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Öffne die Tür, hinter der das Abenteuer liegt Eines Tages steht Portias Freund Ben aus Wales bei ihr vor der Tür. Klitschnass, obwohl es seit Tagen nicht geregnet hat. Und ohne Erinnerung daran, wie er zu ihr nach London gekommen ist. Dafür hat er einen seltsamen Schlüssel in der Tasche und eine geheimnisvolle Landkarte mit einem blutroten Pfotenabdruck darauf. Die Karte führt die Kinder in die walisische Anderswelt. Hier ist ein Fuchs nicht einfach nur ein Fuchs, hier kann Portia sich in einen Wolf verwandeln und Ben gerät in große Gefahr. Portia muss sich entscheiden: Will sie frei sein – oder ihren besten Freund retten? Paul Maar, der Vater des Sams, über Brombeerfuchs. Das Geheimnis von Weltende: »Spannend und mit hintergründigen Witz!«
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Seitenzahl: 314
Kathrin Tordasi
Band 2
Eines Tages steht Portias Freund Ben aus Wales bei ihr vor der Tür. Klitschnass, obwohl es seit Tagen nicht geregnet hat. Und ohne Erinnerung daran, wie er zu ihr nach London gekommen ist. Dafür hat er einen seltsamen Schlüssel in der Tasche und eine geheimnisvolle Landkarte mit einem blutroten Pfotenabdruck darauf. Die Karte führt die Kinder in die walisische Anderswelt. Hier ist ein Fuchs nicht einfach nur ein Fuchs, hier kann Portia sich in einen Wolf verwandeln und Ben gerät in große Gefahr. Portia muss sich entscheiden: Will sie frei sein – oder ihren besten Freund retten?
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Kathrin Tordasi hat in Wales studiert. Sie hat sich vom Fleck weg in Land und Leute verliebt und wollte unbedingt eine Geschichte schreiben, die in dieser Gegend voller Legenden spielt. Mit dem erdigen Geruch von Moos und dem Duft von Scones und starkem Tee mit Milch in der Nase schrieb sie ihr Romandebüt »Brombeerfuchs. Das Geheimnis von Weltende«. Wenn sie nicht gerade auf Entdeckungstour durch Großbritannien streift, lebt Kathrin Tordasi in Berlin.
Für Papa,
der die besten Bücherregale baut
und Geschichten noch schneller wegschmökert als ich
Vor langer Zeit lagen die Reiche der sterblichen und unsterblichen Völker so dicht beieinander, als wären es zwei Ufer desselben Flusses. Menschen, Gestaltwandler und Feen wanderten mühelos von einer Seite zur anderen. Ein Wesen jedoch wollte alle Welten beherrschen. Der Graue König überfiel die Anderswelt und rüstete sein Nebelheer zum Angriff gegen die Menschen. Im Angesicht dieser Bedrohung trafen Feen und Menschen eine schwere Entscheidung. Sie trennten ihre Reiche voneinander und sperrten den Grauen König in einem Streifen Niemandsland zwischen der Menschen- und der Anderswelt ein. Solange die Türen an den Übergängen verschlossen blieben, konnte er niemandem gefährlich werden. Es herrschte Frieden. Doch nicht alle ehemaligen Weltenwanderer fanden Ruhe. Ein Fuchswandler war in der Welt der Menschen geblieben und suchte nach einem Weg zurück nach Hause.
Zwei Menschenkinder, ein Mädchen und ein Junge, entriegelten für ihn die Tür zur Anderswelt. Der Graue König nutzte seine Chance, und so kam es zu einem weiteren Kampf. Die Kinder besiegten den Grauen, und Titania, die Königin der Anderswelt, verlangte, dass die Weltentüren nun für alle Zeit verschlossen blieben. Der Fuchswandler Robin Goodfellow wurde zur Strafe in die Menschenwelt verbannt.
Wir glaubten, so wären wir sicher. Doch wir hatten die Sehnsucht unterschätzt. Wir hatten nicht verstanden, dass ein Wesen, das zwei Herzen in sich trägt, nicht einfach eines davon zum Schweigen bringen kann. Und dass Magie immer ihren Weg finden wird, um diejenigen zu rufen, die sie einmal berührt hat. An jenem Tag, als wir meinten, die Tür sei nun für immer verschlossen, war es bereits zu spät.
Olivia ›Bramble‹ Stephen, Neues aus der Anderswelt
Es war doch seltsam. Da hatte er jahrelang alles daran gesetzt, der Menschenwelt zu entkommen, und jetzt brachte er es nicht über sich, sie zu verlassen.
Der Gestaltwandler Robin Goodfellow saß in einem Café in London. Eine Tasse Schwarztee dampfte vor ihm auf dem Tisch. Vor dem Fenster liefen Menschen vorbei, während die Nachmittagssonne den Himmel rosa färbte. Es war der einundzwanzigste Juni. Mittsommer.
In Robins Welt wurden die Wechsel der Jahreszeiten gefeiert. Er dachte an die Sonnwendfeste in den uralten Wäldern. An die Tänze, in denen Gestaltwandler und Feen umeinander wirbelten, jauchzten und mit Füßen und Hufen stampften. Die Feste dauerten die ganze Nacht. Die Feenkönigin höchstpersönlich wirkte Zauber, damit kein Sonnenaufgang die Feier vorzeitig beendete. Niemand wurde müde.
Sein Blick fiel auf die Menschen auf dem Gehsteig vor dem Café, die es so eilig hatten, von A nach B zu kommen. Die meisten von ihnen wussten vermutlich nicht einmal, dass heute ein besonderer Tag war.
Missmutig zog Robin den Teebeutel aus seiner Tasse. Egal, wohin er in der Menschenwelt ging, immer fehlte dieser gewisse Glanz von Freude und Übermut. Den Menschen schien die Magie gänzlich abhandengekommen zu sein. Sie strampelten wie Hamster in ihren Laufrädern. Sie kauften in Plastik verpacktes Obst, das nach Wasser schmeckte, oder klebten mit ihren Blicken an irgendeinem Bildschirm. Eine traurige Spezies, die es verlernt hatte, Wunder wahrzunehmen.
