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Kassel im Frühwinter 2008. Kommissar Paul Lenz und sein Kollege Thilo Hain werden an den Ort eines grausamen Verbrechens gerufen. Auf dem Radweg an der Fulda liegt der Architekt Reinhold Fehling, brutal ermordet durch zwei Schüsse in die Knie und einen in den Kopf. Keine 24 Stunden später gibt es eine weitere Leiche, Bülent Topuz, ein türkischstämmiger Student. Wieder zwei Schüsse in die Knie, dazu ein tödlicher ins Herz. In der Wohnung des Ermordeten finden die Polizisten nicht nur einen Brief, in dem er die Verantwortung für den Mord am Fahrradweg übernimmt, sondern auch die Tatwaffe. Allerdings stellt sich schnell heraus, dass Topuz nicht der Mörder gewesen sein kann …
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Seitenzahl: 369
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Matthias P. Gibert
Zirkusluft
Lenz’ dritter Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2009–Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Katja Ernst
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
Wahlburg sah sich nervös um. Seit mehr als 20 Minuten wartete er auf den Mann, der ihn in diese billige Imbissbude am Stadtrand von Kassel bestellt hatte. Die Bedienung hinter der Theke blätterte gelangweilt in einem Magazin und sehnte augenscheinlich den Feierabend herbei.
»Machen Sie mir bitte noch eine Cola«, sagte er möglichst unbeteiligt, obwohl er sicher war, dass die Frau seine Nervosität spürte.
»Sofort!«, gab sie zurück, ohne den Kopf zu heben. Dann drehte sie den Oberkörper, zog an der Kühlschranktür hinter ihrem Rücken, griff nach einer Colaflasche und platzierte sie auf der Theke. Während der ganzen Aktion hatte sie die Illustrierte keinen Moment aus den Augen gelassen.
»Bitte!«
Der kleine Mann stand auf, ging mit kurzen, trippelnden Schritten auf die Essensausgabe zu, nahm die feuchte Flasche in die Hand und setzte sich wieder.
»Einsfünfzig.«
»Bitte?«, fragte er.
»Macht einsfünfzig, wie bei der ersten Pulle auch.«
»Ich warte auf jemanden. Kann ich später zahlen, wenn wir gehen? Vielleicht essen wir auch noch etwas.«
Sie blickte kurz auf.
»Na, von mir aus!«
Offensichtlich hatte sie keine Angst, dass dieser kleine, übergewichtige Mann sich mit einem beherzten Sprint vor seinen Zahlungsverpflichtungen drücken würde.
Wahlburg öffnete den Verschluss und nahm einen tiefen Schluck. Dann stellte er die Flasche auf den Tisch zurück und roch unauffällig am Ärmel seines Pullovers. Wenn seine Frau riechen würde, dass er in einem Imbiss gesessen hatte, würde er ein Problem bekommen. Ein großes Problem.
Sein Blick durchdrang die fettige, blind gewordene Fensterscheibe und freute sich an den letzten Sonnenstrahlen. Mit einem glücklichen Lächeln betrachtete er die Fahrzeuge, die auf der nahe gelegenen Autobahn an Kassel vorbeirasten. Spätestens übernächstes Jahr würde ein schickes Cabrio in seiner Garage stehen. Einer dieser hübschen Wagen, die per Knopfdruck die uneingeschränkte Sicht auf den blauen Himmel freigaben. Bei der Auswahl schwankte er noch zwischen einem deutschen und einem japanischen Modell, aber bis er das Geld zusammengespart hatte, würde er sich entscheiden. Und mit der Summe, die ihm der Mann, auf den er wartete, gleich übergab, klappte es vielleicht schon im nächsten Jahr.
»Hallo, Herr Wahlburg.«
Der Angesprochene zuckte erschreckt zusammen, wie ein Junge, den man beim Kirschenklauen erwischt hatte, und warf dabei die vor ihm stehende Flasche um. Hastig griff er danach, bekam sie zu fassen und stellte sie wieder vor sich ab. Dann versuchte er mithilfe einer Serviette, die braune Brühe zu binden.
»Nur nicht nervös werden, Herr Wahlburg.«
Der große Mann mit dem dunklen Teint, der, unbemerkt von Wahlburg, den Imbiss betreten hatte, sah mit einem besorgten Blick Richtung Theke, doch die Bedienung hatte nicht einmal den Kopf gehoben.
