Briefe an die grüne Fee - Salih Jamal - E-Book

Briefe an die grüne Fee E-Book

Salih Jamal

4,9

Beschreibung

"Ein Briefroman. Poetisch und vulgär." "Ein Buch über blutende, hungrige Herzen mit der Sucht nach Leben und nach der Wucht, die einen an dem entscheidenden Punkt trifft, zwei Finger breit unter dem Zwerchfell, da, wo die Luft wegbleibt." Hoch über den Dächern der Stadt sitzt der Ich-Erzähler, bereit zum Sprung. In seiner Tasche: eine alte Pistole und Briefe an eine geheimnisvolle, devote Flamenco-Tänzerin, die er im Internet über ein Dating-Portal kennengelernt hat. In zwei zusammenlaufenden Handlungssträngen erzählt er von seiner Affäre und von den Menschen, die ihm begegneten. Er schildert seinen Blick auf die Welt, seinen Weg aus Leichtigkeit und Unbekümmertheit in die Fesseln der Verantwortung und den Versuch, dieser Gewissenhaftigkeit zu entfliehen. Dabei sucht er melancholisch, wütend und fragend das Wesen der Liebe, um an den Kern der menschlichen Seele vorzudringen. In seinen Gedanken dealt er deshalb mit dem Teufel. Eine Geschichte aus lustigen, tragischen und unverschämten Anekdoten, erzählt in einer flapsigen und teilweise vulgären Sprache, und tiefgründigen, poetischen Gedanken über die Welt, in der Männer wie vergessene Turnbeutel in der Tinnef-Abteilung bei IKEA darauf warten, abgeholt zu werden, oder in der versucht wird, die Zeugen Jehovas an der Haustüre zu einem Dreier zu überreden.

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Über Salih Jamal:

Ich wurde weit entfernt von dort geboren, wo ich hingehörte. So suchte ich zeitlebens meinen Weg nach Hause und gleichzeitig hinfort. Ein langer, ungewisser und wohl unmöglicher Weg, der mich zu Jobs im Fast-Food-Restaurant, in die Herrenabteilung eines Modehauses auf der piekfeinen Düsseldorfer Königsallee, als Rosenverkäufer in Bordellen oder als Kurierfahrer, der das Kanzleramt belieferte, geführt hat.

In einer staubigen Zeit erblickte ich das Licht der Welt. Um zwanzig nach sieben, an einem Sonntag genau in der Minute des Sonnenaufgangs, atmete ich den letzten Hauch der vergangenen Nacht in mein neues Leben ein. Alles stand im Sternzeichen des Skorpions und auch noch im Aszendent Skorpion. Koordinaten für die Weltherrschaft. Später erfuhr ich, dass mein Tierzeichen des chinesischen Horoskops das Feuerpferd ist. Feuerpferde sind sehr selten. In der fernöstlichen Astrologie wurden die Eigenschaften von Feuer und Pferd kombiniert: Pferde sind klug, selbstbewusst, egoistisch, unruhig und leidenschaftlich. Dabei sind sie so freiheitsliebend, dass sie die Welt vergessen können, so dass man durchaus niedergerannt werden kann, wenn man ihnen im Weg steht. Menschen, die im Feuer geboren werden sind dominant und brennen vor Hingabe an Dinge. Manchmal so lange, bis alles um sie herum zerstört ist. Der Akt meiner Geburt war als solcher gar nicht vorhanden. Ich flutschte einfach raus! So wie ich auch später durchs Leben flutschen sollte. Ich bin übrigens Frühaufsteher. Ob das etwas damit zu tun hat?

Über das Buch:

„Ein Briefroman. Ein neuer Werther in einer neuen Zeit. Poetisch und vulgär.“

Hoch über den Dächern der Stadt sitzt der Ich-Erzähler, bereit zum Sprung. In seiner Tasche: eine alte Pistole und Briefe an eine geheimnisvolle, devote Flamenco-Tänzerin, die er im Internet über ein Dating-Portal kennengelernt hat.

In zwei zusammenlaufenden Handlungssträngen erzählt er von seiner Affäre und von den Menschen, die ihm begegneten. Er schildert seinen Blick auf die Welt, seinem Weg aus Leichtigkeit und Unbekümmertheit in die Fesseln der Verantwortung und dem Versuch, dieser Gewissenhaftigkeit zu entfliehen. Dabei sucht er melancholisch, wütend und fragend das Wesen der Liebe, um an den Kern der menschlichen Seele vorzudringen. In seinen Gedanken dealt er deshalb mit dem Teufel.

Eine Geschichte aus lustigen, tragischen und unverschämten Anekdoten, erzählt in einer flapsigen und teilweise vulgären Sprache, und tiefgründigen, poetischen Gedanken über die Welt, in der Männer wie vergessene Turnbeutel in der Tinnef-Abteilung bei IKEA darauf warten abgeholt zu werden, oder in der versucht wird die Zeugen Jehovas an der Haustüre zu einem Dreier zu überreden.

