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Lebe deinen Traum: Dem Rat ihrer Pflegemutter ist Summer immer spontan gefolgt, ist frei und ungezwungen durch die Welt gereist! Doch nun ist Katherine verstorben – und hat ihrem Enkel, dem unnahbaren, vernunftgesteuerten Milliardär Edward Fitzroy, und Summer ihr Anwesen vermacht. Vorausgesetzt, sie leben dort ein Jahr lang gemeinsam. Dabei sind sie doch wie Feuer und Eis! Sie haben sich nichts zu sagen. Außer, wenn es Nacht wird in Schottland und sie der glühenden Anziehungskraft nachgeben, die zwischen ihnen seit ihrer Teenagerzeit herrscht …
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Seitenzahl: 210
IMPRESSUM
JULIA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2022 by Rachel Stewart Originaltitel: „My Year with the Billionaire“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe 2023 in der Reihe JULIA, Band 202023 Übersetzung: Ivonne Senn
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 10/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751518840
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Edward
Ich weiß, dass ich nicht hinschauen sollte. Ich sollte einfach weitergehen und so tun, als hätte ich es nicht gesehen. Aber ich kann den Blick nicht abwenden.
Denn ich kann es nicht fassen.
Summer Evans, das neueste Pflegekind meiner Großmutter, schwimmt. Sicher, die aktuelle Hitzewelle ist ungewöhnlich drückend, aber … in diesem See schwimmen? Seit zwanzig Jahren verbringe ich jeden Sommer hier auf der Burg, und nicht ein einziges Mal habe ich auch nur darüber nachgedacht, meinen kleinen Zeh in das eisige Wasser zu halten, geschweige denn, kopfüber hineinzutauchen.
Wobei … Grans Pflegekinder sind immer für eine Überraschung gut. Doch das hier …
Sie kann nicht viel jünger sein als ich, aber ihr Benehmen scheint von einer anderen Welt. Und ich bin fasziniert. Meine Angst, dass ich hineinspringen und sie retten muss, verebbt, als sie anmutig das Wasser durchschneidet, ohne sich von ihrer nassen Kleidung stören zu lassen. Nicht, dass sie viel anhätte. Nur ein weißes T-Shirt und Jeansshorts. Ihre Turnschuhe liegen verlassen am Ende des alten Holzstegs.
Ich trete ans Ufer des Sees und beobachte, wie die Sonne auf den Wellen spielt, die Summer verursacht. Dabei überkommt mich der wilde Drang, mich zu ihr zu gesellen.
Aber wild zu sein liegt mir nicht …
Dann dreht sie sich um, und der Blick aus ihren strahlend blauen Augen kollidiert mit meinem. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als sie mir ein breites Lächeln schenkt.
„Du musst Edward sein?“
Ihre Stimme hallt über den See, und ihr Akzent ist schwer einzuordnen. Nicht wirklich schottisch, nicht ganz englisch, eher eine Mischung aus beidem.
„Stimmt.“ Ich räuspere mich. „Meine Gran schickt mich, um dir zu sagen, dass das Abendessen in einer halben Stunde fertig ist.“
Sie legt den Kopf schief, während sie Wasser tritt. „Halbe Stunde. Verstanden.“
Ich verlagere das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und fühle die Intensität ihres Blicks. Ich habe meine Pflicht getan, jetzt sollte ich mich zurückziehen. Doch stattdessen höre ich mich fragen: „Hast du irgendwo ein Handtuch, das ich dir bringen kann …?“ Denn sie kann nicht ernsthaft so, mit nassen Klamotten, ins Haus zurückgehen wollen. „Oder Kleidung zum Wechseln?“
Sie lacht. „Sehe ich so aus, als wäre ich gut vorbereitet hergekommen?“
„Nicht wirklich.“ Ihre Spontaneität ist so fesselnd, wie sie mir fremd ist. „Aber ich bin mir nicht sicher, dass du durch die Burg tapsen und überall Pfützen hinterlassen willst.“
Sie kommt näher herangeschwommen, und ich trete einen Schritt zurück.
„Keine Sorge … Die Sonne wird mich rechtzeitig trocknen.“
Sie greift nach der provisorischen Leiter am Ende des Stegs, und mir wird klar, dass sie gleich aus dem Wasser kommt … Und mit ihrem nassen T-Shirt könnte sie genauso gut nackt sein.