»Wo bleiben Sie denn? Ich sitze seit einer halben Stunde hier rum und warte auf Sie!«, zischte der Kleine kaum hörbar und nestelte dabei an seiner Brille. »Natürlich hat mich die Warterei nervös gemacht.«
»Jetzt bin ich ja da, also können Sie sich entspannen.«
»Gut. Haben Sie mein Geld?«
Im Gesicht seines Gegenübers war ein Lächeln zu erahnen, als er sich setzte.
»Haben Sie dabei, worum ich Sie gebeten habe?«
Wahlburg klopfte mit der rechten Hand auf eine schwarze Aktentasche, die neben ihm lag.
»Natürlich. Aber ich sage Ihnen gleich, dass ich nicht noch einmal das Risiko eingehe. Es war ganz knapp davor, dass mein Chef mich erwischt hätte. Und ich habe keine Lust, wegen dieser paar Kröten meinen Job zu verlieren.«
»Selbstverständlich nicht, Herr Wahlburg. Unsere Geschäftsbeziehung endet heute, genau, wie wir es vor drei Monaten vereinbart haben. Drei Lieferungen, nicht mehr, das war die Abmachung.«
Der Kleine nickte zustimmend.
»Drei Lieferungen, dann ist Schluss.«
»Aber die heutige Lieferung ist komplett?«
Wahlburg sah ihn empört an.
»Natürlich, was glauben Sie denn? Meinen Sie, ich will Sie übers Ohr hauen?«
Von der anderen Seite des Tisches kam eine beschwichtigende Handbewegung.
»Daran würde ich nicht einmal im Traum denken. Sie bekommen von mir gutes Geld und liefern dafür gute Ware.«
Damit schob der Mann einen braunen DIN-A5-Umschlag über den Tisch. Wahlburg griff gierig danach, riss ihn auf, sah hinein und fing dann an zu grinsen. Sein Traum von einem Cabriolet rückte in diesem Moment in greifbare Nähe.
»Wenn ich dann bitten dürfte…«
»Ja, natürlich«, antwortete Wahlburg, beugte sich zur Seite, öffnete die Aktentasche, nahm einen weißen DIN-A4-Umschlag heraus und legte ihn auf den Tisch. Dann steckte er hastig, als ob er Angst hätte, das Geschäft könne noch platzen, den Umschlag mit dem Geld in die Tasche.
Der hochgewachsene Mann auf der anderen Seite des Tisches stand auf, ohne sich den Inhalt der Ware anzusehen, die er soeben gekauft hatte, und nickte.
»Schön. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Aber es ist besser, Sie vergessen in diesem Moment, dass wir uns je begegnet sind. Leben Sie wohl, Herr Wahlburg.«
Damit drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Imbiss.
Wahlburg ließ seinen Geschäftspartner nicht aus den Augen, bis er in das Taxi gestiegen war, das ihn gebracht und dann gewartet hatte, so wie bei jedem ihrer Treffen. Als der elfenbeinfarbene Mercedes den Parkplatz längst verlassen hatte und aus seinem Blickfeld verschwunden war, klopfte er erregt auf die schwarze Ledertasche neben seinem linken Oberschenkel.
Was für ein Idiot!, dachte der korpulente Mann. Zahlt mir 3.000 Euro für ein paar Kopien. 3.000 Euro!
»Eine Currywurst mit Pommes nehme ich noch!«, rief er der Bedienung zu.
Das Taxi bog von der Hauptstraße ab und stoppte am Straßenrand. Der Fahrer sah in den Rückspiegel.
»Ich kann Sie gerne bis zum Halteplatz mitnehmen, da stelle ich mich jetzt sowieso hin«, erklärte er seinem Fahrgast.
»Danke, sehr freundlich, aber ich möchte hier aussteigen«, erwiderte der dunkelhaarige Mann und steckte einen Zwanzigeuroschein zwischen die vorderen Sitze. »Stimmt so.«
Der Fahrer nickte dankbar und verstaute das Geld in seinem Portemonnaie.