Also, warum blieb er hier?
Robin widerstand dem Drang, die Brusttasche seiner Weste zu berühren. Dort verwahrte er die Anleitung zur Herstellung des Weltenschlüssels. Mit einem solchen Schlüssel könnte er die triste Welt der Menschen hinter sich lassen. In eine Welt verschwinden, in der die Magie mehr als ein versiegendes Rinnsal war. Und doch blieb er hier.
Vielleicht wegen Portia. Bei ihrem Abschied im letzten Sommer hatte er geglaubt, einen goldenen Schimmer in ihren Augen zu sehen. Seitdem hatte er das Mädchen ein paar Mal aus der Ferne beobachtet. Soweit er das einschätzen konnte, verhielt sie sich wie ein normales Menschenkind. Ging zur Schule, zu Picknicks im Park, solche Dinge. Er hatte befürchtet, dass ihr Abenteuer in der Anderswelt Spuren an ihr hinterlassen hatte, aber dem war offenbar nicht so.
Mit einem Seufzen stellte Robin den Löffel in die Mitte seiner Teetasse, hielt ihn mit einem Finger auf dem Stiel fest und ließ ihn dann los. Der Löffel blieb kerzengerade stehen.
»Cooler Trick. Wie schaffst du das?«
Ertappt sah Robin hoch. Vor ihm stand ein junger Mann mit einer Tasse in der Hand. Ohne die Miene zu verziehen, nahm Robin den Löffel und legte ihn auf seine Untertasse.
»Mit viel Übung«, sagte er. »Und Glück.«
»Verstehe«, lächelte der Fremde. »Ein wahrer Magier behält seine Geheimnisse für sich. Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze? Alle anderen Tische sind belegt.«
Robin nickte einladend.
»Danke.« Der Fremde nahm Platz und warf einen Blick auf den großen Rucksack, der an Robins Stuhl lehnte. »Du bist wohl auf der Durchreise?«
»Kann man so sagen.« Robin überlegte kurz, ob er es bereute, den Platz freigegeben zu haben, aber tatsächlich war es eine Weile her, dass er sich mit jemandem unterhalten hatte. Vielleicht war ein bisschen Gesellschaft genau das, was er jetzt brauchte.
»Du bist weit weg von zu Hause, oder?«, fragte der Fremde.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Robin überrascht.
»Den Blick, mit dem du in deine Tasse geschaut hast, kenne ich aus dem Spiegel.«
Robin sah sich den jungen Mann genauer an. Vermutlich war er Anfang zwanzig, aber sein Bart ließ ihn älter wirken.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte er.
»Seit dreihundert Jahren«, antwortete der andere mit trockenem Humor.
Robin lachte und trank einen weiteren Schluck Tee. »Ja, genau so fühlt es sich an.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Robin.«
»Cal«, sagte sein Gegenüber und schüttelte Robins Hand. Dabei stieß er aus Versehen die Speisekarte vom Tisch. »Oh, Verzeihung!«
»Kein Problem.« Robin hob die Karte auf und legte sie zurück an ihren Platz. Als er wieder hinsah, schüttete Cal gerade ein zweites Zuckerpäckchen in seinen Tee.
»Die meisten Engländer würden dir dafür die Lizenz zum Teetrinken entziehen«, scherzte Robin.
Cal lächelte wieder. »Besser Zucker als Milch«, sagte er. »An diese Unart werde ich mich nie gewöhnen. Was hat dich hierher verschlagen?«
Das ging leider in eine zu heikle Richtung. »Mein viel zu weiches Herz«, sagte Robin ausweichend, lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Tee. »Seit wann wohnst du in London?«
Cal rührte in seiner Tasse. »Oh, ich wohne nicht hier. Ich wohne in Wales.«
Was für ein Zufall, wollte Robin sagen, denn Wales kannte er gut. Doch der Tee hatte einen unangenehmen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen. Angewidert schluckte er, in der Hoffnung, den bitteren Nachgeschmack aus dem Mund zu spülen. »Schöne Ecke«, sagte er. »Wo denn dort, wenn ich fragen darf?«
Cal hob den Blick. »Llanrwst«, sagte er.
Robin zuckte zusammen. Llanrwst lag nur wenige Kilometer entfernt von der Tür, in die der Schlüssel passen würde, den er selbst nicht zu benutzen wagte. Natürlich gab es Zufälle, aber das schien ihm jetzt doch sehr unwahrscheinlich. Er starrte Cal an. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, doch er konnte sich nicht richtig konzentrieren.
Cal hatte seine Hand so fest um seine Tasse geschlossen, dass die Adern auf seinem Handrücken hervortraten. Der Ärmel seines Pullovers war bis über das Handgelenk zurückgerutscht. Tätowierungen bedeckten seine braune Haut: geometrische Formen, Linien und ein Auge, mitten auf seinem Handrücken. Täuschte er sich, oder glitzerte die Tinte? Ganz schwach nur, wie das Aufblitzen weit entfernter Sterne. Robin blinzelte. Dieser penetrante Geschmack wollte einfach nicht …
Oh.
Sein Blick glitt von Cals Teetasse zu seiner eigenen und dann zu den aufgerissenen Zuckerpäckchen neben Cals Untertasse. Auf einem stand Brauner Zucker. Das andere Päckchen hatte keinerlei Aufdruck und sah auch nicht so aus, als würde es in dieses Café gehören.
Robin wurde heiß. Er war so dumm!
»Es wirkt schnell«, sagte Cal ruhig.