Ein Buch über blutende, hungrige Herzen mit der Sucht nach Leben und nach der Wucht, die einen an dem entscheidenden Punkt trifft, zwei Finger breit unter dem Zwerchfell, da, wo die Luft wegbleibt.

BRIEFE

PROLOG

GLÜCK

DIE TAT

RAUB & ROSEN

MESSERSCHARF

SCHEINWELT

ERKENNTNIS

UNGLEICH

DÉJÀ VU

WELLEN

GRÜNE FEE

BLAUER ENGEL

UNBERÜHRBAR

LEBEN

DRACHENBLUT

UNIVERSUM

EPILOG

Dieses Buch ist den Musen gewidmet. Dass sie das Küssen nie verlernen.

PROLOG

Denn so wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich.

Khalil Gibran "Der Prophet"

Dein Name ist Sharon. Du wartest auf mich.

Noch sitze ich hier auf dem Sims, die Füße baumeln nach vorne ins Leere und ich schaue nach unten. Der Himmel steht hoch. Schüchtern kündigt die Sonne den Frühling an. So schön! Ihr Strahl trifft mich, wachswarm und weich, während ich so sitze, von oben die austreibenden Blumen sehe und mich hinfort träume.

Sonst fallen mir in der täglichen Hatz um die vielen goldenen Kälber eigentlich gar keine Blumen auf. Ich versinke an einen der schönsten Plätze, die ich kenne, und wache dort wieder auf. Ich bin in einem alten Park mitten in der Stadt. Große Bäume, eine Wiese und ein kleiner Biergarten, der direkt am See gelegen ist. Das Ambiente dort stammt noch aus Kaisers Zeiten und die kleinen Gerichte, die man dort an einer Durchreiche selbst abholen muss, sind von ausgezeichneter Qualität. Gerne wäre ich an einem warmen Sonntag mit Dir dort hingefahren. Die Natur genießen und später auf der Wiese, unter einem Baum liegend, mit Dir durch die Baumwipfel in den Himmel schauen, sich von der wärmenden Sonne streicheln lassen und die Menschen beobachten.

Du kennst das. Man sitzt unbeobachtet und unscheinbar in einem Café oder auf einem großen Platz. Leute sind überall. Man beobachtet das Treiben, die Personen, die wie auf einer großen, realen Leinwand plötzlich ihre Konturen zeichnen. Du studierst ihre Gesichter, den Blick, ihre Kleidung, ihren Gang, die Stimmen, die Hände oder die Zähne. Man notiert den Schmutz, der vielleicht an einem Schuh hängen geblieben ist. Ein falsch geknöpftes Hemd? Und dann entwickeln sich Bilder zu den Menschen, die nicht wissen, dass sie plötzlich in deinem Kopf ihre Geschichte erzählen. Sie können Opfer und Täter sein, oder beides. Sie sind dominant oder ergeben und gottesfürchtig. Wie Fotos, die mit einem Schnellauslöser gemacht werden, erscheinen in Bruchteilen von Sekunden Bilder über Bilder, die sich zu ganzen Handlungen, gar zu ganzen Lebensläufen, zusammenfügen. Ich gehe einer Beschäftigung nach, die meist lapidar mit „Leute gucken“ beschrieben wird.

Aber ich interessiere mich nicht für eine mögliche, ausgedachte Geschichte einer Frau oder eines Mannes. Mich beschäftigt die Wirklichkeit!

Ich habe ein Talent, die Menschen so zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Diese Begabung des Erkennens habe ich schon als Kind entdeckt und sie im Laufe der Jahre trainiert. Ich liebe es zu beobachten. So erinnere ich mich, als Du einmal mit einer ganz flinken Handbewegung den Rand einer Damenbinde an deinem Bein abgetupft hattest, damit die Klebeseite etwas Hautfett bekommt. Mir erschloss sich aus dieser unmerklichen Geste eine ganze Welt. Ich habe meine Beobachtungen im Guten und auch im Bösen genutzt. Meist aus ganz egoistischen Motiven. Oft reicht bei einfachen Seelen lediglich ein Blick in die Augen, damit sich Verborgenes offenbart. Nun sagen manche, dass es doch jedem so geht, indem er Menschen in Schubladen steckt und sich so ein erstes Bild macht. Es kommt aber darauf an, das Richtige im richtigen Augenblick zu erkennen. Denn sonst registriert man die vielen kleinen Puzzelsteine nicht, wenn sie sich in Sekundenschnelle ganz kurz zu einem Bild aneinanderreihen, um dann genau so flüchtig wie weiße Pusteblumen wieder auseinanderzufliegen.

Man muss also den Geist schärfen und sich eine gewisse Feinfühligkeit bewahren. Man muss sehen, riechen, zuhören und, wenn es sein muss, auch schmecken!