»Quittung?«
»Nein, danke. Auf Wiedersehen.«
Damit war der Passagier auch schon ausgestiegen. Mit schnellen Schritten überquerte er den Friedrichsplatz, bezahlte an einem der Automaten seinen Parkschein, ging eine Etage nach unten, stieg in einen unauffälligen Mittelklassewagen und verließ das Parkhaus. Kein Passant hatte Notiz von ihm genommen, und der Taxifahrer würde sich vermutlich schon am nächsten Morgen nicht mehr an sein Gesicht erinnern können. Kurze Zeit später rollte er auf den Hof seines Auftraggebers.
Der Mann im Rollstuhl drehte den Kopf, als er das leise Klopfen hörte.
»Ja, bitte.«
Die Tür wurde geöffnet, und der Mann mit dem dunklen Teint trat ein. In der Hand hielt er den weißen DIN-A4-Umschlag, den Wahlburg ihm vor nicht einmal zwei Stunden übergeben hatte.
»Guten Tag, Herr Franck. Schön, dass Sie da sind. Nehmen Sie bitte Platz.«
»Guten Tag, Herr Vogt.«
»Gab es Schwierigkeiten?«
»Ganz und gar nicht. Herr Wahlburg war kooperativ wie immer. Ich tue mich zwar schwer mit Menschen seines Schlages, hoffe allerdings, dass er davon nichts bemerkt hat.«
Vogt lächelte kühl.
»Da vertraue ich auf Ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Ist die Lieferung in Ordnung?«
Franck nickte.
»Nach der ersten Durchsicht ja. Die genaue Prüfung werde ich morgen durchführen.«
»Wenn die detaillierte Sichtung keine negativen Überraschungen mit sich bringt, kann die nächste Phase beginnen?«
»Durchaus. Die ersten beiden Lieferungen habe ich ausgewertet; das Material ist erstklassig, die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Mit den Informationen aus der dritten Lieferung können wir jederzeit in die nächste Phase einsteigen.«
Vogt stützte sich mit den Händen auf die Greifringe seines Rollstuhls, entlastete die Sitzfläche für einen Moment und ließ sich zurücksacken.
»Ich muss sicher nicht noch einmal darauf hinweisen, dass wir mit dem Eintritt in Phase zwei die Öffentlichkeit herstellen werden, Herr Franck. Das heißt, dass die Polizei ins Spiel kommen wird. Und da die meiste Arbeit in Ihren Händen liegt, sind Sie die exponierteste Figur in diesem Spiel. Also bitte ich Sie noch einmal, sich explizit an unseren Plan zu halten und jede Abweichung mit mir zu besprechen.«
Franck schloss die Augen und holte tief Luft.
»Ich bin mir der Gefahren, die in den nächsten Wochen auf mich zukommen werden, in gleicher Weise bewusst wie Sie, Herr Vogt. Aber Sie haben mich ausgewählt und beauftragt, weil Sie zu dem Schluss gekommen sind, dass ich der Beste bin, den Sie für diese schwierige und reizvolle Aufgabe finden konnten. Ich danke Ihnen für dieses Vertrauen, muss allerdings im Gegenzug auch darauf bestehen, dass sich daran nichts ändert.«
Der Mann im Rollstuhl fixierte sein Gegenüber mit einem stahlharten Blick.
»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Franck.«
»Das Gleiche versichere ich Ihnen, Herr Vogt.«
Es entstand eine kurze, peinliche Pause.
»Ihre Ressourcen sind ausreichend? Brauchen Sie noch Geld oder etwas anderes?«, fuhr Vogt dann fort.
»Nein, alles läuft nach Plan. Ich brauche nichts.«
Franck stand auf.
»In den nächsten Wochen gibt es keinen Grund für Kommunikation zwischen uns, es sei denn, es würde etwas Außergewöhnliches geschehen; dann werde ich den Kontakt mit Ihnen suchen. Ansonsten hören Sie von mir, wenn Phase zwei beendet ist.«
Er fing an zu lächeln.
»Außerdem können Sie den Fortgang meiner Arbeit den Medien entnehmen.«
»Das hoffe ich. Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Erfolg und gutes Gelingen, Herr Franck. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Herr Vogt.«
Zwei Minuten später ging Martin Franck durch die diffus beleuchtete, verlassen wirkende Empfangshalle des modernen Industriebaus, drückte auf den kleinen Taster, der ihm die Seitentür ins Freie öffnete, und verließ das Gebäude. Als er mit seinem Wagen vor dem großen Rolltor warten musste, mit dem das Gelände zur Straße hin gesichert war, fiel sein Blick auf das große Firmenschild neben der Eingangstür:
»Hallo, Thilo. Schön, dass du wieder da bist.«
Hauptkommissar Paul Lenz sprang erfreut auf und nahm seinen Kollegen in den Arm. Thilo Hain klopfte seinem Vorgesetzten und Kollegen auf die Schulter und befreite sich aus dessen Umklammerung.
