Birds of Paris – Das magische Pendel - Kathrin Tordasi - E-Book

Birds of Paris – Das magische Pendel E-Book

Kathrin Tordasi

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Beschreibung

Kommst du mit auf die Dächer und in die Katakomben von Paris?  Paris! Schon wieder eine neue Stadt … Wie soll Léa Freunde finden, wenn sie ständig umziehen muss? Im Garten von Notre-Dame trifft Léa ein geheimnisvolles Mädchen, das mit einem Vogel zu sprechen scheint. Alexandrine eröffnet Léa ein Paris, das voller Magie steckt – zumindest für diejenigen, die die Gabe haben, sie sehen zu können. Ausgerechnet bei Alex' Freunden, einer Bande von Straßenkindern, findet Léa zum ersten Mal in ihrem Leben echte Freundschaft. Doch die Kinder führen ein gefährliches Leben, und als Alex entführt wird, muss Léa sich entscheiden, wie tief sie sich in die magische Unterwelt von Paris ziehen lässt … Der erste Band der neuen magischen Kinderbuchreihe ab 10 Jahren voller Rätsel und gefährlicher Aufgaben, die Léa und ihre Freunde lösen und bestehen müssen. 

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Seitenzahl: 265

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Kathrin Tordasi

Birds of Paris – Das magische Pendel

Band 1

 

Mit Vignetten von Heiko Hentschel

 

 

Illustriert von Heiko Hentschel

Über dieses Buch

 

 

Kommst du mit auf die Dächer und in die Katakomben von Paris?

Paris! Schon wieder eine neue Stadt … Wie soll Léa Freunde finden, wenn sie ständig umziehen muss? Im Garten von Notre-Dame trifft Léa ein geheimnisvolles Mädchen, das mit einem Vogel zu sprechen scheint. Alexandrine eröffnet Léa ein Paris, das voller Magie steckt – zumindest für diejenigen, die die Gabe haben, sie sehen zu können. Ausgerechnet bei Alex‘ Freunden, einer Bande von Straßenkindern, findet Léa zum ersten Mal in ihrem Leben echte Freundschaft. Doch die Kinder führen ein gefährliches Leben, und als Alex entführt wird, muss Léa sich entscheiden, wie tief sie sich in die magische Unterwelt von Paris ziehen lässt …

Der erste Band eines magischen Abenteuers für Kinder ab 10 Jahren mit vielen Rätseln und gefährlichen Aufgaben, die Léa und ihre Freunde lösen und bestehen müssen. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Kathrin Tordasi wurde in der Nähe von Stuttgart geboren und wuchs mit den Büchern von Astrid Lindgren, Michael Ende und den Abenteuern der ??? auf. Ihre Heldinnen und Helden sind neugierig, manchmal ängstlich, oft mutig und genauso bunt wie das Leben. Egal, wo sich gerade aufhält, gibt sie zu viel Geld in Buchläden aus – zum Beispiel in Paris. Ihre Wahlheimat ist Berlin.

Inhalt

[Widmung]

Sternschnuppengefieder

Léa

Das Taubenmädchen

Léa

Über den Dächern von Paris

Roux

Ein seltsamer Morgen

Léa

Federkiel und Tintenfass

Léa

Ein Knäuel aus Fragen

Léa

Die Glanzwerkerin

Léa

Taube im Anflug

Léa

Hinterhalt

Léa

Vogelfänger

Roux

Verbündete

Léa

Das Nest der Federsucher

Léa

Spurensuche

Léa

Das Spitzgiebelhaus

Léa

Der Spiegelsaal

Léa

Von Fäden und Farben

Léa

Gemeinsam

Léa

Glockenwald

Léa

Freier Fall

Roux

Das Nebeltor

Léa

Feuerfeder

Léa

Friedhofskatzen

Léa

Bitterer Ausweg

Léa

Eine Fährte aus Morgenlicht

Léa

Das Versteck der Vogelfänger

Léa

Geheimplan

Léa

Taubengestöber

Léa

Erdbeerstreifen

Léa

Schatten der Vergangenheit

Roux

Überraschungsbesuch

Léa

Für Christian, Nina und Stephan,

meine Schreibfederbande

und die besten Freunde, die man sich nur wünschen kann

Sternschnuppengefieder

Léa

Léa traute ihren Augen nicht. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand ein Mädchen und unterhielt sich mit einer Taube. Und nein, sie machte keine gurrenden Geräusche, um die Taube anzulocken. Sie schimpfte auch nicht mit ihr, um sie zu vertreiben. Sie führte ein waschechtes Gespräch.

Die Taube saß auf dem angewinkelten Arm des Mädchens und hörte ihr mit zur Seite geneigtem Kopf zu. Ab und zu gurrte sie, und das Mädchen nickte und fuhr fort, als ob sie dem Vogel antworten würde.

Sachen gab’s! Léa wusste, dass sie unhöflich starrte, aber sie konnte nicht anders.

Das Taubenmädchen hatte blaugraue Haare, trug eine Jeansjacke mit bunten Ansteckern und Aufnähern und eine Cargohose. Außerdem hielt sie ein Skateboard unter dem Arm. Noch hatte sie Léa nicht bemerkt, aber das war nicht verwunderlich. Léa war gut darin, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen.