Also wirble ich auf dem Absatz herum und nehme den Pullover von meinen Schultern, entschlossen, ihr irgendetwas zu geben, damit ich nicht mehr sehe, als ich sollte. „Du kannst gern den hier haben.“
Ohne mich zu ihr umzudrehen halte ich ihr den Pullover hin. Mein Gehirn ist eifrig dabei, Bilder zu malen, die ich nicht sehen will – ihre Kleidung, die an ihrem Körper klebt; ihr strahlendes Lächeln, die funkelnden Augen …
Meine intensive Reaktion schiebe ich auf die derzeitigen Umstände. Ich habe mich so sehr in meiner Arbeit vergraben, dass ich vergessen habe, dass es ein Leben außerhalb meines Studentenzimmers gibt. Der Besuch hier ist als Pause gedacht, als Möglichkeit, ein wenig Dampf abzulassen – etwas, was diesen Sommer durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen scheint.
Summers helles Lachen reißt mich aus meinen Gedanken und drängt mich förmlich dazu, mich umzudrehen – was ich natürlich nicht tue, solange sie nicht ordentlich angezogen ist.
„Was für ein Gentleman“, sagt sie und nimmt mir den Pullover aus der Hand.
„Ich bemühe mich.“ Das Tropfen von Wasser auf den Steg dringt an mein Ohr, und ich stelle mir vor, wie sie ihre kurzen blonden Haare ausschüttelt und das nasse T-Shirt auswringt. Ein Tropfen fällt auf meinen Arm und löst eine Gänsehaut aus.
„Willst du da für immer stehen bleiben?“
„Hm?“ Jetzt drehe ich mich zu ihr um. Was zum …? Ich huste ungläubig. „Ich hatte nicht gemeint, dass du dich daraufsetzen sollst.“
„Oh …“ Sie sieht zu meinem Pullover, den sie unter sich ausgebreitet hat, die Handflächen und ihren in der nassen Jeansshorts steckenden Po in die weiche Kaschmirwolle gedrückt. „Sorry.“ Sie verzieht das Gesicht und schaut zu mir auf. „Willst du ihn zurückhaben?“
„Will ich …?“ Ich kann den Satz nicht beenden und schüttle den Kopf, während ein Lächeln an meinen Mundwinkeln zupft. Das erste echte Lächeln, das ich seit einer Ewigkeit fühle. „Nein. Nein, ich will ihn nicht zurück.“
„Gut.“ Sie grinst und lässt ihren Blick dann wieder zum Wasser schweifen. Die Sonne strahlt auf sie herab, Wassertropfen hinterlassen glitzernde Spuren auf ihrer nackten Haut, denen mein Blick nur zu gerne folgt.
Ich betrachte ihr Gesicht, die halbmondförmigen Schatten, die ihre Wimpern auf ihre hohen Wangenknochen werfen. Sie tut so, als hätte sie keine einzige Sorge, aber das kann nicht stimmen. Wie meine Mutter immer sagt: Grans Pflegekinder kommen mit ausreichend Gepäck, um ein Schiff sinken zu lassen. Man sollte sich von ihnen fernhalten. Sehr fern.
„Willst du dich zu mir setzen?“
Sie hat ihr Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen, und ich schaue zum Horizont und ermahne mich, dass ich gehen und dieses unvertraute Kribbeln in meinen Adern vergessen sollte.
Doch das will ich nicht. Sie hat so eine Leichtigkeit an sich, die zugleich wild und entfesselt ist, und ich will nur noch ein kleines bisschen länger in ihrem Orbit bleiben. Sie ist der Sommer durch und durch, und so setze ich mich neben sie auf den Steg, bevor mein gesunder Menschenverstand mir etwas anderes befehlen kann.
„War diese Entscheidung so schwer?“, murmelt sie neckend.
Und diese Neckerei bringt das Lächeln auf meine Lippen zurück, während ich verzweifelt nach einer schlagfertigen Antwort suche. Normalerweise bin ich nicht ganz ungeschickt, was den Umgang mit dem anderen Geschlecht angeht, aber ich muss zugeben, dass ich noch nie ein Mädchen wie sie kennengelernt habe.
