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Komm mit auf eine magische Schnitzeljagd Flo ist neu in der Stadt, und schon am ersten Tag weht ihr der Zufall eine geheimnisvolle Schatzkarte vor die Füße: Walter Wonderly's Wundersamer Wegweiser zur Quelle der Magie steht darauf. Sonst nichts. Was soll das für ein Wegweiser sein, der nicht einmal eine Richtung anzeigt? Bestimmt nur irgendeine von Erwachsenen organisierte Schnitzeljagd. Gemeinsam mit ihrer neugierigen Nachbarin Malú und dem chaotischen George begibt Flo sich auf eine magische Erkundungstour, begegnet einer Kryptozoologin, echten Feen und verzauberten Koboldkatzen. Doch auf Wonderlys Fährte lauern auch Gefahren, und bald stellt sich heraus, dass Flo das Abenteuer nur mit Hilfe der stärksten Zauberkraft überstehen wird … »Nicht umsonst zählt Kathrin Tordasi zu meinen Lieblingsautorinnen. Mit ihren Worten erschafft sie bunte und vielfältige Welten, die zum Verweilen einladen. Als Leser gleite ich durch die Zeilen und wünsche mir, dass die Geschichte niemals endet.« Andreas Suchanek, Autor von ›Flüsterwald‹
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Seitenzahl: 294
Kathrin Tordasi
Eine phantastische Schnitzeljagd auf den Spuren der Magie
Als Flo aus der kleinen Bäckerei kommt, hat sie nichts im Sinn als einen gemütlichen Nachmittag mit Kuchen und Törtchen, doch dann findet sie eine geheimnisvolle Schtzkarte: Walter Wonderlys Wundersamer Wegweiser zur Quelle der Magie steht darauf. Sonst nichts. Was soll das für ein Wegweiser sein, der nicht einmal eine Richtung anzeigt? Gemeinsam mit ihren Freunden Malú und George begibt Flo sich auf eine Schnitzeljagd quer durch die Stadt, begegnet einer Kryptozoologin, echten Feen und Koboldkatzen. Doch auf Wonderlys Fährte lauern Gefahren, und bald stellt sich heraus, dass Flo die Suche nur mit Hilfe der stärksten Zauberkraft überstehen wird: mit wahrer Freundschaft.
Aufregend wie eine Erkundungstour durch eine fremde Stadt und magisch wie ein winziger Lindwurm, der sich auf einer Untertasse ringelt.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Kathrin Tordasi hat in Wales studiert. Sie hat sich vom Fleck weg in Land und Leute verliebt und wollte unbedingt eine Geschichte schreiben, die in dieser Gegend voller Legenden spielt. Mit dem erdigen Geruch von Moos und dem Duft von Scones und starkem Tee mit Milch in der Nase schrieb sie ihr Romandebüt »Brombeerfuchs. Das Geheimnis von Weltende«. Wenn sie nicht gerade auf Entdeckungstour durch Großbritannien streift, lebt Kathrin Tordasi in Berlin.www.fischerverlage.de
[Widmung]
Zuckersterne und Zusammenstöße
Flo
Heimweh und Wolkenbruch
Malú
Drei Wunder und eine Katastrophe
George
Ein Wundersamer Wegweiser
Malú
Die Gesellschaft für den Gebührenden Umgang mit dem Unmöglichen
George
Der erste Hinweis
Malú
Alles auf eine Karte
George
Pfannkuchen mit Blaubeeren
Flo
Die weißen Türme
Malú
Kein Plan ist auch keine Lösung
George
Die Spur der Königin
Malú
Die Lindwurmzüchterin
Flo
Der zweite Hinweis
Malú
Spion wider Willen
George
Souvenir
Malú
Tee mit Müsli
Malú
Autolärm und Amselgesang
Malú
Abwarten
Flo
Es gibt kein Wir
George
Das Wort auf den Wellen
Flo
Das Wasserpferd
Flo
Sternschnuppenschimmer
George
Minztee und Eidbruch
George
Verbündete
Flo
Das gebrochene Versprechen
Malú
Blumen über Kopf
Flo
Heimweh und Johannisbeerkompott
Malú
Feentanz
Flo
Ein gefährlicher Hauch von Maiglöckchen
George
(Fast) magische Hefeteilchen
Flo
Die grauen Gestade
George
Einatmen, ausatmen
George
Monsterschräge Vorräte
Flo
Die Dame in Grün
Malú
Schachmatt
Flo
Starre Regeln
George
Enttäuschungen
Malú
Zauberlöscher
Flo
Silbersterne und Brieföffner
George
Müslis Geheimnis
Flo
Allerhöchste Eisenbahn
Malú
Der Große Bär
Malú
Nie wieder
Flo
Die Quelle der Magie
Malú
Am Ziel
Malú
Ein Garten über den Dächern von London
Flo
Zwei Monate später
Lexikon der seltsamen Tiere, leckeren Süßigkeiten und anderen wichtigen Wörter
Für Verena,
meine mutige, großherzige, freche und rundum fabelhafte Schwester
Der erste Sonntag in London und schon war alles magisch. Flo stand vor der Theke einer Bäckerei. Hinter einer Glasscheibe reihten sich Himbeerschnitten, die mit Puderzucker bestäubt waren. Daneben lagen runde Tartes, gefüllt mit Zitronenpudding, und dunkle Schokoladentrüffel. Es gab Windbeutel mit Sahne drin und Törtchen mit aufgespritzter Buttercreme, garniert mit Marzipankarotten, Schmetterlingen oder regenbogenbunten Sternchen.
Jemand räusperte sich. Flo blinzelte, hob den Kopf und sah die Verkäuferin, die mit der Zange in der Hand hinter der Theke wartete.