Es ist leider anders gekommen und wir liegen nicht gemeinsam in dem schönen Park unter einem Baum und beobachten kleine Segelflugzeuge, die wie winzige Kreuze am hellblauen Himmel ihre Runden drehen. Wir genießen nicht dieses Vergessen und Versinken. Wir verpassen, dass die Welt um uns ihren Lärm und ihre Geschwindigkeit verliert, weil die kleinen Flugzeuge da oben ja auch lautlos und langsam kreisen, und sich allmählich auflösend verblassen.

Kennst Du diesen kurzen Moment, in dem Dein Körper zuckt und alle Spannung verliert, kurz bevor der Schlaf Dich holt und Du in Morpheus Arme wehrlos niedersinkst? Genau so stelle ich es mir an unserem Baum in unserem alten Stadtpark am See vor. Eine Sekunde, bevor wir eng aneinander liegend in den Nachmittag hineindösen. Wenn sich unsere Düfte mit denen des grünen Sees, des Schilfes, der Gräser und dem Geruch der alten Bäume in einer Brise Wind vermischen und sich dabei das Gemurmel der Menschen mit Vogelgesang und dem Rascheln der Blätter zu einem flauschigen, tiefen Teppich aus verhallendem Klang verquirlt, in den Du barfuß und behaglich eintauchst.

Wir sind uns begegnet. Das Schicksal hat uns zueinander geführt, und entzündet. Ich glaube an das Schicksal, an die Bestimmung, wenn man es denn so nennen will. Von mir aus ist es sogar Gott, der sein Spiel mit uns spielt. Manchmal liebevoll, manchmal heiter. Manchmal aber auch nicht! Ich stelle mir vor, dass wir Spielfiguren sind, die der alte Mann oben im Himmel in seiner Schatulle namens Erde aufbewahrt. Nur dass er uns, wie es ihm gerade beliebt, auf unterschiedlichen Spielbrettern aufstellt. Manche müssen mit „Mensch ärgere dich nicht“ durchs Leben gehen. Andere blechen auf der Schlossallee. Mit einigen Menschen spielt er Schach. Das Spiel des ständigen Kampfes gegen die Ausweglosigkeit. Dabei sind, je nach Figur, die Lösungen beschränkt. Türme können nur geradeaus laufen. Springer laufen nicht weit, aber dafür um die Ecke. Nur die Damen dürfen alles. Meist töten sie sogar den König.

Aber wir liegen nicht im Park. Du antwortest mir nicht mehr. Meine Liebe habe ich Dir gestanden. Dabei war ich anfangs noch nicht einmal auf der Suche nach Liebe. Dennoch, ich bereue es nicht! Auch wenn ich dabei ein Gefühl der Lächerlichkeit und Kleinheit entdecke, welches an mir teerartig klebt, nachdem ich mich offenbart habe.

Ich bin der Liebe gefolgt. Sofort und ohne Zögern. Nun hat mich ihr Schwert verwundet. Ob ich ihr wieder folgen würde? Ich weiß es nicht. Alles Erdenkliche ist gelebt, alles Erdenkliche ist gedacht worden und schon einmal dagewesen. Es gibt keinen Neuschnee. Schon lange nicht mehr. Seit Generationen wiederholt sich alles. Sogar die Gewalt der Gezeiten ist in ihrem gleichbleibenden, wiederkehrenden Korsett gefangen und angepasst.

So sitze ich hier und frage mich, ob es denn der richtige Weg ist, wenn man seinem brennenden Herz folgt?

Ich lebte ein Leben ... so wild und so frei, von dem ich Dir gerne erzählen will, da Du mir Deine Fotos aus vergangener Zeit gezeigt hast und es von mir kaum Bilder gibt. Deshalb berichte ich Dir von der Freiheit, die ich einmal hatte, und hoffe, dass meine Worte meine Bilder für Dich ersetzen; auch wenn unsere Zeit schon längst in Erinnerung gefangen ist und dort in Endlosschleifen immer kürzer werdende und allmählich sterbende Gedanken hervorruft. Ich habe die Briefe bei mir, die ich in den letzten Monaten geschrieben habe. Die ich nicht abgesendet habe. Ich lasse sie hier.

Ich habe im Heute gelebt. Jetzt umklammert mich das Gestern so sehr, dass ich keinen Schritt in die Zukunft zu finden vermag. Die Aussicht auf ein Leben in Gefangenschaft und in Erinnerung an ein kalt erloschenes Glück erschaudert mich.

So ist es: Wer die Sicherheit aufgibt, um Freiheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren. Leider ist es im umgekehrten Falle genauso.

Ich frage mich, wie ich hierhergekommen bin?

Eine beschämende Verklemmung packt und schüttelt mich aus meinen Träumen. Ich finde mich wieder auf diesem anonymen Hochhaus über der Stadt und ich fühle die kalte Schere an meinem Lebensfaden.

Ein leichter Wind streicht meine Locken und berührt angenehm kühl mein Gesicht. Für einen kurzen Moment fröstelt es. Über meinen Armen. Auf meinem Gesicht. In meinem Blut. Mir fallen die Bremer Stadtmusikanten ein, als der Esel zu dem Hahn sagte: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“

Er wusste nicht, dass kein Tod so kalt ist wie eine erloschene Leidenschaft.