Sie dreht sich herum, um etwas aus ihrem Schuh zu ziehen, und holt eine Zigarette heraus. „Willst du eine?“
Ich verziehe mein Gesicht. Die Magie des Moments schwindet ein wenig. „Nein, danke.“
„Die war nur für eine Minute oder zwei in meinem Schuh.“
„Es ist nicht der Schuh, der mich stört.“
„Ah.“ Sie legt den Kopf schief. „Also ist es das Rauchen. Nicht das, was man in deinen noblen Kreisen tut, hm?“
Ich weiß, dass sie mich aufzieht; ich sehe es in ihren Augen, als sie sich die Zigarette zwischen die Lippen steckt und ein Feuerzeug hervorholt. „Wie du meinst.“
Sie zündet die Zigarette an, und ich sehe zu – fasziniert, angeekelt, erstaunt …
„Du weißt, dass Gran das nicht gutheißt, oder?“
Ist das wirklich meine Stimme? So rau und tief? Und warum kann ich den Blick nicht von ihren Lippen losreißen? Die volle Unterlippe, auf der die Zigarette ruht, und der perfekte Amorbogen darüber … so sinnlich und rosa.
Sie zieht und befeuchtet sich dann die Lippen, wie um mich noch mehr zu quälen. „Nicht mein Problem.“
Ein trotziges Feuer flammt in ihren Augen auf, das im Kontrast zu ihrer entspannten Haltung steht. Ich runzle die Stirn. Da fällt mir auf, dass ich den schwarzen Umriss ihres BHs unter dem weißen T-Shirt sehen kann – wer trägt bitte Schwarz unter Weiß?
Jemand, der sich nicht anpasst … eine Rebellin … Und der Himmel weiß, dass Gran im Laufe der Jahre genügend davon beherbergt hat. Wie es aussieht, bildet Summer da keine Ausnahme.
„Du lebst unter ihrer Fürsorge, unter ihrem Dach, meinst du nicht, dass es das zu deinem Problem macht?“
Sie sieht mich eisig an, bevor sie ihren Blick über mich gleiten lässt, als würde sie mich zum ersten Mal richtig sehen. Dann zuckt es um ihre Lippen, und ihre Augen werden ganz warm. „Wirst du mich bestrafen?“
Ich unterdrücke einen Fluch und ersticke das aufregende Kribbeln in meinem Magen. Ja, sie ist definitiv eine Rebellin. Und sie bedeutet Probleme.
Spielt sie mit mir? Macht sie sich über mich lustig, den Privatschüler aus gutem Haus mit der ordentlichen Frisur, den Chinos und dem perfekt gebügelten hellblauen Polohemd? Oder flirtet sie tatsächlich mit mir, weil ihr gefällt, was sie sieht?
Die Antwort darauf kann ich mir nicht geben. Zumindest keine, die sich sicher und korrekt anfühlt. Und das ist das Wichtigste für mich.
Mein Schweigen lässt sie leise lachen. Sie wendet ihren provokativen Blick ab und schaut übers Wasser. „Wie lange bleibst du hier?“ Sie lehnt sich auf die Ellbogen zurück und streckt sich träge auf dem Steg aus. Hitze schießt durch meine Adern. Ich vergesse mich, vergesse, worüber wir gesprochen haben, und dann ertappt sie mich dabei, dorthin zu schauen, wo ich nicht hätte hinschauen sollen. Meine Wangen werden heiß, mein Puls rast …
Nicht, dass es ihr etwas ausmacht. Im Gegenteil, sie aalt sich darin und lacht leise auf.
Sag was, bevor sie dich als Idioten abstempelt.
„September. Ich bleibe bis September, wenn das Semester losgeht.“
„Edinburgh Uni, richtig?“
Ich nicke, und sie stößt einen Pfiff aus. Ihr Blick gleitet erneut über mich, und der Puls flattert an ihrem Hals, während ihre Augen sich verdunkeln.
„Dann haben wir also den ganzen Sommer zusammen. Das wird lustig.“
„Meinst du?“, frage ich schluckend.
„Du nicht?“
Ihr Blick kollidiert wieder mit meinem, und Bilder tanzen durch meinen Kopf. Falsche Bilder. Verlockende Bilder. Verrückte Bilder. Es ist, als würde sie ihre Vorstellung von Spaß auf mich projizieren – doch ihre Version von Spaß und meine sind nicht dieselbe.
Vielleicht sollten sie das aber sein, flüstert der Teufel auf meiner Schulter.
