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Zwei Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes werden tot auf einer Großbaustelle in Thüringen entdeckt. Weil die Männer aus Nordhessen stammten, werden die Kasseler Kommissare Paul Lenz und Thilo Hain um Amtshilfe gebeten. Die Getöteten waren auch auf dem im Vorjahr eröffneten Flughafen Kassel-Calden für die Bewachung der Baustelle eingesetzt und offenbar in kriminelle Geschäfte verwickelt. Lenz und Hain versuchen, eine Katastrophe zu verhindern, doch die Zeit rinnt ihnen durch die Finger…
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Seitenzahl: 402
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Matthias P. Gibert
Bruchlandung
Lenz’ zwölfter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © MC_PP – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4340-4
»… und deshalb ist es umso wichtiger, dass Sie alle mitmachen bei der Umsetzung dieser Richtlinien. Sie sind sozusagen Botschafter einer …«
Lenz hatte schon immer seine Schwierigkeiten gehabt mit solchen Floskeln absondernden Klugscheißern, die gerade aus irgendeinem Universitätshörsaal gestolpert waren und nun der Welt erklären wollten, wie man vorteilhafter zusammenarbeiten oder ein besserer Vorgesetzter werden könnte. Zwei Mal hatte er es geschafft, sich dem Seminar mit dem hochtrabenden TitelDer Vorgesetzte im Wandel der Zeit – besser führen mit neuen Managementmethodenzu entziehen, eine dritte Verweigerung war ihm nach deutlich mahnender Intervention seines Chefs nicht mehr möglich gewesen. So hatte er also diesen Tag über sich ergehen lassen und schon am Morgen, direkt nach der Begrüßung durch den jungen BWL-Absolventen im grauen Anzug und mit den abgelatschten Schuhen, damit begonnen, sich auf das nun bevorstehende Ende zu freuen. Dazwischen lagen ein paar schale, unsichere Witze des Referenten, einige Rollenspiele, bei denen er sich gedanklich völlig ausgeblendet hatte, und ein wenig Input, dessen Inhalt er sich schon vor zehn Jahren selbst angelesen hatte.
»Daher danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen guten Heimweg.«
Herr Heinlein verbeugte sich artig und löste mit seinem dabei vorgezeigten gequälten Lächeln bei dem Leiter der Kasseler Mordkommission den Verdacht aus, dass auch er sich darüber freute, diesem Tag der geistigen Erbauung ein halbwegs glückliches Ende bereitet zu haben.
Lenz sah auf seine Armbanduhr und packte die Unterrichtsmaterialien zusammen, in die er, so die Bitte des Referenten, mindestens einmal im Monat einen Blick werfen sollte. Wenn alles normal laufen würde, wäre er rechtzeitig am Frankfurter Hauptbahnhof, um den Zug um 17:22 Uhr nach Kassel zu erreichen.
Ziemlich genau zwei Stunden später fiel er in die weit ausgebreiteten Arme seiner Frau, die ihn am Bahnsteig erwartete.
»Aber Maria, das wäre doch nicht nötig gewesen. Die paar Minuten zu Fuß hätte ich wirklich noch geschafft.«
»Das glaube ich dir sogar«, hauchte sie ihm ins Ohr, »aber dann hätte ich ja noch länger auf dich warten müssen. Wie war es denn?« Lenz gab ihr einen kurzen Abriss seines Tages.
»Und bevor ich noch einmal solch einen nassforschen Jungspund als Seminarleiter ertrage, lasse ich mich frühpensionieren.«
Ihre eiskalte Hand schob sich in seinen Nacken, was er mit einem erschrockenen Zucken quittierte.
»Tut mir leid, dass es so schlimm war. Aber jetzt ist Schluss mit dem Ärgern über den Typen, und du freust dich einfach, dass ich hier bin.«
»Das mache ich.«
Maria löste sich von ihm, drehte sich um und hakte sich unter.
»Hast du Lust, ein bisschen spazieren zu gehen?«
Lenz betrachtete zuerst seine Schuhe und dann seine Frau mit unverhohlener Skepsis.
»Daran hab ich gedacht. Deine wasserdichten Wanderschuhe liegen im Kofferraum.«
Der Polizist dachte kurz nach.
»Dann ist das eine Idee, für die ich mich begeistern könnte. Allerdings nur, wenn wir im Anschluss unsere kalten Knochen gemeinsam in der Sauna oder der Badewanne aufwärmen.«
Über das Gesicht der Frau huschte ein Grinsen.
»Das machen wir, versprochen.«
Auf dem Weg nach draußen ließ der Leiter der Kasseler Mordkommission genüsslich grinsend die Seminarunterlagen in einen der auf dem Bahnhof stehenden Edelstahlbehälter mit der blauen Aufschrift Papier gleiten, umarmte seine Frau ein wenig fester und begann, sich auf den weiteren Verlauf des nach würziger Luft riechenden Wintertages zu freuen.
»Na, na, übertreibst du jetzt nicht ein wenig?«, fragte Maria ihren Mann mit übertrieben gerunzelter Stirn und nicht wirklich ernst gemeinter Skepsis.
Lenz wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und streichelte seiner Frau sanft über den Bauch.
»Ich weiß, dass du nur ein bisschen sticheln willst, du kleines Biest. Also lässt mich dein Einwand, ich könnte, was mein heutiges Seminar angeht, zur Übertreibung neigen, völlig kalt.«
Sie hob den Kopf und fing an zu grinsen.
»Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Aber ganz im Ernst, so schlimm, wie du ihn jetzt darstellst, kann der Tag doch gar nicht gewesen sein.«
Der Kommissar fädelte wortlos seinen rechten Oberschenkel unter ihrem Kopf hindurch, den er vorsichtig auf der hölzernen Sitzbank ablegte, stand auf und goss ein wenig Wasser auf die Steine des Saunaofens. Sofort bildete sich eine dichte Dampfwolke in dem kleinen Raum.
»Du weißt, wie ich diese Veranstaltungen hasse, Maria«, erklärte er ihr, nachdem er wieder seine alte Position eingenommen hatte. »Und der Knabe, den sie heute als Vorturner ausgesucht hatten, war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Der braucht noch ein paar Jahre, bis er vor einer Gruppe sein Standing gefunden hat.«
»Wir müssen halt alle klein anfangen«, gab sie wegen der enormen Hitze sehr leise zurück, wobei ihre rechte Hand dem Gesicht Frischluft zufächelte.
»Das kann von mir aus alles sein, aber doch bitte nicht, wenn es um meine Zeit geht.«
Er verzog das Gesicht.
»Wenn ich überlege, was ich an diesem Tag alles hätte wegarbeiten können …«
Maria Lenz schüttelte kurz den Kopf, zog dann seinen zu sich herunter und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund.
»Du armer, armer Kerl, der als absolut perfekter Mensch diese zutiefst mangelbehaftete Welt erdulden muss. Musstest schon wieder den ganzen Tag unter einem Mitmenschen leiden, der so ganz anders ist als du. Der noch ein paar Jahre braucht, um schließlich zu merken, dass er es noch immer nicht mit dir aufnehmen kann. Schlimm aber auch, so was.«
»Verarschen kann ich mich allein«, brummte er.
»Aber längst nicht so schön wie ich.«
Wieder fanden ihr Mund und seiner sich.
»He, was passiert denn da gerade unter meiner Schulter?«, fragte sie scheinheilig, während ihr Oberkörper sich sanft hin und her bewegte.
