Brombeerfuchs – Das Geheimnis von Weltende - Kathrin Tordasi - E-Book
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Brombeerfuchs – Das Geheimnis von Weltende E-Book

Kathrin Tordasi

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Beschreibung

Öffne die Tür, hinter der das Abenteuer liegt! Sommerferien in Wales: Mitten im Wald, in einer Brombeerhecke, finden Ben und seine Freundin Portia eine geheimnisvolle Tür. Sie ist ein Portal zur Anderswelt und muss unter allen Umständen verschlossen bleiben. Doch woher sollen sie das wissen? Die alten Geschichten über die Wunder und Gefahren der Anderswelt sind lang vergessen ... Für Robin Goodfellow, den Mann mit dem Fuchsschatten, sind die Kinder die letzte Chance, das Portal zu öffnen und endlich nach Hause zurückzukehren. Für alle anderen jedoch könnte dies das Ende bedeuten. Spannende Gestaltwandler-Fantasy für Jungs und Mädchen ab zehn Jahren, die die Leser tief in die britische Sagenwelt eintauchen lässt

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Seitenzahl: 400

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Kathrin Tordasi

Brombeerfuchs. Das Geheimnis von Weltende

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]PrologFerien in WalesPortiaEin Dieb in der NachtPortiaPendragon BooksBenEigenartige EreignissePortiaBenZwischenspielDie MenschentürPortiaBenZwischen den WeltenBenPortiaBenDie FeentürPortiaBenDie Grauen ReiterPortiaSackgasseBenPortiaRidiks letzte ReiseBenZwischenspielGwil SorgenvollBenDer Hohle HügelPortiaAudienzPortiaGestaltwandlerPortiaDie Salamander von BryngolauPortiaMerron WegbereiterPortiaAufbruchBenZwischenspielTitaniaPortiaDie BibliothekBenZwischenspielFeenfluchPortiaRunenzauberBenScherbenPortiaDas Buch der WiederkehrBenEin schicksalhaftes SandwichPortiaAbschied von WeltendeBenZwischenspielNebelspurenPortiaVerwandlungenPortiaDie Fahle FestungBenDie Hunde von AnnwnPortiaNebelgängerBenHoffnungsschimmerPortiaRosendorn und BrombeerblütePortiaDer Neue JagdherrBenDie Jagdherrin des Grauen KönigsPortiaKampfgefährtenBenDie TotentürPortiaBenWelt aus NebelPortiaWo die wilden Kerle wohnenPortiaWolfsherzBenDer Graue KönigPortiaBenAbschied aus der FeenweltPortiaBenLondonPortiaPersonenverzeichnisWalisische Wörter und Redewendungen

Für Erika Oma & Wolfgang Opa

Prolog

Vor langer Zeit wanderten Menschen und Feen mühelos von einer Welt in die andere. Die Königreiche der sterblichen und unsterblichen Völker lagen so dicht beieinander, als wären es zwei Ufer desselben Flusses. Zwischen ihnen befand sich nicht mehr als ein leerer Landstrich. Niemand machte sich je Gedanken über diese Schwelle. Doch sie wurde bewacht, und eines Abends regte sich einer, der seit hundert Jahren geschlafen hatte.

Rotes Herbstlaub fiel von den Bäumen, als der Graue König sich von seinem Lager erhob. Er schritt hinaus ins Niemandsland, und mit ihm kam der Nebel. Jeder, der in die Fänge dieses Nebels geriet, verschwand entweder spurlos oder wurde zu einem Nebelgänger ohne Erinnerung an sein früheres Ich. Mit einem Mal mussten Reisende zwischen den Welten um ihr Leben fürchten.

Damit nicht genug. Der Graue König sandte sein Heer hinaus in die Länder der Menschen und Feen. Bleiche Reiter brachten den Nebel und ließen Seen, Felder und Dörfer in einem grauen Meer verschwinden. Schließlich verbündeten sich Menschen und Feenvolk und drängten den Grauen König und sein Heer zurück ins Niemandsland.

Die Feen versetzten den König in einen tiefen Schlaf, doch niemand wusste, wie lange der Zauber halten würde. Erschöpft vom Kampf trafen Menschen und Feen eine schwere Entscheidung: Sie würden ihre Welten voneinander trennen und die Schwelle versiegeln. Der Graue König sollte das Niemandsland nie wieder verlassen können. Und so geschah es. Die Völker der Menschen wandten sich an ihre Druiden, und jene weisen Männer und Frauen nutzten alte Runenmagie, um alle Übergänge zu verschließen. Von diesem Tage an war der Weg ins Feenreich versperrt. Nur eine Handvoll Auserwählter besaß einen Schlüssel. Für diese Schlüsselträger galt eine einzige Regel: Wenn sie eine Tür zwischen den Welten öffneten, mussten sie sie hinter sich schließen. Doch die Jahrhunderte zogen vorüber, und die Geschichte des Grauen Königs geriet in Vergessenheit.

Als einer der Schlüssel in unseren Besitz geriet, erinnerte sich niemand mehr an die Gesetze oder den Grauen König. Wir wanderten ahnungslos hinüber ins Feenreich, und für eine Weile lebten wir sorgenfrei.

Wir ließen die Türen hinter uns offen stehen. Niemand hatte uns gesagt, warum wir sie schließen sollten. Und als der Graue König zurückkehrte, erkannte niemand die Zeichen, niemand schlug Alarm. An jenem Morgen, als der Nebel wie eine Sturmflut aus dem Wald strömte, war es bereits zu spät.

 

Olivia Stephen, Geschichten aus der Anderswelt (1965)

Ferien in Wales

Portia

Die Stadt Conwy schmiegte sich an die Küste wie ein Croissant an einen Klecks Marmelade. Die Häuser der Altstadt erhoben sich über die blaue Bucht, und der Schatten einer Burg fiel über die engen Gassen. Auf den Zinnen flatterte die walisische Flagge: ein roter Drache auf grün-weißem Grund.

Am Fuße der Burg, etwa fünfzig Meter von der Ringmauer entfernt, lag der Bahnhof. Hier gab es genau zwei Gleise, und der Bahnsteig war so schmal, dass kaum zwei Erwachsene nebeneinandergehen konnten. Hinter dem Bahnhofsgebäude befand sich ein Parkplatz, aber der war, ebenso wie der Bahnsteig, leer. Nur eine braune Möwe suchte in den Mülleimern nach ihrem Mittagessen.

Portia Beale stand am Rand des Parkplatzes und sah hinunter auf den Zettel in ihrer Hand. Auf einem karierten Stück Papier hatte ihre Mutter die Adresse und die Telefonnummer ihrer Tanten aufgeschrieben. »Nur für alle Fälle«, hatte sie gesagt. »Sie werden dich abholen, also wirst du die Nummer erst mal nicht brauchen.«

Tja, Mum, dachte Portia. Falsch gedacht.

Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und ignorierte den Kloß in ihrem Hals. Kein Grund zur Panik. Sie war die ganze Strecke von London nach Wales alleine mit dem Zug gefahren. Da konnte ihr ein einfacher Telefonanruf keine Angst machen. Ihre Mutter hatte sie schon vorgewarnt, dass die Tanten ein wenig zerstreut waren. Vielleicht hatten sie einfach vergessen, dass ihr Feriengast heute ankam.

Portia hatte eben die ersten drei Ziffern eingetippt, als ein Auto mit großem Getöse auf den Parkplatz preschte. Bremsen quietschten, der Auspuff knallte, dann kam das Auto quer vor ihr zum Stehen. Die Fahrertür flog auf, und eine stämmige Frau mit einem kurzen grauen Zopf schob sich hinaus ins Freie. Portia hatte noch immer das Telefon in der Hand, als die Frau in klobigen grünen Gummistiefeln auf sie zu stampfte.