„Hmm“, summt sie. „Mein Aufenthalt hier ist gerade wesentlich besser geworden.“
Ich konzentriere mich auf ihre Worte und nicht auf die Hitze, die sie in mir auslösen. „Du klingst, als wäre das hier für dich nur ein vorübergehender Besuch.“
Sie zuckt mit den Schultern, doch ich spüre eine Verlegenheit, die nicht zu ihrem Selbstbewusstsein passt. „Das ist es immer.“
Ich widerspreche ihr nicht. Und ich sage ihr auch nicht, dass Grans Erfolgsbilanz als Pflegemutter etwas anderes besagt. Sie soll glauben, was sie will, bis das Leben ihr das Gegenteil beweist.
Mit Neugierde im Blick dreht sie sich zu mir um. Sie sagt nichts, sondern zieht mich mit ihren blauen Augen immer mehr an, bis ich kaum noch atmen kann und den Bann brechen muss.
„Was ist?“
Sie lächelt. „Wir sind wirklich so verschieden wie Tag und Nacht.“
Ich lache angespannt. „So kann man das auch sagen.“
„Bei dir klingt es, als wäre das was Schlimmes.“
„Nein. Nicht wirklich schlimm …“
Aber riskant. Denn sie fasziniert mich. So sehr sogar, dass mein Körper meinen gesunden Menschenverstand übertrumpft und alle Warnsignale, dass ich sie auf Distanz halten soll, übertönt.
„Ach Edward, wir werden uns hervorragend verstehen“, sagt sie.
„Meinst du?“
Sie zwinkert mir kess zu und beugt sich vor. „Ich weiß es“, haucht sie.
Dann beißt sie sich wieder auf die Unterlippe; ihr Blick fällt auf meinen Mund, und ich schwöre, ich könnte sie küssen …
Was ich auch will. Aber nicht tue.
Ich will mehr.
Ich will sie kennenlernen.
Ich will hinter die Fassade der selbstbewussten Rebellin schauen und das Mädchen darunter sehen.
Und jetzt habe ich einen ganzen Sommer, um genau das zu tun.
Summer
„Komm schon, komm schon …“
Ich trommle nervös mit den Fingern, den Blick auf die grünen Ziffern der Uhr im Armaturenbrett des Taxis geheftet. Ich werde zu spät kommen – viel zu spät. Der Verkehr staut sich, und wir kommen nicht voran.
Ist das hier immer so? Es ist Jahre her, dass ich in Edinburgh war. Alles hier ist so hektisch.
Ich bin die Weite gewohnt – Berge, Strände, Bars – und Menschen, die so tun, als hätten sie alle Zeit der Welt und die Freiheit, sie zu genießen.
Aber nicht hier. Durch den Nieselregen hetzen die Menschen von einem Gebäude zum nächsten. In Anzügen und Stiefeln. Grau und übellaunig.
Mein Blick gleitet zur Uhr zurück, und ich kaue nervös auf meiner Unterlippe.
Ich hätte der Frau, die ihr Gepäck verloren hat, nicht helfen sollen. Oder dem Kind an dem Süßigkeitenautomaten. Ich hätte auch nicht anhalten und ein paar Münzen an den Straßenmusikanten spenden sollen, der sich im Regen das Herz aus dem Leib gesungen hat, bevor er vom Sicherheitspersonal des Flughafens des Platzes verwiesen wurde.
Aber das alles habe ich getan … und es kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Seufzend gestehe ich mir ein, dass das die Geschichte meines Lebens ist. Nur schmerzt es mich dieses Mal mehr als sonst.
Ich hätte vor einem Monat hier sein sollen. Nicht jetzt. Und nicht auf Verlangen eines Mannes, den ich nicht kenne, auf Geheiß der einzigen Frau, die ich je geliebt habe. Meine Pflegemutter. Katherine.
Nicht, dass sie mich geliebt hätte. Zumindest nicht genug, um mir die Chance zu geben, mich zu verabschieden …
Meine Nägel graben sich in meine Handflächen, und meine Augen brennen.
Nein, das ist nicht fair.
Ich weiß, warum sie es mir nicht gesagt hat.
Aber das lindert den Schmerz nicht.
Katherine kam für mich dem, was man eine Familie nennt, am nächsten. Und jetzt ist sie nicht mehr da.
Ich bin wieder allein.