»Keine Ahnung«, gab er ein wenig zu schnell zurück. »Ich weiß absolut nicht, was du meinen könntest.«
»Dafür bin ich bestens darüber informiert, um was es sich handelt.«
Sie drehte sich um und fuhr langsam mit dem Kopf in Richtung seiner Körpermitte.
»Maria, bitte. Dafür ist es hier drin wirklich zu heiß.«
»Dann lass uns schnell unter die Dusche springen. Aber mach dein Wasser bitte nicht zu kalt.«
Etwas mehr als eine Stunde später lagen die beiden erschöpft und mit geschlossenen Augen nebeneinander auf dem Bett.
»Wow, das hätte ich heute nicht mehr erwartet«, murmelte Lenz.
»Ich schon«, erwiderte Maria leise.
»Aha.«
»Ich hatte schon den ganzen Tag Lust auf dich.«
»Und warum sind wir dann noch spazieren gegangen? Das verstehe ich nicht.«
»Das hat bei mir die Vorfreude erhöht, und dir hat der Sauerstoff gut getan, um diesen blöden Seminarleiter aus dem Hirn zu bekommen. Mit dem in deinem Unterbewusstsein wollte ich ganz ungern Sex mit dir haben.«
»Er war nicht dabei, das verspreche ich dir«, grinste der Kommissar.
»Ich weiß.«
Sie drehte ihren Oberkörper und legte ihren Kopf auf seinen Bauch.
»Ich habe mich heute Mittag mit Judy getroffen«, erklärte sie, während ihre rechte Hand mit seinen Brusthaaren spielte. Sie sprach von Judy Stoddard, ihrer ältesten und besten Freundin.
»Schön. Geht es ihr gut?«
»Schon, ja. Sie hat mich gefragt, ob wir für ein paar Tage zusammen in die Sonne fliegen wollen.«
»Und? Hast du Lust?«
»Klar hätte ich Spaß daran. Der Winter war bis jetzt wirklich kein Zuckerschlecken. Aber …«
»Was aber? Warum habt ihr nicht gleich gebucht?«
»Ich war nicht sicher, ob du vielleicht was dagegen haben könntest«, erwiderte sie kleinlaut.
Lenz hob den Kopf und versuchte, im Halbdunkel des Schlafzimmers das Gesicht seiner Frau zu erkennen.
»Jetzt fängst du aber das Spinnen an, Maria. Was sollte ich denn dagegen haben, dass du mit Judy ein paar Tage in die Sonne fliegst? Ihr werdet doch sicher nicht bis ins Frühjahr wegbleiben, oder?«
»Nein«, lachte Maria erleichtert auf. »Wir haben über Teneriffa gesprochen, für höchstens fünf oder sechs Tage.«
»Das klingt doch klasse! Natürlich würde ich gern mitkommen, aber das lässt mein Dienstplan nun mal leider nicht zu. Also, nichts wie in den Flieger mit euch!«
»Ehrlich?«
»Ganz ehrlich. Mit einer gehörigen Portion Neid zwar, aber ganz und gar ehrlich.«
Theo Stark sah hinaus in das Schneetreiben, das vor den Scheinwerfern des VW-Passat tobte, und trat vorsichtig auf die Bremse.
»Verdammt, wenn das so weiter geht, fahren wir uns noch fest. Wollen wir nicht doch lieber die Schneeketten aufziehen?«
»Nein«, erwiderte Walter Kempf, sein Beifahrer. »Das geht schon. Bis jetzt hat es ja noch immer geklappt.«
Stark schüttelte missmutig den Kopf.
»Aber so ein Scheißwetter mit solchen Schneemassen hatten wir noch nie.«
»Jetzt bleib mal ruhig, du Pussi. Wenn du keinen Bock mehr hast, zu fahren, dann lass mich ans Steuer, aber heul mir nicht die Ohren voll.«
»Nein, das will ich auf gar keinen Fall. Lieber ziehe ich allein die Ketten auf, als dich Irren ans Lenkrad zu lassen. Du fährst uns eher tot, als dass dabei etwas Gescheites herauskommt. Und davon, dass du im Moment keinen Führerschein und dem Boss davon nicht mal was gesagt hast, will ich gar nicht erst reden.«
Er gab vorsichtig Gas und lenkte den Kombi um eine Ecke. Dann bremste er erneut ab, fuhr neben einen völlig zugeschneiten Radlader und drehte den Zündschlüssel ein wenig nach links, sodass der Motor zwar abstarb, das Standlicht und das leise dudelnde Radio jedoch eingeschaltet blieben.
»Dann viel Spaß, mein Freund«, stieß er mit einem Blick nach draußen hämisch grinsend aus.
»Ich warte noch ein paar Minuten, vielleicht lässt der Schneefall in der Zwischenzeit ja ein bisschen nach.«
Der Mann auf dem Beifahrersitz griff in die Innentasche seiner dick wattierten Dienstjacke, kramte umständlich eine Packung Zigaretten daraus hervor und hielt seinem Kollegen das geöffnete Päckchen hin, der sich wortlos nickend bediente.
»Eigentlich habe ich schon ewig keinen Bock mehr auf diese Scheiße mit den ewigen Nachtschichten und so«, erklärte Kempf genervt, nachdem beide eine Weile schweigend geraucht hatten. »Meine Jungs wachsen auf, ohne dass ich was davon mitkriege, und mit einer Frau hatte ich zuletzt vor einem halben Jahr etwas.«
Er schnippte die Asche in die Lade in der Mittelkonsole.
»Und beklaut hat mich die verdammte Nutte danach auch noch.«
»Ich weiß«, erwiderte Stark leise. »Ich kenne die Geschichte. Irgendwie kenne ich alle deine Geschichten, Walter.«
»Was soll denn das nun wieder heißen? Geh ich dir etwa auf die Nerven, oder was?«
»Nein«, meinte Stark beschwichtigend, »du gehst mir damit nicht direkt auf die Nerven. Aber irgendwann solltest du schon mal eine neue Platte auflegen.«
»Ach, der Herr meint also, ich sollte mal eine neue Platte auflegen?«, schnaubte Kempf. »Der Herr, der mir ständig die Ohren damit voll heult, wie sehr es ihn nervt, dass seine Olle ihn rausgeworfen hat, und dass er ihr morgen ganz bestimmt zeigt, wo der Hammer hängt, fühlt sich von mir vollgequatscht.«
Er drückte die halb gerauchte Zigarette in den Aschenbecher, zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und öffnete wütend die Beifahrertür.
»Leck mich doch, du verdammtes Arschloch«, drang noch ins Innere des Wagens, bevor die Tür mit gehörig Schwung ins Schloss krachte.
Theo Stark kannte diese Ausbrüche seines Kollegen. Immer wieder in den vergangenen 15 Jahren, so lang arbeitete er schon mit ihm zusammen im Wachschutz, war es zu solchen Zwistigkeiten gekommen. Und immer war es so, dass nach spätestens zehn Minuten alles vergeben und vergessen war. Kempf würde nun seinen Weg zum Stempelautomaten gehen, dabei noch eine Zigarette rauchen, ein bisschen laut und leise vor sich hin fluchen, zum Auto zurückkehren und kein Wort mehr über die Sache verlieren.
Bist schon manchmal ein echtes Arschloch, würde er vielleicht freundschaftlich grinsend sagen, aber das wäre auch schon das höchste der Gefühle. Dann würde er vermutlich wieder das Hohelied auf Bayern München anstimmen, seinen Leib- und Magenverein, der allerdings, zu Kempfs Leidwesen, aktuell in der Bundesligatabelle nur auf dem dritten Platz stand.