Robin wollte aufspringen, doch ein Schwindelanfall überkam ihn, und er musste sich auf dem Tisch abstützen. Wütend sah er zu Cal. »Du hast mir etwas in den Tee geschüttet?«
»Ich fürchte, ja.«
Blitzschnell beugte sich Robin nach vorn. Er wollte Cal packen, aber ihm war so schwindlig, dass er doppelt sah. Cal wich ihm aus, und Robin stieß stattdessen die Teetasse zu Boden. Dunkle Flecken tanzten vor seinen Augen. Hilfesuchend wandte er den Kopf zur Seite, aber niemand im Café schenkte ihm Beachtung.
Ächzend sank er zurück in seinen Stuhl. Er wollte sich in seine Fuchsgestalt verwandeln, wollte weglaufen. Er war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Die Dunkelheit zog an ihm.
Das Letzte, was er sah, war Cal, der sich über den Tisch lehnte und die Hand nach seiner Westentasche ausstreckte.
In ihrem Traum rannte Portia über eine Wiese. Der Nachtwind pfiff ihr entgegen, und sie schnitt durch ihn hindurch wie ein Pfeil. Es gab keine Wände, keine Mauern, nichts, was sie aufhielt. Jeder Muskel in ihrem Körper sang vor Freude, und ihre Pfoten trugen sie weiter und weiter. Sie sprang auf einen Felsen, überblickte eine weite Landschaft aus Wiesen und Wäldern, warf den Kopf in den Nacken und heulte.
Portia riss die Augen auf. Ihr Herz hämmerte, wie immer, wenn sie einen Wolfstraum gehabt hatte. Sie blinzelte und brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war. Dann erkannte sie die vertraute Decke ihres Zimmers, die Dachschräge und die Sterne, die sie darauf geklebt hatte.
Enttäuscht drehte sie den Kopf zur Seite. Was hatte sie erwartet? Dass sie unter einem richtigen Sternenhimmel aufwachen würde?
Portia schloss eine Faust um ihre Bettdecke und wartete darauf, dass sich das rastlose Gefühl in ihr legte. Und doch wollte sie nichts sehnlicher, als in die Anderswelt zurückzukehren und wieder in die Haut eines Wolfes zu schlüpfen.
Blödsinn, sagte sie sich dann streng. Sie war ein Mensch. Ein Mädchen. Warum fiel es ihr so schwer, das zu akzeptieren? Portia schloss kurz die Augen, dann schlug sie die Decke zurück.
Heute war der erste Ferientag. Es war Zeit fürs Frühstück und für den Abschied von ihrer Mum.
Kurze Zeit später saß Portia beim Frühstück in der Küche. Ihre Mutter packte Reiseproviant ein, während das Radio vor sich hin dudelte. Portia zupfte an der Kruste ihres Marmeladentoasts herum und blätterte durch ein Buch über Wölfe, das sie sich aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Wölfe können bis zu fünfundvierzig Kilometer pro Tag zurücklegen, stand dort. Was das Buch nicht erwähnte, war, wie gut es sich anfühlte, über eine Wiese zu rennen, während der Wind wie eine Welle über das eigene Fell glitt.
»Erde an Portia«, sagte ihre Mutter. »Willst du Cheddarkäse oder Gouda auf dein Sandwich?«
Ertappt zuckte Portia zusammen. »Cheddar«, antwortete sie schnell. Konzentrier dich aufs Hier und Jetzt, befahl sie sich und schlug das Buch zu.
Ihre Mutter schob ein in Papier verpacktes Sandwich in ihre Richtung und musterte sie aufmerksam. »Stimmt was nicht? Hast du schlecht geschlafen?«
»Nein, alles gut«, behauptete Portia. »Nur ein bisschen aufgeregt.«
Sie biss in ihren Marmeladentoast, ohne den Blick zu heben. Wie oft hatte sie sich gewünscht, sie könnte ihrer Mutter von ihrem Abenteuer als Wolf erzählen. Sie wollte über ihre Träume sprechen und über die Ruhelosigkeit, die sie in ihr auslösten.
»Portia?«, hakte ihre Mutter nach. »Du kannst mir alles erzählen, das weißt du, oder?«
Portia fuhr mit dem Daumen über den Rand des Buchs. Sollte sie es wagen? Sollte sie ihrer Mutter erzählen, warum sie davon träumte, ein Wolf zu sein?
Sie hob den Blick und sah die Sorgenfalte zwischen den Brauen ihrer Mutter. Sofort sank ihr der Mut. Zu sehr erinnerte sie dieser Gesichtsausdruck an die graue Stimmung, die über ihre Mum hereinbrach, sobald sie sich zu viele Sorgen machte. In den letzten Monaten hatte es keine Anzeichen für ein solches Gefühlsunwetter gegeben, und Portia wollte auf keinen Fall der Grund sein, warum sich das änderte. Besser, sie behielt ihren inneren Tumult für sich.
»Klar weiß ich das«, sagte sie. »Ich habe gestern Abend vielleicht ein bisschen zu lange gelesen.«
Die Stirn ihrer Mutter glättete sich. »So, so. Und deinen Koffer hast du auch fertig gepackt, nehme ich an?«
»Fast?«
Wolfsträume hin oder her, Portia freute sich auf die Ferien in Wales. Sie liebte ihre beiden Tanten, Rose und Bramble, die im gemütlichsten Cottage der Welt lebten. Außerdem würde sie ihren besten Freund Ben wiedersehen.
»Freust du dich auf deine Konferenz?«, fragte sie ihre Mutter.
»Du meinst auf die vier Tage voller Vorträge?«, fragte ihre Mutter augenzwinkernd. »Und wie …«
»Du könntest immer noch mitkommen«, schlug Portia vor.
»Wäre auf jeden Fall entspannter«, seufzte ihre Mutter und klaute ihr den zweiten Marmeladentoast vom Teller.
»Hey!«, rief Portia, genau in dem Moment, als vor dem Haus ein Taxi hupte.
»Ich muss los«, entschuldigte sich ihre Mutter und küsste sie auf die Wange. »Hab Spaß, mein Schatz.«
»Du auch.«
»Sehr witzig!«
Ihre Mutter eilte davon, und Portia ließ ihren Kopf mit einem Seufzer auf das aufgeschlagene Buch sinken. So zu tun, als wäre alles wie immer, wurde mit jedem Tag anstrengender.