Flos Papa lächelte ihr zu. »Na, hast du dich entschieden?«
Das war eine knifflige Frage. »Also, eigentlich schon«, sagte Flo. »Eigentlich sind Himbeeren mein Lieblingsobst. Aber man soll doch öfter mal was Neues ausprobieren, oder?«
»Ja, stimmt, das sagt man«, antwortete ihr Papa.
Flo holte Luft. »Okay, also dann keine Himbeeren. Auch wenn die wirklich lecker aussehen. Auf den Schnitten, meine ich. Mit dem Puderzucker. Wie kleine Berge mit Schnee drauf.« Ihr Blick glitt über die Kuchenauswahl. So viele unterschiedliche Leckereien. Wie um Himmels willen sollte sie sich für eine entscheiden?
»Was ist mit diesen Schokoteilen mit Bananenfüllung?«, fragte sie. »Bananenfüllung klingt nicht so lecker, aber ich hab noch nie welche gegessen, also könnte ich das ausprobieren.« Plötzlich dachte Flo an Papas Freundin Essie, die zu Hause den Tee vorbereitete. Flo stellte sich vor, wie Essie mit einer Hand das heiße Wasser in die Teekanne goss und mit der anderen Hand beruhigend ihren kugeligen Babybauch streichelte. »Mag Essie Bananen?«, fragte Flo. »Sarah aus der Parallelklasse hat gesagt, dass schwangere Frauen komische Sachen mögen, stimmt das?« Flo sah zu der Verkäuferin.
Die hob verwirrt die Brauen. »Also, ich weiß nicht …«
»Mögen Sie die Schokoteile mit Banane?«, fragte Flo.
»Flo«, sagte ihr Papa und tippte freundlich an seine Uhr.
Richtig, dachte Flo. Sie musste sich konzentrieren.
»Also, vielleicht doch keine Banane«, sagte sie schnell, »aber dann auf jeden Fall eins von den Törtchen mit den Buttercremehäubchen.« Sie verstummte und überlegte wieder. Welches sollte sie aussuchen? Die sahen alle so niedlich aus. »Das mit dem Schmetterling«, fing sie an. »Oder nein, das mit den Sternchen. Oder …«
»Oh, jetzt wird’s aber langsam Zeit!«, stöhnte eine Stimme.
Erschrocken drehte Flo sich um. Der Mann hinter ihr hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihm warteten noch vier andere Leute. In ihrer Aufregung hatte sie die Warteschlange völlig vergessen. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. »’tschuldigung«, sagte sie kleinlaut. Wenn sie nur besser im Entscheiden wäre. Bevor sie jedoch sagen konnte, dass Papa am besten irgendwas aussuchte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
»Warum nehmen wir nicht von jedem Törtchen eins: ein Möhrchen, einen Schmetterling und eines mit Sternen«, schlug er vor. »Und dann noch das Schokoding mit Banane, für alle Fälle.«
»Und eine Himbeerschnitte?«, fragte Flo hoffnungsvoll.
Ihr Papa lächelte breit und wandte sich an die Verkäuferin. »Drei Törtchen mit unterschiedlicher Deko, ein Schokoeclair mit Bananenfüllung und zwei Himbeerschnitten.«
Flo war glücklich.
Fasziniert sah sie zu, wie die Verkäuferin das Gebäck in eine himmelblaue Schachtel packte. Gern hätte sie sich die Nase an der Glasabdeckung der Theke platt gedrückt, um besser sehen zu können, aber das ließ sie gerade so bleiben. Sie wusste nämlich, wie man sich in einer schicken Bäckerei benehmen musste, vielen Dank auch.
Papa zückte den Geldbeutel, die Kassenschublade ging mit einem Klimpern auf, und zwei Minuten später waren Flo und ihr Vater auf dem Weg zur Ladentür. Eine Frau mit einem wunderschönen bunten Kopftuch zwinkerte ihr beim Vorbeigehen zu.
»Gute Wahl«, sagte sie, und Flo drehte sich glücklich zu ihrem Papa.
»Hast du gehört?«, fragte sie. »Die Frau hat gesagt, wir haben uns was Gutes ausgesucht!«
Papa, der sowohl die Kuchenschachtel als auch einen Einkaufsbeutel schleppte, kämpfte mit der Ladentür. »Bin ganz ihrer Meinung«, sagte er und nickte in Richtung Türgriff. »Könntest du?«
»Klar!« Flo stieß die Tür auf, sprang nach draußen und prallte prompt gegen einen Fußgänger. Es gab einen überraschten Schrei, dann stürzten ein Kaffeebecher, ein Koffer und ein Junge mit wuscheligen roten Haaren auf den Boden.
»O nein!«, rief Flo.
Der Koffer war beim Aufprall aufgesprungen. Ein Pullover und eine gestreifte Schlafanzughose entrollten sich auf den Gehweg, und eine Windbö erfasste ein Stück Papier. Flo rannte dem Papier hinterher und bekam es zu fassen, bevor es die Einkaufsstraße hinunterwehte. Glück gehabt!
Als sie zurückkam, sammelten Papa und der Junge, der etwas älter als sie zu sein schien, den Kofferinhalt wieder ein.
Flo trat dazu, traute sich aber nicht mitanzufassen. Der Wuschelkopf schloss den Koffer und Papa half ihm auf die Beine.
»So was«, murmelte der Junge und fuhr sich durch die ohnehin schon wild abstehenden Haare. Zu seinen Füßen und dem abgestürzten Becher breitete sich eine hellbraune, süß duftende Pfütze aus. Doch kein Kaffee, dachte Flo. Das ist Kakao!