Der Wachschutzmann griff in die Mittelkonsole, drehte das Radio ein wenig lauter und zündete sich eine weitere Zigarette an.
Klar hätte er auch gern einen anderen Job als den eines Wachmanns im Nachtdienst. Und klar würde er für sein Leben gern seine Frau mal wieder so richtig ran nehmen, aber das ging nun einmal alles nicht so einfach, nicht, nachdem sie ihm den Koffer vor die Tür gestellt hatte. Und sie hatten immer noch gemeinsam das Haus am Backen, von dem noch nicht einmal ein Drittel ihnen gehörte.
Er zog an der Zigarette und streifte die Asche ab.
Das Leben war nun mal kein Ponyhof, das wusste einer wie er nur zu genau. Einer, der außer einem Hauptschulabschluss und einer abgebrochenen Lehre als Schweißer auf dem Arbeitsmarkt nichts, aber auch gar nichts zu bieten hatte. Irgendwie musste er doch mehr als froh darüber sein, sich überhaupt die Nächte auf irgendwelchen Baustellen um die Ohren schlagen zu dürfen. Immer noch besser als Hartz IV, oder?
Weil ihm die Kälte langsam die Beine hochkroch, ließ er den Motor an und regelte die Heizung auf volle Stufe. Sofort verströmte das Gebläse wieder wohlige Wärme.
Sein Blick fiel auf die Digitaluhr im Armaturenbrett.
3:15 Uhr. Noch gut vier Stunden, dann würde er im Bett liegen.
Kempf war nun schon ziemlich lang unterwegs. Na ja, vielleicht hatte er sich ja bei dem Sauwetter auf die Schnauze gelegt und musste sich erst mal den Schnee aus den Klamotten klopfen. Bei dem Gedanken, wie sein Kollege sich fluchend und schimpfend auf die Beine kämpfte, musste er herzhaft lachen.
Fünf Minuten später, mit einer neuen Zigarette zwischen den Fingern, war seine Schadenfreude einer leichten Besorgnis gewichen. Der Besorgnis, dass Kempf vielleicht irgendetwas passiert sein könnte, denn so lang hatte der noch nie gebraucht für den Weg zu diesem Stempler und zurück. Selbst bei diesem Scheißwetter war das mehr als ungewöhnlich.
Für einen Augenblick geisterte ihm der Gedanke durch den Kopf, dass sein Freund und Kollege diesmal ernsthaft sauer auf ihn sein könnte wegen seiner Kritik, doch das schloss er sofort wieder aus. Außerdem war Walter Kempf viel zu bequem, um in diesem Schneetreiben so etwas wie Stolz zu entwickeln. Er wartete weitere fünf Minuten, in denen seine Besorgnis sich allerdings mit jeder Sekunde ein klein wenig steigerte, zog den Schlüssel aus dem Schloss, griff nach der starken Taschenlampe auf dem Rücksitz und stieg langsam aus dem Wagen.
»Walter?«, rief er in die Stille der Nacht, schaltete die Lampe an und richtete den Strahl über die Motorhaube auf den Weg, den sein Kollege genommen haben musste, was jedoch keine gute Idee war, weil die Schneeflocken das helle Licht so stark reflektierten, dass er mehr geblendet wurde, als etwas erkennen zu können. Also senkte er die Leuchte nach unten, sodass er den jeweils ersten Meter vor seinen Füßen sehen konnte, und stapfte, innerlich fluchend, los.
Direkt neben dem rechten Vorderrad des Volkswagens fiel er das erste Mal hin, weil er eine unter der Schneedecke verborgene Senke in der Fahrbahn nicht gesehen hatte. Noch angestrengter lautlos fluchend rappelte er sich hoch, sammelte die starr in die entgegengesetzte Richtung strahlende Lampe auf und setzte seinen Weg fort.
»Verfluchte Scheiße, Walter, wenn das ein Witz sein soll, dann ist er saublöd. Komm verdammt noch mal runter und steig in das bekackte Auto. Ich habe echt keine Lust, mir wegen dir eine Erkältung zu holen.«
Seine laut und wütend ausgestoßenen Worte klangen wegen des starken Schneefalls dumpf und frei von jeglichem Echo.
»Walter!«
Wieder rutschte er auf dem steilen Weg aus und schlug der Länge nach hin. Die Lampe segelte erneut zu Boden, wobei diesmal allerdings Glas und Glühbirne laut scheppernd zerbarsten. Schlagartig war es stockfinster um ihn herum, und in diesem Moment lief Theo Stark ein Schauer über den Rücken. Sein Herz schlug schmerzhaft gegen die Brust, und sein Mund war staubtrocken.
»Verdammt, Walter, nun hör mit diesem Scheiß auf! Ich hab mir echt wehgetan und brauche deine Hilfe.«
Das war zwar gelogen, aber er hoffte, dass der Appell seinen Kollegen dazu bringen würde, dessen saublödes Spiel zu beenden.
Der Wachmann lauschte in die Nacht, doch außer ein wenig Geknister des sich abkühlenden Lampenglases neben sich gab es nichts zu hören. Also rollte er sich zur Seite, zog die Beine an und stand ein paar Sekunden später wieder auf seinen Füßen. Mit der rechten Hand griff er zu seinem privaten Schlüsselbund, ertastete die daran befestigte kleine LED-Taschenlampe, drückte auf den gummierten Druckknopf und richtete den schwachen, bläulich schimmernden Strahl nach unten.
»Scheiße«, murmelte er leise, nachdem er kaum seine Schuhspitzen erkennen konnte, setzte jedoch trotzdem vorsichtig den linken Fuß vor den rechten.
Während er langsam, bei jedem Schritt nach Unebenheiten oder sonstigen Hindernissen tastend, seinen Weg fortsetzte, überkam ihn ein Anflug von Panik. Für einen Sekundenbruchteil schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es wesentlich gescheiter wäre, zurück zum Wagen zu stapfen und dort zu warten, doch er schob diese Idee sofort von sich weg.
»Walter!«, brüllte er ein weiteres Mal in den Schnee, und wieder blieb es um ihn herum beängstigend still.
Nun hatte er die Anhöhe mit dem darauf stehenden Containerpark erreicht. Die Steilheit des Geländes ließ nach, und kurz darauf hatte er die erste der etwa 40 in Reihe stehenden Baubuden erreicht. Direkt neben dem Eingang zu diesem, als Nummer 1 bezeichneten Container der Bauleitung befand sich der Stempelautomat, und spätestens dort würde auch sein Kollege auf ihn warten. Zumindest hoffte Theo Stark das sehr, sehr intensiv.
Der Schweiß lief ihm mittlerweile in Strömen den Rücken hinunter, seine Hände waren ebenfalls klatschnass, und in seinem Mund befand sich noch immer kaum Speichel. Als er am Eingang zu Nummer 1 angekommen war und den matten Schein seiner kleinen Taschenlampe nach oben richtete, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er hob den Kopf und lauschte. Wieder das gleiche Geräusch. Schnee, der von Schuhen zusammengepresst wurde.
»Du verdammtes Arschloch!«, brüllte Stark. »Was glaubst du, was wir hier machen? Räuber und Gendarm spielen?«
Der Wachmann drehte sich um und leuchtete in die Nacht, doch außer tanzenden Schneeflocken konnte er nichts erkennen. Er holte tief Luft und wollte gerade eine erneute Schimpftirade loslassen, als er mit dem rechten Fuß gegen etwas auf dem Boden Liegendes stieß. Er wollte es wütend zur Seite kicken, doch der Gegenstand zu seinen Füßen bewegte sich keinen Millimeter.