Du kannst mit mir über alles reden.
Ihre Mum meinte es ehrlich, das wusste Portia. Doch in Wahrheit gab es einiges, was sie nie laut aussprachen. Manchmal fühlte es sich so an, als würden sich die ungesagten Worte in Portias Mund in einen Bienenschwarm verwandeln, den sie hinunterschlucken musste.
Immerhin würde sie ab morgen sieben Tage mit Menschen verbringen, die über die Anderswelt Bescheid wussten.
Sie nahm einen Biss von ihrem Toast, als es an der Tür klingelte. Hatte ihre Mum etwas vergessen? Portia rannte aus der Küche. Sie öffnete die Tür, erwartete, ihre Mutter vor sich zu haben, und erstarrte.
Auf der Treppe vor ihrer Haustür stand Ben. Ein pudelnasser Ben. Seine Jacke, sein Hemd, seine Haare: Alles an ihm war klatschnass. Es sah aus, als wäre er mitten in einen Platzregen geraten. Dabei gab es nur ein Problem. Über ihren Köpfen schien die Sonne, und in London hatte es seit zwei Wochen nicht geregnet.
Außerdem: London. Ben war in London. Dabei wohnte er doch meilenweit entfernt! Mehrere Sekunden lang starrten sie einander an.
»Ben?«, fragte Portia schließlich. »Wie kommst du hierher, was …« Sie brach ab. Ben war viel zu blass! Sein Ärmel hatte einen Riss und rote Flecken, die aussahen wie … wie Blut? Erschrocken griff Portia nach seinem Arm.
»Du bist verletzt!«, rief sie.
Ben blinzelte und schüttelte matt den Kopf. »Das ist nicht mein Blut. Glaube ich.«
»Glaubst du?«, wiederholte Portia entsetzt. Was zum Henker war hier los? Sie schob seinen Ärmel hoch. Es stimmte. Da war nicht mal ein Kratzer.
Sie sah ihrem Freund in die Augen und bekam den nächsten Schock. Sein Blick wirkte seltsam verloren, als hätte er keine Ahnung, wie er hergekommen war. Sie legte die Hand auf seine Schulter. »Was ist passiert?«
Ben schluckte, und ein Schauder schüttelte ihn.
»Ich weiß es nicht.«
Portias Herzschlag flatterte wie die Flügel eines Kolibris, aber sie behielt die Nerven. Nachdem sie Ben auf das Sofa verfrachtet hatte, brachte sie ihm ein Handtuch und trockene Kleider. Als sie mit zwei Bechern Tee und Ingwerkeksen zurück ins Wohnzimmer kam, streifte er sich gerade ein Sweatshirt ihrer Mum über. Bens nasse Klamotten lagen in einem Wäschekorb, aber der schmutzige Ärmel war gut zu sehen. Portia stellte den Tee auf dem Sofatisch ab.
»Hier.« Sie schob einen der Becher in Bens Richtung.
»Danke.«
Portia kaute auf ihrer Unterlippe. Wahrscheinlich sollte sie Ben durchatmen lassen, aber ihre Fragen drängten zu heftig nach draußen.
»Bist du alleine hier?«, fragte sie. »Wie bist du nach London gekommen?«
Ben starrte auf seinen Becher. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er leise.
Portias Magen verdrehte sich zu einem Sorgenknoten. Was sollte sie tun? Einen Arzt anrufen? Ihre Mum? Oder Bens Mutter?
»Ich ruf jemanden an, okay?«, sagte sie. »Jemanden, der kommt und hilft.«
Ben hob rasch den Kopf. »Nein!«
Portia schluckte. »Ben, mit dir stimmt was nicht, du brauchst Hilfe, ich …«
Ben schüttelte den Kopf. »Nein«, wiederholte er. »Nein, ich muss dir etwas sagen.« Er verstummte. »Es ist wichtig«, murmelte er und sah dabei wieder so verloren aus.
Unschlüssig sah Portia zum Telefon, dann setzte sie sich neben Ben. »Woran erinnerst du dich?«
Ben holte tief Luft und schloss die Augen. »Ich war heute ganz normal in der Schule«, begann er. »Als ich mittags nach Hause gehen wollte, war da ein Auto, und ich hab jemanden gesehen, glaube ich. Jemanden, den ich kenne …« Er machte ein frustriertes Geräusch und öffnete die Augen. »Ich weiß nicht mehr, wer es war!«
Portia runzelte die Stirn. »Ben«, sagte sie. »Wir haben Samstagmorgen. Heute ist keine Schule.«
»Was?« Ben starrte sie an. »Samstag? Nein, heute ist Freitag!« Er setzte sich so schnell auf, dass der heiße Tee an den Rand des Bechers schwappte.
»Hey, hey!« Rasch nahm Portia ihm die Tasse aus den Händen. »Vorsicht, du verbrühst dich noch.«
»Das kann doch alles nicht wahr sein«, stöhnte Ben. »Warum kann ich mich nicht erinnern?«
»Bist du vielleicht hingefallen?«, fragte Portia.
Ben ließ die Hände sinken. »Hingefallen«, wiederholte er. »Ja. Ja! Ich bin ausgerutscht, auf dem Weg zur Tür!«
»Welche Tür?«, hakte Portia nach.
»Die blaue Tür?«, sagte Ben vage, dann weiteten sich seine Augen. »In meiner Tasche!«, rief er und beugte sich über den Wäschekorb. Hektisch wühlte er durch die Taschen seiner Jacke und zog schließlich einen gefalteten Zettel hervor.
»Hier«, sagte er aufgeregt. »Das soll ich dir zeigen, aber … o nein.« Das Papier war genauso nass wie Bens Klamotten.