Wer genau beobachten will, muss selbst unsichtbar werden. Das sagte ihre Mutter immer.

Heute war der erste Nachmittag, an dem Léa die Zeit fand, ihre neue Nachbarschaft zu erkunden. Zwei Tage zuvor war sie mit ihren Eltern in eine Dachgeschosswohnung im Herzen von Paris gezogen. Von ihrem Fenster aus konnte sie die Türme von Notre-Dame sehen und dorthin war sie als Erstes gewandert. Jetzt saß sie auf einer Bank im winzigen Park neben der Kathedrale. Die Krone einer Kastanie bedeckte Léa mit gesprenkelten Schatten, und das graue Licht einer von Wolken verschleierten Sonne tat sein Übriges, um sie zu tarnen.

In der Hand hielt sie die Findeliste, die ihre Mutter ihr mitgegeben hatte. Zehn Dinge standen darauf. Drei hatte Léa bereits abgehakt: einen Gemüseladen. Eine Tür mit grünem Anstrich. Eine Person mit einer Armbanduhr am linken Handgelenk.

Das Spiel mit den Listen spielten sie schon, seit Léa sechs Jahre alt war. Léas Mutter schrieb die Listen, und Léas Aufgabe war es, ihre Umgebung genau zu betrachten, bis sie alles auf der Liste entdeckt hatte. Mittlerweile war Léa zwölf und nahm ihre Umgebung so genau wahr, dass ihr kein Detail entging.

Trotzdem war das Taubenmädchen das Seltsamste, was sie je beobachtet hatte. Das lag nicht nur daran, dass sich das Mädchen mit einem Vogel unterhielt. Sie hatte etwas an sich, das Léas Nacken zum Kribbeln brachte.

Obwohl sie lässig dastand, behielt sie alles im Blick. Sie beobachtete. Genau wie Léa selbst. Unruhig zupfte sie am Saum ihrer Jacke herum. Fragen summten in ihrem Kopf wie aufgeregte Hummeln. Wie hatte das Mädchen die Taube gezähmt? Was flüsterte sie ihr zu?

Kurz stellte Léa sich vor, wie sie auf das Mädchen zuging und hallo sagte. Nein, keine gute Idee. Andere würden das wahrscheinlich leicht hinbekommen, aber Léa war nicht gut darin, Kontakt mit anderen Kindern zu knüpfen. Sie war entweder zu still oder zu neugierig, suchte zu lange nach den richtigen Worten oder bombardierte ihr Gegenüber mit ihren Hummelfragen.

Plötzlich wünschte sie sich, dass das andere Mädchen sie bemerken würde. Der Drang, auf das Mädchen zuzugehen, drückte wie eine Hand gegen ihren Rücken.

Geh schon. Trau dich.

Das Mädchen schien sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Sie ließ ein Touristenpaar vorüberspazieren, dann schlenderte sie zu dem Zaun, der die Kathedrale vom öffentlichen Teil des Parks trennte. Die Taube landete auf der Spitze eines eisernen Zaunpfahls.

Léa sah sich um, aber außer ihr selbst war niemand mehr hier. Sie hat gewartet, bis die Luft rein ist, dachte Léa. Mit wachsender Faszination sah sie zu, wie das Mädchen an ein geschlossenes Tor im Zaun trat. Ein rascher Blick nach links und rechts, dann ging sie in die Hocke. Léa konnte nicht sehen, was sie machte, doch wenige Sekunden später schwang das Tor auf. Das Mädchen schlüpfte hindurch und lief auf den Seitenflügel der Kathedrale zu.

Moment mal! Hatte sie gerade das Schloss geknackt? Nicht zu fassen! Kurz zögerte Léa, doch dann gewann ihre Neugier die Oberhand. Sie hüpfte von der Bank, stopfte die Findeliste in ihre Jackentasche und lief dem Mädchen hinterher.

 

Das Tor im Zaun schwang ohne Widerstand auf. Nervös näherte sich Léa den hohen Mauern der Kathedrale. Hier war das Licht noch schwächer und die Luft auf einen Schlag kälter. Von dem Taubenmädchen fehlte jede Spur.

Was machst du hier eigentlich?, fragte Léa sich. Doch das Kribbeln war von ihrem Nacken in ihren Bauch hinuntergewandert, und das fühlte sich erstaunlich gut an. Noch nie hatte sie etwas so Waghalsiges getan.

Ein schmaler Pfad führte zwischen der Mauer der Kathedrale und einer Borte aus Büschen entlang. Léa folgte ihm, und das Kribbeln wurde mit jedem Schritt stärker. Eine Kastanie streckte ihre Äste über den Pfad und formte einen Tunnel. Léa war kaum unter das Blätterdach getreten, als das Kribbeln in ihr hochschäumte wie eine Welle. Irgendwo über ihr flatterte etwas mit hektischem Flügelschlag davon. Im nächsten Augenblick funkelten winzige Lichter durch die Luft.

Léa blieb stehen, rieb sich über die Augen, aber das Leuchten verschwand nicht. Nur wenige Meter vor ihr trudelten Lichtpunkte wie Schneeflocken zu Boden. Sie zählte drei, vier, fünf Funken, die erloschen, sobald sie auf die Pflastersteine trafen.