»Mist, verdammter«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich dachte, ich schaffe es noch rechtzeitig.«

Das war Portias erster Eindruck von Tante Bramble.

 

 

Eigentlich wollte Portia die Sommerferien mit ihrer Mutter in Andalusien verbringen. Aber eine Woche vor der Abreise hatte Portias Mutter den Urlaub abgesagt.

Portia war zwar enttäuscht, aber nicht überrascht gewesen. Schon den ganzen Monat über hatte ihre Mutter sich nicht wohl gefühlt. Die Anzeichen dafür, dass der Urlaub nicht stattfinden würde, hatten sich wie Sturmwolken am Horizont aufgetürmt.

Und vor drei Tagen hatte Gwendolyn Beale sich und Portia eingestehen müssen, dass ihre Andalusienreise ins Wasser fallen würde. Stattdessen sollte Portia zwei Wochen bei Verwandten in Nordwales verbringen. Bramble und Rose waren Gwendolyns Tanten, besaßen ein Cottage im Grünen und freuten sich auf Portias Besuch.

Zumindest hatte Portias Mutter das behauptet. Jetzt, da sie Bramble live und in Farbe vor sich hatte, war sich Portia nicht mehr sicher, ob das stimmte.

»Wo ist meine verflixte Uhr?« Brambles Stimme klang tatsächlich so kratzig wie eine Dornenranke. Sie kramte durch sämtliche Jacken- und Hosentaschen. Portia hatte keine Ahnung, wie sie Bramble begrüßen sollte. Also streckte sie ihr kurzentschlossen die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Portia.«

Schon als sie das sagte, kam sie sich dämlich vor. Aber Bramble hielt tatsächlich das erste Mal inne. Sie musterte Portia von oben bis unten. Schließlich schmunzelte sie und drückte Portias Hand. »Das weiß ich, Mädchen. Obwohl du ganz schön gewachsen bist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.« Sie zog eine lädierte Armbanduhr aus den Tiefen ihrer Hosentasche. »Wollen wir?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, packte sie Portias Koffer. Portia zurrte ihren Rucksack zurecht und lief hinter Bramble her zu ihrem zerbeulten grauen Nissan.

»Immer kommt der Zug zu spät«, murrte Bramble. »Ausgerechnet heute ist er pünktlich. Wartest du schon lange?«

»Nein«, antwortete Portia, aber Bramble schien ihr gar nicht zuzuhören. Sie öffnete den Kofferraum, fluchte noch einmal und schob einen Sack Rindenmulch zur Seite, um für Portias Koffer Platz zu machen.

»Steig schon mal ein«, sagte sie. »Rose wartet mit dem Tee, und wenn ich dich nicht rechtzeitig abliefere, macht sie wieder das Ding mit den Augenbrauen.«

»Was denn für ein Ding?«, fragte Portia, während sie die Beifahrertür öffnete.

Bramble schnaubte. »Wirst schon sehen.«

Der Kofferraum knallte zu, und ehe Portia sich versah, waren sie unterwegs.

 

 

Der Nissan zitterte und klapperte so heftig während der Fahrt, dass Portia befürchtete, die Rostlaube würde jeden Moment auseinanderfallen. Bramble schien das nicht zu stören. Sie preschte in einem Tempo durch die engen Straßen, das garantiert nicht den hiesigen Verkehrsregeln entsprach. Portia schlang beide Arme um den Rucksack auf ihrem Schoß und sah besorgt zu, wie draußen die Steinhäuser vorbeirauschten.

Sie hätte Bramble gern gebeten, langsamer zu fahren, aber das traute sie sich nicht. Mit ihrer Halbmondbrille ähnelte sie der Direktorin von Portias Schule, auch wenn ihr zerzauster grauer Zopf nicht ganz zum Bild der strengen Lehrerin passte. Ihre Kleidung war jedenfalls pragmatisch: eine geblümte Bluse, eine verwaschene grüne Strickjacke und eine verblichene Jeans. Dazu die Gummistiefel. Portia fragte sich, was Bramble wohl gemacht hatte, bevor sie zum Bahnhof gekommen war.

»Als wir dich das letzte Mal gesehen haben, warst du drei«, sagte Bramble, und rauschte, ohne zu bremsen, durch einen Kreisverkehr. Ein kleiner Gartenzwerg baumelte vom Rückspiegel des Nissans und hüpfte panisch hin und her. »Daran kannst du dich wohl nicht erinnern?«

»Nein«, antwortete Portia. Dem Gartenzwerg war bestimmt speiübel.

»Wäre auch ungewöhnlich.« Bramble schanzte über eine Bremswelle. »Ich weiß noch, dass du gerne Sachen versteckt hast.« Sie lachte. »Einmal hast du Roses Schuhe in den Ofen gelegt. Sie hat eine Stunde gebraucht, um sie wiederzufinden.«

»Uhm. Das tut mir leid?«, sagte Portia, völlig überrumpelt von Brambles Anekdote.

»Ach was«, sagte Bramble. »Ich hab dein Versteck schon nach zehn Minuten entdeckt, aber es war zu schön, Rose beim Suchen zuzuschauen. Wenn du willst, können wir das gerne wiederholen. Oder bist du inzwischen zu alt für so was?«

Portia musste schmunzeln. »Ich glaub schon.«

»Schade«, sagte Bramble. »Musik?«

Sie drehte ihr Radio auf. ABBAs Waterloo dröhnte aus den Lautsprechern, und Bramble summte prompt die Melodie mit. Portia warf ihr einen Blick zu und bemerkte, dass ihre Brille auf ihre Nasenspitze gerutscht war. Eigentlich sah sie doch nicht aus wie eine Lehrerin. Eher wie eine Archäologin, die alte Schätze ausgrub und Pyramiden erforschte. Fehlt nur der Lederhut, dachte Portia. Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sah Bramble zur Seite und zwinkerte Portia zu. Ganz so dornig, wie sie befürchtet hatte, war Bramble wohl doch nicht.

Ein Dieb in der Nacht

Portia

Fuhr man von Conwy ins Landesinnere, folgte man dem Rand des Snowdonia-Nationalparks. Hier gab es die höchsten Berge in Wales, die schönsten Seen und die meisten Schafe. Das zumindest hatte Portias Mutter behauptet. Der Fluss Conwy schlängelte sich wie ein blaues Band durch grüne Wiesen, und tatsächlich gab es kaum einen Flecken Gras, der nicht von einem Schaf abgekaut wurde.

Nach zwanzig Minuten hatte Bramble den Nissan zu einem Ort gesteuert, der sich Trefriw nannte. Portia versuchte vergeblich, den Namen auszusprechen.

»Tre-früh«, sagte Bramble. »Wenn du das schon schwer findest, warte, bis wir dich nach Llanfairpwll-gwyngyllgogery-chwyrndrobwll-llantysilio-gogogoch mitnehmen.«

»Wie bitte?« Portia verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke.

Bramble wiederholte entweder den Namen, oder vielleicht ahmte sie auch nur einen zischenden Teekessel nach.

»Der Ort mit dem längsten Namen der Welt«, erklärte sie. »Heißt übersetzt so viel wie Marienkirche in einer Mulde weißer Haseln in der Nähe eines schnellen Wirbels und der Thysiliokirche bei der roten Höhle. Die Waliser nehmen es mit ihren Ortsangaben sehr genau.«

»Kommst du nicht aus Wales?«, wollte Portia wissen.

