, die er am meisten begehrte: im Ruhrgebiet. In den Jahren 1923/24 tauschte er einen Großteil seiner oberschlesischen Beteiligungen gegen Aktien von Ruhr-Stahlunternehmen, die von einem Konkurrenten kontrolliert wurden. So gelangten auch Aktien des Montanunternehmens Gelsenkirchener Bergwerks-AG (kurz Gelsenberg genannt) in seinen Besitz. Es folgte Flicks bis dato kühnster Zug: 1926 gründete eine Gruppe von Ruhrindustriellen in Düsseldorf die Vereinigte Stahlwerke AG (VSt, auch Stahlverein genannt), ein Konglomerat, das die Stahlproduktion und -preise regulierte. Finanziert vor allem durch US-Kapital, wurde der Konzern zum zweitgrößten Stahlunternehmen der Welt, übertroffen nur noch von US Steel. Flick erhielt durch den erwähnten Aktientausch einen beträchtlichen Anteil an den VSt und brachte überdies viele seiner Unternehmen in den neuen Ruhrkonzern ein. Aber das reichte ihm noch nicht. Er wollte die komplette Kontrolle über die VSt. Als einige der VSt-Anteilseigner fusionierten und Gelsenberg zum größten Aktionär aufstieg, ergriff Flick die Gelegenheit. Er begann, weitere Gelsenberg-Aktien zu kaufen, um so zum Mehrheitseigner zu werden. Nach einer Reihe von Aktientauschen und -geschäften, vor allem mit einem ehemaligen Rivalen, ging sein Plan auf.[57] Flick hielt nun die Mehrheit an den VSt und somit die Kontrolle über einen der weltweit größten Industriekonzerne. 1929, mit nur 45 Jahren, war er faktisch zu Deutschlands mächtigstem Industriellen geworden.

 47 5.

Auch Quandts Erfolg kannte in den späten 1920er-Jahren keine Grenzen. Obwohl seine Brüder zunehmend das Tagesgeschäft der brandenburgischen Tuchfabriken übernahmen, blieb er derjenige, der den Kurs des Familienunternehmens vorgab. Er war Großaktionär bei Wintershall, Deutschlands bedeutendstem Kaliunternehmen. Und, was am wichtigsten war, er hatte zwei Industriekonzerne an sich gebracht, die ihre Waren rund um den Globus vertrieben. Ein DWM-Manager sah Quandt zu einem neuen Glauben konvertiert: »Er gehört tatsächlich zu jenen Männern, deren Stärke nur im Glauben an die unbesiegbare Macht des Geldes liegt. Er wurde durch seine Erfolge hierin immer wieder von neuem bestärkt. Dieser Glaube verdichtete sich bei ihm zu einer Religion, die ja nicht unbedingt einen Gottesglauben zum Inhalt haben braucht.«[58]

Mit dem neuen Geld kamen die typisch neureichen Statussymbole. Seit Jahren schon hatte Günther Quandt nach einer angemessenen Zweitwohnung im Zentrum von Berlin gesucht, damit er nach einem langen Abend im Büro oder einem Theaterbesuch mit Magda nicht mehr bis nach Hause fahren musste. 1926 meldete sich eines Tages sein Makler bei ihm: Ein Unternehmer müsse auf der Stelle sein Stadthaus verkaufen, um den Bankrott abzuwenden. Quandt handelte den verzweifelten Mann herunter und kaufte das Haus im feinen Berliner Westend samt Ausstattung. Es war teuer eingerichtet, von Kunstwerken über Besteck bis zur letzten Weinflasche war noch alles da und intakt.[59] Es war weit prachtvoller ausgestattet als sein eigenes Haus, in dem in der Mitte des Wohnzimmers eine große Orgel prangte. Nach dem Kauf scherzte er gegenüber seiner Frau: »Da siehst du, wie unrecht du hast, wenn du immer sagst, man könne Kultur nicht kaufen. Ich habe sie gekauft!«[60]

  48  Doch während sein Besitz stetig wuchs, zerfiel seine Familie erneut. Anfang Juli 1927 brach die Katastrophe über sie herein. Sein erstgeborener Sohn und Stammhalter Hellmut war soeben für einen längeren Aufenthalt nach Paris gereist, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern, als er dort nach einer missglückten Blinddarmoperation starb. Er war erst neunzehn. Hellmuts letzte Worte waren an seinen Vater gerichtet: »Ich hätte dir doch so gern bei deiner großen Arbeit geholfen, mein lieber Vater.«[61]

Quandt war am Boden zerstört. Er schrieb: »Meinen lieben, guten Jungen hatte ich verloren, ihn, auf den ich immer so stolz war, für den ich alles aufgebaut hatte.«[62] Magda, die tagelang an Hellmuts Bett gesessen hatte, wühlte der Tod ihres Stiefsohns zutiefst auf. Hellmut war nur wenige Jahre jünger gewesen als sie, und die beiden hatten sich sehr nahegestanden – so nahe, dass manche romantische Gefühle zwischen den beiden vermutet hatten.[63] Hellmut wurde neben seiner Mutter auf dem Pritzwalker Friedhof beigesetzt, auf dem Quandt ein Mausoleum für die Familie hatte bauen lassen. »Alles, was ihm im Leben zu tragen bestimmt war, musste nun sein Bruder Herbert, der Siebzehnjährige, übernehmen«, schrieb Quandt.[64]

Doch der Zweitgeborene schien der Aufgabe kaum gewachsen. Herbert war ein schmächtiger, schüchterner Junge, introvertiert und launisch, das genaue Gegenteil seines begabten, gut aussehenden und empathischen älteren Bruders. Darüber hinaus litt er an einem angeborenen schweren Augenleiden, weshalb er ab dem zehnten Lebensjahr zu Hause unterrichtet werden musste. Da er nicht lesen durfte, war Herbert gezwungen, sich den Stoff durch mündliche Erklärungen seiner Privatlehrer einzuprägen.[65]