Mit trommelndem Herzen ging Léa weiter, bis sie im Schatten der Kathedrale etwas aufleuchten sah. Wie gebannt trat sie näher. Genau auf ihrer Augenhöhe funkelte ein Glimmen. Etwas bewegte sich. Ungläubig starrte Léa auf die dunkelgrauen Ranken, die aus einer Ritze im Mauerwerk quollen. Blätter sprossen rasant entlang der Ranken, und dazwischen öffneten sich zarte Knospen.

Léa beobachtete die Pflanze, die sich wie im Zeitraffer entfaltete und gänzlich aus Schatten zu bestehen schien. Manche Blätter zerfaserten wie weicher Rauch, und an anderen Stellen verschmolzen sternförmige Blüten mit dem steindunklen Hintergrund. Nur an einer Stelle, in einem Knäuel aus ringelnden Ranken, schimmerte ein sanftes, warmweißes Leuchten.

Eine Feder! Eine leuchtende Feder hatte sich im Dickicht der seltsamen Schattenranken verfangen. Léa stockte der Atem. Außer ihr war niemand hier, der Garten lag in absoluter Stille, aber es war, als würde die Feder nach ihr rufen.

Komm näher.

Sie streckte die Hand aus und pflückte die Feder vorsichtig von der Mauer. Ganz zart fühlte sie sich an. Als wäre sie aus Morgenlicht gemacht.

Léas Herz pochte schneller. Sehnsucht wickelte sich um ihr Herz, weich und schmerzhaft zugleich. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie sich sehnte, aber sie wollte die Feder auf keinen Fall loslassen. Behutsam wendete Léa ihren unverhofften Schatz zwischen den Fingerspitzen. Ein seidiger Schimmer floss über die zarten Rillen, und eine glitzernde Aura umspielte den Rand der Feder.

»Was bist du?«, flüsterte Léa.

Die Feder schimmerte, schauderte und explodierte in einem Gestöber aus funkelndem Staub.

Das Taubenmädchen

Léa

»Wah!« Mit einem spitzen Schrei fuhr Léa zurück.

Sie stolperte und wedelte heftig mit den Händen durch den schimmernden Federstaub, der ihr Gesicht umfing. Was war das für ein Glitzerzeug? Etwas davon verfing sich prompt in ihrem Augenwinkel und juckte. Hastig versuchte sie, sich den Fremdkörper aus dem Auge zu wischen, und hielt erschrocken inne. Licht klebte an ihren Fingern, ein goldener Staub aus winzigen, glänzenden Körnchen.

»Okay, wow«, sagte eine Stimme neben ihr. Erschrocken wirbelte Léa herum. Da stand das Taubenmädchen, immer noch mit dem Skateboard unter dem Arm. Ihr Blick hing noch eine Sekunde lang an Léas Händen, dann kam sie näher.

»Ziemlich beeindruckend«, murmelte sie.

»Was?« Instinktiv zog Léa ihre Hände an die Brust.

»Das würde ich nicht tun«, warnte das Taubenmädchen. »Den Glanz willst du so unverdünnt nicht einatmen.«

Léa verstand kein Wort, aber die Warnung durchzuckte sie wie ein Blitz. Hatte sie das Licht bereits eingeatmet? Zumindest schien etwas davon an ihr Auge geraten zu sein.

Bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, zog das Taubenmädchen einen kleinen Beutel und einen Pinsel aus der Tasche.

»Reich mir mal deine Hände«, sagte sie.

Als Léa zögerte, lächelte sie. »Keine Angst, ich will dir nur helfen.«

Léa schluckte, dann hielt sie dem Mädchen die Hände hin. Sie ließ ihren Blick zur Kirchenmauer huschen, doch die rauchgrauen Ranken waren verschwunden. Gerade so, als hätten sie nie existiert.

»Ich glaube, ich träume«, murmelte sie mit heiserer Stimme.

Das Lächeln des Mädchens wurde breiter. »Du bist ein Frischling, was?«, fragte sie. »Dann atme ein paarmal durch, bis du den Schock verdaut hast.« Flugs fegte das Taubenmädchen das schimmernde Pulver von Léas Fingern in den Beutel, bis sich das letzte Funkeln von ihrer Haut löste.

»Schon vorbei«, sagte das Mädchen und verstaute den Beutel wieder in ihrer Tasche. »Alles okay bei dir, oder kippst du gleich um?«

Léa schluckte. »Ich weiß nicht, sollte ich?«

Das Mädchen lachte. »Du wirst es schon verkraften.« Ein lautstarkes Geflatter ließ Léa aufblicken, im nächsten Moment trudelte die Taube auf den ausgestreckten Arm des Mädchens. Die Spitze ihres linken Flügels war weiß, als hätte sie ihn in ein Töpfchen Sahne getaucht. Sie gurrte und bauschte die Federn ihrer Halskrause auf.

Das Mädchen sog zischend die Luft ein. »Mist. Ich hab’s befürchtet.« Sie sah sich um, dann wandte sie sich an Léa. »Wie heißt du?«

»Léa.«

Irgendwo außer Sichtweite schabte etwas über Stein, und Büsche raschelten.