»Tut mir leid«, sagte sie zerknirscht. »Ich hab nicht aufgepasst. Hier.« Sie hielt dem Wuschelkopf das Papier hin. Eigentlich war es ein gefaltetes Papierbündel, das mit einer roten Schleife zusammengebunden war. Hübsch sah es aus. »Das hast du verloren.«
»Oh!« Der Wuschelkopf riss die Augen auf. »Danke!« Schnell nahm er das Papier an sich und steckte es in seine Jackentasche.
»Hat sich jemand weh getan?«, fragte Flos Papa. »Flo?«
Flo schüttelte den Kopf, und auch der Wuschelkopf verneinte. »Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte er. Seine Hand glitt noch einmal in seine Tasche, als ob er sichergehen wollte, dass das Papier noch da war. Er seufzte, dann lächelte er Flo schief zu. »Und mir tut es leid«, sagte er. »Ich hätte ja auch besser darauf achten können, wo ich hinrenne. Aber ich bin leider …« Er sah hoch zu einer Uhr, die an einer Stange über den Schaufenstern hing. »… viel zu spät dran«, vollendete er.
Flos Papa deutete auf den verschütteten Kakao. »Kann ich dir einen neuen Kakao kaufen?«, fragte er. »In der Bäckerei hier kochen sie bestimmt einen guten!«
Der Junge schüttelte den Kopf, prüfte den Verschluss an seinem Koffer und klopfte sich ein Kaugummipapier von der Jacke. »Nein, das ist sehr freundlich, danke, aber ich muss wirklich weiter.«
Flo hatte Mitleid mit ihm. Er schien einen stressigen Tag zu haben und hatte sich bestimmt auf den Kakao gefreut. Sie stieß ihren Papa mit dem Ellbogen an.
»Wir haben doch so viel Kuchen«, sagte sie.
»Stimmt, gute Idee!« Flos Papa öffnete die Schachtel und hielt sie dem Jungen entgegen. »Such dir zum Trost wenigstens ein Törtchen aus!«
Der Wuschelkopf hob überrascht die Augenbrauen. »Aber nein, das ist doch nicht nötig!«, sagte er. Sein Blick hing jedoch an den bunten Gebäckstücken, und Flo hatte so eine Ahnung, dass er sich gerade nichts mehr wünschte, als in eins hineinzubeißen.
Sie nahm das Törtchen mit den Zuckersternen aus der Schachtel und bot es ihm an. »Ist zwar kein Kakao«, sagte sie, »aber schmeckt bestimmt genauso gut oder noch besser!«
Er zögerte. »Ganz sicher?«
»Klar«, sagte Flo.
»Wir würden uns freuen«, ergänzte Papa.
»Na, dann.« Der Junge nahm das Törtchen, ganz vorsichtig, als wäre es zerbrechlich. »Vielen Dank!« Sein Blick fiel wieder auf die Uhr über der Ladenzeile, und er zuckte zusammen. »Herrje, ich muss wirklich los! Aber danke. Vielen Dank!« Mit diesen Worten huschte er davon.
»Ulkiger Kerl«, sagte Flos Papa und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.
Flo sah dem Jungen noch einen Moment länger hinterher. Sie wollte herausfinden, ob er das Törtchen gleich aufmampfte. Stattdessen beobachtete sie, wie das gefaltete Papier mit der roten Schleife aus seiner Jackentasche fiel.
»He, Achtung!«, rief Flo. Der Junge hörte sie jedoch nicht, sondern ging einfach weiter. Flo rannte los. Sie duckte sich zwischen den Fußgängern, die ihr entgegenkamen, hindurch, schnappte das Papierbündel und sah sich um. Der Wuschelkopf war in der Menschenmenge verschwunden.
»Mist«, murmelte sie. Kurz überlegte sie, ob sie ihm nachlaufen sollte, aber dafür war’s vermutlich zu spät.
Flo sah auf das Papierbündel hinunter. »Hoffentlich bist du nicht so wichtig«, sagte sie. Sie zupfte an der roten Schleife. Der Knoten ließ sich leicht lösen, und das Papier knisterte geheimnisvoll.
Ein Blick konnte ja nicht schaden. Neugierig faltete Flo das Papier auseinander und sog im nächsten Augenblick die Luft ein.
Das Papier war leer, bis auf einen kleinen Straßenkartenausschnitt in der unteren linken Ecke und einer Überschrift, die in verschnörkelten braunen Buchstaben geschrieben stand:
Walter Wonderlys Wundersamer Wegweiser
zur Quelle der Magie
Der erste Sonntag in London, und schon war alles furchtbar. Malú saß neben ihrer Großmutter im Bus und sah zu, wie der Regen an der Fensterscheibe herunterströmte. Die Aussicht hinter den Sturzbächen war auch nicht besser. Enge Gehsteige, auf denen sich zu viele Menschen drängten. Graue Häuserfronten, schwarze Laternenpfähle und nichts als Beton überall.
Malú hatte immer noch die Stimmen ihrer Eltern im Ohr: London hat total viel zu bieten. Du wirst überrascht sein.
Das Letzte zumindest stimmte. Sie war überrascht, dass London sogar noch hässlicher war, als sie befürchtet hatte.
Missmutig ließ sie den Kopf gegen die Scheibe sinken und zupfte an dem geknüpften Armband herum, das sie an ihrem Handgelenk trug.