»Hallo, hallo, ich freu mich auch, dich wiederzusehen, aber tut es not, mich gleich wieder krankenhausreif zu herzen? Außerdem haben wir uns erst letzten Monat gesehen.«
Lenz ging um seinen Schreibtisch und setzte sich.
»Ich weiß. Das war allerdings privat, und heute ist es dienstlich. Lass mir doch meine Freude darüber, dass du wieder im Dienst bist, dein Arm noch dran ist und du ihn fast wieder wie früher gebrauchen kannst.«
Der Kommissar spielte auf einen Einsatz vor knapp einem Jahr an, bei dem sein junger Kollege von mehreren Schüssen getroffen worden war.
Hain ließ sich in einen Stuhl vor dem Schreibtisch fallen und fing an zu grinsen.
»So sehr habe ich meinen Job gar nicht vermisst, zumindest am Anfang nicht. Aber da dachten ja alle noch, in spätestens vier Wochen wäre ich wieder im Einsatz. Dass sich diese Schultergeschichte entzünden und die ganze Sache dann fast elf Monate dauern würde, damit konnte damals niemand rechnen. Und als ich eben unten durch die Halle gegangen bin, hat es richtig gekribbelt. Da habe ich gemerkt, dass mir die Arbeit doch mächtig gefehlt hat.«
»Schön. Und die Sache mit deiner Krankengymnastin läuft immer noch gut?«
Hain und seine Physiotherapeutin hatten sich während der Reha ineinander verliebt. Sie hatte daraufhin ihren Mann verlassen und war bei dem Polizisten eingezogen.
»Klasse, ja. Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Frau so dicht an mich heranlassen könnte, aber bei Carla ist das kein Problem. Ich freue mich noch immer jeden Abend, wenn sie nach Hause kommt.«
Lenz verzog das Gesicht.
»Na, da müsst ihr beiden euch aber ab heute umstellen. Sie kann jetzt mal ausprobieren, ob sie sich auch freut, wenn du nach einem langen, anstrengenden Einsatz nachts oder morgens zu ihr ins Bett kriechst.«
»Kein Problem, du Nörgler. Darüber, dass nun ein anderer Tanz losgeht, haben wir ausführlich gesprochen. Ich glaube, sie ist eher froh, dass ich wieder im Dienst bin. Wegen der Ausgeglichenheit und so.«
Beide lachten.
»Und was gibt es Neues von den bösen Buben dieser Welt? Was haben Mord und Totschlag gemacht, während ich einen schönen Sommer verlebt hab?«
Lenz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Beine über die Schreibtischkante.
»Ach Thilo, das meiste weißt du doch aus der Zeitung. Eigentlich hatten wir ein ruhiges Jahr mit wenig Mord und Totschlag.«
In diesem Moment flog die Tür auf und Rolf-Werner Gecks stürmte in den Raum.
»Diese Zeiten sind allerdings definitiv vorbei.«
Offenbar hatte der Kollege, der von allen nur RW genannt wurde, Lenz’ letzten Satz gehört.
»Denn eben kam die Meldung herein, dass wir einen toten Jogger zwischen Wolfsanger und der Grauen Katze haben.«
Er grinste Hain an.
»Klasse, dass du wieder da bist, Thilo. Jetzt verteilt sich die temporär schlechte Laune des Chefs von K 11 wieder etwas gleichmäßiger unter seinen Mitarbeitern. Ich dachte schon, du würdest auf Frühpensionär machen und ich müsste in deine Rolle schlüpfen.«
Lenz funkelte ihn an.
»Als ob ich schon jemals schlechte Laune versprüht hätte…«
»Kein Geschwätz, Männer«, unterbrach Gecks seinen Einwand.
»Fahrt ihr beiden raus?«
Lenz und Hain sprangen synchron von ihren Stühlen hoch.