1. GLÜCK

Du, der du dies liest, halt ein und denke für einen Augenblick an die lange Kette aus Eisen oder Gold, aus Dornen oder Blumen, die dich niemals gefesselt hätte, wäre nicht an einem denkwürdigen Tage ihr erstes Glied geschmiedet worden.

Charles Dickens aus: „Große Erwartungen“

2. Juni

Es war im September des letzten Jahres. Ich hatte eine wahnsinnige, große Sternschnuppe am Himmel gesehen. Ganz kurz und doch nah, klar und zutiefst beeindruckend. Es war nicht nur einfach ein Punkt am Himmel, der klein und weit weg von rechts nach links flog. Nein, es war eine ungeheuerlich große Sternschnuppe, die direkt über mich hinwegschoss und mit einem brennenden Feuerschweif den samtschwarzen Himmel wie eine glühende Schere aufschnitt. So stand ich da mit weit aufgerissenen Augen, nachts auf einem matschigen Feld, und habe mich gefragt, welcher Wunsch einem solchen Ereignis gerecht werden könnte. Ich überlegte kurz und dann wünschte ich mir ganz unbescheiden das GLÜCK.

Typisch, ich stand mit meinen Stiefeln auf der regennassen Wiese, bis zu den Knöcheln in einer brauen Mocke, und forderte das Glück heraus.

Nun ist es nicht so, dass ich bisher kein Glück gehabt hätte, oder dass ich unglücklich gewesen wäre. Spaß stand für mich immer im Vordergrund. Denn der sinnvollste Weg, ein Leben zu leben, ist der mit viel Freude. Die Welt dreht sich auf diese Weise einfach etwas schneller. Die Tage sind kürzer und der Reiz des Augenblicks hat eine größere Bedeutung. Ich hatte eine Menge Spaß! So viel, dass ich Pflichten vergaß und es mir eigentlich hätte übel ergehen müssen. Aber das Glückskind in mir hatte es immer geschafft, dass die Seite mit der Marmelade auf dem Brot nach oben zeigte, wenn es zu gelegentlichen Abstürzen, Grenzüberschreitungen oder sonstigen Ausschweifungen gekommen war. Schon als Kind hatte ich dieses nicht sichtbare Zeichen auf der Stirn, das mir Lebenslust und Fröhlichkeit bescheinigte. Es gibt besondere Kinder, die von allen geliebt werden, denen alles verziehen wird und die auf wundersame Weise auf leichten Füßen durch das Leben gleiten.

Die Geschichte von Frederick, der Maus, war damals eine meiner Lieblingsgeschichten. Es ging um eine Gruppe von Mäusen, die das ganze Frühjahr, den Sommer und den Herbst auf den Feldern und Wiesen geschuftet hatten, damit sie im langen, kalten und harten Winter keinen Hunger leiden mussten. Nur Frederick, die kleine gewitzte Feldmaus, lag den ganzen Sommer neben dem Feld auf einer Wiese, den Strohhut tief ins Gesicht gezogen, und döste. Natürlich beschwerten sich die anderen Mäuse, doch Frederick schob seinen Strohhut ein wenig aus dem Gesicht und entgegnete stets: „Ich sammle Sonnenstrahlen, Farben und Wörter für die dunklen Tage.“ Dann fuhr er mit seinem Nickerchen fort und kümmerte sich nicht weiter um die Arbeit. Schon damals, als ich die Geschichte erstmals hörte, war ich bei diesem Punkt hellauf begeistert: Offensichtlich gab es Helden, die nicht vor lauter Tugendhaftigkeit das Genießen verlernt hatten und vermutlich ganz gut über die Runden kamen. Als dann der kalte und harte Winter kam, saßen die Mäuse in ihrem dunklen Winterbau, und es wurde von Tag zu Tag langweiliger, trister und öder. Nach und nach waren fast alle Nüsse und Beeren aufgeknabbert. Das Stroh war alle und an die geernteten Körner konnten sie sich kaum noch erinnern. Es war kalt im Mäusebau, und sie rückten noch enger zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Es wurde ganz still, denn niemand wollte mehr sprechen.

Da fiel ihnen plötzlich ein, wie Frederick von Sonnenstrahlen, Farben und Wörtern gesprochen hatte … Und dann das furiose Finale der Geschichte: Frederick erzählte. Er beschrieb den herrlichen Sommer in Bildern, die die anderen Mäuse wegen der vielen Arbeit eigentlich gar nicht wahrgenommen hatten. Er machte sie froh und tröstete sie zugleich, weil er die Vorfreude auf das Frühjahr in allen weckte. Frederick vertrieb den Mäusen die Zeit und wärmte sie mit Poesie.

Wie wichtig es doch ist, Träume zu haben!