Bramble schüttelte den Kopf. »Aus Manchester eingewandert. Aber verrat’s keinem.« Sie hupte laut und winkte einem Mann, der am Rand der Straße entlangspazierte.

»Nicht mehr weit«, versprach sie, schaute auf ihre Uhr und trat noch fester aufs Gaspedal. Der Nissan brauste hinaus aus dem Ort und über eine Brücke aus Schieferstein. Bramble fuhr an wilden Wiesen vorbei, bis sie schließlich auf ein Wäldchen zusteuerte. Knorrige Eichen drängten sich auf beiden Seiten der Straße, und als das Auto wieder aus dem Wald hinausschoss, stockte Portia der Atem. Vor ihnen erstreckte sich eine atemberaubende Landschaft. Eine Flussebene mit einem Band dunkler Weiden lag zu ihrer Rechten, während sich gegen Ende der Straße dunkelgrüne Wälder an immer steiler werdende Hügel schmiegten. Am Horizont verlor sich das Meer aus Bäumen schließlich in einer Front aus kargen Bergspitzen.

»Wow«, entfuhr es Portia.

Bramble grinste. »Schön, aber abgelegen«, sagte sie. »Aber keine Sorge. Mit meinem Fahrrad bist du im Nullkommanichts im Ort. Und nach Llanrwst ist es auch nicht weit.«

»Schlan…«, probierte Portia.

»Chlan-rüst«, wiederholte Bramble. »Da gibt’s ein kleines Kino, einen Buchladen und so weiter. Du musst dich also nicht die ganze Zeit mit uns zwei Schreckschrauben beschäftigen. Ach ja, wenn man vom Teufel spricht.«

Portia spähte durch die Windschutzscheibe. Ein Obstgarten tauchte am Ende der Straße auf und dahinter ein Haus aus grauem Stein.

»Trautes Heim, Glück allein«, verkündete Bramble und parkte das Auto auf einem Stellplatz unter einem Apfelbaum. Noch ein Blick auf die Uhr, dann kletterte sie aus dem Auto. Portia tat es ihr nach, ihre Augen auf das Haus der Tanten gerichtet. So verträumt hatte sie es sich nicht vorgestellt! Es gab sogar einen Wintergarten und eine Hängematte, die zwischen zwei Bäume gespannt war. Die Tanten mussten vier grüne Daumen haben, denn überall im Garten und an den Fenstern blühten Blumen. Eine Heckenrose kletterte an der Wand des Hauses hinauf, und die violetten Blüten einer Klematis hingen von der überdachten Haustür wie ein Wasserfall. Wäre Peter Rabbit aus dem Garten gehoppelt, Portia wäre nicht einmal überrascht gewesen.

»Hast du Angst vor Hunden?«, fragte Bramble, während sie Portias Gepäck aus dem Kofferraum hievte.

»Nein, wieso?« Sie hatte den Satz kaum beendet, als eine schwarz-weiße Kanonenkugel aus dem Garten herausschoss.

»Marlowe!«, rief Bramble scharf, aber der Hund sprang bereits mit aufgeregtem Hecheln um Portia herum. Er stieg mit den Pfoten auf ihre Füße, drückte seine Flanke an ihre Knie und wedelte mit dem Schwanz, als wären sie die allerbesten Freunde.

Portia ging in die Hocke und kraulte Marlowe zwischen den Ohren. So wie er seine Schnauze auf ihren Oberschenkel legte, fand er das überaus gut.

Bramble schüttelte den Kopf. »Ein hervorragender Wachhund bist du.«

»Freunde auf den ersten Blick«, erwiderte eine neue Stimme.

Portia drehte sich um und sah hinauf zu einer Frau in Brambles Alter. Das musste Rose sein.

Portia wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und stand auf. Im Gegensatz zu Bramble hatte Rose kurze, elegant gewellte Haare. Sie hatte ebenfalls eine Brille auf der Nase, trug eine rote Bluse über einem Rock mit Mohnblumenmuster und sah überhaupt sehr ordentlich aus. Rose trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und lächelte. Portia versuchte, ihre Hände noch ein wenig sauberer zu reiben, aber Rose hielt sich nicht mit einem Händedruck auf. Mit einem Lächeln legte sie Portia beide Hände auf die Schultern.

»Portia, Liebes«, sagte sie. »Du bist so groß geworden! Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen. Wie alt warst du, als wir dich das letzte Mal besucht haben? Zwei?«

»Drei«, korrigierte Bramble. »Und, ja, in neun Jahren wachsen Mädchen für gewöhnlich.«

»Du kommst zu spät«, wandte sich Rose ihrer Freundin zu.

»Zu viel Verkehr«, entgegnete Bramble.

»Viel Verkehr?« Roses rechte Augenbraue zuckte in die Höhe. Bramble warf Portia einen vielsagenden Blick zu.

Ah, dachte Portia. Das Ding mit der Augenbraue.

»Massenhaft Verkehr«, bestätigte Bramble, ohne mit der Wimper zu zucken. »Liegt alles an der neuen Ampel in Tal-y-Cafn. Warum man die gebaut hat, ist mir eh ein Rätsel.« Sie trug Portias Koffer zum Gartentor. Marlowe flitzte an ihr vorbei ins Haus. »Außerdem musste ich anständig fahren«, fügte sie hinzu. »Man soll mit jungen Leuten im Auto nicht rasen, weißt du.«

Zu diesem Zeitpunkt glühte Portias Gesicht schon so heftig, dass sie sicher jeder Tomate Konkurrenz gemacht hätte. Noch nie hatte sie jemand so glatt lügen hören.

»O ja, du bist ein hervorragendes Vorbild für Menschen jeden Alters«, sagte Rose trocken. Sie warf sich das Geschirrtuch über die Schulter und hielt ihre Hand in Richtung Portia. Überrascht bemerkte Portia ein Tattoo an ihrem Handgelenk. Eine Reihe blauer Quer- und Längsstriche – wie die Spuren kleiner Vogelfüße.

»Komm mit, Liebes«, sagte Rose. »Du kannst mir helfen, den Tisch zu decken.«

 

 

Auf einer Kachel über der Klingel stand in runden Buchstaben der Name des Hauses: Afallon. Portia trat durch die offene Tür und blieb wie angewurzelt stehen.

Die Eingangshalle war vollgestellt mit einer Garderobe, einem Korb voller Regenschirme und einem kniehohen Elefanten aus Bronze. Auf einem alten Telefontisch stand eine Vase mit Lilien und Hortensien, und dahinter hing ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen.

So viel Krempel hatte Portia bisher nur in Museen zu Gesicht bekommen. Nur dass es in einem Museum in der Regel nicht nach frischem Gebäck duftete. Sie schnupperte. Vanille, dachte sie. Und Zitrone. Langsam ging sie den Flur entlang. Zu jeder Seite warteten offene Türen.

Ob es hier auch Geheimgänge gab? Versteckte Türen hinter großen Ölgemälden? Portias Herz schlug schneller, und sie hätte am liebsten sofort alle Räume erkundet. Sie drehte sich um und sah an den Wänden hinauf zur Decke. Eine dunkle Holzstiege mit einem verschnörkelten Geländer führte hinauf in den zweiten Stock.

»Na, was meinst du?« Rose lehnte in der Eingangstür und hatte die Arme unter der Brust verschränkt. »Wirst du es ein paar Wochen bei uns aushalten?«

»Auf jeden Fall«, platzte es aus Portia heraus. »Danke, dass ich herkommen durfte.«

»Unsinn, wir haben uns auf deinen Besuch gefreut.« Rose erhob die Stimme. »Um genau zu sein, freut sich der Tee schon seit einer Stunde auf dich.«

»Du kannst es nicht lassen, oder?«, brummte Bramble. Sie schob sich an Rose vorbei und trug Portias Koffer die Treppe hinauf.