»Logisch, RW.«
Hain umkurvte den Uniformierten, der den Verkehr um die Absperrung leitete, und steuerte den Dienstwagen auf den kleinen Parkplatz neben der Straße. Dort standen schon mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei, ein Notarztwagen, zwei Feuerwehrfahrzeuge und ein Leichenwagen. Die beiden Kommissare gingen zu einem asphaltierten Weg ein paar Schritte abwärts, bogen nach links ab und hatten etwa 200 Meter weiter den großräumig abgesperrten Tatort erreicht. Dort packten die Männer der Spurensicherung gerade ihre Utensilien aus. Dr. Franz, der Rechtsmediziner, stand etwas abseits und sprach in sein Diktiergerät. Lenz hielt direkt auf ihn zu.
»Hallo, Herr Doktor Franz!«
Der Arzt sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an und redete unbeirrt weiter. Dann drückte er einen Knopf an dem Gerät und steckte es in seine Jackentasche.
»Hallo, Herr Lenz.«
»Können Sie mir schon irgendetwas sagen?«
Franz schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie sich den armen Kerl nicht wenigstens mal ansehen, bevor Sie Ihr Frage-und-Antwort-Spiel beginnen?«
Der Hauptkommissar kratzte sich verlegen am Kopf.
»Ich dachte…«
»Schon gut. Wir können gerne zusammen einen Blick auf den Leichnam werfen, und ich erkläre Ihnen am Objekt, was mir bis jetzt aufgefallen ist.«
Ohne eine Antwort des Polizisten abzuwarten, setzte der Mediziner sich in Bewegung, stieg über ein Trassierband und ging auf den Toten zu. Lenz folgte ihm artig.
Die Leiche lag mitten auf dem gekiesten Fahrradweg, der Kassel mit Hannoversch-Münden verbindet. Bekleidet war der auf dem Rücken liegende, durchtrainiert wirkende Mann mit Sportschuhen und Trainingsklamotten. Trotz der ungemütlichen Temperaturen trug er eine kurze, eng anliegende glänzende Hose. Als Lenz die diversen Einschusslöcher in seinem Körper sah, musste er schlucken.
»Schön ist was anderes«, begann Franz, »aber ich vermute, er musste nicht lange unter den Schmerzen leiden, die sein Mörder ihm zugefügt hat.«
Er deutete auf die Beine des Toten.
»Einen Schuss in jedes Knie. So etwas habe ich noch nie gesehen. Als ob der Killer Angst gehabt hätte, sein Opfer würde davonrennen.«
Lenz betrachtete die beiden zerschmetterten Kniegelenke des Mannes.
»Hmm«, machte er.
»Ich vermute, die beiden Schüsse trafen ihn völlig überraschend und haben ihn einfach umgehauen. Er kam wahrscheinlich in der Position am Boden an, in der er jetzt hier vor uns liegt. Dann hat sich sein Mörder über ihn gebeugt, ihm die Waffe an die Stirn gehalten und abgedrückt. Vielleicht haben sie vorher noch gemeinsam gebetet, aber das würde ich eher ausschließen. Passiert ist es vor etwa eineinhalb Stunden.«
Den Blick auf den Kopf hätte Lenz sich lieber erspart. Die Stirn des Getöteten wies ein hässliches, schwarz umrandetes Loch auf, von dem aus ein feiner Blutfaden dem Weg der Schwerkraft folgte. Der Hinterkopf war nicht mehr in seiner ursprünglichen Form vorhanden. Lenz sah mehrere größere und kleinere Teile der hinteren Schädeldecke, die offenbar durch die Wucht des Projektils aus dem Kopf herausgerissen und auf dem Boden verteilt worden waren. An den Haaren klebte Hirnmasse.
»Ach du Scheiße, was für ein Einstand«, murmelte Hain, der zusammen mit Heini Kostkamp von der Spurensicherung neben die beiden getreten war, und drehte sich angewidert weg.
»Eine Hinrichtung. Eine verdammte Hinrichtung«, murmelte der Mediziner.
»Ja, so sieht es zumindest aus«, antwortete Lenz und wandte sich zu Kostkamp.
»Moin, Heini. Hast du schon was für mich?«
Der untersetzte Mann hob einen Klarsichtbeutel hoch und reichte ihn seinem Kollegen.