Schnell schüttle ich den Gedanken ab. Ich trauere nicht. Das ist so eine Verschwendung von Lebenszeit. Wir haben nur ein Leben, und das müssen wir auskosten, oder? Wir müssen so viel wie möglich herausholen, die Welt erkunden, nicht innehalten …
Zumindest sehe ich das so. Selbst wenn ich deswegen jetzt zu spät bin.
Ich beuge mich vor und fange den Blick des Taxifahrers im Rückspiegel auf.
„Wie lange noch?“
Er zuckt mit den Schultern. „Zehn Minuten. Zwanzig. In der Stadt wird überall gebaut. Es ist das reinste Chaos.“
Ich lehne mich wieder gegen die Rückbank und wippe nervös mit dem Bein. Dann suche ich in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie, hole ein paar Geldscheine heraus und drücke sie ihm in die Hand. „Das reicht, oder?“ Ich zeige auf das Taxameter, und er nickt, bevor er sich umdreht und skeptisch mein Gepäck mustert.
„Aber …“
„Ist gut. Ich kriege das schon hin.“
Ich rutsche über die Sitzbank und stoße die Tür auf. Es ist eine Erleichterung, an der frischen Luft zu sein, und für eine Sekunde recke ich mein Gesicht dem Regen entgegen und atme tief durch. Endlich fühle ich mich wieder frei. Ich habe zu viel Zeit in Flugzeugen und öffentlichen Verkehrsmitteln verbracht. Die Reise von Kuala Lumpur hierher kam mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl sie maximal vierundzwanzig Stunden gedauert hat.
Der Drang, in ein Hotel einzuchecken und zu duschen, ist beinahe überwältigend. Ich müsste nur Mr. McAllister anrufen und ihn bitten, das Meeting auf morgen zu verschieben …
Ah, nicht vergessen, dein Name ist Summer!
Ich ignoriere die innere Stimme und schlage die Autotür hinter mir zu. Dann winke ich dem Taxifahrer zu, setze meinen Rucksack auf und marschiere los in Richtung des Büros des Notars. Der Vorteil daran, schwer beladen zu sein, ist, dass die Menschen einem Platz machen. Es war definitiv die richtige Entscheidung, aus dem Taxi auszusteigen. Selbst wenn das Wetter und die Anstrengung mich nicht im besten Licht dastehen lassen werden.
Ich lache. Als ob es ein bestes Licht für mich gäbe.
Vielleicht hätte ich mich ein wenig bemühen sollen.
Vielleicht hätte ich einen Tag eher einfliegen sollen, um wenigstens pünktlich und in einem angemessenen Outfit zu dem Termin zu erscheinen.
Aber ich war nie jemand, der sich um Äußerlichkeiten Gedanken gemacht hat, und dafür hat Katherine mich respektiert. Warum sollte ich das jetzt ändern?
Und was ist, wenn er da ist?
„Es gibt keinen Grund, warum er da sein sollte“, grummle ich vor mich hin.
Was auch immer Mr. McAllister von mir will, es bedeutet nicht, dass Edward auch da sein wird.
Mein Puls beschleunigt sich, und ich beiße die Zähne zusammen. Wenn er da ist, ist er eben da. Ich werde schon damit klarkommen. Ich bin eine achtunddreißig Jahre alte Frau, die ihren Wert kennt, und keine unsichere Achtzehnjährige mehr. Ich bin durchaus in der Lage, meine Frau zu stehen und eine zivilisierte Unterhaltung zu führen, egal, ob Edward da ist oder nicht.
Du warst allerdings nicht diejenige, der übel mitgespielt wurde …
Ich verziehe das Gesicht. Über meine Vergangenheit nachzudenken – vor allem über diesen Teil –, macht mich immer ein wenig verrückt. Meine Gedanken rasen voran, fragen sich, ob er verheiratet ist. Vater. Glücklich.
Ich fühle die Antwort in meinem Bauch. Er muss es sein. Ein Mann wie er – gütig, reich, sexy – ist ein absoluter Fang. Und wenn er glücklich ist und sesshaft geworden, ist er vielleicht dankbar dafür, dass ich ihn damals auf diese Weise verlassen habe.
Ja klar, rede dir das nur weiter ein.
Ich beschleunige meine Schritte und ignoriere den Druck in meiner Brust, der mir verrät, dass meine Vergangenheit dabei ist, mich einzuholen.