Frederick war meine erste Ahnung von Kunst und der Wirkung, die von ihr ausgehen konnte.

Wie gesagt, eine meiner Lieblingsgeschichten, deren Sinn ich mitunter gern zu einer Lebensmaxime für mich übernommen habe: wenig Aufwand, hoher Nutzen und große Freude.

Aus diesem Grund und aus Bequemlichkeit hatte ich schon sehr früh eine gewisse von Witz und Schlagfertigkeit geprägte Eloquenz erlernt. Ich entdeckte schon im Kindesalter, dass Worte und Charme ein Schlüssel zu den Herzen der Menschen sein können. Von Rhetorik hatte ich natürlich seinerzeit nicht den geringsten Schimmer, und dennoch war die Sache eigentlich klar. Baby schreit. Baby bekommt etwas zu essen. Kind macht den Dackelblick und verschlossene Türen öffnen sich von alleine. Im Prinzip ganz einfach! Im Laufe der Zeit perfektionierte ich diese offensichtliche Gabe auf die für mich schönste Weise. Ich erkannte, dass mich manches Mal die sanft vorgetragenen Wünsche und ein anderes Mal nur die schiere Lautstärke meinen großen und kleinen Zielen näher brachten. Dabei bevorzugte ich die freundlichen Zwischentöne, weil man so einfach sympathischer und in besserer Erinnerung bleibt für einen möglichen Wunsch. Seelenfänger sind Künstler. Sie malen mit Sympathie. Doch in jeder Kunst steckt auch der Teufel. Er steckt im Detail. Er steckt in der Leidenschaft und er steckt in der Schönheit. Ohne ihn wäre sie nicht sichtbar, weil sie sonst kein Gegenteil hätte. Genau wie wir will der Teufel ja nur die Seelen der Menschen, weil er in ihnen die Geister sucht, die er begehrt.

Der arme Kerl! Er muss dafür so viel anstellen und sich verbiegen; so, wie wir es alle wohl schon getan haben. Nur um ein Stückchen wärmende und tröstende Seele zu erhaschen, die er roh und blutig aus den frisch entnommenen Leibern gierig frisst.

Er sollte es vielleicht einfach mal mit einem Lächeln versuchen. Jedenfalls habe ich beschlossen ihn anzulächeln, wenn er mir mal über den Weg laufen sollte und meine Seele haben will. Vielleicht gibt er mir ja dann in einem erstaunten Moment seine kleine verschrumpelte Seele, die ich mir irgendwie wie ein Stück Dosen-Dörrobst vorstelle.

Sehr früh lernte ich auch, dass die Lüge eine äußerst verführende und mystische Schönheit ist, die es zu ergründen gilt, um sie für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Allerdings wurde mir auch in mancher Übung schmerzhaft klar, dass das Spiel mit der Lüge beherrscht werden will. Die Lüge ist wie eine Prostituierte. Für einen gewissen Preis gibt sie sich jedem hin. Die Kunst liegt darin, sie um ihren Liebeslohn zu betrügen.

In einer staubigen Zeit, Ende der sechziger Jahre, erblickte ich das Licht der Welt. Um zwanzig nach sieben, an einem Sonntag genau in der Minute des Sonnenaufgangs, atmete ich den letzten Hauch der vergangenen Nacht in mein neues Leben ein. Alles stand im Sternzeichen des Skorpions und auch noch im Aszendent Skorpion. Koordinaten für die Weltherrschaft.

Der Akt meiner Geburt war als solcher gar nicht vorhanden. Ich flutschte einfach raus! So wie ich auch später durchs Leben flutschen sollte. Ich bin übrigens Frühaufsteher. Ob das etwas damit zu tun hat?

Später erfuhr ich, dass mein Tierzeichen des chinesischen Horoskops das Feuerpferd ist. Feuerpferde kommen nur alle 60 Jahre zur Welt und sind somit eher selten. In der fernöstlichen Astrologie wurden die Eigenschaften von Feuer und Pferd kombiniert: Pferde sind klug, selbstbewusst, egoistisch, unruhig und leidenschaftlich. Dabei sind sie so freiheitsliebend, dass sie die Welt vergessen können, so dass man durchaus niedergerannt werden kann, wenn man ihnen im Weg steht. Menschen, die im Feuer geboren werden sind dominant und brennen vor Hingabe an Dinge. Manchmal so lange, bis alles um sie herum zerstört ist.

Nun ja, ich schere mich nicht im Geringsten um Astrologie. Allerdings gebe ich zu, dass es Spaß macht, sich darüber zu unterhalten, und besonders Frauen sprechen auf Sterne, die meist unerreichbar am Himmel hängen, recht gut an.

Ich wurde weit entfernt von dort geboren, wo ich hingehörte. So suchte ich zeitlebens meinen Weg nach Hause und gleichzeitig hinfort. Ein langer, ungewisser und wohl unmöglicher Weg.