»Morgen, Paul. Neben den Patronenhülsen dürfte das hier fürs Erste am interessantesten sein. Es ist so etwas wie ein Bekennerschreiben.«
Der Hauptkommissar griff danach und betrachtete den Inhalt der Tüte: Ein akkurat gefaltetesDIN-A4-Blatt. Der Text darauf war in großen Buchstaben gedruckt.
RUHE SANFT, DU ARSCHLOCH
Lenz sah in die Runde, erntete jedoch nur fragende Blicke.
»Wo habt ihr das gefunden, Heini?«
»Es steckte in seinem linken Hosenbein, also in seiner Sporthose. Wie es aussieht, hat der Täter es ihm dort reingesteckt, nachdem er ihn abgeknallt hatte.«
»Irgendwelche Hinweise auf seine Identität?«
Kostkamp zuckte mit den Schultern.
»Die wenigsten Jogger gehen mit Personalausweis in der Tasche ihrem Hobby nach. Wir haben seine Fingerabdrücke genommen und lassen sie im Präsidium durch den Computer laufen.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Ein Kollege vom Polizeirevier Ost. Der trainiert für einen Marathon und ist jeden Morgen hier unterwegs. Er hat das nächste Auto oben an der Straße gestoppt und Bescheid gesagt, genau um Viertel vor acht. Dummerweise wird sein Schwiegervater heute beerdigt, deshalb musste er weg.«
Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern.
»Kein Problem, wir befragen ihn später. Gibt es Hinweise auf Tatzeugen?«
»Bei mir hat sich bis jetzt keiner gemeldet. Und der Rest ist eure Sache«, antwortete Kostkamp und deutete flussabwärts.
»Nach der nächsten Biegung kommt die Graue Katze, vielleicht hat dort jemand was gehört oder gesehen. Wir machen uns jetzt ernsthaft an die Arbeit. Bis später, die Herren.«
Damit drehte er sich um und ging davon.
»Schalldämpfer?«, fragte Hain seinen Chef.
»Möglich«, erwiderte Lenz skeptisch und deutete in die Umgebung.
»Allerdings gibt es hier rundherum jede Menge Wälder, in denen von Jägern rumgeballert wird. Ein paar Schüsse am Morgen dürften nichts Ungewöhnliches sein, was meinst du?«
»Auch richtig.«
Nun blickte der junge Oberkommissar in beide Richtungen des Radweges.
»Es sieht immerhin so aus, als ob der Täter die Stelle bewusst gewählt hätte. Von oben, von der Straße aus, ist sie wegen der steilen Böschung nicht einsehbar, und bis zu den jeweils nächsten Flussbiegungen ist es ein gutes Stück.«
»Trotzdem ein großes Risiko, hier jemandem aufzulauern.«
Hain machte eine unentschlossene Geste mit dem Kopf.
»Nicht wirklich. Ich stelle es mir so vor: Der Täter weiß, dass sein Opfer sich morgens um diese Zeit hier die Beine vertritt. Also streift er sich Joggingklamotten über und tut so, als würde er laufen. Sein Auto steht oben auf dem Parkplatz, wo unseres jetzt auch steht. Unser toter Freund hier kommt ihm entgegen, es fallen ein paar Schüsse, und eine halbe Minute später sitzt der Mörder im Auto und ist weg. So einfach ist das.«
»Zumindest in deiner Fantasie«, pflichtete Lenz seinem Kollegen bei. »Aber das Wichtigste ist jetzt erst einmal herauszufinden, wer er ist. Wenn Heini mit den Fingerabdrücken nicht weiterkommt, müssen uns vielleicht Radio und Fernsehen helfen. Das macht dann am besten Uwe.«
Lenz sprach von seinem Freund Uwe Wagner, dem Pressesprecher der Kasseler Polizei.
»Wir beide folgen jetzt dem Rat des weisen Heini Kostkamp und fahren zur Grauen Katze, vielleicht hat dort wirklich jemand etwas gesehen oder gehört, was für uns von Interesse ist.«
Hain nahm seinen Vorgesetzten am Arm und zog ihn in Richtung des Ausflugsrestaurants, von dem Lenz gesprochen hatte.