»Dein Zimmer ist oben«, erklärte Rose. »Aber genehmigen wir uns doch erst mal ein Stück Kuchen.«

»Kuchen klingt gut«, sagte Portia sofort.

Rose lachte. »Hab ich mir gedacht.« Sie deutete auf eine Tür rechts neben ihnen. »Zum Wohnzimmer geht’s da entlang. Geh schon mal vor, ich hole uns den Tee aus der Küche.«

Mit einem Kribbeln unter der Haut stellte Portia ihren Rucksack ab und ging durch die Tür, die Rose ihr gezeigt hatte.

»Genial«, flüsterte sie.

Das Wohnzimmer der Tanten sah aus wie eine Wurzelhöhle. Eichenbalken stützten die niedrige Decke, und die Wände waren lindgrün angestrichen. Der Fußboden war mit Holzdielen und rostroten Perserteppichen ausgelegt. Vor einem Kamin standen drei Ohrensessel. Das Beste jedoch waren die Bücher. Jede Wand im Zimmer war zugestellt mit Bücherregalen. Eine offene Glastür führte in den Wintergarten, und sogar dort, auf einer Liege zwischen Pflanzenkübeln und prächtigen Hängepflanzen, stapelten sich dicke Wälzer.

Portia war so beeindruckt von der Masse an Lesematerial, dass sie zunächst nichts anderes wahrnahm. Erst als sie die Mitte des Raumes erreicht hatte, fiel ihr auf, dass sie nicht allein war.

Auf der Schwelle zwischen Wohnzimmer und Wintergarten saß ein Fuchs. Das Tier schaute sie direkt an, und im Licht der Nachmittagssonne leuchtete sein Fell kupferrot. Portia hielt den Atem an, aber der Fuchs lief nicht weg. Er beobachtete sie mit aufgestellten Ohren und aufmerksamen, goldenen Augen. Fasziniert erwiderte sie seinen Blick, bis sie ein Wimmern hinter sich hörte. Sie drehte sich um. Marlowe kauerte mit geducktem Kopf in der Tür zum Wohnzimmer.

Ein Jagdhund war der Gute offenbar nicht, so ängstlich wie er dreinschaute. Der Fuchs wiederum schien sich nicht zu fürchten. Im Gegenteil. Er musterte Marlowe mit gelassenem Blick, und Portia hatte den Eindruck, er würde frech grinsen, aber das konnte er natürlich nicht.

»Marlowe, alter Junge«, ertönte Brambles Stimme aus dem Flur. »Bettelst du schon wieder?« Eine Sekunde später stand sie im Türrahmen und entdeckte den Fuchs. »Du!«, donnerte sie, und beim Klang ihrer Stimme zuckte der Fuchs zusammen. Bramble ballte die Fäuste und stürmte ins Zimmer. »Ich glaub’s ja nicht! Mach, dass du wegkommst!«

Der Fuchs duckte sich, zögerte und flitzte schließlich davon.

Bramble verfolgte ihn bis zu einer offenen Tür, die vom Wintergarten in den Garten hinausführte. »Komm bloß nicht wieder, sonst mach ich Handschuhe aus dir«, rief sie. »Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!«

»Das war ein Fuchs!«, sagte Portia, als Bramble ins Wohnzimmer zurückkehrte.

»Mehr oder weniger«, brummte Bramble. Ihr Blick glitt hinüber zu einer geschlossenen Tür, direkt neben einem der Bücherregale. Marlowe trottete zu ihr hinüber, und sie kraulte ihm kopfschüttelnd die Ohren. »Hast dich erschreckt, was?«

»Was ist denn hier los?«, fragte Rose, die gerade mit einem Tablett voll Teegeschirr ins Wohnzimmer kam.

»Ein Fuchs!«, rief Portia. »Hier im Wohnzimmer!« Nicht zu fassen! Sie hatte noch nie einen Fuchs aus solcher Nähe gesehen. »Passiert das oft?«

Das Haus der Tanten wurde von Minute zu Minute spannender.

Rose allerdings schien der Besuch des Fuchses auch nicht zu gefallen. Sie warf Bramble einen besorgten Blick zu, aber Bramble presste als Antwort nur die Lippen aufeinander.

»Willkommen auf dem Land«, sagte Bramble knapp. Dann gab sie Marlowe einen Stups und nahm Rose das Tablett aus den Händen.

 

 

Als es Abend wurde, konnte Portia nicht mehr entscheiden, welcher Teil des Hauses ihr am besten gefiel. Lange war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Küche, dem Wintergarten und dem Wohnzimmer. Am Ende entschied sie sich dann aber doch für ihr eigenes Schlafzimmer.

»Wenn du irgendetwas brauchst, wir sind am anderen Ende des Flures«, sagte Rose, als es Zeit wurde, schlafen zu gehen. Dann legte sie einen Arm um Portia. »Wir freuen uns sehr, dass du hier bist.«

»Ich mich auch«, sagte Portia. Die Tanten hatten sie so freundlich aufgenommen, sie verstand jetzt schon, warum ihre Mutter ihre Ferien früher am liebsten in Afallon verbracht hatte.

»Schlaf gut«, verabschiedete sich Rose.

»Und lass den Hund nicht ins Zimmer!«, donnerte Bramble vom Ende des Flures.

Rose rollte die Augen, musste aber trotzdem lächeln. »Gute Nacht«, sagte sie, und Portia wünschte ihr dasselbe. Danach schloss Rose die Tür, und Portia konnte ihr neues Quartier in Augenschein nehmen.

Das Gästezimmer war nicht groß, aber dafür gemütlich. Es gab eine glockenblumenförmige Leselampe und eine weiße Kommode aus Holz. Das Zimmer befand sich auf der Rückseite des Hauses, und sie war sich sicher, dass man vom Fenster aus den Fluss sehen konnte.

Portia knipste die Leselampe an und öffnete ihren Koffer. Ihr Pyjama lag gleich obenauf. Sie nahm ihn hoch und stutzte. Direkt darunter lag Gwendolyns Lieblingsponcho.

Portia starrte auf den sorgfältig zusammengefalteten Stoff. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Sie erinnerte sich daran, wann ihre Mutter den Poncho das letzte Mal getragen hatte.

Es war an dem Morgen gewesen, an dem sie den gemeinsamen Urlaub abgesagt hatte. Zu dem Zeitpunkt war Portia schon seit zwei Wochen auf Zehenspitzen durch die Wohnung gegangen, um ihre Mutter nicht zu stören. Sie hatte morgens das Frühstück gerichtet und ihrer Mutter nachmittags Tee gekocht. Diese Routine war nichts Neues für sie. Gwen war meistens gut gelaunt und voller Tatendrang, aber manchmal überkam sie eine Welle der Traurigkeit. Wenn es gut lief, zog das Gefühlsunwetter nach ein paar Tagen weiter. Doch oft krallte es sich für Wochen an Gwens persönlichem Himmel fest. Und so war es auch diesmal gewesen.

Als Portia am Montag vor dem geplanten Reiseantritt ins Wohnzimmer gekommen war, hatte Gwen auf der Fensterbank gesessen. Sie trug ihren Lieblingsponcho, ein breites Tuch aus violetter Wolle. Portia hatte sich zu ihr gesetzt und sich an sie geschmiegt, und ihre Mutter hatte ihr von der Urlaubsplanänderung erzählt. Sie hatte den Arm um Portias Schultern gelegt, und die Wolle des Ponchos hatte sich warm und weich an Portias Wange angefühlt.