Ich kam in Zeiten des Aufbruchs, der Antibabypille und der freien Liebe zur Welt, jedoch landete ich wie ein verirrter Astronaut am falschen Ende der Gesellschaft. Mein bigottes Elternhaus hatte mit all dem Aufbruch dieser neuen Zeit, in die ich hineingeboren wurde, nichts am Hut.

So musste ich meine Kindheit im Muff von großflächigen, braunen Blümchentapeten, Bundfaltenhosen, Eichenholzmöbeln und einem Plumpsklo verbringen. Wir wohnten in einem Haus, welches mein Großvater noch selbst gebaut hatte. Später stellte sich einmal heraus, dass alle Abmessungen im Bauplan gegenüber dem tatsächlich errichteten Mauerwerk zwanzig Zentimeter kleiner waren. Mein Opa hatte einen zerbrochenen Zollstock wieder repariert und dabei versehentlich ein Stück zu viel eingesetzt, so dass das Haus größer wurde. Das war typisch für meine Familie! Es wurde gespart, wo es nur ging. Nicht, dass wir besondere Armut hätten erdulden müssen. Es war vielmehr eine Art calvinistische Knickerigkeit gegenüber den Freuden des Lebens. So fanden sich in unserem Garten keine Blumen, sondern gepflegte Felder mit Salat, Kohl, Kartoffeln oder Möhren, je nach Jahreszeit. Meine Großmutter hatte immer einen roten Daumen, der daher rührte, dass sie tagein und tagaus vor ihrem Küchenfenster im Garten saß und geschickt mit einem Messer irgendwelches selbst geerntete Obst über ihren Daumen in eine Schüssel schnitt. Wir hatten einen ganzen Keller voll mit Vorräten. Dort standen unter anderem zwei riesige Gefriertruhen, in denen man nach einem heimtückischen, unentdeckten Mord eine ganze Familie unzerstückelt hätte verstauen können.

Regale voll mit Einkochobst umzingelten die beiden riesigen und brummenden Kühlsärge. Wenn ich in den Keller geschickt wurde, um ein Glas Eingemachtes heraufzuholen, musste ich höllisch aufpassen, dass ich keines mit verschimmeltem Inhalt nahm, denn einmal geöffnet, wurde der Schimmel obenherum abgekratzt. Soviel Obst und Gemüse stopfte meine Familie jedes Jahr in die blöden Weckgläser, dass sie ganz Afrika fünf Jahre lang hätte ernähren können.

Wenn ich mich nicht jedes Mal selbst angeboten hätte, ein Glas Birnen oder Bohnen hochzuholen, hätte ich hart nach Ausreden suchen müssen, um bei Tisch dann das „so gute Obst“ überhaupt nicht anrühren zu wollen. Ich erinnere mich an Kirschen, die ich aus einem Pfannkuchen gepopelt habe, um sie in der Schublade des Küchentischs verschwinden zu lassen. So fand in unserem Keller das gute „First In - First Out“-Prinzip einen gleichmütigen Tod, in dem ich stets die frischen Gläser heraufholte und schon auf der Treppe das Gummi aufzog, weil meine Mutter meine Strategie durchschaut hatte und mich wieder hinuntergeschickt hätte, um ein Glas von hinten aus dem Regal zu nehmen.

Wir hatten circa 3000 Quadratmeter Nutzgarten. Wie gesagt, ohne Blumen, dafür mit jeder Menge langweiliger Erntearbeit an heißen, schwitzigen und zäh fließenden Sommertagen.

An einem solchen Tag hatte ich mich mal wieder, so wie mein Freund Frederick, die Maus, um die Arbeit gedrückt. Anstatt auf einem umgedrehten Eimer in irgendeiner Reihe Johannisbeersträucher zu sitzen und mir die Finger von Erde, Insekten und zerdrückten klebrigen Beerenmatsch schmutzig zu machen, hatte ich die Jungs aus der Nachbarschaft in den Vorratskeller mit den Einmachgläsern eingeladen. Wir saßen auf den Kühltruhen und mir schwebte etwas „Tom-Saywer-mäßiges“ vor, von dem ich noch nicht genau wusste, was es am Ende werden würde. Vielleicht konnte es mir gelingen, dass mir meine Kumpels aus der Nachbarschaft beim Obstpflücken helfen würden. Die hatten ja keinen Garten mit leckerem Obst, weil sie in Mietwohnungen lebten. Deshalb war das sicher eine gelungene Abwechslung für meine Kumpels. Für mich allerdings glich der Gedanke an die Obsternte einem Szenario aus alten Sträflingsfilmen, wo Gefangene in gestreiften Schlafanzügen aneinander gekettet in einer Wüste an einem staubigen Straßengraben schuften müssen.

Neben Frederick, der faulen Maus, liebte ich also Tom Saywer und natürlich auch Huck Finn. Welch ein formidables Leben mit Verve und Grandezza.