»Auf gar keinen Fall fahren wir dorthin, Paul. Die paar Meter gehen wir schön zu Fuß.«
»Nett hier«, bemerkte Lenz, während sie dem Weg am Fluss folgten. »Ich war bestimmt 20 Jahre nicht mehr hier unterwegs.«
»Schön, ja, wenn man als Jogger oder Radfahrer die Natur genießt und dabei nicht umgebracht wird«, antwortete Hain augenzwinkernd und machte mit dem Daumen eine Bewegung in die Richtung, aus der die beiden Polizisten gekommen waren.
»So viel Glück war dem armen Schwein da hinten leider nicht vergönnt.«
Dann hatten sie den imposanten Gebäudekomplex mit der großen Aufschrift ›Graue Katze–Roter Kater‹erreicht und nahmen Kurs auf die Eingangstür. Dort wurden sie von einer zuvorkommend lächelnden Bedienung in Schwarz und mit weißer Schürze freundlich begrüßt.
»Guten Morgen, meine Herren. Sie sind aber früh dran.«
Die beiden Polizisten kramten ihre Dienstausweise hervor.
»Guten Morgen. Ich bin Kommissar Lenz von der Kripo Kassel, das ist mein Kollege Thilo Hain«, begann Lenz.
»Wir hätten ein paar Fragen an Sie wegen eines Verbrechens, das sich heute Morgen etwa 500 Meter von hier auf dem Radweg nach Kassel ereignet hat.«
Sie warf das Tuch, mit dem sie die Tische im Gastraum abgewischt hatte, in einen kleinen Plastikeimer und sah die Polizisten mit großen Augen an.
»Was für ein Verbrechen?«
»Dort drüben wurde ein Mann erschossen. Vielleicht haben Sie oder jemand anders im Haus was davon gehört? Oder gesehen?«
»Das tut mir leid, Herr Kommissar, aber ich bin erst vor einer halben Stunde hier angekommen. Und offen gestanden, ist mir gar nichts aufgefallen, aber das hängt sicher damit zusammen, dass ich aus Simmershausen komme, also aus der anderen Richtung.«
»Sie haben keine Gäste?«
»Nein, im Moment ist das Haus leer. Wir renovieren die meisten Zimmer, deshalb machen wir eine kleine Pause. Nur das Café und das Restaurant sind geöffnet.«
»Und außer Ihnen ist kein Personal hier?«
»Nein, ich bin allein. Das Küchenpersonal kommt etwas später, so gegen elf.«
Lenz sah Hain an. Der zuckte mit den Schultern.
»Das war’s dann schon, Frau…?«
»Kellner. Astrid Kellner.«
Passt ja, dachte Lenz, bedankte sich bei der Frau und verließ mit seinem Kollegen im Schlepptau das Lokal.
Sie hörten die gellenden Schreie der Frau, noch bevor sie die Flussbiegung erreicht hatten.
»Gleich wissen wir, wer der Tote ist«, orakelte Hain düster und beschleunigte seine Schritte. Lenz hatte Mühe, ihm zu folgen.
Die Szene, die sich ihnen eine Minute später bot, war gruselig. Eine Frau von etwa 35 Jahren wurde von zwei Uniformierten gewaltsam daran gehindert, den Tatort zu betreten. Schreiend und mit stierem Blick versuchte sie, die beiden Beamten abzuschütteln.
»Nein!«, brüllte sie immer wieder völlig aufgelöst und mit sich überschlagender Stimme. »Neiiiiin, das halte ich nicht aus!«
Kurz bevor Lenz und Hain sie erreicht hatten, gelang es ihr, sich von den Uniformierten loszureißen. Damit landete sie direkt in den Armen des Hauptkommissars.
»Ruhig! Bitte beruhigen Sie sich!«
Die Frau hörte kurz auf zu schreien und sah Lenz irritiert ins Gesicht. Dann setzte sie erneut an.
»Er ist mein Mann! Mein Mann!«
Lenz hielt ihren Brustkorb wie einen Schraubstock umklammert, doch die Kräfte der Frau ließen ohnehin nach.
»Mein Mann«, schluchzte sie und trampelte hilflos mit den Füßen auf den Boden.
»Kommen Sie, wir müssen ein paar Schritte zur Seite gehen«, forderte Lenz sie auf und bewegte sich trippelnd vorwärts. Ihr Widerstand erlahmte nun völlig. Meter um Meter schob er sie vor sich her, bis neben ihnen eine Parkbank auftauchte. Ihre Augen fixierten ohne Unterbrechung die Leiche auf dem Radweg.