Léa runzelte die Stirn. Täuschte sie sich, oder war das Mädchen blass geworden?

»Was …«, begann Léa, doch da flatterte die Taube mit lautem Flappen in die Luft. Während sie einen Kreis hoch über ihren Köpfen drehte, fasste das Mädchen Léa am Ärmel und zog sie mit sich. Ihr Blick huschte nervös zum hinteren Teil der Kathedrale.

»Okay, Léa«, sagte sie. »Du hast garantiert eine Menge Fragen, aber leider kann ich dir jetzt keine Antworten geben.«

Léa ließ sich hinter einen Mauervorsprung ziehen, hauptsächlich, weil ihr Verstand immer noch an der explodierenden Feder festhing: »Was ist denn los?«

Das Mädchen verzog das Gesicht. »Es gibt ein paar Leute, die mich nicht erwischen dürfen.« Sie spähte um den Mauervorsprung. »Ich fürchte nur, sie haben mich aufgespürt.«

Wieder erklang ein Schaben, dicht gefolgt von einem Klappern und einem krächzenden Maunzen, das überhaupt nicht nach einer Katze klang. Gänsehaut krabbelte über Léas Haut.

»Was denn für Leute?«, wollte sie wissen. »Und was war das für eine Feder und dieses Licht an meinen Händen?«

Sie hatte ihre letzte Frage kaum ausgesprochen, da ertönte ein eindringliches Gurren – die Taube war inzwischen auf dem Zaun gelandet und blickte sie auffordernd an.

»Hier.« Das Mädchen drückte Léa das Säckchen in die Hand. »In der Rue de la Bûcherie gibt es einen Buchladen. Er heißt Federkiel und Tintenfass. Bring den Glanz dorthin und gib ihn Ari. Er kann dir alles erklären.«

»Moment mal«, protestierte Léa, doch das Mädchen sprach einfach weiter.

»Sag ihm, dass ich dich geschickt habe«, fuhr sie fort. »Und gib ihm das hier.« Sie zog einen Stift und ein kleines Notizbuch aus ihrer Jackentasche. Hastig kritzelte sie ein paar Worte auf die erste Seite, dann hielt sie Léa das Buch hin.

Unwillkürlich wich Léa zurück.

»Bitte!«

Etwas an der Art, wie sich das Mädchen gehetzt umsah, versetzte Léa einen Stich. Sie steckte das Buch ein.

»Danke«, sagte das Mädchen erleichtert und griff nach Léas Hand. Léa zuckte zusammen, aber gleichzeitig regte sich wieder dieses warme Gefühl in ihrer Brust.

»Ari wird misstrauisch sein, also zeig ihm dieses Zeichen.« Das Mädchen drehte Léas Hand nach oben und malte mit ihrem Zeigefinger eine Acht auf ihre Handfläche. »Sag ihm, du bist eine von uns.«

Léas Augen weiteten sich überrascht. »Was?«

»Rue de la Bûcherie«, wiederholte ihr Gegenüber. »Kannst du dir das merken?«

»Klar«, erwiderte Léa heiser.

Das Mädchen lächelte wieder. »Du hast Mumm, gefällt mir«, sagte sie. »Verdrück dich durch das Gartentor, ich werde die Typen von dir weglocken.«

Bei dem Gedanken, dass die Verfolger des Mädchens es auch auf sie abgesehen haben könnten, lief Léa ein Schauder über den Rücken. Das Mädchen lief zum Zaun und schob ihr Skateboard durch eine Lücke zwischen den Zaunpfählen. Dann zog sie sich an den Eisenstreben hoch und kauerte auf dem oberen Rand der Absperrung.

»Warte!«, rief Léa. Das Mädchen drehte sich um.

»Wie heißt du?«, fragte Léa.

»Alex«, antwortete das Mädchen. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und versetzte dem Zaun einen Tritt mit der Ferse, so dass das Eisen klapperte. Dann sprang sie auf den Boden und zischte auf dem Skateboard davon. Das Letzte, was Lea hörte, war jenes zischende Maunzen, ein erneutes Klappern und Klirren des Zaunes und mehrere Schritte, die in dieselbe Richtung wie das Taubenmädchen rannten.

Über den Dächern von Paris

Roux

Die Regenrinne einhändig hinaufzuklettern war eine Herausforderung. Doch Roux wollte die kleine Pappschachtel, die er in der linken Hand hielt, nicht in seine Hosentasche stecken. Er hatte zu lange an ihrem Inhalt gearbeitet, um ihn auf den letzten Metern zu zerquetschen.

Als er das Dach des Hauses erreichte und die Schachtel immer noch heil war, seufzte er zufrieden. Er sah sich um und erspähte die Person, die er suchte, sofort. Ari saß auf der Brüstung am Rand des Daches, mit Blick auf das Wasser der Seine und die Insel von Notre-Dame.

Über ihnen wölbte sich der dunkle Nachthimmel, doch die Kathedrale wurde von mehreren Scheinwerfern angestrahlt, und das Leuchten spiegelte sich auf dem Fluss.