Huck mochte ich wegen seiner Freiheit und seinem Tiefgang, den er an den Tag legte, wenn er philosophierte. Huck Finn, der erste Mensch, der mir begegnete, der sein benachteiligtes Leben als Gestrandeter im Hier und Jetzt freudig annahm. Huck war nichts und er wollte nichts außer das Leben in der Natur am Mississippi, welches er jeden Morgen freudig begrüßte.

Huckleberry Finn. Er der heimliche und heilige Schutzpatron aller Obdachlosen und Penner! Als Lohn für seine optimistische Lebenseinstellung winkt, am Ende seiner Geschichte, ein Topf voll Gold. Hucks Einstellung: „Auch wenn‘s gerade scheiße läuft, ist der Rest vom Tag ganz bestimmt noch schön.“

Tom liebte ich, weil ihm diese Freiheit nicht in den Schoß gefallen war. Es hatte ganz bestimmt seine Vorteile, nicht so leben zu müssen wie sein Freund Huck. Er hatte die Sicherheit und das Heim seiner Tante Polly. Anderseits verboten ihm genau die Zwänge seines gottesfürchtigen und puritanischen Umfeldes die Freiheit, die er mit Huck auslebte. Eine Freiheit, die er für sich selbst erträumte. Die er sich mit List erschwindeln musste. Tom war der Meister des Täuschens, Tarnens und des sich Verpissens. Alles nur, um die Art von Kindheit erleben zu können, die er für sich als die beste erachtete. Seine Sehnsucht nach Abenteuer verlieh ihm Flügel. Mark Twain hat es schon ganz richtig ausgedrückt: „Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.“

Nachdem wir also circa eine halbe Stunde zur Freude meiner Oma einige Eimer Obst gepflückt hatten – wobei meine halbe Stunde daraus bestand, für die Freunde das Pflücken zu organisieren, also Eimer und Hocker zu holen, vielleicht auch Handschuhe, etwas zu trinken anzuschleppen und so weiter – gingen wir wieder in den kühlen Keller und plünderten die frischesten Weckgläser. Eine geradezu generöse Spende meinerseits für meine Freunde.

Dann beschlossen wir das Obst etwas aufzupeppen. Wir „borgten“ uns bei meiner Oma ein Pfund Zucker und mixten Aufgesetzten durch Hinzugabe einer heimlich geklauten Flasche Korn, die unter Verschluss in einem Kellerschrank lag. Wir waren so um die zwölf Jahre alt. Alkoholika sammelten sich in meinem Elternhaus von ganz alleine. Alle Pullen, die an verschiedensten Standorten im ganzen Haus, meist hinter irgendwelchem anderen Krimskrams in Schränken, aufbewahrt wurden, waren Mitbringsel oder Geschenke von irgendwelchen Fremden. Bei uns wurde nicht gesoffen. Noch nicht mal zu Silvester!

Ich bin im Stammbaum meiner Familie der Begründer des ersten zarten Zweiges der Genießer und Säufer. Keiner aus meiner Sippe ist in der Vergangenheit durch Trunkenheit auffällig geworden. Es gab noch nicht einmal Geschichten über Onkel oder Tanten, in denen man sich erzählte, dass wer betrunken gewesen sei und sich dabei daneben benommen oder blamiert hätte.

Nach eingemachten Erdbeeren mit Zucker und Korn und einem halben Weckglas Pflaumen zum Naschen wurde in den Keller gekotzt. Mein erstes Saufgelage.

Ein gelungener Tag. Die permanente Gartenarbeit, wie Unkraut jäten oder Obst pflücken, hat dazu geführt, dass ich mich noch heute eher einseitig ernähre, weil ich Obst und Gemüse verabscheue. Ich habe nicht die geringste Ahnung vom Geschmack einer Pflaume oder einer Kirsche. Nie habe ich welche gegessen. Ich hasse die Dinger! Ihre Konsistenz im Mund widert mich einfach an. Deshalb hatte ich schon damals beim Mixen des Aufgesetzten peinlich darauf geachtet, dass ich keine festen Obststücke in meinen Drink bekam. Der süße, vergiftete Fruchtsaft war völlig ausreichend.

Anders ist das übrigens bei überwiegend gelbem Obst. Bananen und Ananas gab es bei uns ja nicht. Deshalb habe ich allen exotischen Früchten gegenüber ein recht entspanntes und neugieriges Verhältnis entwickelt.

Meine Großeltern, meine Mutter, mein Vater, mein älterer Bruder und eine Tante, die aufgrund ihrer Körperfülle nie geheiratet hatte, waren eine Schicksalsgemeinschaft, die zusammenhielt. Ein anderer Onkel, der es gewagt hatte zu heiraten und fortzuziehen, wurde kurzerhand aus der Familienchronik gestrichen. Während ich also dem Stammbaum den neuen Säufertrieb gab, wurde der Ast von Onkel Gert einfach abgesägt. Es hieß immer, die Frau vom Onkel Gert sei nicht gut. Sie hätte das Erbe gefährden können und so wäre womöglich noch der ganze Besitz zerbrochen und zersplittert. Zig Quadratmeter wertvoller Gartenanbaufläche wären womöglich an Fremde verscherbelt worden, die dann ein neureiches Einfamilienhaus auf unser Grundstück gestellt hätten.