Eigentlich lebte Malú auf dem Land, in einem kleinen Ort namens Puddleston. Das Haus ihrer Familie stand am Ortsrand inmitten von sanften grünen Hügeln. Dort gab es einen großen Garten, in dem im Frühling Flieder und Apfelbäume blühten. Malú hatte mit ihrem Papa zwei Hochbeete angelegt, auf denen sie Radieschen, Salat und Möhren anbaute. Im letzten Jahr hatte sie ganz alleine einen Johannisbeerbusch gepflanzt, hatte im Sommer die roten Beeren geerntet und mit ihrer Nachbarin Mrs. Lowe daraus ein Gelee gekocht, das rubinrot schimmerte. Sie liebte es, draußen zu sein, ihre Finger in die Erde zu graben und den kleinen Pflänzchen beim Wachsen zuzuschauen.
Dort gehörte sie hin. Zu den Apfelbäumen und den Bienen und dem Haus aus Sandstein. Wenn’s nach ihr ginge, wäre sie für immer dortgeblieben, hätte ihren Garten gepflegt und abends den Amseln beim Singen zugehört.
Nur leider hatten ihre Eltern andere Pläne. Vor zwei Monaten hatte die Firma, in der Malús Mutter arbeitete, ihr eine Beförderung angeboten. Diese neue Stelle bedeutete jedoch, dass Malús Mutter nicht mehr zu Hause arbeiten konnte. Sie musste in London vor Ort sein. Also beschlossen Malús Eltern, das Haus und die Gärtnerei von Malús Papa zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen.
Malú erinnerte sich an das Gespräch am Küchentisch, in dem ihre Eltern sie auf den Umzug vorbereitet hatten.
Ich weiß, du bist kein Fan von Veränderungen, hatte Malús Mutter gesagt. Aber wir sind ein Team, nicht wahr? Wenn wir alle an einem Strang ziehen, wird das ein richtig tolles Abenteuer. Da bin ich mir ganz sicher!
Malú hatte genickt und sich später, alleine unter ihrem Lieblingsbaum, die Augen ausgeweint.
Damit ihre Eltern den Umzug in Ruhe organisieren konnten, hatten sie beschlossen, dass Malú schon mal bei ihrer Oma untergebracht werden sollte. Oma Helen wohnte in Bloomsbury, einem Stadtteil in dem es bei schönem Wetter von Touristen wimmelte. Das Haus ihrer Oma war schmal, drei Stockwerke hoch und grau. Natürlich. Die Haustür war rot, aber unter dem dunklen Wolkenhimmel wirkte selbst diese Farbe matt und traurig.
Malú seufzte. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen.
Oma Helen schloss die Haustür auf, und Malú trat in den engen Hausflur. Sie dachte an die lichtdurchflutete Küche in ihrem alten Zuhause, und eine Welle aus Heimweh überrollte sie.
Ich will nicht hier sein, dachte sie und hatte schon wieder einen Kloß im Hals.
Oma Helen drehte sich nach ihr um, den Hausschlüssel in der einen und Malús Koffer in der anderen Hand. »Was hältst du von einer schönen Tasse Tee?«
Malú schluckte. »Klingt gut«, murmelte sie.
Oma Helen betrachtete sie nachdenklich. »Alles in Ordnung, mein Schatz?«
»Klar«, log Malú. »Bin nur ein bisschen müde von der Fahrt.«
Oma Helen stellte Malús Koffer ab. »So plötzlich woanders hinzuziehen ist bestimmt nicht einfach für dich«, sagte sie. »Wenn du darüber reden möchtest, dann bin ich für dich da. Das weißt du, oder?«
Malú nickte, wünschte sich jedoch, Oma Helen würde gehen und den Tee kochen. Über ihr Heimweh reden wollte sie nämlich auf keinen Fall. Sie hatte Angst, dass die Traurigkeit dann aus ihr heraussprudeln würde und sie vor ihrer Oma weinen würde. Das würde Oma Helen bestimmt ihren Eltern erzählen. Die würden sich schlecht fühlen, oder vielleicht sogar denken, dass Malú gar nicht so vernünftig und verlässlich war, wie sie angenommen hatten.
Nein, sie durfte sich nichts anmerken lassen.
Oma Helen wartete noch einen Moment ab, dann seufzte sie. »Manchmal bist du deiner Mama sehr ähnlich. Die packt auch gerne dicke Deckel auf große Gefühle. Aber es gibt ein Sprichwort, weißt du? Wer sich immer nur zusammenreißt, den zerreißt es irgendwann.« Sie gab Malú einen Kuss auf die Stirn. »Häng deine Jacke auf, und dann machen wir es uns gemütlich.«
Während Oma Helen in die Küche verschwand, streifte Malú ihre Jacke ab. Oma Helens Sprichwort beunruhigte sie, denn sie wollte weder zerreißen noch herausfinden, was passierte, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Malú hängte ihre Jacke an die Garderobe. Vielleicht –
Sie hielt inne. Was war das?
Unter der Garderobe befand sich eine Truhe, in der Oma Helen ihre Tücher und Schals aufbewahrte. Und aus der erklang … ein leises Kratzen. Malú runzelte die Stirn. Bildete sie sich das ein? Nein, da war es wieder. Ein Kratzen, gefolgt von einem Knistern und dem Knacken von Holz. Es klang so, als würde sich da drin etwas bewegen.
Konnte das eine Maus sein? Zu Hause war einmal eine Feldmaus in den Mülleimer im Gartenschuppen gekrochen. Das arme Tier hatte verzweifelt an der Tonne gekratzt, bis Malú es gefunden und vorsichtig befreit hatte.
Malú streckte die Hand nach der Truhe aus, da stieß etwas von innen gegen den Deckel. Erschrocken sprang sie zurück. Das war alles, aber keine Maus!