»Zeig mal«, sagte Portia und lehnte sich näher heran. Jemand hatte etwas auf den Zettel geschrieben. Das Papier war jedoch so durchgeweicht, dass an mehreren Stellen nur noch graue Schlieren aus Tinte übrig waren. Linien und ein paar hastig hingekritzelte Buchstaben schienen eine Landkarte zu skizzieren. Darunter befand sich eine halb leserliche Liste von Kräutern, wenn sie nicht alles täuschte, und der Anfang einer Botschaft:
An Meralyn – Ben wurde ve
»Meralyn«, murmelte Portia. So hieß eine Gestaltwandlerin, die ihr im letzten Jahr geholfen hatte. Aber dieser Zettel ergab überhaupt keinen Sinn – nicht in dieser Welt.
»Seltsam, nicht wahr? Wirst du daraus schlau?«, fragte Ben.
»Nicht wirklich.« Sie betrachtete die Landkarte. In der Mitte einer schraffierten Fläche, einer weiten Wiese womöglich?, befand sich ein Kreuz. Daneben stand: Sturmauge.
Portia hatte dieses Wort noch nie gehört, aber die Handschrift kam ihr vertraut vor. Ein Bild flackerte in ihrem Gedächtnis auf, wie ein Schnappschuss aus einem ihrer Wolfsträume. Es war das Bild eines Mannes, der den Schatten eines Fuchses hatte.
»Robin«, murmelte Portia und drehte den Zettel um. Ein blutiger Pfotenabdruck prangte auf dem Papier wie ein Brandfleck. Mit einem Mal fühlte es sich so an, als drückte ihr Herz von unten gegen ihre Kehle. Sie schluckte. »Ben, komm schon. Du weißt, von wem diese Nachricht ist. Wer sonst könnte diese Handschrift und diesen Pfotenabdruck auf einem Zettel hinterlassen haben?«
Ben sog scharf die Luft ein, ihm schien etwas eingefallen zu sein. Er sprang auf und wühlte erneut durch den Wäschekorb. Portia hörte ihn erschrocken keuchen, dann richtete er sich langsam auf. Die Finger seiner rechten Hand hatten sich fest um etwas geschlossen, das Portia nicht sehen konnte.
»Was hast du da?«
Er hielt ihr die geschlossene Faust hin. Gänsehaut kroch über Portias Nacken, und sie hörte das leise Rauschen eines Windes, den es hier, in einer kleinen Londoner Wohnung, nicht hätte geben dürfen. Ein Wind, der nach ihr rief.
Ben öffnete die Finger. Auf seiner Handfläche lag ein Schlüssel.
Ben stand am Fenster von Portias Zimmer und schaute hinaus auf einen Magnolienbaum. Dahinter lag ein Park, und ringsum reihten sich Häuser aus braunem Backstein.
Ben war noch nie in London gewesen. Jetzt befand er sich mitten in der Stadt, ohne zu wissen, wie er hierhergekommen war.
Zusammen mit Portia hatte er die letzten Nachrichten auf seinem Handy aufgerufen. Am Freitag, um halb zwei, hatte er seiner Mutter geschrieben, dass er nach der Schule zu Rose und Bramble gehen und über Nacht bei ihnen bleiben würde. Auch daran konnte er sich nicht erinnern. Das Letzte, was er sich ins Gedächtnis rufen konnte, war der Gehweg, der am Fish-&-Chips-Laden in Llanrwst vorbeiführte. Er lief mit geducktem Kopf an dem Laden vorbei, während hinter ihm ein paar Jungs aus seiner Klasse gackerten und pfiffen. Seine nächste klare Erinnerung war Portia, die ihre Haustür öffnete. Und dazwischen?
Nichts. Oder zumindest nichts, was er greifen konnte. Da waren nur Fetzen von Geräuschen und flackernde Bilder. Er hörte das Tropfen von Wasser, das Rascheln von Blättern und atmete den Geruch von feuchtem Gemäuer ein. Und unter alldem saß die Angst wie ein Stück glühende Kohle in seiner Brust.
Da war etwas vorgefallen, an das er sich erinnern musste. Etwas Wichtiges. Etwas, das seinen Puls schneller schlagen ließ und ihn drängte, sich zu beeilen. Aber jedes Mal, wenn er sich nach einem Erinnerungsfetzen ausstreckte, wurde ihm schwindlig.
Es war ein fürchterliches Gefühl.
Ben rieb sich über das Brustbein und blinzelte. Draußen im Flur ging Portia auf und ab und telefonierte mit Rose. Als sie vorgeschlagen hatte, dass er sich in ihrem Zimmer ausruhen konnte, war er zuerst erleichtert gewesen. Dann hatte er ein schlechtes Gewissen bekommen. Sollte er nicht an Portias Seite sein und Rose erklären, was passiert war?
Wieder hatte er diese Ahnung, dass er etwas Bestimmtes tun sollte. Er schwankte zur Seite, so sehr erschöpfte ihn das alles.
Mit Mühe konzentrierte er sich auf Portias Zimmer. Vielleicht würde ihn die Ablenkung beruhigen.
Portia war ziemlich unordentlich, das hatte er nicht erwartet. Aber irgendwie mochte er das Chaos. Bücher stapelten sich kreuz und quer im Raum verteilt, und ein aufgeklappter Koffer stand auf dem Boden. Lichterketten hingen an einer Wand und beleuchteten zwei Landkarten, die Portia dort festgepinnt hatte. Die eine war offensichtlich eine Weltkarte, und die andere zeigte die Länder von Mittelerde.
Ben fuhr mit der Fingerspitze über die vertrauten Linien und Namen. Das Auenland. Die Letzte Brücke. Bruchtal.
Portia mochte die Herr-der-Ringe-Bücher genauso gerne wie er. Im letzten Herbst hatten sie an einem Tag alle drei Filme geschaut. Für Ben war es einer der besten Tage überhaupt gewesen. Aber jetzt schlich sich ein unschöner Gedanke in seinen Kopf. Er und Portia mochten vielleicht dieselben Geschichten, aber wenn sie zwischen die Seiten in ein Abenteuer schlüpfen würden, hätten sie wahrscheinlich sehr unterschiedliche Rollen.