»Sehen Sie mich an!«
»Warum…?«, begann sie erneut zu schluchzen, hob jedoch den Kopf und sah dem Kommissar ins Gesicht, der sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er ebenso sanft wie hilflos.
»Aber um es herauszufinden, brauchen wir Ihre Hilfe.«
Wieder wurde ihr Körper von einem Weinkrampf geschüttelt.
»Ich kann…Ich weiß doch nicht…«, stammelte sie.
»Vor zwei Stunden…hat er mir…Kaffee ans Bett gebracht…und sich dann von mir verabschiedet.«
Tränenbäche schossen aus ihren Augen.
»So wie immer, wenn er…morgens…laufen gegangen ist.«
Lenz betrachtete das völlig durchgeweichte Papiertaschentuch in ihrer Hand und fing an, seine Taschen nach einem Ersatz abzusuchen, allerdings ohne Erfolg.
»Können Sie mir Ihren Namen sagen?«, fragte er vorsichtig.
»Fehling. Britta Fehling.«
»Ich bin mir sicher, Frau Fehling, dass dies hier die größte Tragödie ist, die einem Menschen zustoßen kann, und es ist für mich schwer, überhaupt irgendwelche Worte zu finden.«
Wieder wurde er von ihrem Schluchzen unterbrochen.
»Warum? Reinhold hat doch keinem Menschen etwas getan.«
»Frau Fehling, es tut mir leid, aber ich kann Ihnen ein paar Fragen nicht ersparen. Und es wäre wichtig, dass ich möglichst schnell die Antworten von Ihnen bekomme.«
Britta Fehling blickte wieder in Richtung des Toten, drehte dann den Kopf und ließ ihn kraftlos auf die Schulter des Polizisten sinken. Lenz deutete diese Geste als Zustimmung.
»Ihr Mann hat also vor etwa zwei Stunden das Haus verlassen?«
Sie nickte stumm.
»Wo genau wohnen Sie?«
»In der Gottschalkstraße 28, bei der Universität.«
»Und Ihr Mann ist öfter zum Joggen hier gewesen, auf dem Radweg?«
Wieder ein Nicken.
»Er hat es geliebt, den Fluss und die grünen Wiesen.«
Während sie sprach, hoben zwei Bestatter die Leiche ihres Mannes auf das Untergestell eines Kunststoffsarges und fixierten im Anschluss das kuppelartige Oberteil. Irgendwo klingelte ein Mobiltelefon.
»Als er nicht nach Hause kam, fingen Sie an, sich zu sorgen, und sind ihm nachgefahren?«
»Ja. Ich dachte, vielleicht ist er umgeknickt oder hat sich sonst irgendwie verletzt. Dann habe ich dort oben am Parkplatz die vielen Polizeiautos gesehen und gewusst, dass ihm etwas passiert sein muss.«
Sie nahm den Kopf von Lenz’ Schulter und presste zitternd die Augen zusammen.
»Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass er tot ist.«
»Gibt es jemanden, mit dem Ihr Mann Streit hatte, der vielleicht einen Grund gehabt haben könnte, ihm etwas Derartiges anzutun?«
Die Frau schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, niemand. Reinhold hat viele Freunde.«
»Und keine Feinde?«, hakte der Kommissar behutsam nach.
Wieder schüttelte sie den Kopf und schluchzte.
»Keine Feinde.«
Aus dem Augenwinkel sah Lenz, dass der Polizeipsychologe Werner Aumüller die Böschung hinunterlief und auf sie zukam. Genau im richtigen Moment, dachte er. Diese Frau brauchte die professionelle Hilfe eines Spezialisten. Und vielleicht eine Nacht unter Beobachtung.
»Im Moment wären das meine Fragen, Frau Fehling. Wahrscheinlich müssen wir später noch miteinander sprechen, aber jetzt würde ich Sie gerne in die Hände unseres Psychologen übergeben, wenn Sie das möchten.«
Sie überlegte einen Moment und nickte dann zögernd.
Erneut wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt.
Lenz stand auf, nickte Aumüller zu, der die Situation sofort richtig deutete, und verabschiedete sich.
»Lange schaff ich das nicht mehr, Thilo. Dann geh ich auch zum Seelenklempner und lass mich dienstuntauglich schreiben. Und nach einem Drama wie dem eben kann das nur gut für mich sein.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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