Malú öffnete den Mund, um nach Oma Helen zu rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Langsam, ganz langsam hob sich der Deckel der Truhe. Ein tiefes, rumorendes Grollen drang aus dem Spalt hervor. Die Dunkelheit unter dem Deckel wirkte schwärzer und dichter, als sie sein sollte. Wie gelähmt starrte Malú in die klaffende Finsternis, bis helle Funken in der Kiste blitzten und zwei grellgrüne Augen wie Geisterlichter aufleuchteten.
Entsetzt prallte Malú zurück. Was war das, was –
Der Deckel flog auf, Malú japste vor Schreck, dann sprang Oma Helens bunt gefleckter Kater aus der Truhe. Er maunzte empört, so als wäre Malú daran schuld, dass er in diese Kiste geklettert war.
»O Mann.« Malú stieß die Luft aus, zählte bis drei, um sich zu beruhigen, und ging vor dem Kater in die Hocke. Natürlich war da kein Blitz gewesen, das hatte sie sich nur eingebildet. Wie albern, sich so zu erschrecken.
»Malú, kommst du?«, rief Oma Helen.
»Ja, gleich!« Malú streckte dem Kater die Hand entgegen, doch er ignorierte sie und stakste stattdessen in Richtung der Küche davon.
Na, dieser Tag wird ja besser und besser, dachte Malú und folgte dem plüschigen Miesepeter.
Der erste Sonntag zurück in London, und schon versemmelte er alles. George sah auf seine Uhr und zum vierten Mal fiel ihm auf, dass die Zeiger stillstanden. Er hatte vergessen, die Batterie zu tauschen. Dabei hatte er extra einen Knoten in sein Taschentuch gemacht, damit er daran dachte. Dumm nur, dass er das Tuch beim Abendessen mit seinen Eltern als Serviette benutzt und es dann weggeschmissen hatte.
Jetzt war er viel zu spät dran für den wichtigsten Termin seines Lebens.
Mit wehender Jacke hastete er durch die Londoner Innenstadt. Seinen Koffer trug er in der einen Hand, das Buttercremetörtchen mit den Sternen in der anderen. Neben ihm verlief eine der belebtesten Straßen der Stadt. Autos fuhren dröhnend an ihm vorbei, während sich Hunderte Menschen auf dem Gehsteig drängten.
George stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte die Häuserfronten ab. Gab es hier irgendwo eine Uhr? Wartete Tante Lavinia womöglich schon auf ihn?
Immer wieder wich er Fußgängern mit wilden Hasensprüngen aus, zum Glück fiel ihm dabei das Törtchen nicht herunter. Endlich tauchte zwischen zwei Häusern die Treppe auf, nach der er gesucht hatte.
Erleichtert steuerte George darauf zu. Er rempelte noch gegen einen schnauzbärtigen Herrn, der ihn wütend anpflaumte, dann sprang er die Stufen hinunter.
Nicht mehr weit, sagte er sich. Jetzt ist es nicht mehr weit.
Seit einer Woche absolvierte George Fearnley-Farthington ein Praktikum bei der geheimen Gesellschaft für den Gebührenden Umgang mit dem Unmöglichen, kurz GUMU. In dieser Zeit hatte er drei Wunder erlebt. Oder vielmehr hatte er dreimal dasselbe Wunder erlebt. Nämlich das Wunder, nicht gefeuert zu werden.
Beim ersten Wunder hatte er ein Tablett in eine Vorstandssitzung getragen. Die Tassen hatten bedrohlich geklirrt, während er das Tablett ganz vorsichtig von der Kaffeeküche, über den Flur in den Konferenzraum balancierte. Er hatte es noch zwei Schritte weiter geschafft, dann war er mit dem Fuß an einer Teppichkante hängen geblieben und gestolpert. Wenn er die Augen schloss, sah George noch immer, wie ihm das Tablett aus den Händen flog, die Tassen sich in Zeitlupe in die Luft erhoben und dann ein Schwall dampfender Kaffee über den Nacken des zweiten Vorsitzenden platschte.
Beim zweiten Mal hatte er die Aufgabe bekommen, einen Stapel wichtiger Akten in einen Schrank zu sortieren und einen zweiten Stapel Akten ordnungsgemäß zu schreddern. Er hatte schon alles vorbereitet, hatte zur Sicherheit einen blauen Zettel auf den wichtigen und einen gelben Zettel auf den unwichtigen Stapel gelegt. Dann hatte er fünf Minuten einem Schmetterling zugesehen, der vor dem Fenster vorbeitanzte. Dieses Spektakel hatte ihn so verzückt, dass er die Bedeutung der farbigen Zettel vergessen und fröhlich den blauen Stapel Akten durch den Reißwolf gejagt hatte.
Beim dritten Mal … beim dritten Mal hatte er sich so furchtbar blamiert, dass er die Erinnerung daran aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte.
Nach dieser Kette von unglücklichen Auftritten machte George sich nichts vor. Seine Praktikumsstelle stand auf wackligen Beinen. Es war bestimmt auch kein gutes Zeichen, dass Tante Lavinia ihn außerhalb von Dull House, dem GUMU-Hauptquartier, treffen wollte. Gut nur, dass er einen Trumpf im Ärmel hatte. Womöglich war das heutige Treffen seine letzte Chance, um sich vor der Geheimgesellschaft zu beweisen.
Nur leider standen die Zeichen für einen Erfolg schlecht. Erst hatte er verschlafen. Dann hatte er in seiner Hektik die U-Bahn in die falsche Richtung genommen. Und um das Chaos komplett zu machen, war er mit diesem Mädchen zusammengeprallt und hätte seinen Trumpf beinahe verloren – der Gegenstand, der wertvoller war als alles, das er je in seinen Händen gehalten hatte: die (vermutlich) verzauberte Karte des Walter Wonderly.