Andalusien wird wohl leider nichts, hatte ihre Mutter zugegeben.

Die Enttäuschung brannte in Portias Kehle, aber sie ließ sich nichts anmerken. Macht doch nichts, hatte sie gesagt. Fahren wir eben nächstes Jahr.

Und ihre Mutter hatte sie umarmt und ihr einen Kuss auf den Scheitel gedrückt. Mein tapferes Löwenmädchen.

Sie hatte gedacht, dass sie ihre Mutter überzeugt hätte, dass ihr die Planänderung nichts ausmachte. Aber anscheinend hatte ihre Mutter es trotzdem gespürt und ihr zum Trost den Poncho eingepackt.

Ach Mum, dachte Portia. Sie zog ihren Pyjama an und legte sich dann den Poncho über die Schultern. Das Wolltuch roch ein bisschen nach Gwendolyns Parfüm. Portia atmete den Duft tief ein und stellte sich vor, was ihre Mum wohl gerade tat. Sie hoffte, dass es ihr inzwischen besserging. Dass sie daran dachte, sich selbst Frühstück zu machen. Und vielleicht ab und zu an die frische Luft zu gehen.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie nicht besser in London hätte bleiben sollen. Aber ihrer Mutter war es wichtig gewesen, dass sie in ihren Ferien Spaß hatte. Portia strich mit der Hand über den Poncho und hoffte, dass ihre Mum ihn nicht allzu sehr vermissen würde.

Sie seufzte, schaltete das Deckenlicht aus und ging zurück zu ihrem Bett. Dort kniete sie sich auf die Matratze und schaute aus dem Fenster. Im Garten hinter dem Haus war es bereits zu dunkel, um viel auszumachen. Für Sterne war es zu bewölkt, und sie konnte die Weiden am Fluss nur schemenhaft in der Ferne erkennen. Nur eines war merkwürdig.

Portia kniff die Augen zusammen. Nein, sie hatte sich nicht geirrt: Unten, auf einem Streifen Wiese, bewegte sich ein Schatten. Sie lehnte sich nach vorn. Der Fuchs huschte durch das Licht, das aus dem Fenster fiel, und verschwand zwischen den Büschen. Portia runzelte die Stirn. Der war wirklich hartnäckig. Ob er hier in der Nähe seinen Bau hatte?

Weil ihre Füße bereits kalt wurden, schlüpfte sie unter die Bettdecke. Aus ihrem Rucksack fischte sie das Buch, das sie auf der Zugfahrt angefangen hatte. Die Daunen knisterten, als sie sich tiefer in ihr Kissen drückte. Den Poncho behielt sie an.

 

 

Portia konnte nicht sagen, was sie aufgeweckt hatte. Sie wusste nur, dass sie plötzlich aufrecht im Bett saß, während es draußen noch stockdunkel war. Sie runzelte die Stirn. Komisch. Hatte sie sich im Traum erschreckt?

Sie rieb sich mit einer Hand über die Augen. Jetzt, wo sie einmal wach war, konnte sie auch zur Toilette gehen. Wahrscheinlich hatte sie es mit der dritten Tasse Tee übertrieben, aber es hatte so viel Spaß gemacht, die Milch in die Porzellantassen zu tröpfeln. Auf bloßen Füßen tappte sie hinaus auf den Flur. Sie tastete über die Wand, konnte den Lichtschalter jedoch nicht finden. Noch schlaftrunken, ging sie den Flur entlang, als sie unten im Haus ein Geräusch hörte. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Da war es wieder. Das leise Knarzen einer Tür.

Mittlerweile hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte den Umriss des Treppengeländers ausmachen. Vorsichtig schlich sie zur Treppe. Das Geräusch kam aus der Küche. Sie lauschte angestrengt, aber der Rest des Hauses blieb still. Sie hatte schon entschieden, dass Marlowe wohl noch wach war, als plötzlich ein Schatten am Fuße der Treppe vorbeiflitzte. Der Fuchs!

Mit einem Mal war Portia hellwach. Sie überlegte sich kurz, ob sie die Tanten wecken sollte, aber ihre Neugier war zu groß. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinunter. Unten angekommen, hörte sie Geräusche im Wohnzimmer: zuerst ein Scharren, dann das Poltern eines Buchs, das zu Boden fiel. Was zum Kuckuck stellte der Fuchs nur an?

Sie schlich zum Wohnzimmer und spähte durch die offene Tür. Bläuliches Licht fiel durch die Fenster am anderen Ende des Raums. Trotzdem konnte Portia kaum etwas erkennen. Sie sah nur die dunklen Umrisse der Sessel, die sich wie schwarze Buckel aus den Schatten schälten. Die Geräusche kamen von nebenan, aus dem Zimmer, das sie bisher noch nicht gesehen hatte. Sie schlich über die dicken Teppiche und gab der Tür neben dem Bücherregal einen sachten Stoß.

Papier raschelte. Auf einem großen, klobigen Tisch bewegte sich etwas, ein geduckter Schatten mit einem buschigen Schwanz.

Portia kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, als plötzlich Pfoten hinter ihr ins Wohnzimmer rannten und Marlowe einmal laut bellte. Bevor sie auch nur Luft holen konnte, griff jemand über ihre Schulter und knipste das Licht an. Portia blieb vor Schreck fast das Herz stehen, aber das war nichts im Vergleich zur Reaktion des Fuchses. Kaum ging das Licht an, erstarrte das Tier, und sein Schwanz sträubte sich wie die Borsten einer Flaschenbürste. Er stand mitten auf einem Schreibtisch, und um ihn herum herrschte ein Chaos aus zerwühlten Papieren und offenen Schubladen.

»O nein, das machst du nicht«, knurrte Bramble, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie schob sich an Portia vorbei und stürmte ins Arbeitszimmer wie ein Schlachtross. Der Fuchs duckte sich, legte die Ohren an und fauchte, aber Bramble ließ sich davon nicht beeindrucken. Beinahe hatte sie den Eindringling am Wickel, doch der Fuchs war schnell. In letzter Sekunde sprang er vom Schreibtisch, tauchte unter ihrem Arm hindurch und raste aus dem Zimmer, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Bramble fluchte. Draußen schrie jemand erschrocken auf, dann ging auch im Wohnzimmer das Licht an.

Rose stand am Lichtschalter und knotete ihren Morgenmantel zu. »Was um Himmels willen ist hier los?«

Der Fuchs, wollte Portia sagen, aber Bramble kam ihr zuvor. »Crwydriaidoch«, schimpfte sie auf Walisisch.

Portia verstand nur Bahnhof, aber Rose hob verblüfft die Augenbrauen.

»Was wollte er denn hier?«, fragte sie erstaunt.

»Sachen stehlen, wie immer«, schnaubte Bramble. »Der Mistkerl verpasst mir noch einen Herzinfarkt.«

»Bramble«, sagte Rose, aber Bramble ließ sich nicht beschwichtigen.

»Ich hab genug. Wenn er das nächste Mal hier auftaucht, hol ich die Flinte vom Dachboden. Nein, weißt du was, gib mir gleich das Telefon.«

»Wen willst du denn anrufen?«

»Förster, Jäger, was weiß ich«, polterte Bramble.

Marlowe schmiegte sich an Brambles Bein, und Rose strich ihr beruhigend über den Rücken, bis sie die Augen schloss und langsam ausatmete.

»Ich bin zu alt für diesen Mist«, knurrte Bramble und fing an, das Chaos auf dem Schreibtisch zu beseitigen.