»Hör jetzt auf und lass uns abhauen«, rief er in die Dunkelheit, während er den Strahl seiner Lampe nach unten richtete, um zu sehen, was dort gegen jede auf der Baustelle geltende Sicherheitsvorschrift herumlag.
Zunächst erkannte er im schwachen LED-Licht nur so etwas wie ein Bündel oder einen Sack, doch als er sich ein wenig in die Knie begab und genauer hinsah, stockte ihm das Blut in den Adern und er begann, laut und voller Panik zu schreien.
»Walter? Was ist denn mit dir?«
Walter Kempf lag auf der Seite. Am oberen Ende seines Kopfes befand sich ein dunkler Fleck im Schnee, und in genau dem Sekundenbruchteil, in dem Kempf erkannte, dass es sich dabei um das Blut seines Kollegen handelte, das aus einer großen, hässlichen Wunde an dessen Stirn austrat, ertönte hinter ihm erneut das Geräusch eines Schrittes im frischen Schnee.
Warum er es tat, wusste der Wachmann nicht, vermutlich war es einfach eine Instinkthandlung, doch er ließ sich nun zur Seite fallen und rollte seinen Körper in den Schnee. Seine Lampe warf er in Richtung des Containers Nummer 1. Noch bevor sein massiger Körper allerdings zur Ruhe gekommen war oder er eine weitere Bewegung hätte planen können, wurde die Stille von dem Knall eines Schusses zerrissen, der sich wie eine Explosion in Starks Trommelfellen ausbreitete. Gleichzeitig wurde sein rechter Oberschenkel auf eine ihm unwirklich erscheinende Art in Bewegung gesetzt, deren Urheber nicht er selbst gewesen war, und nur Bruchteile einer Sekunde später wurde sein gesamter Organismus von einer massiven Schmerzwelle erfasst.
Erneut schrie er auf, doch diesmal drang nur ein lang gezogenes, gurgelndes »Aaahhhh« aus seinem Mund. Gleichzeitig griff er sich an den rechten Oberschenkel, der gleichzeitig taub war und brannte wie Feuer.
Was …?, wollte er in die Dunkelheit brüllen, doch sein Mund war komischerweise noch immer mit dem Schmerzensschrei beschäftigt. In diesem Moment zuckte etwas rötlich Schimmerndes an seinen Augen vorbei und blendete ihn. Rasend vor Panik realisierte Theo Stark, dass ihn dieses merkwürdige Licht getroffen hatte, obwohl er sonst keine Helligkeit wahrnahm. Und er wusste, was es war. Jemand hatte ihn mit einem Laserstrahl geblendet. Oder besser, markiert.
Schemenhaft erkannte er, dass eine Gestalt auf ihn zu trat und sich zu ihm hinunter beugte.
»Wenn du leben willst, sagst du mir jetzt, wo dieser verschissene Brief ist, Theo.«
Stark hätte am liebsten, so laut er konnte, losgebrüllt, doch er wusste, dass ihn niemand hören würde. Und den Mann, der noch immer über ihm kauerte, würde das nicht im Geringsten beeindrucken.
»Zehn Sekunden, Theo. Zehn Sekunden, die über dein Leben oder deinen Tod entscheiden. Neun …«
»Hör zu, wir vergessen das Ganze am besten. Ich vergesse es, und du vergisst es. Dann …«
»… sieben.«
Über Theo Starks Wange lief in diesem Moment eine Träne. Er wusste nicht, ob der Impuls, zu weinen, von den Schmerzen im Bein ausgelöst worden war, und er wusste auch nicht, ob es die Todesangst war, die bis in die letzte Faser seines Körpers Besitz von ihm ergriffen hatte. Aber er wusste, dass der Mann, der sich nun erhob und erneut mit dem Laser seine Stirn ins Visier nahm, ihn töten würde, wenn er nicht redete.
»Warte, warte, ich sag es dir!«, schrie der Wachmann völlig hysterisch, wobei er sich den rechten Arm vor den Kopf hielt, als könne das etwas ändern oder bewirken.
»… vier.«
»Das, was du suchst, ist bei einem Freund von mir.«
Er nannte einen Namen und eine Adresse in Kassel.
»Du weißt, was passiert, wenn du mich anscheißt, Theo. Dann bin ich, wenn ich das nächste Mal komme, wirklich sauer, und du kannst dir vorstellen, was das bedeutet, oder?«
Theo Stark nickte in die Nacht.
»Ja, das weiß ich ganz genau.«
»Also gebe ich dir jetzt eine letzte Chance, für den Fall, dass du mich verladen hast. Finde ich das, was ich suche, 100-prozentig bei diesem Freund von dir?«
»Du kannst mir absolut vertrauen, ja. Ich beschwöre es, ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.«
»Na, dann will ich dir mal glauben.«
Der Mann im Schnee wurde von einer Welle der Erleichterung überwältigt. Der Schwall an Tränen, die nun über sein Gesicht lief, musste diesem Gefühl geschuldet sein.
»Ich geh dann mal, Theo«, sagte sein unsichtbares Gegenüber leise. »Ach übrigens: null.«
Der Tod kam für den Mitarbeiter der Kasseler Wachschutzfirma Secupol ebenso kalt und hart wie unerwartet. Den Schuss, der ihm die rechte Stirnseite wegriss, hörte er nicht einmal mehr, und noch bevor sein Kopf in den Schnee geschleudert wurde, hatte sein Herz zum letzten Mal hektisch Blut in seine Venen gepumpt.
»Was für ein Scheißwetter«, bemerkte Oberkommissar Thilo Hain, Lenz’ engster Mitarbeiter, mit roten Ohren, nachdem er das Büro seines Chefs betreten hatte.
»Du bist doch nicht etwa mit dem Bus gekommen?«, fragte Lenz ungläubig.
»Nein, natürlich nicht. Aber mir wird einfach heute nicht richtig warm. Vielleicht brüte ich ja eine Erkältung aus.«
»Das kannst du dir gepflegt abschminken. Krankfeiern fällt bis zum Sommer aus, wir haben zu viel Arbeit.«
Der junge Polizist sah seinen Vorgesetzten mit schief gelegtem Kopf an und fing dabei an zu grinsen.
»Noch ein Ton in diese Richtung, und du hast meine Krankmeldung innerhalb der nächsten Stunde auf dem Tisch liegen.«
»Passt schon. Jetzt setz dich erst mal und nimm dir einen Kaffee. Dann besprechen wir unser Vorgehen in der Sache mit dem abgefackelten Haus, und im Anschluss kümmern wir uns um den Banker, der seine Frau als vermisst gemeldet hat.«
»Du glaubst noch immer, dass er selbst etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben könnte?«
»Glauben tue ich gar nichts, Thilo. Aber irgendwie juckt es mich schon arg bei dem Gedanken, das muss ich zugeben.«
»Dem Gedanken«, hakte Hain nach, »dass sie weg ist und er sich darauf keinen Reim machen kann?«
»Genau.«
»Dann hilft es …«
Der Oberkommissar stockte, weil das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte.
»Ja, Lenz«, meldete sich der Leiter der Kasseler Mordkommission und hörte dann ein paar Sekunden lang dem Anrufer zu.
»Beide aus dem Raum Kassel«, murmelte er schließlich leise. »Und wo genau ist das passiert?«
Wieder hörte er einige Sekunden zu.
»Das kenne ich leider nicht. Geht es ein bisschen präziser?«
Der Gesichtsausdruck des Polizisten veränderte sich im Sekundentakt Richtung angestrengt.