Die Gesellschaft für den Gebührenden Umgang mit dem Unmöglichen suchte bereits seit fünfzehn Jahren nach dieser Karte. Wonderly war früher selbst Mitglied der Gesellschaft gewesen. Überall auf der Welt hatte er nach verzauberten Gegenständen gesucht, die er ins Archiv der Gesellschaft schickte. Bis er eines Tages behauptete, auf die Spur einer Quelle gekommen zu sein, aus der reinste Magie sprudelte. Und was noch überraschender war: Jene Quelle sollte sich irgendwo in London befinden. Wie immer ging Wonderly allein auf die Jagd. Er fertigte eine Karte an, auf der er die verschiedenen Stationen seiner Suche markierte. Doch dann passierte etwas Seltsames: Aus einem Grund, den George nicht kannte, zerstritt sich die Geheimgesellschaft mit Wonderly. Daraufhin verschwand dieser spurlos. Die Karte, die den Weg zur Quelle der Magie verriet, nahm er mit sich.
Wie groß war die Chance, dass ausgerechnet George, ein schusseliger, vierzehnjähriger Praktikant über diese verzauberte Karte stolperte? Winzig. Ameisenklein. Und dennoch war genau das passiert.
An diesem Wochenende hatte er Wonderlys Karte in einem Antiquariat in seiner Heimatstadt entdeckt. Er hatte sein Glück kaum fassen können. In seiner Vorstellung brachte er das Fundstück nach London und ließ sich vom Vorstand der Geheimgesellschaft dafür feiern. Nicht nur sein Praktikum wäre dann gesichert. Nein, sie würden ihn umgehend als vollwertiges Mitglied aufnehmen!
Auch jetzt schlug Georges Herz beim bloßen Gedanken an diese Möglichkeit schneller. Bisher hatte er nicht den kleinsten Funken Magie bei der GUMU gesehen. Sein Praktikum drehte sich vor allem um Botengänge, Kaffeekochen und Protokolle abtippen. Aber als vollwertiges Mitglied würde er endlich das Archiv der magischen Gegenstände besuchen können. Und vielleicht würde er sogar die Expedition begleiten dürfen, die sich mit Wonderlys Karte auf die Suche nach der Quelle der Magie machte.
»Das klappt schon«, murmelte George. »Ich muss es nur pünktlich zum Treffen mit Tante Lavinia schaffen und ihr die Karte übergeben.«
Drei Wunder hatte er schon erlebt. Vielleicht hatte er Glück und erfuhr heute das vierte.
Zwei Wochen lang sollte Malú bei ihrer Oma wohnen. Ihr Zimmer befand sich direkt unter dem Dach, hatte eine verblichene himmelblaue Tapete und einen plüschigen Teppich.
Nach dem Tee mit Oma zog Malú sich hierhin zurück. Halbherzig begann sie, ihren Koffer auszupacken. Sie stellte ein Foto von sich und ihren Eltern auf den Schreibtisch, dann faltete sie den Stadtplan von London auf, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Vergiss die Navigationsapps auf dem Handy, hatte sie gesagt. Mit echten Karten kannst du deinen Orientierungssinn viel besser trainieren.
Die Straße, in der das neue Haus stand, war mit einem Goldstern markiert. Malú presste die Lippen aufeinander und studierte die Gegend um den Stern herum. Hier und da gab es ein paar winzige grüne Flecken, die Gärten oder Parks darstellten. Aber in der Nähe des Hauses, das ihre Eltern ausgesucht hatten, befanden sich beunruhigend viele graue Quadrate.
Ein paarmal hatte Malú überlegt, ob sie ihre Eltern nach Fotos des neuen Hauses fragen sollte, in das sie ziehen würden, hatte sich dann aber nicht getraut. Was, wenn ihr neues Zuhause schrecklich aussah? Nie im Leben würde sie ihr Heimweh dann noch verbergen können.
Wir sind ein Team. Ihre Mutter sagte das oft. In der Regel war Malú stolz darauf, dass sie ein Teil des Familia Carter-Neves-Teams war. Sie hatte ihre Aufgaben im Haushalt, die sie gewissenhaft erfüllte. Sie ging ihrem Papa in der Gärtnerei zur Hand, kochte Tee und packte selbständig ihren Koffer, wenn sie ihre Großeltern in Brasilien besuchten. Nur dieses eine Mal fiel es ihr schwer, ein guter Teamplayer zu sein.
Ich weiß, du magst keine Veränderungen. Das stimmte, da hatte ihre Mutter sie durchschaut. Aber ihre Mutter vertraute ihr auch. Sie glaubte daran, dass Malú mit dem Umzug in die Stadt klarkam.
Malú straffte die Schulter. Sie würde ihre Mutter nicht enttäuschen. Sie musste ihr Unbehagen einfach hinunterschlucken und sich an London gewöhnen.
Malú ließ den Stadtplan auf das Bett fallen und öffnete das kleine Fenster, das nach hinten führte. Draußen erstreckten sich Dächer, so weit das Auge reichte. Schornsteine standen in Reih und Glied, und in der Ferne drängten sich Baukräne neben verglasten Hochhäusern. Nur hier und dort entdeckte Malú Baumkronen, die sich in die Kuhlen zwischen den Gebäuden duckten.
Wieder dachte sie an den Nachmittag, an dem sie von der anstehenden Veränderung erfahren hatte. Sie hatte sich wieder beruhigt, war aber immer noch unter ihrem Lieblingsbaum gekauert, als ihr Papa sich zur ihr gesetzt hatte.