Rose sah auf ihre Uhr. »Ich mach uns einen Tee«, sagte sie. »In einer halben Stunde geht die Sonne auf, und mit dem Schlafen war’s das eh diese Nacht.«

»Wie ist der Fuchs denn hier reingekommen?«, wunderte sich Portia.

»Ich habe wohl vergessen, die Küchentür zu schließen«, sagte Rose leichthin. Portia runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich ganz genau, dass Rose die Tür geschlossen hatte. Und jetzt, wo sie darüber nachdachte, war sie sich sicher, dass die Tür zum Arbeitszimmer ebenfalls geschlossen gewesen war. Konnten Füchse Türklinken benutzen?

Rose machte sich auf den Weg in die Küche, aber Portia blieb noch einen Moment zurück. Irgendwas ging hier vor, und sie wollte Bramble unbedingt danach fragen. Aber als sie sich umdrehte, tastete Bramble gerade an der Kante ihres Schreibtisches entlang. Verwundert blieb Portia stehen und beobachtete, wie die Kante unter Brambles Fingerspitzen nachgab und eine verborgene Schublade unter der Tischplatte hervorglitt. Bramble klaubte etwas aus dem Inneren der Schublade, und für einen Augenblick blitzte etwas Silbernes zwischen ihren Fingern auf. Sie atmete erleichtert aus und legte das Silberding zurück.

Eigenartig, höchst eigenartig, dachte Portia und entfernte sich lautlos, noch bevor Bramble die Schublade wieder in ihr Versteck versenkt hatte. Sie hatte sich genau gemerkt, an welcher Stelle sie drücken musste, um das Geheimfach zu öffnen.

Pendragon Books

Ben

Ben Rees stand auf einer Leiter und sortierte Kochbücher in das oberste Fach eines ziemlich vollen Regals. Die Leiter unter ihm wackelte, aber daran war er gewöhnt. Er stützte sich mit dem linken Arm auf ein Regalbrett und schob ein Buch mit der freien Hand in eine schmale Lücke.

Vor ein paar Jahren hatten seine Eltern Pendragon Books von seinem Großvater übernommen. Sie hatten die Ladenfront blau gestrichen und hübsche Lichterketten im Schaufenster befestigt.

Wie seine Mutter war Ben im Laden groß geworden. In dem Sessel, der in der hinteren Ecke des Verkaufsraums stand, hatte er Lesen gelernt. Megan erzählte gerne, wie er stundenlang in Bilderbüchern geschmökert hatte. Am Anfang waren seine Beine noch so kurz gewesen, dass sie nicht einmal über den Rand des Sessels baumelten.

Seit er sechs Jahre alt war, half Ben im Laden aus. Er sortierte Bücherspenden und staubte Regale ab. Er bemalte die Schilder auf den Regalen mit Bildern: kleine Kochtöpfe für die Kochecke, blutige Messer für die Krimis, Herzen für die Romanzen und Drachen für die Fantasysammlung.

Er hätte nicht helfen müssen, aber er liebte den Buchladen. Er konnte es kaum erwarten, nach der Schule hierherzukommen. Der Geruch von Papier, die geknickten Bucheinbände und das Meer aus gedruckten Wörtern gaben ihm das Gefühl, zu Hause zu sein.

Heute war nicht viel los. Nur der rothaarige Mann, der gelegentlich im Laden vorbeischaute, blätterte in einem Roman. Ben stieg gerade von seiner Leiter, als das Glöckchen über der Eingangstür bimmelte und seine Mutter »Croeso!« rief.

Ben ging zu einem Stapel Bücherkisten und holte sich Nachschub. Als er mit einem Arm voller Kochbücher zurück ans Regal trat, sah er in der Krimiecke rechts neben sich ein Mädchen, das er nicht kannte. Es verirrten sich nicht viele Kinder in den Buchladen. Die meisten holten ihren Lesestoff aus der Bücherei in der Schule, wenn überhaupt. Dieses Mädchen jedoch sah aus, als ob es nicht mit leeren Taschen nach Hause gehen wollte. Ben vermutete, dass sie ungefähr gleich alt waren. Das Mädchen trug Turnschuhe, Jeans und ein blaues T-Shirt mit einem pink Flamingo darauf. Ihr Gesicht war übersät mit Sommersprossen, und ihre Haare waren tiefschwarz und wild gelockt. Er hatte sie hier noch nie gesehen.

Ben fuhr damit fort, seine Bücher einzusortieren. Dabei beobachtete er das Mädchen unauffällig, damit es ihn nicht bemerkte. Er wollte nur wissen, für welche Art Bücher sie sich interessierte. Als sie einen Miss-Marple-Krimi aus dem Regal zog, wusste Ben Bescheid. Nicht sein Fall. Er wollte sich schon wegdrehen, als das Mädchen ihn doch noch bemerkte. Sie ließ ihr Buch sinken und hob eine Augenbraue.

Ben wandte sich blitzschnell ab und kniete sich über seinen Karton. Sein Herz klopfte wie wild, und er ärgerte sich über sich selbst. Das hast du nun davon, dachte er. Hättest ja nicht so zu starren brauchen. Er fischte eine ramponierte Ausgabe von Alle meine Hähnchen aus der Kiste und drehte sich nicht noch einmal um. Er hoffte inständig, das Mädchen würde sich wieder um die Bücher kümmern und ihn vergessen. Als mehrere Minuten verstrichen und ihn niemand ansprach, atmete er erleichtert aus. Dann rief seine Mutter nach ihm.

»Ben! Kommst du mal?«

Ben drehte sich um, und das Herz rutschte ihm in die Hose. Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, und davor wartete das Mädchen mit den schwarzen Locken.

Na toll, dachte Ben. Er wusste genau, was jetzt kam. Er ging zum Ladentisch hinüber und betete, dass man seinem Gesicht nicht ansah, wie sehr er sich gegen die anstehende Begegnung sträubte.

»Das ist mein Sohn Ben«, sagte Megan Rees und strahlte über das ganze Gesicht. »Ben, das ist Portia. Sie verbringt ihre Ferien oben in Afallon.«

Das Mädchen lächelte ihm zu, und Ben spürte, wie seine Wangen glühten. Er hasste diese Momente.

Megan versuchte immer, ihn mit anderen Kindern zu verkuppeln. Sie meinte es gut. Sie machte sich Sorgen um ihn, weil er ihrer Meinung nach zu viel alleine war. Er ging nicht auf den Bolzplatz oder zu Geburtstagspartys. Das lag nicht mal daran, dass die anderen Kinder ihn absichtlich ausschlossen. Sie dachten beim Vereinbaren ihrer Treffen einfach nicht an Ben. Ihm war das recht. Er machte sich in der Schule so rar wie möglich. Im Unterricht sagte er nichts, wenn er nicht musste, und in den Pausen verschwand er in der Bibliothek. Dort saß er, las, schrieb oder zeichnete.

»Gibt es denn niemanden, mit dem du dich anfreunden möchtest?«, fragte Megan oft. »Sie können doch nicht alle Dumpfbacke sein. Versuch es doch einfach mal.«

Ben versprach jedes Mal, dass er genau das tun würde. Er sagte seiner Mutter nicht, dass er Schwierigkeiten hatte, den Kindern in seiner Schule ins Gesicht zu sehen. Er hatte immer das Gefühl, dass die anderen irgendetwas von ihm erwarteten. Als müsste er irgendein Codewort benutzen, das er nicht kannte. Oder vielleicht warteten sie auch nur darauf, dass er etwas Dummes sagte und sich blamierte.