»Das klingt nach irgendwo in den neuen Bundesländern«, stellte er schließlich fest, um wieder einige Sekunden nur zuzuhören.
»Gut, Kollege, dann schicken Sie mir das mal als Mail. Am besten alles, was Sie haben. Ich verspreche Ihnen, dass wir uns gleich darum kümmern werden.«
Nach einer kurzen Verabschiedung warf der Hauptkommissar den Hörer auf die Gabel.
»Was war das denn?«, wollte Hain wissen.
»Das war der leitende Hauptkommissar der Mordkommission Jena, seinen Namen habe ich leider nicht verstanden. Er hat zwei tote Männer, die aus dem Landkreis Kassel stammen, und bittet um unsere Hilfe bei den Ermittlungen.«
»Wie darf ich zwei tote Männer verstehen?«
»Na ja«, grinste Lenz, »ich würde sagen, sie atmen nicht mehr, ihr Herz steht still, und ihre Körpertemperatur sollte sich der Umgebungstemperatur angepasst haben.«
»Arschloch.«
»Außerdem«, fuhr der Kripomann hinter dem Schreibtisch ungerührt fort, »weisen die beiden offensichtlich hässliche Einschusslöcher auf, was nach unseren Erfahrungen ziemlich deutlich auf ein nicht freiwilliges Ableben hinweist.«
»Hat Maria dir heute Morgen einen Witz zum Frühstück serviert?«, wollte Hain ein wenig gallig wissen.
Zu einer Antwort kam es jedoch nicht mehr, weil der Computer des Hauptkommissars den Eingang einer Mail vermeldete.
»Das wird ein wenig Licht ins Dunkel deiner Fragen bringen«, bemerkte er und klickte mit der Maus herum, während sein Kollege sich neben ihn stellte und ebenfalls auf den Monitor starrte.
»Walter Kempf und Theo Stark hießen die Jungs«, brummte Lenz, »und gewohnt haben sie in Bergshausen und Lohfelden. Beschäftigt waren sie bei der Wachschutzfirma Secupol. Kennst du die?«
Hain nickte kaum merklich mit dem Kopf.
»Klar, du nicht? Ist ein ziemlich großer Name in der Branche.«
»Nein, ich habe nie von dieser Firma gehört.«
Der Oberkommissar beugte sich nach vorn und deutete auf einen Absatz des Berichts.
»Die beiden wurden mit Kopfschüssen getötet. Klingt auf den ersten Blick nicht nach Amateuren, die da am Werk waren.«
Lenz scrollte nach unten, wo ein paar Bilder der Mordopfer sichtbar wurden.
»Stimmt, das sieht wirklich nicht nach Anfängern aus. Eher wie eine Hinrichtung, wenn du mich fragst.«
Beide lasen den Rest des Berichts der Jenaer Kollegen wortlos zu Ende, bevor wiederum Hain das Wort ergriff.
»Und warum knallt jemand zwei Wachschutzleute ab, die an einer ICE-Neubaustrecke in der Mitte von nirgendwo Dienst schieben?«
»Ein gemeiner Kupferdieb wird es wohl nicht gewesen sein, zumal die Fußspuren, wie es hier steht, nach derzeitigem Stand auf einen Einzeltäter hinweisen.«
Er legte zweifelnd die Stirn in Falten.
»Wenn ich mir vorstelle, wie viel es in der letzten Nacht geschneit hat, sollte man die Spurenlage als ziemlich unsicher ansehen.«
»Du willst den Kollegen damit aber nicht unterstellen, dass sie schlampig gearbeitet haben, oder?«
»Nein, das natürlich nicht, Thilo. Aber du weißt doch selbst, wie das ist mit 20 Zentimetern Neuschnee. Da muss man seine Aussagen schon mal als vorläufig ansehen.«
»Damit kann ich leben«, erwiderte der junge Polizist, ließ sich wieder in den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen und legte die Beine darauf ab.
»Was willst du zuerst machen? Bei den Familien vorstellig werden oder beim Arbeitgeber?«
Lenz sah auf die Uhr über der Tür.
»Lass uns zuerst nach Bergshausen und dann nach Lohfelden fahren. Vermutlich wissen die Angehörigen schon Bescheid, falls nicht, bleibt das mal wieder an uns hängen.«
»Wenn wir zuerst bei der Sicherheitsfirma vorbeifahren, würde dieser Kelch vielleicht an uns vorüber gehen«, erwiderte Hain mit verkniffenem Gesicht. »Du weißt, wie ich solche Sachen hasse.«
»Ja, ja, ich erinnere mich. Aber wenn du dich immer davor drückst, hilft es ja auch nichts.«
»Und was heißt das jetzt?«
»Dass wir nach Bergshausen fahren.«
*
Das Haus, in dem Theo Stark gewohnt hatte, lag in einer Neubausiedlung im Fuldabrücker Ortsteil Bergshausen, einer Randgemeinde von Kassel. Offenbar war das Gebäude erst vor Kurzem fertiggestellt worden, denn es war noch nicht verputzt. Auch die Außenanlage war noch längst nicht fertiggestellt.
»Der Tod kommt eigentlich immer zur Unzeit«, bemerkte Hain mit Blick auf den rotbraunen, unfertig wirkenden Bau und die davor stehenden eingeschneiten Maschinen.
»Wem sagst du das«, erwiderte Lenz leise und stapfte hinter seinem Kollegen her auf die verglaste Eingangstür zu. Dort suchte der junge Oberkommissar nach einem Klingelknopf, doch bis auf ein aus der Wand ragendes Kabel fand er nichts.
»Dann halt auf die klassische Art«, murmelte er und klopfte ein paarmal vorsichtig mit der Faust gegen das Sicherheitsglas. Nach ein paar Sekunden tauchte hinter der Tür ein Schatten auf.
»Ja, was ist denn?«, wollte eine Frauenstimme eine Spur zu aggressiv wissen.
»Wir sind die Kommissare Hain und Lenz von der Kasseler Kriminalpolizei und würden gern mit Ihnen sprechen, wenn das möglich ist.«
Im Hintergrund wurde offenbar eine Tür geöffnet, was die Polizisten an dem veränderten Lichteinfall erkennen konnten. Im Anschluss hörten sie leises Getuschel.
»Können Sie sich ausweisen?«
»Natürlich«, erwiderte Hain, griff nach seinem Dienstausweis und hielt ihn hoch.
Die Tür wurde einen Spalt nach innen gezogen, und eine etwa 60-jährige Frau starrte zuerst die Beamten und dann Hains Dienstausweis feindselig an.
»Scheint in Ordnung zu sein«, ließ sie den oder die Unbekannte hinter sich wissen und öffnete die Tür vollständig.
»Kommen Sie rein. Aber treten Sie sich die Füße richtig ab, wir wollen nicht, dass Sie den ganzen Dreck ins Haus tragen.«
Nun wurde auch die zweite Person sichtbar, eine Frau von etwa Ende 30. Und den Zügen nach unzweifelhaft die Tochter der Torwächterin.
»Machen wir«, gab Hain folgsam zurück und schob die Sohlen seiner Schuhe ein paarmal über den Schmutzfänger. Lenz tat es ihm nach, und unter den strengen Blicken der älteren Frau gingen sie hinter der anderen her in ein großes, karg möbliertes Zimmer.
Als Lenz einen Blick in das Gesicht der schlanken, mit verschränkten Armen vor einer Couch stehenden Frau geworfen hatte, wusste er, dass die Nachricht von Theo Starks gewaltsamem Ableben schon bis zu seinen Angehörigen vorgedrungen war.