Roux nahm neben Ari Platz und stieß ihn zur Begrüßung mit der Schulter an. Ari erwiderte den Schubser und lächelte. Er hatte seine Kapuze zurückgeschlagen, und seine dunklen Haare sahen noch zerzauster aus als sonst.

»Alles klar?«, fragte Roux.

»Yep«, erwiderte Ari. »Bei dir?«

»Alles in Butter«, sagte Roux. Er gab Ari die kleine Schachtel, und Aris Augen leuchteten. Auf dem Deckel schimmerte das eingestanzte Bild einer goldenen Feder. Sie war das Markenzeichen der Patisserie, in der Roux arbeitete.

»Oh, spitze!« Ari öffnete die Schachtel, griff sich das Zitronentörtchen, das sich darin befand, und schob es sich mitsamt der aufwendigen Schokoladen-Deko in den Mund.

»Hey«, beschwerte sich Roux. »Hast du eine Ahnung, wie lange ich für die Schokolocken gebraucht habe?«

»Sahen gut aus«, lobte Ari mit vollem Mund. »Schmecken besser.«

Roux schnaubte, war jedoch froh, dass er Ari eine Freude machen konnte. Für so einen kleinen, drahtigen Kerl konnte Ari eine erstaunliche Menge an Kuchen, Croissants und Crêpes verdrücken.

Roux ließ die Beine über dem Abgrund baumeln. Unter ihnen, mehrere Stockwerke tiefer, parkten Autos, spazierten Nachtschwärmer vorbei. »Alex war noch nicht hier?«, fragte er.

Ari klaubte sämtliche Krümel aus der Box und leckte sich Schokolade von den Fingern. »Nein.«

»Mal wieder spät dran«, mutmaßte Roux.

Ari zuckte mit den Schultern. »Das ist ja nichts Neues«, bemerkte er. »Wahrscheinlich wurde sie von irgendwas abgelenkt.«

»Sollen wir warten?«, fragte Roux.

Ari faltete die Box zusammen und steckte sie in die Tasche seines Hoodies. »Wenn wir heute Nacht noch Federn finden wollen, sollten wir loslegen.«

Er zog ein Stück Kreide aus der Tasche und malte ein A und ein R auf die Brüstung. Wenn Alex herkam, würde sie sehen, dass sie beide hier gewesen waren und wissen, dass sie sich auf die Suche gemacht hatten.

Ari verstaute die Kreide in seiner Tasche und zupfte seine Vogelmaske unter dem Kragen seines Hoodies hervor. Als sie vor drei Jahren zum Maskenschneider gegangen waren, hatte Ari vermutet, dass er eine Elstern- oder Rabenmaske bekommen würde. Er war nicht nur blitzgescheit wie ein Rabe, er hortete Informationen und obskures Wissen wie Elstern glitzernde Gegenstände. Doch stattdessen hatte er eine Rotkehlchenmaske aus graubraunen und orangeroten Federn bekommen. Roux fand, dass die viel besser zu ihm passte.

»Der Letzte muss eine Woche lang den Abwasch machen?«, schlug Ari vor und richtete sich auf.

»Abgemacht«, erwiderte Roux. Er hievte sich hoch und zog seine eigene Maske aus der Tasche. »Auf drei?«

Ari nickte, streifte sich das Lederband der Maske über den Kopf und schob sich die Maske hoch auf die Stirn. »Eins.«

Roux spürte, wie sein Herz schneller schlug: »Zwei.«

Ari grinste. »Drei!«, rief er und rannte los.

Roux fluchte und setzte ihm hinterher. Sie sprangen vom Rand des Daches aufs tiefer gelegene Nachbarhaus und legten noch einen Zahn zu. Ari zog sich im Rennen die Maske über die Augen und hechtete, ohne innezuhalten, über eine Dachluke. Vor ihnen erstreckten sich die Hausdächer wie ein Parcours, und die Lichter der Stadt warfen ihren goldenen Schein in den Nachthimmel.

Roux spürte die Vorfreude wie sprudelnde Brause in seinen Adern. Vor ihnen tauchte eine Hauskante auf, und dahinter klaffte ein Loch von mindestens zwei Metern.

Er sog die Luft durch die Nase und rannte noch schneller. Jetzt war er gleichauf mit Ari und der Abgrund nur noch wenige Schritte entfernt. Roux zog seine Maske auf, und sein Herz machte einen Sprung, als ob es davonfliegen wollte. Sein Blick huschte über die Dächer, und dort, zwei Häuserblocks entfernt, sah er eine Fährte aus schillerndem Licht. Er rannte auf den Rand des Daches zu, so schnell, so federleicht, dass seine Füße kaum den Boden berührten. Neben ihm johlte Ari begeistert, und die beiden Jungen stießen sich ab und katapultierten sich in die Luft.

Ein seltsamer Morgen

Léa

Léa starrte auf ihren Orangensaft. Das Licht der Morgensonne glitzerte auf dem Rand des Glases und erinnerte sie an funkelnden Flaum, der im Schatten einer Kathedrale herumwirbelte.

»Ist alles in Ordnung, mein Schatz?«, fragte ihre Mutter.