Mit Büchern war es einfacher. Beim Lesen hatte Ben viele großartige Freunde. Er ging auf die Reise zum Schicksalsberg mit Sam und Frodo, erkundete mit Harry Potter die Geheimwege von Hogwarts und ritt auf dem Rücken eines gepanzerten Eisbären nach Bolvangar. Sein Leben war überhaupt nicht langweilig, aber irgendwie konnte er seine Mutter nicht davon überzeugen. Sie hatte es zwar aufgegeben, ihm den Fußballverein schmackhaft zu machen, aber die Gelegenheit, ihn mit einem Mädchen zu verbandeln, würde sie nicht auslassen. Das war peinlich für Ben und mit Sicherheit unangenehm für diese … wie hieß sie noch? Portia. Sie konnte sich bestimmt was Besseres vorstellen, als mit einem Wildfremden ein Gespräch anzufangen. Aber anscheinend war sie zu höflich, um sich das anmerken zu lassen.

»Hi«, sagte Portia.

Ben presste ein leises »Hey« heraus. Prima. Jetzt sah Portias Lächeln schon etwas gezwungen aus. Wenn er doch nur zu seiner Bücherkiste zurückgekonnt hätte.

Megan ignorierte die peinliche Situation. »Wie lange bleibst du denn in Afallon?«, fragte sie.

Portia drehte sich zu ihr zurück. »Zwei Wochen.«

»Ach, schön«, sagte Megan. »Da hast du genügend Zeit, die Gegend zu erkunden. Habt ihr denn schon Pläne?«

»Heute wollen wir nach Conwy.«

»Ah! Zum Pier?«

»Auf die Burg.«

Megan hielt noch immer Portias Buch in den Händen. Ben wünschte sich, sie würde abkassieren und einpacken. Aber so viel Glück hatte er nicht.

»Das wird bestimmt spannend«, sagte Megan im Plauderton. »Interessierst du dich denn für die walisische Geschichte?«

»Ich kenn mich noch nicht gut aus«, antwortete Portia. »Aber meine Mum sagt, in Wales gibt es ein paar der ältesten Sehenswürdigkeiten in ganz Britannien.«

»Stimmt«, sagte Megan. »Wusstest du, dass wir hier in der Nähe einen Steinkreis haben? Der ist noch älter als die Burg in Conwy, stimmt doch, Ben?«

Ben konnte nicht anders, er warf seiner Mutter einen flehenden Blick zu. Es war so offensichtlich, was sie vorhatte. Sie würde ein Treffen mit diesem Mädchen einfädeln. Wenn das nicht klappte, würde sie ihn unter irgendeinem Vorwand nach Afallon schicken. Er würde es also über sich ergehen lassen, seiner Mutter zuliebe. Aber das Herz wurde ihm schwer, weil er wusste, dass er erst mal keinen Spaß mehr an seinen Besuchen im Cottage haben würde.

Ben mochte die Afallon-Ladys. Er hatte alle Bücher gelesen, die Bramble geschrieben hatte, und einmal hatte er ihr sogar seine Zeichnungen gezeigt. Sie hatte darum gebeten, eine davon behalten zu dürfen, einen Nazgul-Drachen aus Mittelerde, was er als riesiges Lob empfand. Im Gegenzug hatte sie ihm zum Geburtstag ein Buch mit Bildern von Drachen, Rittern und Burgen geschenkt.

»Steinkreis?«, fragte Portia.

»Ja!«, sagte Megan. »Oben am See. Zieh doch einfach mal mit Ben los. Er kennt die Gegend hier.«

Bingo, dachte Ben.

Portia zögerte nur einen winzigen Augenblick, dann lächelte sie ihn an. »Klingt gut«, sagte sie. »Wenn du Lust drauf hast?«

Megan nickte ihm ermutigend zu.

»Klar«, sagte er und ergab sich seinem Schicksal. Er würde einen Vormittag damit verbringen, Portia zum Steinkreis zu führen. Sie würden sich über irgendeinen Quatsch unterhalten. Ben würde ihr die fünf kniehohen Steine zeigen, die seine Mutter großzügig als Steinkreis bezeichnete. Sie würde enttäuscht sein, weil sie mit so etwas wie Stonehenge gerechnet hatte. Und danach hätte Ben endlich wieder seine Ruhe.

Es sei denn, Portia würde in letzter Minute eine Ausrede finden, warum sie nicht mit ihm dorthin gehen konnte. Das wäre noch die beste Lösung.

»Wenn dich das richtige Wales interessiert, solltest du dir den Steinkreis unbedingt anschauen«, sagte Megan und tippte den Preis von Portias Buch in die Kasse. »Die Burg in Conwy ist sozusagen ein Fremdkörper. Sie wurde von den Engländern errichtet, um uns in Schach zu halten.«

Ben griff nach einem weiteren Bücherkarton, der neben der Theke stand. Als er ihn hochhob, bemerkte er etwas Sonderbares. Der Mann mit den roten Haaren stand halb verdeckt hinter einem der Bücherregale und schaute aufmerksam zur Kasse hinüber. Nein, nicht zur Kasse. Er betrachtete Portia.

»Hey, Ben?«, rief Megan. Er zuckte zusammen. Der Rothaarige senkte den Blick und verschwand zwischen den Regalen. »Wollt ihr nicht gleich was ausmachen?«

Klar, Mum, dachte Ben. Am besten sprang er gleich ins kalte Wasser. »Hast du morgen früh was vor?«, fragte er Portia.

»Nein, cool, morgen passt prima.« Portia hob eine Augenbraue. »Elf Uhr okay?«

Ben nickte.

»Wunderbar«, sagte Megan zufrieden. »Ben kann dich oben in Afallon abholen.« Sie reichte Portia das eingepackte Buch. »Dann viel Spaß in Conwy. Sag Rose und Bramble viele Grüße, ja?«

»Mach ich«, sagte Portia. Sie drehte sich ein letztes Mal zu Ben um. »Dann bis morgen?«

»Klar«, sagte er und kam sich unbeschreiblich dämlich vor. Portia nahm ihr Buch, ging zur Ladentür und winkte ihnen noch einmal zum Abschied zu. Die Türklingel schellte, die Tür fiel zu, und sie war fort. Ben seufzte.

»Na?«, fragte Megan. »Das war doch nicht so schlimm, oder?« Sie lächelte ihm zu, und Ben presste die Lippen aufeinander. Die Türklingel schellte erneut, und der rothaarige Mann verließ ebenfalls den Laden.

»Nun schau nicht so trübe drein«, sagte Megan. »Du wirst sehen, wenn ihr erst mal unterwegs seid, hast du bestimmt Spaß. Diese Portia scheint wirklich nett zu sein.«

»Mhm«, sagte er. Es fiel ihm schwer, seiner Mutter nicht zu widersprechen. Aber wenn er anfing, zu diskutieren, würde sie ihm nur sagen, dass es nicht gut war, ein Einzelgänger zu sein. Dass er Freunde in seinem Alter brauchte. Dass er etwas Wichtiges verpasste, wenn er sich immer nur in seinen Büchern vergrub.

Ben wusste, dass seine Mutter sich wünschte, er wäre mehr wie andere Kinder. Und ihr zuliebe wäre er gern anders gewesen. Aber jedes Mal, wenn er versuchte, sich so zu verhalten, wie sie es für richtig hielt, zog sich sein Magen zu einem harten Knäuel zusammen.

Sein Dad hatte ihn nie dazu überredet, auf andere Kinder zuzugehen. Seine Mutter meinte es gut mit ihm. Und trotzdem … in Momenten wie diesen wünschte sich Ben, sein Vater wäre noch hier. Er hatte Ben verstanden.