»Es tut uns leid, Sie stören zu müssen, Frau …?«
»Stark. Ramona Stark.«
»Dann war Theo Stark vermutlich Ihr Mann?«
Sie nickte stumm, ohne den Polizisten einen Platz anzubieten. Ergo standen sich nun alle vier gegenüber, weil die ältere die Tür hinter sich geschlossen und dazu gestellt hatte.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, richtete der Hauptkommissar das Wort vorsichtig an sie.
»Ich bin Ramonas Mutter.«
»Und Sie wohnen ebenfalls hier im Haus?«
»Nein. Und warum wollen Sie das überhaupt wissen?«
Hain trat einen Schritt auf die Witwe zu, ohne sich um die Frage zu kümmern.
»Zunächst möchten wir Ihnen unser Beileid aussprechen, Frau Stark. Natürlich wäre es Ihnen sicher sehr viel lieber, wenn wir Sie nicht mit unseren Fragen behelligen müssten, aber in Fällen wie diesem ist es unerlässlich, bei der Suche nach dem oder den Tätern möglichst keine Zeit zu verlieren.«
Wieder ein stummes Nicken.
»Was meinen Sie denn mit diesem blöden Suche nach dem oder den Tätern?«, keifte die Mutter nun ebenso unvermittelt wie lautstark. »Da brauchen Sie doch nur in die Stadt zu fahren und sie zu verhaften, dann ist das Thema ein für alle Mal erledigt.«
Die Köpfe der Polizisten fuhren herum.
»Sie meinen …?«
»Hör auf, Mutti«, mischte sich die Witwe mit vorwurfsvollem Blick ein. »Du weißt doch überhaupt nicht, ob das wirklich stimmt, was du da sagst. Wenn du jemand verdächtigst, der es nicht war, machst du dich am Ende noch selbst strafbar.«
»Das ist mir völlig egal, ob ich mich damit strafbar mache. Ich sage einfach nur, was ich denke, und das hätte ich auch den Uniformierten gesagt, wenn ich schon hier gewesen wäre.«
Sie zögerte ein paar Augenblicke, bevor sie weiter sprach.
»Und dann solltest du den Kriminalern am besten auch gleich sagen, dass Theo und du in Scheidung gelebt haben.«
»Stimmt das, Frau Stark?«, wollte Lenz wissen.
»Ja, das stimmt. Wir leben schon seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr zusammen. Ich habe mich von meinem Mann getrennt.«
»Und Sie glauben zu wissen, wer für den Tod Ihres Schwiegersohns verantwortlich ist?«, fragte Hain die ältere Frau, die jedoch nicht antwortete, sondern einen schnellen Blick mit ihrer Tochter austauschte.
»Nein«, widersprach Ramona Stark, »meine Mutter war mit dem Mund leider etwas schneller als mit dem Hirn. Wir wollen niemanden anschwärzen oder verdächtigen, also vergessen Sie bitte ihre unbedachte Aussage.«
Nun tauschten die Polizisten einen schnellen Blick.
»Das wäre Ihnen sicher recht, klar, doch leider ist es nicht so einfach«, bemerkte der Oberkommissar leicht angefressen, während er sich einen Schritt auf die Frauen zu bewegte. »Sie können nicht erst eine solche Behauptung in den Raum werfen und es sich dann plötzlich anders überlegen.«
Sein Blick kreuzte sich mit dem der Mutter.
»Also, dann mal Butter bei die Fische. Von wem haben Sie gesprochen?«
Die Frau schluckte.
»Vielleicht hab ich mich, als ich das so raus posaunt hab, wirklich ein bisschen vergaloppiert, Herr Kommissar. Ich meinte es gar nicht so, wie ich es gesagt habe.«
»Das mag vielleicht so sein, allerdings glaube ich Ihnen nicht. Und wenn Sie, wie ich gerade ganz heftig vermute, durch Ihr Verhalten unsere Ermittlungen behindern, begehen Sie den Tatbestand der Strafvereitlung, und dafür kann man, wenn es dumm läuft, sogar im Gefängnis landen.«
Sie schluckte erneut.
»Ich …«
Ramona Stark griff nach links und fasste nach der Hand ihrer Mutter.
»Das ist die Sache nun wirklich nicht wert, Mutti«, flüsterte sie kopfschüttelnd. »Und der Theo ist es auf jeden Fall nicht wert. Also sag es ihnen lieber.«
Es dauerte einen kleinen Moment, bis die Frau dann tatsächlich zu sprechen begann.
»Der Theo hat sich seit ungefähr zwei Jahren ziemlich verändert«, erklärte sie resolut. »Das ging so weit, dass er meine Tochter sogar geschlagen hat. Und dahinter steckten nur seine neuen Rockerfreunde. Die haben ihn aufgehetzt, sich so blöd zu benehmen.«
»Von welchen Rockerfreunden genau sprechen Sie?«
»Sie nennen sich Black Crows«, antwortete Ramona Stark, wobei sie die Hand ihrer Mutter ein wenig fester drückte. »Kennen Sie sie?«
»Wer hat nicht von ihnen gehört? Die Zeitungen sind seit Jahren prall gefüllt mit Storys über sie, außerdem halten sie die Polizei ziemlich auf Trab.«
»Und bei denen hat Ihr Mann mitgemacht?«
»Ja. Wie meine Mutter gesagt hat, seit etwa zwei Jahren.«
»Wie kam es dazu?«
»Das kann ich Ihnen eigentlich gar nicht so genau erklären. Irgendwann ist er mit einem Motorrad nach Hause gekommen und hat mir erzählt, dass er bei denen mitmachen würde.«
»Vorher ist er kein Motorrad gefahren?«
»Nein, nie. Wir hatten mal ein Cabrio, aber das haben wir für den Hausbau verkauft.«
Sie sah in die fragenden Gesichter der Polizisten.
»Na ja, irgendwann war die Kohle, die wir uns bei der Bank geliehen hatten, halt alle. Und weil wir nicht in ein Haus ohne Tapeten an den Wänden einziehen wollten, mussten wir irgendwie zu Geld kommen. Das Einzige, was wirklich etwas wert war, war nun mal das Cabrio. Also haben wir es verhökert.«
»Wann war das?«
Sie überlegte kurz. »Vor knapp vier Jahren.«
»Sie wohnen seit vier Jahren in diesem Haus?«, wollte Hain überrascht wissen.
»Ja, ich wohne tatsächlich seit fast vier Jahren auf dieser Baustelle«, antwortete die Frau resigniert. »Und glauben Sie nicht, dass es mir Spaß macht. Aber ich habe weder Geld noch die handwerklichen Fähigkeiten, um diesen beschissenen Zustand zu beenden.«
Sie griff in die Hosentasche, kramte ein benutztes Papiertaschentuch heraus und schnäuzte sich.
»Und Theo hatte mit dem Tag, an dem wir eingezogen waren, jegliches Interesse an dem Haus verloren. Immer wieder habe ich ihn gebeten, sich darum zu kümmern, aber er hat es einfach nicht gemacht. Und als das mit den Crows losging, hat er sowieso nur noch das Nötigste mit mir geredet.«
»Und geschlagen hat er dich«, brummte ihre Mutter, »vergiss das bloß nicht. Grün und blau hat er dich geprügelt. Die Polizei war bestimmt mehr als ein Dutzend Male hier, weil die Nachbarn das Krakeelen und das Geschrei nicht mehr ertragen konnten.«
Sie wandte sich den Beamten zu.