Léa zuckte zusammen. »Ja, alles okay.«

Sie sah hoch und begegnete dem Blick ihrer Mutter. Florine Pascal saß auf der gegenüberliegenden Seite des Esstischs. Sie trug bereits ihr Büro-Outfit und hatte ihren dunklen Lockenschopf schick in Form geföhnt.

Die Locken hatte Léa von ihr geerbt. Die grünbraune Farbe ihrer Augen, die versprengten Sommersprossen auf ihrer hellen Haut und ihre Vorliebe für Erdbeer-Vanille-Bonbons hatte sie von ihrem Papa. Der befand sich derzeit mit seiner Kamera in Neuseeland, um an einer Fotostory über ein Naturschutzprojekt mitzuwirken. Normalerweise schickte Léa ihm morgens immer einen Schnappschuss vom Frühstückstisch, aber heute hatte sie noch gar nicht daran gedacht.

Ein Brummen erklang. Léas Mutter sah auf ihr Handy, und eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. »Bei unserem Treffen heute Abend sollten wir den Katalog der nächsten Auktion durchgehen«, las sie laut vor und seufzte. »Wirklich, Reynard, das konnte nicht warten, bis wir uns sehen?«

»Du müsstest dich nicht ärgern, wenn du dein Telefon beim Frühstück lautlos stellen würdest«, sagte Effie, die ebenfalls mit am Tisch saß. Effie, deren richtiger Name Ophelia lautete, arbeitete bereits seit zehn Jahren als Haushälterin für Léas Mutter. Inzwischen hatte sie fünf Umzüge mitgemacht und gehörte praktisch zur Familie.

Léas Mutter seufzte. »Du hast recht, wie immer. Ich sollte einfach den Flugmodus einschalten.«

Noch während sie das sagte, scrollte sie durch ihre anderen Nachrichten. Léa und Effi tauschten einen Blick, und Léa musste sich ein Lächeln verkneifen. Niemals würde ihre Mutter ihr Handy ignorieren.

Léa griff nach der Erdbeermarmelade. Effie hatte Brioche gebacken, und der Duft des süßen Hefegebäcks erfüllte die ganze Wohnung. Léa liebte es, wenn Effie backte. Egal, wie oft sie umzogen oder wie fremd sich eine neue Stadt anfühlte: Wenn Léa von Gebäckduft geweckt wurde, fühlte sie sich geborgen.

Während ihre Mutter abwesend an ihrem Kaffee nippte, schmierte Léa Marmelade auf ihr Stück Brioche. Ihre Gedanken trudelten immer wieder zurück zum gestrigen Nachmittag. Das kleine Notizbuch und der Beutel, den Alex ihr anvertraut hatte, lagen unter ihrem Bett. Ein Teil von ihr wollte das Buch aufschlagen und den Beutel öffnen, um nachzusehen, ob sein Inhalt immer noch glitzerte. Der andere Teil jedoch erinnerte sie an etwas, was Effie gerne sagte: Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen. Was so viel hieß wie: Neugier bringt dich in Schwierigkeiten.

Und das stimmte. Ihre Neugier hatte sie dazu gebracht, einem fremden Mädchen zu folgen und in den abgesperrten Garten von Notre-Dame einzusteigen.

Mach dir keine Sorgen, beruhigte sie sich. Niemand außer Alex hatte bemerkt, was sie getan hatte. Eigentlich könnte sie den Vorfall vergessen. Wären da nicht die Schattenranken und die Morgenlichtfeder, die Léa nicht mehr aus dem Kopf wollten. Was genau war gestern passiert? Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass sie etwas Magisches erlebt hatte. Doch das war unmöglich. Oder nicht? Was wusste Alex? Und vor wem war sie davongelaufen?

Die Fragen summten in Léas Kopf.

Um sich abzulenken, biss sie von ihrer Brioche ab und spähte dabei unauffällig zu ihrer Mutter. Der Drang, ihr alles zu erzählen, schaufelte ihr die Worte förmlich auf die Zunge. Ihre Mutter würde sich alles anhören, kluge Fragen stellen und alles haarklein mit ihr durchsprechen, bis ihnen beiden klar war, was Léa mit dem Buch und dem Beutel machen sollte. Aber um an diesen Punkt zu kommen, müsste Léa ihren Einbruch beichten.

Bei der Vorstellung, wie enttäuscht ihre Mutter reagieren würde, wurde Léa schlecht. Sie beide bauten aufeinander, gingen zusammen durch dick und dünn. Ihre Mutter war stolz auf sie, und das ließ sie ihre Tochter auch spüren. Sie lobte Léa für ihre Fortschritte im Unterricht, ließ sie frei entscheiden, welche Bücher sie lesen wollte, und nahm sie mit in die Museen, in denen sie arbeitete. Zuletzt hatte Léas Mutter eins der größten Museen in England beim Kauf neuer Ausstellungsstücke beraten. Seit diesem Monat arbeitete sie für das Mittelaltermuseum in Paris. Léa freute sich schon darauf, die Ausstellung und die Lagerräume zu erkunden, zu denen gewöhnliche Besucherinnen und Besucher keinen Zutritt hatten.