Traurigkeit senkte sich wie eine schwere Decke auf seine Schultern. Wie so oft, seit sein Vater gestorben war.

»Ben …«, begann Megan, als etwas mit einem dumpfen Schlag gegen das Schaufenster klatschte. Megan und Ben fuhren herum.

»Was war denn das?«, fragte Megan, aber Ben war schon auf dem Weg zur Tür. Er trat nach draußen und sah sofort, was passiert war. Auf dem Gehweg vor dem Schaufenster lag eine schwarze zerzauste Amsel. Sie musste mit vollem Tempo gegen die Scheibe des Buchladens geflogen sein.

Ben lief zu dem Vogel hinüber und ging in die Hocke. Die Amsel war noch am Leben. Sie versuchte wegzuflattern, aber ihr rechter Flügel stand in einem absonderlichen Winkel ab.

Bens Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Der arme Vogel! Wohin hatte er nur fliegen wollen? Er hob den Bick, bemerkte ein Funkeln auf der Fensterscheibe – und dann die Spiegelung des rothaarigen Mannes, der ihn von der anderen Straßenseite beobachtete.

Megan erschien neben Ben. »Ach herrje. Das arme Tier.«

Aber Ben hörte ihr nur halb zu. Er drehte sich um und sah gerade noch, wie der Rothaarige um eine Häuserecke bog. Einen Augenblick lang schien es, als würde hinter ihm eine Wolke aus goldenem Staub in der Luft hängen. Ben blinzelte, und die Wolke war verschwunden Er musste sich getäuscht haben.

Eigenartige Ereignisse

Portia

Am späten Nachmittag saß Portia im Wohnzimmer von Afallon und trommelte mit den Fingern auf der Lehne ihres Ohrensessels. Gerade hatte sie ein Telefonat mit ihrer Mutter beendet. Es hatte gutgetan, die Stimme ihrer Mum zu hören, vor allem, weil Gwen wieder gut gelaunt und voller Tatendrang klang. Portia hatte von ihrem Ausflug nach Conwy erzählt. Von der Altstadt, in der es überall nach Meersalz und Gischt roch. Von den riesigen Möwen, den engen Straßen und dem Backfisch mit Fritten, den sie und die Tanten direkt am Hafen gegessen hatten.

Der Tag war bisher ganz ausgefüllt gewesen, aber jetzt, als sich die Sonne wieder dem Horizont zuneigte, hatte Portia keine Ablenkung mehr. Ihr Blick wanderte hinüber zu der geschlossenen Tür von Brambles Büro.

Seit letzter Nacht geisterte der Fuchs in ihrem Kopf herum. Die Tanten waren allen Fragen über den nächtlichen Vorfall ausgewichen, was ihre Neugier nur noch mehr angestachelt hatte.

Portia hüpfte vom Sessel und ging hinüber zur Bürotür. Sie war allein im Haus. Rose hatte sich in ihr Schreibhaus im Garten zurückgezogen, um ihrer Arbeit als Lektorin nachzugehen. Bramble war mit Marlowe spazieren. Niemand würde es bemerken, wenn sie jetzt das Büro betrat.

Dumme Idee, dachte sie. Andererseits, Bramble und Rose hatten ihr nicht verboten, sich am Ort des Einbruchs umzusehen. Und hatte Rose nicht gesagt, Portia solle sich wie zu Hause fühlen? Was konnte es schaden, einen kurzen Blick hinter die Tür zu werfen?

Portia spähte noch einmal durch die offene Tür des Wintergartens, um sicherzugehen, dass keine der Tanten auf dem Weg hierher war, dann betrat sie Brambles Arbeitszimmer.

 

 

Bramble besaß einen altmodischen Schreibtisch: einen Sekretär mit einer Platte, die man zuklappen konnte, und einem Aufsatz mit Fächern und Schubladen. Im Gegensatz zu Brambles Auto war ihr Arbeitsplatz sauber aufgeräumt. Notizbücher reihten sich in den offenen Fächern, Füller und Bleistifte steckten in zwei Tassen, und am Rand der Schreibtischplatte lag ein walisisches Wörterbuch. Oben auf dem Schreibtischaufsatz stand eine leere Vase, und daneben befand sich ein Schuhkarton.

Portia legte beide Hände auf die Schreibtischplatte. Hier hatte der Fuchs gestanden, und hier hatte sich Bramble als Erstes umgesehen, nachdem sie ihn verjagt hatte. Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen, bemerkte die Vernunftstimme in ihrem Kopf, aber Portia ignorierte ihre Warnung. Das Rätsel des Fuchses im Arbeitszimmer war einfach zu spannend, um es nicht lösen zu wollen.

Sie tastete mit den Fingerspitzen über die Kante der Schreibtischplatte, bis sie einen haarfeinen Spalt im glattpolierten Holz fand. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Bingo. Sie drückte gegen die Kante und hörte ein Klicken. Als sie ihre Hand zurückzog, glitt die geheime Schublade aus der Schreibtischplatte.

»Abrakadabra«, flüsterte Portia. In dem Geheimfach befand sich eine flache Metallschachtel. Mit klopfendem Herzen öffnete sie den Deckel und hob überrascht die Brauen.

In der Schachtel lag ein antiker Schlüssel. Er war kunstvoll verziert, und der breite Bart würde in kein modernes Türschloss passen. Ein abgewetztes Band aus grüner Seide hing daran. Portia hob den Schlüssel hoch und fuhr mit dem Daumen über den Knoten im Seidenband. Warum versteckte Bramble einen Schlüssel? Und vor allem: Hatte der Fuchs etwa danach gesucht? Unmöglich.

Portia fuhr mit dem Daumen über das Metall. Wie groß war die Chance, dass Bramble ihr verriet, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte? Verschwindend klein, das konnte sie sich ausrechnen. Vor allem, weil sie Bramble erst gestehen müsste, dass sie in ihren Sachen herumgeschnüffelt hatte. Aber vielleicht gab es im Büro noch weitere Hinweise?

Sie legte den Schlüssel ab, ließ den Blick über die Schreibtischfächer gleiten und griff dann nach dem Schuhkarton, der neben der Vase stand. Portia öffnete den Karton und fand eine wilde Sammlung von Kleinkram vor. Obenauf lag ein Nadelkissen, in dem eine einzige Nadel steckte. Daneben lag ein kleines Schmuckkästchen aus blauem Samt, in dem sich ein silbernes Medaillon befand. Portia öffnete das Medaillon und fand anstelle eines Bildes eine in Glas gefasste Blüte. Sie hielt das Medaillon ins Licht. Wenn sie sich nicht täuschte, war das die verblasste, weiße Blüte einer Heckenrose. Portia stöberte weiter.

Unter dem Nadelkissen lagen zwei Postkarten von einer griechischen Insel und ein Foto, das Rose und Bramble an einem Strand zeigte. Sie legte das Foto zur Seite und blätterte durch ein paar alte Zeitungsausschnitte. Bramble hatte eine Buchbesprechung aufgehoben und einen Fotoartikel über den Garten von Afallon. Ein älterer Zeitungsausschnitt trug die Schlagzeile: Suche nach vermissten Studenten dauert an.

Noch weiter unten fand Portia ein Bild von Marlowe als Welpe. Ein Gruppenfoto von sieben Freunden, die in bunten Hippieklamotten vor einem Theater posierten. Dann ein Bild in ernsterer Pose: Sechs Studenten in langen, schwarzen Roben mit Absolventenhüten.

Portia drehte die Fotos um. Auf den Rückseiten stand: D.O.D.N.,