Edward
Charles räuspert sich zum x-ten Mal, und ich sehe die kleinen Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gebildet haben. Eilig tupft er sie mit seinem Taschentuch weg, aber ich habe genug gesehen, und es lässt mich auch nervös werden.
Charles ist normalerweise die Gelassenheit in Person. Praktisch, verlässlich, pragmatisch. Deshalb hat meine Großmutter ihm die Abwicklung der juristischen Seite ihres Vermögens anvertraut. Er war nicht nur ihr Anwalt, sondern auch ihr bester Freund, was sein Unbehagen jetzt nur umso verstörender macht.
Ich bin für die Verlesung des Testaments meiner Großmutter hier und verstehe nicht, warum er nicht endlich anfängt.
Ich weiß, dass es schwer für ihn ist. Das ist es für mich auch. Aber je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser.
Mein Blick fällt auf die alte Standuhr in der Ecke. Zwanzig Minuten sind bereits vergangen. Charles hat mir auch auf Nachfrage nicht verraten, auf wen wir warten. Aber ich habe Termine einzuhalten, Menschen zu treffen, Vergnügungen nachzujagen …
„Wir sind beide sehr beschäftigte Menschen, Charles.“
Das Gewicht dieser Lüge ignoriere ich, als ich ihn ansehe. Denn in Wahrheit bin ich nicht beschäftigt genug. Es ist einen Monat her, dass Gran gestorben ist, und nichts kann die Leere füllen, die sie hinterlassen hat. Ich habe es versucht. Ich habe alles versucht.
Meiner Stimme hört man meine Trauer nicht an. Es zahlt sich nicht aus, Schwäche zu zeigen. Das hat mir meine Mutter beigebracht, und das Leben hat diese Lektion verstärkt. „Ich verstehe nicht, warum wir das jetzt nicht einfach hinter uns bringen können.“
„Ich bin mir sicher, dass sie bald hier sein wird. Und ich habe deiner Großmutter versprochen, dass ich mich an ihre Wünsche halte.“
„Wenn ich schon auf diese Person warten muss, habe ich es doch wohl verdient, den Namen zu erfahren?“
Bevor Charles etwas erwidern kann, dringt eine Stimme durch die schwere Eichentür seines Büros.
„Es tut mir so leid, dass ich zu spät bin!“
Die Tür geht auf, und seine Sekretärin tritt ein.
„Miss Evans ist hier, Mr. McAllister.“
„Danke, Tracy.“
Mit einem warmen Lächeln schaut er an Tracy vorbei zu der Frau, die ich zwar gehört, aber bisher noch nicht gesehen habe.
Miss Evans?
Wer um alles in der Welt ist …?
Ein kleines Glöckchen klingelt tief in meinem Hinterkopf … die leicht raue Stimme … der undefinierbare Akzent …
Ich erhebe mich und drehe mich um, als die guten Manieren sich gegen meine rasenden Gedanken durchsetzen. Dann ist es, als würde die Erde unter mir beben und mein Sichtfeld sich verkleinern, bis ich nur noch sie sehen kann.
Summer.
Das ist … Das kann nicht sein …
Ich zwinge mich dazu, die Schultern zu straffen, während mein Kopf sich weigert, zu glauben, was meine Augen sehen. Erst fallen mir nur ihre wilde blonde Mähne und ihre gebräunte Haut auf – viel zu viel Haut für einen Herbst in Schottland. Dann die Kleidung – eine so wilde Mischung, als hätte sie blind in einen Kleiderschrank gegriffen. Ihre Wanderstiefel sind genauso abgetragen wie ihr Rucksack, der beinahe so groß ist wie sie und sicher mehr wiegt.
Was zum Teufel glaubt sie, wo sie ist? Ihr Aufzug ist besser dafür geeignet, über die sonnigen Strände von Bali zu ziehen als durch die feuchten, kalten Straßen von Edinburgh im Herbst.
Interessiert es sie nicht, dass sie vollkommen fehl am Platz wirkt?
Hat sie das je interessiert?
Das hier ist Summer, der die Meinung von anderen schon immer egal war.
In diesem Moment treffen sich unsere Blicke, und erst jetzt wird es mir wirklich bewusst. Summer. Summer Evans. Sie ist diejenige, auf die wir gewartet haben. Sie ist der Mensch, auf dessen Anwesenheit Gran bestanden hat.