»Das wird besser, als du dir es jetzt vorstellst, minha abelhinha«, hatte er versprochen. Abelhinha bedeutete Bienchen auf Portugiesisch. Das war sein Spitzname für Malú, seit sie mit ihren kleinen Händchen das erste Mal geholfen hatte, Unkraut aus seinen Beeten zu zupfen.
Er hatte einen Stängel Lavendel abgezupft und sie damit an der Wange gekitzelt. »Wir können hinter dem neuen Haus auch einen kleinen Garten anlegen. Der wird zwar viel kleiner, aber du und ich, wir werden dort pflanzen, was das Zeug hält. Wenn du willst, können wir auch deinen Johannisbeerbusch mitnehmen.«
Der Gedanke an dieses Gespräch ließ Malús Herz ein kleines bisschen leichter werden. Wenn sie sich diese Stadt so ansah, konnte sie sich zwar nur schwer vorstellen, wie man hier einen Garten anlegen sollte, aber sie vertraute ihrem Papa. Wenn er sagte, dass sie sich hier ein grünes Fleckchen schaffen konnten, dann stimmte das auch.
Der Lärm von Autos und das Knattern eines Motorrads drang zu ihr hinauf. Malú schloss die Augen. Du wirst dich schon an die Stadt gewöhnen, sagte sie sich.
Entschlossen ging sie zum zweiten Fenster und hoffte, dort einen etwas freundlicheren Ausblick zu finden. Nur einen halben Meter unter ihrem Fenstersims begann ein flaches Dach, das wie eine Brücke zum Nachbarhaus führte.
Malú stieß das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Regenpfützen hatten sich auf dem Flachdach gesammelt und die Luft roch fast frisch. Sie lehnte sich nach links, um an einem Schornstein vorbeizuschauen … und entdeckte ein Mädchen. Malú stutzte. Das Mädchen stand direkt am Rand des Daches, vor einer gerade mal hüfthohen Brüstung. Sie hielt sich ein Fernglas vor die Augen und spähte über die Stadt.
Was, zum Geier?, dachte Malú. Laut rief sie: »Hey, Vorsicht!«
Das Mädchen fuhr zu ihr herum, und Malús Magen verkrampfte sich. Wenn sie das Gleichgewicht verlor und vom Dach stürzte! Doch das Mädchen grinste nur breit, winkte ihr zu und kam herübergelaufen.
»Hi«, sagte sie zur Begrüßung. »Wer bist denn du? Wohnst du hier?«
Malú war überrumpelt. »Ähm, ja, nein, ich meine, nur vorübergehend.« Sie brach ab, erinnerte sich an die zweite Frage und schob schnell hinterher: »Ich heiße Malú.«
Das Mädchen grinste wieder. Sie hatte schulterlange rotblonde Haare, die zu zwei zerzausten Zöpfen zusammengebunden waren. Ihr Gesicht war blassrosa und übersät mit Sommersprossen. Auf der Nase trug sie eine grasgrüne Brille und auch ihre Strickjacke hatte grüne Streifen. »Ich heiße Flo«, sagte sie. »Ich wohne da drüben.« Sie zeigte auf das Haus auf der anderen Seite des Flachdachs. »Für immer. Also, zumindest haben wir das vor.«
Die Worte sprudelten so schnell aus ihr heraus, dass Malú Mühe hatte, ihr zu folgen. Außerdem war sie abgelenkt von dem gelben Plastikfernglas, das Flo an einer Kordel um den Hals trug.
»Papa und ich sind am Donnerstag eingezogen«, plapperte Flo weiter. »Vorher waren wir in Saint Andrews. Kennst du dich mit Schatzkarten aus?«
»Mit Schatz… was?«, fragte Malú verständnislos.
Flo zog ein zerknittertes Papier aus ihrer Tasche und hielt es Malú hin. »Schatzkarten! Die hier habe ich gefunden.«
Stirnrunzelnd nahm Malú das Papier entgegen und strich es glatt. Es hatte tatsächlich Faltstellen wie eine alte Landkarte, aber darauf zu sehen war nur ein einziger kleiner Straßenabschnitt. Und eine Überschrift.
»Walter Wonderlys Wundersamer Wegweiser zur Quelle der Magie«, las Malú vor.
»Cool, oder?«, fragte Flo und lehnte sich über die Karte.
Malú wendete die Karte vor und zurück, fand aber keine weiteren Informationen. »Hast du die gezeichnet?«
Flo schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Zöpfe hin und her wippten. »Nee, ich sag doch, die hab ich gefunden. Ich will herausfinden, wo der Ort ist, der da unten aufgemalt ist. Vorher habe ich gedacht, ich hätte was entdeckt. Bin mir aber nicht sicher. Schaust du mal?«
Ohne abzuwarten, wirbelte sie herum und lief zurück zum Rand des Daches.
Malú hatte keine Ahnung, wie sie auf all das reagieren sollte. Sie sah sich die Karte genauer an. Mit seinen unebenen Rändern sah der kleine Ausschnitt fast aus wie ein Brandfleck. In einem Kästchen stand ein Text aus winzigen, schrägen Buchstaben. Malú musste die Karte dicht vor ihre Augen halten, um zu lesen, was dort stand:
Finde die weißen Türme, die von einem Zaunkönig erbaut wurden. Folge der westlichen Spur der Königin zum Pfad des Bauers, der keine Felder pflügt. Betritt den Garten des schlafenden Wurms und benenne die Kerze, deren Docht keine Flamme entfacht.
Malú runzelte wieder die Stirn. Welche Kerze brannte denn nicht? Und was war das für ein schlafender Wurm?
»Kommst du?«, rief Flo von der Seite des Daches.
Vielleicht geht’s um eine Kerze, deren Docht bereits heruntergebrannt war, grübelte Malú. Sie fuhr mit der Fingerspitze Zeilen entlang und blieb an der Stelle mit dem Garten hängen.