Portia hatte die Dinge im Griff. Sie kannte vielleicht nicht immer alle Antworten, aber sie hatte immer schnell einen Plan und handelte, ohne zu zaudern. Wenn sie Orks oder anderen Monstern begegnen würde, würde sie ihnen mit Anlauf vors Schienbein treten. Ben hingegen würde sicher vor Angst erstarren.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum sich Portia ausgerechnet mit ihm angefreundet hatte.
An diesem Gedanken hing er, als Portia hereinkam. »Okay«, sagte sie, »die schlechte Nachricht zuerst: Rose und Bramble wissen auch nicht, was los ist. Du bist gestern nicht bei ihnen aufgetaucht. Sie wussten nicht mal, dass du kommen wolltest.« Sie warf das Telefon aufs Bett und ließ sich auf die Matratze plumpsen. »Aber wir haben einen Plan«, fuhr sie fort. »Heute Mittag fahren wir beide mit dem Zug nach Conwy. Ich habe sowieso schon ein Ticket. Bramble kauft gerade eins für dich und schickt es mir per Mail.«
»Okay«, sagte Ben und setzte sich vorsichtig auf den Rand von Portias Bett.
Portia fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, so dass ihre Locken noch verstrubbelter abstanden als sonst. »Rose und Bramble wollten uns mit dem Auto abholen«, erzählte sie. »Aber ich hab gesagt, es ist besser, wenn wir direkt zu ihnen fahren. Dann kannst du deine Mum sehen, bevor sie Fragen stellt, und wir sind gleich da, wo wir sein müssen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Ben verwirrt.
»Hier geht was richtig Seltsames vor«, sagte sie. »Jede Wette, dass deine Gedächtnislücke was mit der Anderswelt zu tun hat. Warum sonst hast du einen Weltenschlüssel in der Tasche?«
Ben zog den besagten Schlüssel aus der Hosentasche. Eigentlich sah er ganz normal aus. Altmodisch mit dem verschnörkelten Griff, aber trotzdem alltäglich. Wäre da nicht das Kribbeln, das Ben spürte, wenn er ihn in der Hand hielt.
»Die Nachricht auf dem Zettel muss von Robin Goodfellow sein«, sagte Portia. »Du weißt immer noch nicht, was passiert ist, oder?«
Erneut versuchte er sich zu erinnern. Eine blaue Tür mit abblätternder Farbe blitzte in seinem Gedächtnis auf, dann drehte sich das Zimmer, und Ben kippte zur Seite. Erschrocken hielt Portia ihn an der Schulter fest.
»Ben?«, fragte sie besorgt. »Ich quassele viel zu viel, tut mir leid.«
Ben schloss kurz die Augen, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, gar nicht«, sagte er. »Ich bin nur total müde.«
Portia runzelte die Stirn. »Du bist auch echt blass. Hast du Fieber?«
Bevor er antworten konnte, legte sie ihm eine Hand an die Stirn. Ben spürte, wie seine Wangen glühten. Mit Fieber hatte das allerdings nichts zu tun. Portia war so unbefangen, wenn es darum ging, andere Leute anzufassen, ihre Hand zu drücken oder ihnen den Arm um die Schultern zu legen. Auch darin unterschied sich Ben von ihr.
»Hm«, sagte sie. »Ich glaube nicht. Vielleicht ruhst du dich besser aus und schläfst noch eine Stunde?«
Ben schluckte und nickte. »Gute Idee. Nimmst du den Schlüssel?«
Er hielt ihr den Schlüssel hin und war überrascht, als Portia zurückwich. Es war nur eine kurze Reaktion, dann nahm sie ihm den Schlüssel ab und stand auf.
»Okay, ich passe auf ihn auf«, sagte sie. »Du kannst dich hier hinlegen, wenn du willst.« Sie sah sich um und wurde tatsächlich ein bisschen rot. »Sorry für die Unordnung.«
Ich find’s gemütlich, wollte Ben sagen, traute sich dann aber doch nicht. »Danke.«
So viel immerhin brachte er über die Lippen.
Ab der walisischen Grenze folgte der Zug der Küste. Hinter dem Fenster zog das Meer unter einem blauen Himmel vorbei.
Portia und Ben hatten sich auf einer Vierersitzgruppe am Fenster breitgemacht. Leere Chipstüten lagen auf dem Tisch zwischen ihnen. Portia döste vor sich hin. Ab und zu gab sie ein knarzendes Schnarchen von sich und kuschelte sich tiefer in ihren Sitz.
Ben hatte die ausgedruckten Bahntickets auf dem Tisch ausgebreitet und kritzelte auf den Rückseiten herum. Die zwei Stunden, die er vormittags geschlafen hatte, hatten tatsächlich geholfen. Er fühlte sich klarer im Kopf, auch wenn seine Erinnerung bruchstückhaft blieb.
Das Bild der blauen Tür drängte sich hartnäckig in seinen Kopf, und Ben versuchte sie mit dem Filzstift festzuhalten, so gut er konnte. Die Tür stand mitten in einer Hecke, so viel wusste er noch. Er malte gerade den Türknauf, als seine Hand verkrampfte. Irritiert runzelte er die Stirn, schüttelte sein Handgelenk und setzte den Stift erneut an. Er zeichnete einen Schatten unter den Türknauf, als seine Hand vollständig einfror.
Erschrocken schnappte Ben nach Luft. Sein Verstand sagte ihm, dass er seine Finger lockern musste, doch er konnte seine Hand nicht einmal mehr spüren. Wie eine Vogelkralle hatte sie sich um den Stift verkrampft.