Tausend Erinnerungen schießen in mir auf, während mein Herz ins Stolpern gerät.
Ihr Grinsen wird von kleinen Fältchen begleitet, die verraten, dass sie oft lächelt. Und ihre Augen … sie bringen mich zwanzig Jahre zurück, zu den gleichenstrahlend blauen Augen, dem gleichen rebellischen Lächeln …
Ich wende schnell den Blick ab.
„Was zum Teufel macht sie hier?“, frage ich Charles, und sein Lächeln verschwindet.
„Nun, wenn ihr beide euch setzen mögt“, stottert er. „Dann kann ich es erklären.“
„Es ist ein Vergnügen, dich zu sehen“, sagt sie zu mir, und auch wenn ihre Stimme fest klingt, sehe ich in ihren Augen einen Anflug von etwas, das ich gern als Bedauern interpretieren würde.
Sie umklammert ihren Rucksack, und mir fällt auf, dass es im Raum totenstill geworden ist und alle mich ansehen. Auf mich warten.
„Nun, wollen wir uns setzen?“, fragt sie, und ihre Lider flattern.
Uns setzen? Mit ihr? Um den letzten Willen meiner Großmutter zu hören? Das muss ein Witz sein.
„Ja, setzen wir uns.“
Charles geleitet sie zu einem Stuhl, und ich stehe hier wie ein Idiot. Mein Blick gleitet über sie, verschlingt sie förmlich. Besitzt diese Frau keinen Mantel? Es regnet in Strömen, und ihre nackten Arme sind feucht, die Kleidung klebt an ihrer Haut …
Und einfach so bin ich wieder an diesem See vor zwei Jahrzehnten, und das Feuer entflammt plötzlich und unwillkommen.
Charles bietet ihr etwas zu trinken an, vermutlich, um meine offensichtliche Feindseligkeit wettzumachen.
Beinahe höre ich Gran missbilligend mit der Zunge schnalzen.
Wenn Gran sie hier haben will, sagt die Stimme der Vernunft in mir, dann solltest du nett sein.
Nachdem Charles ihr ein Glas Wasser hingestellt hat, kehrt ihr Blick zu mir zurück. Sie wirkt zögernd, skeptisch …
Sie fühlt sich hier völlig fehl am Platz.
Damit sollte ich mich besser fühlen.
Aber das tue ich nicht.
Müde fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht, setze mich und verstecke mich hinter der Fassade des ruhigen, ungerührten Mannes.
O Gran, was hast du nur gemacht?
Summer
„Gran hat was gemacht?“
Bei Edwards Ausbruch zucke ich zusammen. Ich bin mir nicht sicher, was schlimmer ist: seine Begrüßung vorhin oder seine Reaktion auf das Testament.
Nicht, dass ich es ihm vorwerfen könnte.
Ich bin genauso sprachlos. Was bei mir nicht oft vorkommt. Aber ich kämpfe immer noch damit, dass wir im gleichen Raum sind … ganz zu schweigen von den unglaublichen Neuigkeiten, die Mr. McAllister uns gerade mitgeteilt hat.
„Soll ich es noch einmal von vorne verlesen?“
McAllister tupft sich die Stirn ab. Der arme Mann. Edward ist wütend. Der scharfe Schnitt seines dunkelblauen Anzugs unterstreicht seine Strenge, und die leichten Stoppeln auf seinem Kinn betonen seine Wangenknochen und den markanten Kiefer.
Er hat nichts mehr gemeinsam mit dem Zwanzigjährigen, den ich vor all den Jahren kennengelernt habe. Mit diesem glatt rasierten, ehemaligen Privatschüler mit dem reservierten Lächeln und der süßen Art.
Das hier ist ein Mann mit Jahren des Reichtums und Erfolgs hinter sich. Ein Mann, der mich ganz offensichtlich nicht leiden kann.
„Nein. Du musst es nicht noch mal von vorne lesen, Charles. Ich habe das schon verstanden. Es ist nur …“
Sein Blick schießt zu mir, und mein Herz macht einen Satz. Ich habe keine Zeit, mich davon zu erholen, bevor er wieder McAllister anschaut.
„Sie kann unmöglich bei klarem Verstand gewesen sein. Aber dafür warst du da. Um sicherzustellen, dass sie keine unüberlegten Entscheidungen trifft.“