»Aber meine dumme Tochter hat nie Anzeige erstattet. Nie, nicht ein einziges Mal. Können Sie das verstehen?«
»Nein, natürlich nicht. Das ist wirklich schlimm, wenn ein Mann seine Frau schlägt«, machte der Oberkommissar auf empathisch, um direkt im Anschluss seine nächste Frage zu platzieren.
»Aber Sie«, erklärte er mit Blick auf die Mutter, »scheinen ziemlich überzeugt davon zu sein, dass die Black Crows etwas mit dem Tod Ihres Schwiegersohns zu tun haben. Was genau macht Sie da so sicher, Frau …?
»Heidenreich. Babette Heidenreich.«
Hain musste sich schwer beherrschen, um nicht loszuprusten.
»Na ja, es gab da so ein paar Vorfälle in den letzten Monaten, die darauf schließen lassen, dass sich der Theo und seine Rockerfreunde nicht mehr so gut verstanden haben wie sonst.«
Sie warf ihrer Tochter einen auffordernden Blick zu.
»Es ist, glaube ich, besser, wenn du das den Herren Polizisten erzählst, Ramona.«
»So viel gibt es da gar nicht zu erzählen. Es waren halt mal welche von denen hier und haben nach Theo gefragt. Ob er nicht mehr hier wohnen würde und so.«
»Einmal oder mehrmals?«, wollte Lenz wissen.
Ramona Stark dachte kurz nach.
»Insgesamt vier Mal waren welche hier. Komischerweise immer andere, also nie die gleichen.«
»Und sie haben nachgefragt, ob Ihr Mann noch hier wohnen würde. Sonst noch etwas?«
»Na ja, ich sollte ihm ausrichten, dass ihre Geduld langsam abgelaufen ist, und er sich bei ihnen melden soll. Irgendwie hatte das schon was von einer Drohung, wenn Sie mich fragen.«
»Haben Sie es Ihrem Mann ausgerichtet?«
»Klar, mehrmals sogar. Bis vor ein paar Wochen ist er ja noch ab und zu hier aufgetaucht, um sich seine Post zu holen.«
»Und wie hat er reagiert?«
Sie lachte leise auf.
»Wie Großmaul Theo Stark eigentlich immer reagiert. Hat angefangen rumzubrüllen und seinen Zorn an mir ausgelassen. Hat mir vorgeworfen, dass ich sie überhaupt reingelassen habe. Beim letzten Mal ist er richtiggehend ausgerastet und hat gebrüllt, dass diese Arschgeigen bald mal sehen würden, was es ihnen bringt, sich mit ihm anzulegen. Dann sei Ruck-Zuck Schluss mit lustig, und der ganze Verein würde in den Knast wandern. Kurz darauf hat er das Haus verlassen, und das Nächste, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er umgebracht worden ist.«
Die Frau schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich muss wohl besser sagen, dass ich es über ihn gehört habe. Er selbst konnte es mir ja nicht mehr erzählen.«
»Wann genau war das, als er zuletzt hier war?«, wollte Hain wissen, der mittlerweile seinen kleinen Notizblock aus der Jacke gezogen hatte und mitschrieb.
»Vor knapp vier Wochen.«
»Und seitdem keine Anrufe und keine SMS?«
»Nein. Der Theo hatte es nicht so mit der modernen Kommunikation. Er hatte zwar ein Mobiltelefon, aber das hat er nur für die Arbeit benutzt. Mich jedenfalls hat er damit nie angerufen.«
»Aber Sie haben keine Idee, warum die Black Crows sauer auf Ihren Mann gewesen sein könnten?«
»Nee, wirklich nicht. Ich habe mich, was das angeht, immer komplett raus gehalten aus seinem Leben. Diese Jungs machen mir einfach Angst, und diesem Gefühl muss ich mich ja nicht auch noch freiwillig aussetzen.«
»Das ist sehr klug«, stimmte Lenz der Frau zu. »Wobei es in meinen Ohren schon wie eine Drohung gegen die Black Crows klingt, was er da zu Ihnen gesagt hat. Als ob er etwas gegen sie in der Hand gehabt hätte.«
»Das«, warf die Mutter dazwischen, »müssen Sie mal nicht so ernst nehmen. Der Theo hat alles und jeden bedroht, wenn es ihm in den Kram gepasst hat. Wahrscheinlich war da gar nichts dahinter, wenn Sie mich fragen. Der war einer von den Hunden, die gern gekläfft haben, bei denen es aber nie zum Beißen gereicht hat.«
»Sehen Sie das auch so?«, wollte der Hauptkommissar mit Blick auf die Witwe wissen, die sofort die Schultern hochzog.
»Kann schon sein, dass meine Mutter recht hat. Es war schon oft so, dass er einfach eine große Klappe hatte und dann einen Rückzieher machen musste. Ob in dem Fall nun was dran war oder nicht, kann ich Ihnen aber beim besten Willen nicht sagen.«
»Kannten Sie den Kollegen Ihres Mannes, der ebenfalls getötet wurde?«
»Den Walter? Walter Kempf? Klar kannte ich den. Mit dem hat Theo schon seit ewigen Zeiten zusammengearbeitet.«
»Bei Secupol, der Wachschutzfirma?«
»Ja. Kennengelernt haben sie sich zwar bei einem anderen Unternehmen, sind aber dann gemeinsam zu Secupol gewechselt, als die in Kassel ihre Niederlassung aufgemacht haben.«
»Wann war das?«
»Was Sie alles wissen wollen«, brummte Ramona Stark schnaufend, um sich nach einer kurzen Phase des Nachdenkens und des Abzählens mit den Fingern schließlich doch zu einer Antwort hinreißen zu lassen.
»Vor 14 Jahren.«
»So lang haben die beiden gemeinsam bei Secupol gearbeitet?«
Sie nickte.
»Zum Vorarbeiter hat es zwar keiner von ihnen gebracht, obwohl sie immer davon gefaselt haben, wie toll dann alles werden würde, und wie viel mehr Geld sie dann in der Tasche hätten, aber sie wussten vermutlich schon länger, dass es ein Traum bleiben würde.«
»Woran, meinen Sie, lag es, dass die beiden nicht befördert wurden?«
»Sie waren nicht clever genug, das ist der einzige Grund. Pünktlich, zuverlässig, kollegial, das alles, klar, aber am Ende hat es einfach am Grips gemangelt.«
Ihre Stirn wellte sich.
»Auch wenn Ihnen das jetzt hart erscheinen muss, wie ich das sage, aber es ist einfach meine Meinung. Theo ist nie der Held des Denkens gewesen, und schon, als wir geheiratet haben, war ich mir darüber im Klaren.«
»Wie Sie meinen, Frau Stark«, nickte Lenz ernüchtert. »Wissen Sie, wie viel Ihr Mann verdient hat?«
»Klar, immerhin musste er für meinen Unterhalt sorgen. Er hat mit allen Zulagen und Extras knapp 2500,- Euro netto gehabt.«
Erneut ließ der Kommissar den Blick durch das Zimmer gleiten.
»Sie arbeiten nicht?«
»Nee, schon länger nicht mehr.«
»Und Sie sind gut ausgekommen mit dem Geld, als Sie noch zusammen waren?«
»Ach, was glauben Sie denn? Hinten und vorn hat es nicht gereicht, und dann mussten wir uns unbedingt noch diese Bude hier bauen. Der Irrsinn des Jahrhunderts, meiner Meinung nach.«
»Klingt, als hätten Sie das gar nicht gewollt?«
»Genau so ist es auch. Wir hatten eine klasse Wohnung im Haus meiner Mutter, aber Theo wollte partout was Eigenes. So sind wir zu dieser Immobilie gekommen, die ich, wie es aussieht, jetzt am Hacken habe.«
»Müssen Sie noch viel dafür abtragen?«
Sie winkte resigniert ab.