Kurzentschlossen kletterte sie aus dem Fenster und ging zu Flo. Allerdings blieb sie in sicherer Entfernung zum Abgrund stehen.
Flo zeigte mit ausgestrecktem Arm über die Dächer. »Ich dachte, das könnte vielleicht einer der Türme sein«, sagte sie. »Was denkst du?«
Malú trat einen vorsichtigen Schritt näher und Flo überreichte ihr ohne Umschweife das Fernglas.
»Da, der Turm direkt neben dem Hochhaus, das aussieht wie ein Ei«, sagte Flo.
Malú drehte das Fernglas in die Richtung, in die Flo zeigte. Da war das Ei-Gebäude und daneben stand ein Büroturm, dessen verspiegelte Fenster silbern glänzten. »Ich finde nicht, dass das weiß aussieht«, sagte Malú zweifelnd und gab das Fernglas zurück.
Flo hängte sich das Fernglas wieder um den Hals und seufzte. »Ja, ich eigentlich auch nicht«, sagte sie. »Wir bräuchten mehr Hinweise, um den Ort zu finden. Ich weiß nicht, wo dieser kleine Ausschnitt auf der Karte überhaupt sein soll.« Sie warf einen Blick über die Stadt, zwirbelte einen ihrer Zöpfe um den Finger und sah kurz so aus, als wollte sie das fransige Ende in ihren Mund stecken. »Vielleicht funktioniert die Schatzkarte so nicht«, sagte sie. »Sie sieht so aus, als wäre sie nicht fertig gemalt worden.«
»Kann sein.« Malú betrachtete die Karte. Irgendetwas an der Farbe der Schrift rüttelte an ihrer Erinnerung. Da war doch dieses eine Experiment gewesen, das sie in der Schule durchgeführt hatten. Konnte es sein …? Neugierig schnupperte sie an der Karte und tatsächlich: An dem Papier haftete ein schwacher angekokelter Geruch.
Malú hob den Kopf. »Vielleicht wurde die Karte mit unsichtbarer Tinte geschrieben?«, schlug sie vor.
Flo riss die Augen auf. »Mit was? So was gibt’s?«
Malú zuckte mit der Schulter. »Einer meiner Lehrer hat uns mal gezeigt, wie man welche macht«, sagte sie. »Am einfachsten funktioniert es, wenn du mit Milch oder Zitronensaft auf ein weißes Blatt Papier schreibst.«
Flo pfiff durch die Zähne. »Unsichtbare Tinte! Und wie wird die wieder sichtbar?«
»Unser Lehrer hat unsere Papierseiten damals kurz auf eine Herdplatte gelegt«, erzählte Malú. »Da musst du echt aufpassen, damit nichts ankokelt. Aber wenn du es richtig anstellst, sorgt die Hitze dafür, dass die unsichtbare Tinte braun wird. Wie auf der Karte hier.« Verlegen hielt Malú Flo die Karte hin. »Ich kann mich aber auch täuschen.«
Flo jedoch hatte ein begeistertes Funkeln in den Augen. »Warte mal.«
Sie ließ Malú mit der Karte stehen und lief an der Brüstung entlang zu einem Rucksack. Kurz kramte sie darin herum, dann kam sie mit einem Feuerzeug zurück.
Erschrocken drückte Malú die Karte an sich und wich einen Schritt zurück. »Das dürfen wir nicht alleine machen! Erwachsene sollten bei so was dabei sein!«
Flo ließ sich jedoch nicht bremsen. »Wir sind supervorsichtig«, sagte sie. »Du weißt doch bestimmt, wie’s geht.«
Malú zögerte. Sie wusste genau, dass sie das nicht tun sollte. Aber irgendwie war Flos Begeisterung ansteckend. Und wenn sie wirklich vorsichtig waren, konnte bei den ganzen Pfützen hier draußen eigentlich nichts passieren. »Okay«, lenkte sie ein. »Dann halt du das Feuerzeug und ich die Karte.«
»Mega!« Flo grinste und ließ die Flamme des Feuerzeugs hochspringen. Ganz behutsam hielt Malú die Karte einen Fingerbreit über die Flamme und bewegte sie hin und her. Zwei Sekunden später sog sie scharf die Luft ein und Flo jauchzte auf. Auf der Karte erblühten Straßen, Flusswindungen und Häuserblocks wie kaffeebraune Blüten. Es dauerte nicht lang, dann war das ganze Papier mit einem Stadtplan bedeckt.
Flo schaltete das Feuerzeug aus. Andächtig starrten die beiden auf die Karte.
»Heilige Himbeerschnitte«, flüsterte Flo.
Endlich erreichte George den kleinen Park, in dem sie sich verabredet hatten. Wie befürchtet, wartete Tante Lavinia bereits auf der Bank unter dem Platanenbaum.
Wie immer war sie überaus ordentlich gekleidet. Sie trug ein graues Sakko mit einer antiken Brosche, eine hellgrüne Bluse und graue, knöchellange Hosen. Das rötlich braune Haar, das in ihrer Familie verbreitet war, hochgesteckt.
Als George sie dort sah, wurde ihm siedend heiß bewusst, welche Socken er trug. Hellblau waren sie und gesprenkelt mit roten Kirschen. Wenn er mit der Geheimgesellschaft zu tun hatte, dachte er normalerweise daran, ein Paar vernünftige Socken anzuziehen. Nur heute hatte er es in seiner Aufregung vergessen.
Es half nichts. Er konnte ja schlecht kehrtmachen und seinen Kleidungsfehltritt beheben. Oder hinter einem Baum verschwinden und die Socken wechseln.