Rasch betastete er mit der linken Hand seine Finger und sein Handgelenk. Der Schreck drehte ihm den Magen um. Er spürte nicht einmal seine eigene Berührung! Von den Fingerspitzen bis zum Unterarm war alles taub und steif wie ein Stück Holz. Sein Mund war staubtrocken. Automatisch ruckte sein Blick hoch zu Portia, aber die schlief weiter. Panische Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Was war hier los? Warum bewegten sich seine Finger nicht, warum …
Sein kleiner Finger zuckte, dann blitzte ein stechender Schmerz durch seinen Handballen. Plötzlich spürte Ben den Druck seiner Berührung, und eine Sekunde später konnte er seine rechte Hand wieder bewegen. Er ließ den Stift fallen. Seine Finger fühlten sich immer noch taub an, aber nachdem er sie ein paar Mal bewegt hatte, ging das Gefühl vorüber.
Ben schluckte. Etwas stimmt nicht mit dir, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Die Befürchtung, dass er etwas Lebenswichtiges vergessen hatte, kehrte zurück, und mit ihr die glühende Angst unter seinem Brustbein.
Er starrte immer noch auf seine Hand, als Portia sich auf ihrem Sitz streckte und gähnte.
»Hey«, sagte sie, blinzelte und rieb sich über die Augen. »Alles okay bei dir?«
Instinktiv legte Ben seine Hände in den Schoß. Kurz wollte er ihr erzählen, was gerade passiert war. Doch dann würde sie hören, wie viel Angst er gehabt hatte und wie sehr ihn diese ganze Situation verunsicherte. Und wenn das mit seiner Hand nur ein kurzer Spuk gewesen war? Ein blöder Krampf, nichts weiter?
»Ben?«, fragte Portia besorgt, und ihm blieben die Worte im Hals stecken.
Er schluckte und nahm den Stift auf. »Ja, alles okay«, sagte er. »Mir war nur kurz der Arm eingeschlafen.«
Die Burg von Conwy ragte über den Dächern der Stadt auf. Hinter ihren Türmen erhoben sich grüne Hügel wie die Buckel von schläfrigen Drachen.
Der Bahnhof befand sich im Schatten der Burgmauer. Der Zug hatte kaum angehalten, da öffnete Portia die Tür und sprang hinunter auf den Bahnsteig. Ben ging ihr nach, und gemeinsam sahen sie sich um.
»Vielleicht sollten wir zum Parkp…«, begann Portia, aber da eilten Rose und Bramble bereits auf sie zu. Portia und Ben liefen los, und so trafen sie sich auf halber Strecke. Portia fiel Rose in die Arme, und als Ben in ihre Reichweite kam, umarmte Rose ihn auch.
»Da seid ihr ja! Geht’s euch gut?«, fragte Rose. »Ben, bist du wirklich nicht verletzt?«
»Wirklich nicht«, sagte er, beugte jedoch verstohlen die Finger seiner rechten Hand. Alles schien in Ordnung zu sein.
Rose richtete sich auf. Bramble musterte die beiden von oben bis unten und nickte grimmig. »Dann lasst mal sehen.«
Wortlos zog Portia den Schlüssel hervor.
Rose stieß zischend die Luft aus, und Brambles Miene verdüsterte sich. »Ach, verdammt.«
Eine knappe Stunde später saßen sie alle in der Küche von Afallon Cottage. Die Tür zum Garten stand offen, und im Lavendel neben der Schwelle summten Bienen. Auf dem Küchentisch stand eine geblümte Teekanne, Tassen und Teller mit Zitronenkuchen und Schokoladenkeksen.
Portia zerpflückte ungeduldig ein Stück Kuchen mit den Fingern, aber Ben hatte das Gefühl, eine Last abzulegen. Neben dem Buchladen seiner Mum war Afallon einer der Orte, die er am meisten mochte. Er liebte es, im Wintergarten zu lesen, oder am Küchentisch zu zeichnen, während Bramble an einem Manuskript tippte. Hier fühlte er sich sicher, auch jetzt. Besonders jetzt, wo ihm ein Teil seiner Erinnerung abhandengekommen war.
Bramble trug wie so oft ihre abgewetzte grüne Stickjacke, ihre Brille saß schief auf ihrer Nase, und sie tippte mit einem Finger auf den Rand ihrer Teetasse. Rose nahm indessen den halb verwaschenen Zettel in Augenschein.
»Glaubst du auch, dass das Robins Handschrift ist?«, fragte Portia.
»Ich fürchte, ja«, sagte Rose. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war offensichtlich. Rose war Portias Großtante, aber sie hatten beide dasselbe herzförmige Gesicht und kurzgeschnittene Locken. Auch wenn Roses Haare mittlerweile von grauen Strähnen durchzogen waren.
»Was denkst du?«, fragte Rose Bramble und reichte ihr den Zettel.
»Der Kerl hat uns über die Jahre genügend beleidigende Briefe geschrieben.« Bramble warf den Zettel nach einem kurzen Blick auf den Tisch. »Ja, das ist seine Klaue.«
»Bram«, ermahnte Rose.
Bramble schnaubte. »Ja, ja, er hat Portia aus Titanias Knechtschaft befreit und gegen den Grauen König gekämpft. Das ändert nichts daran, dass du und die Kinder wegen ihm in Gefahr geraten seid.« Sie seufzte. »Na ja, okay … und wegen mir.« Ihr Blick glitt zu dem Schlüssel, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Plötzlich sah sie sehr müde aus. »Es war meine Aufgabe, den Schlüssel zur Anderswelt ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Ich hätte ihn in einen See werfen sollen, anstatt ihn zu behalten. Das werde ich immer bereuen.«
Rose nahm ihre Hand. »Es ist, wie es ist, Liebes«, sagte sie. »Und wir überstehen alles.« Sie griff nach der Zeichnung der blauen Tür. Dabei erhaschte Ben einen Blick auf das Runentattoo an der Innenseite ihres Handgelenks. Er wusste, was es bedeutete. Diogelu. Beschütze.
»Ich frage mich, warum du dich ausgerechnet an diese Tür erinnerst«, sagte Rose.
»Kommt sie dir bekannt vor?«, fragte Ben hoffnungsvoll.