„Du musst immer dafür sorgen, dass du nicht Danke zu sagen brauchst“, so lautete ein Leitsatz meiner Sippe. Das hatte natürlich zur Folge, dass wir eher selten Besuch bekamen und auch nicht groß in Kontakt mit Nachbarn gerieten. Jede angenommene Einladung zu einem Geburtstag würde so die Notwendigkeit einer Gegeneinladung zum eigenen Jahrestag nach sich ziehen. Das würde einerseits Geld für Beköstigung kosten und andererseits wäre man in der Gefangenschaft einer noch einzulösenden Verpflichtung. So ganz ließ sich das nicht immer vermeiden. So kam ich als Kind wenigstens zu etwas Unterhaltung und als Heranwachsender zu den Schnapsvorräten.

Irgendwie waren also die Menschen, mit denen ich nun meine nächsten Jahre verbringen musste, höchstgradig sonderbar und verschroben. Andere Menschen, die ich flüchtig kennenlernte, hatten meist etwas Offenes und Herzliches. So zum Beispiel unsere Nachbarin. Tante Clara. Eine hochgewachsene alte Frau mit weißen Haaren und einem aristokratischen Gang. Manchmal schenkte Sie uns Kindern etwas Schokolade, wenn der Milchmann in seinem klapprigen Verkaufswagen vorbeikam. Tante Clara war meine erste große Liebe. Als sie nach einem Schlaganfall ans Bett gefesselt war, besuchte ich sie kurz. Jeden Tag. Trotz des Widerstands meiner Eltern und oft zum Missfallen meiner Nachbarsfamilie. Eines Tages ist sie dann gestorben. Zum Leichenschmaus gab es „fremdgekochtes“, auswärtiges Essen. Lecker!

Wenn bei uns später gestorben wurde, hatte meine Mutter Stullen geschmiert, und es war ihr mal wieder gar nicht recht, dass überhaupt jemand Anteil genommen hatte und sie sich bedanken musste.

Trotz der selbstgefälligen Einfältigkeit auf gar nichts, die in meinem Heim vorherrschte, hatte dennoch ein jeder seine eigene, ganz spezielle Individualität. Mein Großvater zum Beispiel, der mit dem Zollstock, war ein Messi. Er hatte wohl vor dem strengen Regiment meiner Großmutter, die ich nur mit Dutt auf ihrem Kopf kannte, resigniert und sich seine eigenen kleinen Fluchtpunkte geschaffen. Ganz besonders mochte ich seine „Zwei-Nickerchen-am-Tag-Strategie“. Diese Nickerchen konnte er einfach überall halten. Im Stuhl, auf dem Sofa oder auf einer seiner unzähligen Gartenbänke, die er wohlweißlich in abgelegenen, nicht einsehbaren Ecken unseres großen Gartens aus zwei rostigen Eimern, die mit Kieselsteinen gefüllt waren, und einem Brett darüber gebaut hatte. Er erinnerte mich auf eine ganz besondere Weise an Frederick, die Maus. Nur dass er keine Worte und Sonnenstrahlen gesammelt hatte, sondern Zeugs. Ganz viel Zeugs sogar.

Überall gab es spannende Ecken mit Gerümpel. Panzerersatzteile, ein altes Motorrad, Kannen, Krüge und Leitern, die man benutzen konnte, Seile, um sie an Bäumen zu befestigen, Handkarren, Speere aus dem alten Griechenland, Vogelkäfige und Werkzeuge aller Art, um Löcher zu graben oder Bäume zu fällen. Und das war nur der Krempel draußen!

Im Keller und in der Scheune nebenan, in der ich mich manchmal gerne versteckte und durch einen Spalt beobachtete, wie meine aufgebrachte Familie mich rief und suchte und langsam Panik bekam, weil ich stundenlang mucksmäuschenstill ausharrte und die Situation genoss, konnte man nur noch über einen Pfad zwischen den ganzen Bergen von Gesammeltem hindurchgehen. Ein Abenteuerland ohne Grenzen mit allem, was vorstellbar und auch unvorstellbar gewesen ist. Ich fand eine Gitarre, alte Bilder, sogar eine versteckte Briefmarkensammlung, die ich heute noch habe. Ausgediente dritte Zähne wurden auch eines Tages entdeckt. Damals trug man noch Vollgebiss. Als ich die alten Beißer mit in die Schule nahm und sie einem Mädchen in die Pausenbrotdose legte, nahm ich gerne den Ärger für diesen Streich in Kauf.

Auch Memorabilien aus der Hakenkreuzzeit, die unter den ganzen Sachen versteckt waren, fanden sich immer wieder neu in Schubladen und Schränken. Neben den vielen zu entdeckenden Dingen beschenkte mich mein Großvater auch unwissentlich mit etwas weiterem sehr Wertvollen.