»Fragen Sie besser nicht.«
»Ich hätte«, wandte Hain sich noch einmal an Ramona Stark, »noch eine Frage. Wo hat Ihr Mann in der letzten Zeit gelebt? Gibt es eine Adresse, die Sie uns nennen könnten?«
»Nein, da kann ich Ihnen nicht helfen. Soweit ich weiß, hat er irgendwo eine Tussi gehabt, aber wo und wer genau das gewesen ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Und offen gestanden hat es mich auch überhaupt nicht mehr interessiert.«
Sie holte tief Luft, bevor sie weiter sprach.
»Ich hatte mich emotional komplett von diesem Mann, der mich so oft betrogen hat, dass ich irgendwann das Zählen gelassen habe, distanziert, wenn Sie wissen, was ich meine. Er war zwar noch auf der Welt, aber nicht mehr in meiner.«
Lenz und Hain nickten verständnisvoll.
»Wie es immer so kommt«, murmelte der Hauptkommissar, streckte seine rechte Hand nach vorn und verabschiedete sich von den Frauen. Hain beließ es bei einem Kopfnicken.
»Und wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte«, setzte der Leiter der Mordkommission hinzu, während er eine Visitenkarte aus der Jacke zog und sie Frau Stark hinhielt, »dann rufen Sie mich einfach an.«
»Das mache ich.«
»Manchmal bin ich wirklich froh über das Leben, das ich führen darf«, bemerkte Hain leise, als sie wieder im Wagen saßen.
»Und ich erst«, erwiderte sein Boss gedankenverloren. »Hast du eigentlich Carla schon mal betrogen?«
»Hast du sie nicht mehr alle? Wie kommst du denn darauf?«
»He, he, nun flipp doch nicht gleich aus, Junge. War doch nur eine ganz normale Frage.«
»Es soll eine ganz normale Frage sein, wenn du wissen willst, ob ich meine Frau schon mal beschissen habe? Du spinnst, ehrlich.«
Jeder der Polizisten lehnte sich in seinen Sitz zurück und schwieg eine Weile. Dann griff der Oberkommissar zum Zündschlüssel, ließ den Motor an und regelte die Heizung auf volle Leistung.
»Natürlich habe ich Carla noch nie übers Ohr gehauen«, brummte er schließlich. »Ich bin der glücklichste Mensch auf diesem Planeten, seit ich mit ihr zusammen bin, warum also sollte ich mit einer anderen vögeln?«
»Berechtigte Frage. Darf ich dir anbieten, meine Frage zurückzuziehen?«
»Nö, darfst du nicht, und schon gar nicht, wenn ich sie gerade beantwortet habe. Ich erkläre dir nämlich, dass ich meine Frau noch nie betrogen habe, will aber im Gegenzug von dir wissen, ob du Maria immer treu gewesen bist.«
Lenz sah nach rechts und nickte.
»Immer und mit Haut und Haaren.«
Wieder entstand eine kurze Pause.
»Gut«, grinste Hain nach ein paar weiteren Sekunden des Schweigens, »dann hätten wir das ja geklärt. Immerhin haben unsere Frauen damit bisher weit mehr Glück im Leben gehabt als die frisch gebackene Witwe da im Haus, die obendrein noch ab und an von ihrem Kerl was auf die Schnauze gekriegt hat.«
»Ja, das Leben will einfach nicht zu allen gleich gerecht sein.«
»Stimmt. Aber bei ihrer Mutter könnte auch ich die Gedanken an körperliche Züchtigungen wahrscheinlich nicht ewig unterdrücken.«
Lenz lachte laut auf.
»Du könntest von Glück reden, wenn sie dich am Leben lassen würde, mein Freund.«
Der Oberkommissar fing ebenfalls an zu lachen, legte den Rückwärtsgang ein und rollte zurück auf die Straße.
»Zur nächsten Hinterbliebenenfamilie?«
»Ja, fahr los.«
Die beiden hatten gerade das Ortsschild von Fuldabrück passiert, als das Telefon des Hauptkommissars klingelte.
»Ja, Lenz.«
»Tag, Herr Lenz, hier spricht Pia Ritter.«
»Hallo, Frau Kollegin, was kann ich denn für Sie tun?«
»Wir bearbeiten hier eine recht merkwürdige Sache, Herr Lenz. Es geht um Körperverletzung, und ich weiß auch, dass so was gar nicht Ihre Sache ist, aber der Geschädigte verlangt explizit, mit Ihnen zu sprechen. Mit uns will er einfach nicht reden.«
»Wie, kennt er mich?«
»Das glaube ich nicht, oder wenn, dann eher aus rein beruflichen Gründen. Privat kann ich es mir kaum vorstellen.«
»Aber er verlangt nach mir?«
»Er will nur mit dem Leiter der Mordkommission sprechen und mit sonst niemandem. Und der Leiter der Mordkommission sind nun mal Sie, also bitte ich darum, dass Sie hierher ins Klinikum kommen.«
»Wie geht es dem Mann denn? Hat das vielleicht noch ein wenig Zeit?«
»Er wird innerhalb der nächsten zwei Stunden operiert, also sobald ein OP-Saal für ihn frei ist. Und er macht es wirklich dringend.«
Lenz dachte kurz nach.
»Gut, wir kommen vorbei. Wo finden wir ihn denn?«
Die Polizistin beschrieb ihm den Weg.
»Bis gleich dann.«
»Ja, bis gleich.«
»Was war das denn?«, wollte Hain mit schief gelegtem Kopf wissen. »Privatseelsorge im Dienst?«
»Nee, das nun gerade nicht.«
Der Hauptkommissar erläuterte seinem Kollegen den Teil des Gesprächs, den der nicht hatte hören können.
»Also auf ins Klinikum«, fügte er abschließend hinzu. »Vielleicht haben wir es ja nur mit einem Spinner zu tun, der sich wichtig machen will, und sind in ein paar Minuten durch mit ihm.«
An der Zufahrt zum Klinikum Kassel herrschte Hochbetrieb, vermutlich wegen des noch immer anhaltenden Schneefalls. Hain stellte den Japaner ins Parkhaus, und ein paar Minuten später standen die beiden Polizisten Pia Ritter, der uniformierten Kollegin, gegenüber.
»Schön, dass Sie es gleich einrichten konnten«, wurden sie von ihr begrüßt.
»Na ja, ein bisschen komisch ist die Sache schon, oder?«, erwiderte Lenz und wiegte dabei seinen Kopf von links nach rechts. »Aber wie auch immer, wo ist der Kerl denn nun, den es so unbändig danach drängt, mit mir ins Gespräch zu kommen?«
Pia Ritter deutete auf die Tür hinter ihr.
»Er wird gerade für die Operation vorbereitet. Ich habe mit den Ärzten vereinbart, dass wir, oder besser Sie, kurz mit ihm sprechen dürfen, bevor es losgeht.«
Sie drehte sich um, öffnete vorsichtig die Tür und betrat den kleinen Raum, in dessen Mitte ein einzelnes Krankenbett stand, davor eine Schwester, die dem Patienten gerade eine Venenverweilkanüle am rechten Handgelenk legte.
»Ach, da sind Sie ja«, bemerkte sie freundlich, sprühte einen Strahl Desinfektionsmittel auf einen Tupfer und wischte damit die Einstichstelle ab.