Léas Mutter vertraute ihr. Wann immer sie wollte, durfte sie auf eigene Faust durch die Gegend streifen – auch wenn sie ganz neu in einer Stadt waren. Immer unter der Voraussetzung, dass sie sich nicht zu weit von ihrem aktuellen Zuhause entfernte, regelmäßig mit ihrem Handy durchfunkte, wo sie war, und ein paar andere Regeln beachtete.

Meine Léa kommt gut klar, hatte sie einer Kollegin einmal erzählt. Sie ist selbständiger als so manche Achtzehnjährige.

Dieses Vertrauen wollte Léa auf keinen Fall verspielen. Aber gestern hatte sie nicht anders gekonnt. Da war dieses Kribbeln gewesen, dieses verheißungsvoll zupfende Gefühl, das ihr ohne Worte zugeflüstert hatte: Folge mir.

Léa nippte an ihrem O-Saft und dachte an die Lichtflecken, die durch die Luft gewirbelt waren. Wenn sie die Fingerspitzen aneinanderrieb, spürte sie immer noch den glatten Kiel der Feder, die wie ein zu Seide gewordener Sonnenstrahl geschimmert hatte. Auf die Glitzerexplosion hätte sie allerdings verzichten können.

Léa blinzelte und widerstand dem Drang, ihr linkes Auge zu reiben. Das Jucken war nach dem Vorfall nicht wieder aufgetreten. Zum Glück.

Den Glanz willst du so unverdünnt nicht einatmen, echote Alex’ Stimme in ihrem Kopf.

»Erde an Léa«, sagte ihre Mutter. Als Léa hochsah, runzelte sie die Stirn. »Du steckst heute wirklich mit dem Kopf in den Wolken. So kenne ich dich gar nicht. Sicher, dass alles okay ist?«

Léa schluckte. »Ja«, versicherte sie schnell. »Ist nur alles aufregend hier. Und, ähm, neu.«

Die Miene ihrer Mutter glättete sich. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber ich verspreche dir, das hier war der letzte Umzug für eine lange Zeit. Wir werden es uns gemütlich machen und die Stadt richtig kennenlernen, bis sie sich wie zu Hause anfühlt. Klingt das gut?«

Léa lächelte. »Klingt sehr gut.«

Ihre Mutter lächelte zurück und drückte Léas Hand. »Also, was hältst du davon, heute ein paar Dinosaurier zu begutachten? Ich habe das Naturkundemuseum für dich herausgesucht.«

»Und eine Liste vorbereitet?«, fragte Léa.

»Und eine Liste vorbereitet«, bestätigte ihre Mutter. Sie prostete Léa mit der Kaffeetasse zu und nahm einen Schluck, als Effie sich vernehmlich räusperte. Léas Mutter warf Effie einen raschen Blick zu, dann fragte sie Léa: »Bist du einverstanden, heute noch einmal alleine unterwegs zu sein, oder soll Effie mitkommen?«

»Wir können auch in den Park um die Ecke gehen«, schlug Effie vor. »Dann lernst du vielleicht ein paar Kinder aus der Nachbarschaft kennen.«

»Vielleicht morgen«, sagte Léa rasch. »Heute komme ich allein klar. Im Museum, meine ich.«

Dass es möglicherweise einen Grund gab, warum sie allein losziehen wollte, darüber dachte Léa lieber nicht zu angestrengt nach.

 

Später starrte Léa auf ihr Gesicht im Badezimmerspiegel. Ihr Auge sah normal aus, oder? Sie zog ihr unteres Lid herunter und lehnte sich näher an das Glas. Yep. Normal. Weißer Augapfel, grün gesprenkelte Iris. Keine Spur von eigenartigem Glitzer.

Sie atmete erleichtert aus, blinzelte und richtete sich auf. Was auch immer dieser Federstaub – dieser Glanz? – gewesen war, es schien, als wäre Léa unbeschadet davongekommen.

Sie betrachtete den Beutel und das Notizbuch, die sie auf die Ablage neben sich gelegt hatte. Eigentlich sahen beide Gegenstände völlig harmlos aus.

Léa trommelte mit den Fingern auf das Waschbecken. Neugierige Katzen …, sagte sie sich, dann stieß sie die Luft aus und nahm das Notizbuch in die Hand. Es war eine abgewetzte, in Leder gebundene Kladde. Seltsam altmodisch für ein Mädchen mit blau gefärbten Haaren und Skateboard. Ein Band war zweimal um das Buch gewickelt, und Léa musste an dem Knoten herumnesteln, bevor sie ihn lösen konnte. Schließlich schlug sie das Buch auf und blätterte durch die Seiten.

Das Buch war gefüllt mit Skizzen: Häuser, Straßenecken und irgendwelche Plätze. Eins der Häuser, ein fünfstöckiges Gebäude mit spitzgiebeligen Dachgauben, kam Léa vage bekannt vor. Stand es hier irgendwo in der Nähe? Zusätzlich zu den Stadtzeichnungen entdeckte sie Bilder von eigenartigen Wesen: ein Stierkopf, der auf einem menschlichen Hals und Oberkörper saß. Ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, der in einem Ring aus Flammen zu fliegen schien.

Léa blätterte weiter. Zwischen den Skizzen drängten sich Zeilen voller Striche, Punkte und anderer Symbole. Das war kein Alphabet, das Léa erkannte.