Rose schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht. Aber wenn die Erinnerung an sie so hartnäckig in deinem Kopf steckt, dann muss sie eine Bedeutung haben.«
»Wie kann es überhaupt sein, dass Ben seine Erinnerung verloren hat?«, fragte Portia.
»Ein Schock kann eine Gedächtnislücke auslösen«, sagte Rose.
»Oder ein Vergessenspulver aus der Anderswelt«, ergänzte Bramble. »Wir haben es hier immerhin mit Robin Goodfellow zu tun.«
»Das würde Robin Ben nicht antun«, widersprach Portia. »Warum sollte er?«
»Er ist ein Unruhestifter«, gab Rose zu bedenken.
Portia lehnte sich nach vorn. »Er ist verletzt!«, rief sie und sank dann wieder zurück in ihren Stuhl. »Vielleicht. Das könnte doch wirklich sein Blut sein!«
»Möglich.« Rose runzelte die Stirn und fuhr sich dann mit der Hand übers Gesicht.
Ben sah sich in der Runde um. Die besorgten Gesichter der anderen waren ziemlich entmutigend. Er wünschte, er hätte irgendeine zündende Idee. Dass er etwas sagen könnte, das den anderen Zuversicht gab. Aber in so etwas war er einfach nicht gut. Brambles Hund Marlowe kam zu ihm, als spürte er seinen Kummer. Ben streichelte ihn zwischen den Ohren, und Marlowe legte seinen Kopf auf Bens Bein.
»Was sollen wir tun?«, fragte er schließlich.
»Ich glaube, wir müssen zurück in die Anderswelt«, sagte Portia. »Meralyns Name steht auf dem Zettel, und ich gehe jede Wette ein, dass der Landkartenschnipsel einen Ort hinter der Feentür zeigt.«
»Sturmauge«, sagte Ben. Er hoffte, dass der Klang des Namens eine weitere Erinnerung hervorlocken würde, aber da hatte er kein Glück. Nur das Angstglühen in seiner Brust meldete sich wieder.
Rose zog den Zettel zu sich heran. Sie studierte die Landkarte, dann sah sie zu Bramble. »Ich habe noch nie von diesem Ort gehört, du?«
Bramble schüttelte den Kopf, dann richtete sie ihren Blick auf Ben.
»Der Name sagt mir nichts, tut mir leid«, sagte er. »Aber ich glaube, der Ort ist wichtig.«
»Vielleicht ist Robin dort«, sage Portia.
»Du meinst, er ist zurück in die Anderswelt gegangen?«, fragte Rose zweifelnd. »Obwohl die Feenkönigin ihn verbannt hat? Das wäre mehr als leichtsinnig.«
»Würde ja überhaupt nicht zu ihm passen«, kommentierte Bramble trocken.
Portia schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Worauf warten wir dann noch?«
»Wir?« Rose hob eine Braue. »Portia, mein Schatz, wenn überhaupt, dann gehen Bramble und ich. Du und Ben, ihr habt letztes Mal schon genug durchgemacht.«
»Was? Nein!«, protestierte Portia sofort. »Ich bleib doch nicht hier, während ihr …«
»Rose hat recht«, ging Bramble dazwischen. Die Diskussion nahm schnell Fahrt auf. Ben jedoch dachte wieder an die blaue Tür. Vor seinem inneren Auge sah er die Holzplanken, von denen die Farbe abblätterte. Eine Geißblattranke, von deren Blättern der Regen tropfte.
Eine bekümmerte Stimme sagte etwas, direkt neben seinem Ohr. Vier Tage. Höchstens fünf.
Die Worte zogen sich lang wie die Schatten am Abend. Ben fühlte sich eigenartig schwer, und ein trockenes Knistern sirrte über seine Haut.
Irgendwo bellte ein Hund, und jemand rief seinen Namen, aber all das klang weit entfernt.
Marlowe merkte als Erster, das etwas nicht stimmte. Portia war jedoch so aufgebracht, dass sie sein Winseln zunächst ignorierte.
Sie war aufgestanden und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Robin hat mit uns gekämpft«, sagte sie, »und wenn er jetzt unsere Hilfe braucht …«
Weiter kam sie nicht, bevor Rose dazwischenfuhr. »Ben!«
Ihr scharfer Ton ließ Portia zusammenzucken. Ihr Blick flog zu Ben, und das Blut gefror ihr in den Adern. Ben saß stocksteif auf seinem Stuhl. Seine Augen starrten ins Leere. Portia hatte keine Ahnung, was los war, spürte jedoch sofort, dass er in Gefahr schwebte.
Marlowe jaulte, trappelte auf der Stelle und drückte immer wieder seine Stirn gegen Bens Arm. Ben rührte sich nicht.
Portia hörte ein nervöses Wimmern und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es nicht von Marlowe kam, sondern aus ihrem eigenen Mund. Beweg dich, drängte ihre innere Stimme. Hilf ihm! Aber sie stand nur da wie angewurzelt.
Rose sank neben Ben auf die Knie. »Ben?« Sie rüttelte ihn sacht. »Ben, Schätzchen, hörst du mich?«
»Was stimmt nicht mit ihm?«, hauchte Portia. Niemand antwortete.
»Ben!« Rose schnippte mit den Fingern vor seinen Augen. Dann trat Bramble hinzu und schüttete Ben ein Glas Wasser ins Gesicht.
Ben keuchte, blinzelte und bewegte benommen den Kopf. Die Spannung wich aus dem Raum, und plötzlich hatte Portia butterweiche Knie. Als Marlowe bellte, gaben ihre Beine beinahe nach, aber sie riss sich zusammen und ging zu den anderen.
Ben wischte sich mit der Hand über das tropfnasse Gesicht. Bramble hielt noch ihr leeres Glas in der Hand.
»Mir ist nichts Besseres eingefallen«, sagte sie entschuldigend.
»Ben.« Rose nahm sein Kinn zwischen die Finger und drehte seinen Kopf behutsam in ihre Richtung. »Ist alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«