Stirnrunzelnd blätterte sie zurück bis zur ersten Seite. Auch die war vollgekritzelt mit Zeichen, aber links, auf der leeren Rückseite des Umschlags, stand eine Botschaft, die Léa lesen konnte:

Ari, egal, was passiert, gebt den VF nicht das Pendel.

»Ari«, murmelte Léa. Den Namen hatte Alex gestern auch genannt. War das ein Freund oder eine Freundin? Aber von welchem Pendel war hier die Rede? Und was bedeutete VF?

Léa richtete ihren Blick auf den Beutel. Wenn sie vernünftig wäre, würde sie ihn und das Buch wegwerfen. Sie sollte es tun. Alex steckte offensichtlich in Schwierigkeiten. Wenn Léa sich weiter in ihre Angelegenheiten verwickeln ließ, konnte das nur schiefgehen.

Es gab nur ein Problem: Léa konnte Rätsel nicht ruhen lassen. Fragen verstummten nicht einfach in ihrem Kopf, sie wurden lauter, bis sie sich auf die Suche nach Antworten machte. Und die Begegnung mit Alex? Die hatte ihr nicht nur ein Mysterium vor die Nase gesetzt.

Léa legte eine Fingerspitze auf ihre Handfläche und hörte Alex’ Worte wie ein verheißungsvolles Flüstern.

Du bist eine von uns.

Léa hatte noch nie irgendwo dazugehört, zumindest nicht außerhalb ihrer Familie. Sie hatte keine Freunde. Schon als kleines Kind war sie so oft umgezogen, dass sie nie in einem Kindergarten war und später hauptsächlich zu Hause unterrichtet wurde. So hatte sie kaum Kontakt zu anderen Kindern. Hier und da verbrachte sie ein paar Monate an ein und derselben Schule, aber es blieb nie genug Zeit, um Freundschaften zu schließen. Ganz abgesehen davon, dass Léa nicht wusste, wie sie auf Kinder in ihrem Alter zugehen sollte. Ihr fehlte einfach die Übung.

Sie bemühte sich, versuchte, Gespräche anzufangen oder sich Gruppen anzuschließen. Aber sie wusste nie, was die anderen interessierte, welche Filme sie schauten, welche Musik sie hörten, welche Witze sie lustig fanden oder welche Internetvideos gerade die Runde machten. Am Ende des Tages saß sie doch wieder alleine mit einem Buch am Rand des Schulhofs. Die meiste Zeit störte sie das nicht. Sie liebte es, sich in Büchern zu vergraben, zu lernen, mit Findelisten durch die Nachbarschaft zu streifen, mit ihrer Mutter auf der Couch zu lümmeln und Doctor Who zu schauen oder singend mit Effi durch die Küche zu tanzen. Sie war zufrieden.

Nur ab und zu fragte sie sich, wie es wohl wäre, Freunde zu haben. Richtige Freunde, mit denen sie lachen oder Geheimnisse teilen oder unbekannte Orte erkunden konnte.

Léa zeichnete die Acht in ihre Hand, so wie Alex es getan hatte. Sie war sich nicht sicher, welches Rätsel sie mehr reizte. Der goldene Staub oder die Frage, was Alex mit ›eine von uns‹ gemeint hatte.

Rue de la Bûcherie. Kannst du dir das merken?

Léa presste die Lippen aufeinander und stopfte Säckchen und Notizbuch in ihre Hosentasche.

Sie brauchte einen Stadtplan.

Federkiel und Tintenfass

Léa

Die Buchhandlung Federkiel und Tintenfass befand sich in einer Seitenstraße unweit der Seine. Auf einem gepflasterten Vorplatz standen zwei blühende Mandelbäume und Rollkisten voller Taschenbücher. Léa suchte sich einen Weg zwischen stöbernden Bücherfreunden bis zum Eingang des Ladens.

Die hölzerne Fassade rund um die Schaufenster war dunkelblau angestrichen, und die sonnengelbe Eingangstür stand weit offen. Léa setzte schon den Fuß auf die Schwelle, als ihr eine Zeichnung auf dem Türrahmen auffiel. Jemand hatte ein Rotkehlchen auf das Holz gemalt. Léa speicherte das Detail in ihrem Gedächtnis ab und betrat den Laden.

Sofort wehte ihr der Geruch von Papier und Druckerschwärze in die Nase. Dazwischen hing der karamellige Duft von schwarzem Tee. Sie sah sich um. Bücherregale streckten sich bis unter die Decke, und altmodische Porzellanlampen spendeten ein warmes Licht. Das Gebäude musste sehr alt sein, denn dunkle, wurmstichige Holzbalken stützten die Decke.

Léa wich einem jungen Mann aus, der den Laden mit zackigem Schritt und prall gefüllter Einkaufstasche verließ. Dann fiel ihr Blick auf den Ladentisch. Dahinter stand eine Frau in einer Bluse, die so gelb war wie die Eingangstür. Die schwarzen Zöpfe, die sie zu einem Knoten zurückgebunden hatte, waren mit blauen Strähnen durchzogen. Sie blätterte in einem Buch und trank dampfenden Tee aus einer geblümten Tasse.